Edward Snowden

Permanent Record

Meine Geschichte

Aus dem Amerikanischen von Kay Greiners

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Edward Snowden

Edward Joseph Snowden wurde 1983 in Elizabeth City, North Carolina, geboren und wuchs im Schatten des NSA-Hauptquartiers in Fort Meade, Maryland, auf. Als ausgebildeter Systemingenieur hat er für CIA und NSA gearbeitet. Für seinen Dienst an der Öffentlichkeit hat er mehrere Preise erhalten, darunter den Right Livelihood Award (Alternativer Nobelpreis) für die Gestaltung einer besseren Welt, den Whistleblower-Preis der Vereinigung deutscher Wissenschaftler, den Ridenhour Prize for Truth-Telling und die Carl-von-Ossietzky-Medaille der Internationalen Liga für Menschenrechte. In den USA wird Snowden per Haftbefehl gesucht.

Über dieses Buch

Edward Snowden riskierte alles, um das System der Massenüberwachung durch die US-Regierung aufzudecken. Jetzt erzählt er seine Geschichte.

»Mein Name ist Edward Snowden. Sie halten dieses Buch in Händen, weil ich etwas getan habe, das für einen Mann in meiner Position sehr gefährlich ist: Ich habe beschlossen, die Wahrheit zu sagen.«

Mit 29 Jahren schockiert Edward Snowden die Welt: Als Datenspezialist und Geheimnisträger für NSA und CIA deckt er auf, dass die US-Regierung heimlich das Ziel verfolgt, jeden Anruf, jede SMS und jede E-Mail zu überwachen. Das Ergebnis wäre ein nie dagewesenes System der Massenüberwachung, mit dem das Privatleben jeder einzelnen Person auf der Welt durchleuchtet werden kann. Edward Snowden trifft eine folgenschwere Entscheidung: Er macht die geheimen Pläne öffentlich. Damit gibt er sein ganzes bisheriges Leben auf. Er weiß, dass er seine Familie, sein Heimatland und die Frau, die er liebt, vielleicht nie wiedersehen wird. Ein junger Mann, der im Netz aufgewachsen ist. Der zum Spion wird, zum Whistleblower und schließlich zum Gewissen des Internets. Jetzt erzählt Edward Snowden seine Geschichte selbst. Dieses Buch bringt den wichtigsten Konflikt unserer Zeit auf den Punkt: Was akzeptieren wir – und wo müssen wir anfangen Widerstand zu leisten?

Impressum

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

© 2019 by Edward Snowden

 

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2019 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main

Covergestaltung: Schillerdesign nach einer Idee von Rodrigo Corral

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-491167-0

Fußnoten

Sandras Mutter

Mein Name ist Edward Joseph Snowden. Früher stand ich im Dienst der Regierung, heute stehe ich im Dienst der Öffentlichkeit. Ich habe fast dreißig Jahre gebraucht, um zu erkennen, dass das nicht dasselbe ist, und als es endlich so weit war, bekam ich ein wenig Ärger mit meinem Arbeitgeber. Aus diesem Grund verbringe ich meine Zeit nun damit, die Öffentlichkeit möglichst vor der Person zu schützen, die ich einmal war: ein Spion der CIA (Central Intelligence Agency) und der NSA (National Security Agency). Ich war nur einer von vielen jungen Technikern, der dabei mithelfen wollte, das aufzubauen, was ich für eine bessere Welt hielt.

Meine Karriere im Verbund der Geheimdienste der Vereinigten Staaten, der Intelligence Community (IC), dauerte nur sieben Jahre. Wie ich erstaunt festgestellt habe, ist dies nur ein Jahr länger als die Zeit, die ich nun schon im Exil in einem Land lebe, das ich mir nicht ausgesucht habe. Während dieser sieben Jahre war ich jedoch an der bedeutendsten Umgestaltung in der Geschichte der US-amerikanischen Spionage beteiligt – dem Übergang von der gezielten Überwachung einzelner Personen zur Massenüberwachung ganzer Bevölkerungen. Ich half mit, einer einzelnen Regierung die technischen Voraussetzungen zu verschaffen, weltweit die gesamte digitale Kommunikation zu sammeln, sie für die Ewigkeit zu speichern und beliebig zu durchsuchen.

Nach dem 11. September 2001 machte sich die Intelligence Community bittere Vorwürfe, weil es ihr nicht gelungen war Amerika vor dem verheerendsten und vernichtendsten Angriff auf das Land

Wenn ich damals überhaupt von irgendetwas Ahnung hatte, dann von Computern, und so stieg ich schnell auf. Im Alter von 22 Jahren erhielt ich von der NSA meine erste Top-Secret-Freigabe – für eine Position am untersten Ende der Karriereleiter. Nicht einmal ein halbes Jahr später arbeitete ich als Systemingenieur für die CIA und hatte fast unbegrenzten Zugang zu einigen der sensibelsten Netzwerke der Welt. Meine einzige Aufsichtsperson war ein Typ, der während seiner Schichten Thriller von Robert Ludlum und Tom Clancy las.

Auf der Suche nach technischem Nachwuchs brachen die Geheimdienstbehörden ihre eigenen Regeln. Normalerweise hätten sie niemals jemanden eingestellt, der keinen Bachelorabschluss oder einen vergleichbaren Berufsabschluss vorweisen konnte. Ich hatte beides nicht. Von Rechts wegen hätte ich nicht einmal einen Fuß in das Gebäude setzen dürfen.

Von 2007 bis 2009 war ich an der amerikanischen Botschaft in Genf stationiert und gehörte zu den wenigen Technikern, die diplomatischen Schutz genossen. Meine Aufgabe war es, der CIA den Weg in die Zukunft zu ebnen, indem ich in ihren europäischen Außenposten das Netzwerk, mit dessen Hilfe die US-Regierung Spionage betrieb, digitalisierte und automatisierte. Meine Generation stellte die Arbeit der Geheimdienste nicht einfach nur um; wir

Mit 26 war ich offiziell bei Dell angestellt, arbeitete aber erneut für die NSA. Solche Arbeitsverträge dienten als Tarnung für mich wie für fast alle meine technikbegeisterten Kollegen. Man schickte mich nach Japan, wo ich an der Einrichtung des globalen Backups der Behörde mitwirkte: eines riesigen geheimen Netzes, das die dauerhafte Sicherung sämtlicher Daten garantierte, selbst wenn die Zentrale der NSA nach einem Atomangriff in Schutt und Asche liegen sollte. Damals erkannte ich nicht, dass die Errichtung eines Systems, das das Leben aller Menschen auf ewig dokumentierte, ein tragischer Fehler war.

Mit 28 Jahren kehrte ich in die Vereinigten Staaten zurück, wo mich eine gigantische Beförderung erwartete, nämlich in das technische Verbindungsteam, das für die Beziehungen zwischen Dell und der CIA zuständig war. Ich saß mit den Chefs der CIA-Technikabteilungen zusammen, um ihnen die Lösung für jedes erdenkliche Problem zu präsentieren und schmackhaft zu machen. Mein Team unterstützte die Behörde beim Aufbau einer neuartigen Speicherarchitektur, einer »Cloud«, der ersten Technologie, die jedem Agenten, egal von welchem Ort und aus welcher Entfernung, Zugang zu den gerade benötigten Daten verschaffte.

Unterm Strich wurde ein Job, bei dem es ursprünglich um die Verwaltung und Verknüpfung der Ströme von Geheimdienstinformationen ging, zu einem Job, bei dem es um die dauerhafte Speicherung dieser Informationen ging. Im nächsten Schritt musste ich gewährleisten, dass man weltweit auf die Daten zugreifen und sie durchsuchen konnte. An diesem Projekt arbeitete ich auf Hawaii, wohin mich mit 29 ein neuer Vertrag mit der NSA geführt hatte. Bisher hatte ich unter dem Need-to-know-Prinzip gearbeitet, das die

Tief in einem Tunnel unter einer Ananasplantage – einer unterirdischen ehemaligen Flugzeugfabrik aus Pearl-Harbor-Zeiten – saß ich an einem Terminal mit nahezu unbegrenztem Zugang zur digitalen Kommunikation fast aller Männer, Frauen und Kinder weltweit, die jemals ein Telefongespräch geführt oder einen Computer berührt hatten. Darunter waren ungefähr 320 Millionen meiner amerikanischen Mitbürger, die überwacht wurden, während sie ihren ganz normalen, alltäglichen Beschäftigungen nachgingen: ein grober Verstoß nicht nur gegen die Verfassung der Vereinigten Staaten, sondern auch gegen die elementaren Werte jeder freien Gesellschaft.

Du hältst dieses Buch jetzt in Händen, weil ich etwas tat, was für einen Mann in meiner Position sehr gefährlich war: Ich beschloss, die Wahrheit zu sagen. Ich sammelte interne IC-Dokumente, die den durch die US-Regierung begangenen Rechtsbruch belegten, und gab sie an Journalisten weiter, die sie eingehend prüften und dann der schockierten Weltöffentlichkeit präsentierten.

Dieses Buch erzählt von meinen Gründen für diese Entscheidung, von den moralischen und ethischen Grundsätzen, die ihr zugrunde lagen, und wie ich zu ihnen kam – also auch über mein Leben.

Was macht ein Leben aus? Es besteht aus mehr als nur unseren Worten und Taten. Ein Leben ist auch das, was wir lieben und woran wir glauben. Für mich persönlich sind das Verbindungen, Verbindungen zwischen Menschen und die Technologien, die sie

Wenn Du nun vor meinen Ausführungen zurückschreckst, weil Du die gefährliche Entwicklung, die das Internet in den letzten Jahren genommen hat, nur zu gut kennst, bedenke bitte, dass das World Wide Web, als ich es kennenlernte, völlig anders war. Es war ein Freund, es war Mutter und Vater. Es war eine grenzenlose Gemeinschaft, die mit einer oder mit Millionen Stimmen sprach, Neuland, das allen offenstand, besiedelt, aber nicht ausgebeutet von den unterschiedlichsten Gruppen, die einträchtig miteinander lebten. Es stand jedem Mitglied frei, sich einen Namen, eine Geschichte und Regeln zu geben. Zwar trugen alle eine Maske in Form von Alias-Namen, doch diese Kultur der Anonymität durch Polyonymie brachte mehr Wahrheit als Unwahrheit hervor, denn sie war kreativ und kooperativ statt kommerziell und konkurrenzorientiert. Zweifellos gab es auch Konflikte, aber guter Wille und Freude überwogen – der wahre Pioniergeist.

Das heutige Internet hat damit nichts mehr zu tun. Es ist wichtig zu wissen, dass dieser Wandel bewusst herbeigeführt wurde, dass er das Ergebnis systematischer Bestrebungen einiger weniger Privilegierter war. Das eilige Bemühen, Kommerz in E-Commerce zu verwandeln, erzeugte rasch eine Blase und führte unmittelbar nach der Jahrtausendwende zum Kollaps. Jetzt erkannten die Unternehmen, dass Menschen, die online gingen, viel weniger am Geldausgeben als an Kommunikation und Austausch interessiert waren. Aber auch dies ließ sich gewinnbringend vermarkten. Wenn Menschen online am liebsten ihrer Familie, ihren Freunden oder auch Fremden mitteilten, was sie vorhatten, und im Gegenzug von Familie, Freunden und Fremden erfahren wollten, was diese vorhatten, dann mussten die Unternehmen einfach nur herausfinden,

Dies war die Geburtsstunde des Überwachungskapitalismus und der Tod des Internets, wie ich es kannte.

Nun brach das kreative World Wide Web zusammen und mit ihm unzählige wunderbare, komplexe und individuelle Websites. Aus Bequemlichkeit tauschten die Menschen ihre persönlichen Seiten, die permanente und aufwendige Wartung verlangten, gegen eine Facebook-Seite und einen Gmail-Account ein. Der Glaube, diese kontrollieren zu können, war trügerisch, denn sie gehörten uns bereits nicht mehr. Damals verstanden das nur wenige von uns. Die Nachfolger der gescheiterten E-Commerce-Unternehmen hatten nun ein neues Produkt im Angebot.

Das neue Produkt waren WIR.

Unsere Interessen, unsere Aktivitäten, unsere Aufenthaltsorte, unsere Sehnsüchte – alles, was wir wissentlich oder unwissentlich von uns preisgaben, wurde überwacht. Unsere Daten wurden verkauft, heimlich, damit wir möglichst lange nicht merkten, dass wir ausgebeutet wurden. Die Überwachung wurde von Regierungen, die nach unendlich vielen Informationen gierten, aktiv gefördert und sogar finanziell unterstützt. Abgesehen von Log-ins, E-Mails und finanziellen Transaktionen war die Online-Kommunikation in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends kaum verschlüsselt. Das hieß, dass sich Regierungen in den meisten Fällen gar nicht erst die Mühe machen mussten, an Unternehmen heranzutreten, um herauszufinden, was deren Kunden machten. Sie konnten die ganze Welt einfach ausspionieren, ohne ein Wort darüber zu verlieren.

In eklatanter Missachtung ihrer Gründungscharta fiel die US-amerikanische Regierung genau dieser Versuchung zum Opfer. Nachdem sie die vergiftete Frucht dieses Baumes erst einmal gekostet hatte, wurde sie von einem erbarmungslosen Appetit gepackt.

Erst als ich diese Überwachungsmechanismen und den Schaden, den sie anrichteten, besser durchschaute, erkannte ich, dass wir, die Öffentlichkeit – und zwar nicht nur die Öffentlichkeit eines einzigen Landes, sondern der ganzen Welt – niemals ein Mitspracherecht in dieser Sache gehabt hatten. Wir haben nicht einmal die Chance gehabt, unsere Meinung dazu zu äußern. Das System der nahezu weltumspannenden Überwachung war nicht nur ohne unsere Zustimmung errichtet worden, es waren uns auch sämtliche Einzelheiten bewusst verschwiegen worden. Zu jeder Zeit wurden alle Stufen des Prozesses und seine Folgen vor der Bevölkerung und den meisten Abgeordneten geheim gehalten. An wen konnte ich mich wenden? Mit wem konnte ich über all das reden? Wenn man jemandem die Wahrheit auch nur zuflüsterte, und sei es einem Richter oder einem Anwalt oder dem Kongress, wäre dies ein gravierendes Verbrechen. So gravierend, dass auch nur ein grobes Umreißen der Fakten dazu geführt hätte, dass man eine lebenslange Freiheitsstrafe in einem Bundesgefängnis verbüßen müsste.

Ich fiel in ein tiefes Loch, während ich mit meinem Gewissen rang. Ich liebe mein Land, und der Dienst an der Öffentlichkeit ist mir heilig. Meine Familie und meine Vorfahren haben jahrhundertelang diesem Land und seinen Bürgern gedient. Ich selbst hatte einen Diensteid geschworen – nicht einer Behörde, nicht einmal einer Regierung, sondern der Öffentlichkeit, um die Verfassung, gegen deren zivile Freiheiten man jetzt so eklatant verstoßen hatte, zu schützen und zu verteidigen. Nun war ich nicht nur Zeuge dieses Verstoßes geworden, ich hatte ihn selbst mit herbeigeführt. Für wen hatte ich gearbeitet, all diese Jahre? Wie sollte ich meine Verschwiegenheitspflicht gegenüber den Behörden, die mich

Ich dachte über diese Grundsatzfragen nach und fand die Antwort: Wenn ich aus der Deckung käme und Journalisten das Ausmaß des Machtmissbrauchs eröffnete, der sich in meinem Land abspielte, würde ich damit weder die Regierung stürzen noch die Geheimdienste zerstören. Die Regierung und Geheimdienste müssten sich wieder an den Idealen orientieren, die sie selbst festgelegt hatten.

Der einzige Maßstab für die Freiheit eines Landes ist die Achtung vor den Rechten seiner Bürger. Und ich bin überzeugt, dass diese Rechte de facto die Macht des Staates eingrenzen, insofern als sie genau definieren, wo und wann eine Regierung nicht in jenen Bereich persönlicher oder individueller Freiheiten eindringen darf, der zur Zeit der Amerikanischen Revolution »Liberty« genannt wurde und heute, zu Zeiten der Internetrevolution, »Privatsphäre« heißt.

Es ist nun sechs Jahre her, dass ich an die Öffentlichkeit gegangen bin, weil ich feststellen musste, dass sich die Regierungen sogenannter hochentwickelter Staaten auf der ganzen Welt immer weniger um den Schutz dieser Privatsphäre scherten, den ich – wie übrigens auch die Vereinten Nationen – als elementares Menschenrecht betrachte. Im Laufe der vergangenen sechs Jahre hat sich dieser Trend jedoch noch weiter fortgesetzt, weil Demokratien in autoritären Populismus zurückgefallen sind. Und nirgendwo zeigt sich dieser Rückschritt deutlicher als im Verhältnis einer Regierung zur Presse.

Die Versuche gewählter Amtsträger, dem Journalismus die Legitimation abzusprechen, sind durch einen schonungslosen Angriff

Ich kenne diesen Prozess so genau, weil das Herstellen von Unwahrheit schon immer die dunkelste Seite der Geheimdienste war. Dieselben Behörden, die während meiner beruflichen Laufbahn Geheimdienstinformationen so manipuliert hatten, dass sie als Vorwand für einen Krieg dienten, die mit Hilfe illegaler Strategien und eines Schattengerichts Kidnapping als »außerordentliche Überstellung«, Folter als »erweiterte Verhörpraxis« und Massenüberwachung als »Sammelerhebung« genehmigten, zögerten keine Sekunde, mich als chinesischen Doppelagenten, russischen Dreifachagenten und, noch schlimmer, als »Millennial« zu bezeichnen.

Sie konnten sich vor allem deshalb so umfassend und frei äußern, weil ich darauf verzichtete, mich zu verteidigen. Von dem Moment an, als ich an die Öffentlichkeit ging, war ich fest entschlossen, niemals irgendwelche Details über mein Privatleben preiszugeben, die meiner Familie und meinen Freunden, die schon mehr als genug unter meinen Prinzipien zu leiden gehabt hatten, noch mehr Unannehmlichkeiten bereitet hätten.

Aus Sorge, ihr Leid noch zu vergrößern, habe ich gezögert, dieses Buch zu schreiben. Letztlich ist mir der Entschluss, Beweise für die Verfehlungen unserer Regierung offenzulegen, leichter gefallen als die Entscheidung, hier mein Leben zu schildern. Die Verstöße, deren Zeuge ich wurde, erforderten mein Handeln. Aber es ist nicht nötig, seine Memoiren zu schreiben, weil man den drängenden Ruf seines Gewissens nicht länger ignorieren kann. Darum habe ich sämtliche Familienangehörige, Freunde und Kollegen, die auf den folgenden Seiten namentlich genannt werden oder anderweitig zu identifizieren sind, vorab um ihre Zustimmung gebeten.

Genau wie diese Journalisten glaube ich, dass eine Regierung dazu berechtigt ist, gewisse Informationen zu verschweigen. Selbst die transparenteste Demokratie der Welt darf die Identität ihrer Undercover-Agenten oder Truppenbewegungen im Kriegsfall geheim halten. Solche Geheimnisse werden in diesem Buch nicht offenbart.

Von meinem Leben zu erzählen und dabei gleichzeitig die Privatsphäre der Menschen, die ich liebe, zu wahren und keine legitimen Staatsgeheimnisse zu enthüllen, ist keine leichte Aufgabe. Aber genau das ist meine Aufgabe. Zwischen diesen beiden Verpflichtungen ist mein Platz.

Der Blick durch das Fenster

Das erste System, das ich geknackt habe, war die Schlafenszeit.

Ich fand es unfair: Meine Eltern zwangen mich, ins Bett zu gehen, bevor sie sich selbst schlafen legten, bevor meine Schwester sich schlafen legte, und bevor ich überhaupt müde war. Die erste kleine Ungerechtigkeit im Leben.

Von den ersten rund 2000 Nächten meines Lebens endeten viele mit zivilem Ungehorsam: Ich weinte, bettelte, feilschte, bis ich in der Nacht Nummer 2193 – der Nacht, in der ich sechs Jahre alt wurde – die direkte Aktion für mich entdeckte. Die Obrigkeit interessierte sich nicht für meine Forderungen nach Reformen, aber ich war nicht auf den Kopf gefallen. Gerade hatte ich einen der schönsten Tage meines jungen Lebens erlebt, mit Freunden, einer Geburtstagsfeier und sogar Geschenken; jetzt wollte ich ihn nicht enden lassen, nur weil alle anderen nach Hause gehen mussten. Also verstellte ich heimlich alle Uhren im Haus um mehrere Stunden. Die Uhr der Mikrowelle ließ sich einfacher zurückstellen als die des Backofens, was vielleicht daran lag, dass ich sie besser erreichen konnte.

Als meine Aktion der Obrigkeit in ihrer unendlichen Ignoranz nicht auffiel, galoppierte ich begeistert von meiner Macht durch das Wohnzimmer. Ich war der Herr über die Zeit, und man würde mich nie wieder ins Bett schicken. Ich war frei. Und so kam es, dass ich auf dem Fußboden einschlief, nachdem ich endlich den Sonnenuntergang des 21. Juni gesehen hatte, am Tag der Sommersonnenwende, dem längsten Tag des Jahres. Als ich aufwachte,

 

Angenommen, heute würde sich jemand die Mühe machen, seine Uhr stellen zu wollen: Woher wüsste er, auf welche Zeit er sie einstellen soll? Wenn Du bist wie die meisten Menschen, würdest Du Dich nach der Zeit auf dem Handy richten. Aber wenn Du Dir Dein Handy ansiehst – und ich meine wirklich: ansehen – und tief durch die Menüs zu den Einstellungen vordringst, erkennst Du irgendwann, dass die Zeit auf dem Telefon automatisch eingestellt wird. Hin und wieder fragt Dein Telefon leise, in aller Stille, das Netzwerk Deines Handyanbieters: »Hallo, hast Du die genaue Zeit?« Das Netzwerk fragt daraufhin wiederum ein größeres Netzwerk, das ein noch größeres Netzwerk fragt, und das setzt sich über eine lange Reihe von Antennenmasten und Kabeln fort, bis die Frage schließlich bei einem der wahren Herren über die Zeit ankommt, einem NTP-Zeitserver. Solche Server werden von Atomuhren betrieben oder mit ihnen abgeglichen. Diese werden von Einrichtungen wie dem National Institute of Standards and Technology in den Vereinigten Staaten, dem Eidgenössischen Institut für Metrologie in der Schweiz oder vom National Institute of Information and Communications Technology in Japan betrieben. Dieser lange, unsichtbare Weg, der in Sekundenbruchteilen zurückgelegt wird, sorgt dafür, dass wir auf dem Bildschirm unseres Handys nicht jedes Mal 12:00 blinken sehen, wenn wir es wieder einschalten, nachdem der Akku leer war.

Ich wurde 1983 geboren, als jene Welt, in der die Menschen ihre Uhren selbst stellten, zu Ende ging. In diesem Jahr teilte das Verteidigungsministerium der Vereinigten Staaten sein internes System aus vernetzten Computern in zwei Teile: Ein Netzwerk, MILNET genannt, war für die Benutzung durch den Verteidigungsapparat

Das Internet ist natürlich kein einheitliches Gebilde, auch wenn wir häufig so darüber sprechen, als wäre es eines. Die technische Realität sieht anders aus: Jeden Tag werden in der globalen Masse verknüpfter Kommunikationsnetzwerke, die Du – und rund drei Milliarden andere Menschen oder etwa 42 Prozent der Weltbevölkerung – regelmäßig nutzen, neue Netzwerke geboren. Dennoch werde ich den Begriff weiter verwenden. In dessen weitestem Sinn meine ich damit das universale Netzwerk der Netzwerke, durch das die Mehrzahl aller Computer auf der Welt über eine Reihe gemeinsamer Protokolle verbunden ist.

Vielleicht machst Du Dir gerade Gedanken, weil Du nicht weißt, was ein Protokoll ist, da Du nur die Oberfläche kennst. Aber wir alle haben Protokolle schon oft benutzt. Man kann sie sich als Sprache für Maschinen vorstellen, als gemeinsame Regeln, die Maschinen befolgen, damit sie sich untereinander verstehen. Wer ungefähr in meinem Alter ist, erinnert sich vielleicht noch daran, dass man am Anfang der Adresse einer Website die Buchstaben »http« in die Adressleiste des Webbrowsers eintippen musste. Damit ist das Hypertext Transfer Protocol gemeint, die Sprache, mit der wir Zugang zum World Wide Web bekommen, einer riesigen Sammlung

Alle diese Protokolle werden als Anwendungsprotokolle bezeichnet und stellen nur eine von unzähligen Protokollfamilien dar, die es online gibt. Damit beispielsweise die Daten in einem solchen Anwendungsprotokoll durch das Internet laufen und auf dem Computer, Laptop oder Handy des Empfängers ankommen können, müssen sie zunächst in einem dafür vorgesehenen Transportprotokoll verpackt werden: Denken wir nur daran, dass auch der normale Postdienst es bevorzugt, wenn wir unsere Briefe und Pakete in Umschlägen und Kartons in Standardgrößen unterbringen. Das TCP (Transmission Control Protocol) dient neben anderen Anwendungen dazu, Websites und E-Mails weiterzuleiten. Mit dem UDP (User Datagram Protocol) werden zeitkritische Echtzeitanwendungen übertragen, beispielsweise bei der Internettelefonie oder Liveübertragungen.

Jede Darstellung der vielschichtigen Funktionsweisen des Cyberspace, des Netz, der Info- oder Datenautobahn, wie das Internet in meiner Kindheit genannt wurde, muss unvollständig bleiben, aber eines kann man sich merken: Diese Protokolle haben uns die Mittel in die Hand gegeben, nahezu alles in der Welt, was wir nicht essen, trinken, anziehen oder bewohnen, zu digitalisieren und online zu stellen. Das Internet ist für unser Leben ein nahezu ebenso unverzichtbarer Bestandteil geworden wie die Luft, durch die ein großer

Wenn ich an meine Kindheit und insbesondere an die ersten neun internetlosen Jahre zurückdenke, fällt mir eines auf: Ich erinnere mich nicht mehr an alles, was damals geschah, denn ich kann mich nur auf mein Gedächtnis verlassen. Es gibt über diese Zeit keine Daten. In meinen Kindertagen war eine »unvergessliche Erfahrung« noch eine leidenschaftliche, metaphorische Umschreibung für ein Erlebnis von großer Bedeutung: meine ersten Worte, meine ersten Schritte, mein erster ausgefallener Milchzahn, meine erste Fahrt auf dem Rad.

Meine Generation ist in Amerika und vielleicht auch in der Weltgeschichte die letzte, für die das gilt: die letzte nicht digitalisierte Generation, deren Kindheit nicht in der Cloud gespeichert ist, sondern vorwiegend in analogen Formaten festgehalten wurde, in handgeschriebenen Tagebüchern, auf Polaroidfotos und VHS-Kassetten, unvollkommenen Objekten zum Anfassen, die mit zunehmendem Alter zerfallen und unwiederbringlich verlorengehen können. Meine Hausaufgaben machte ich auf Papier mit Bleistift und Radiergummi, nicht auf vernetzten Tablets, die meine Tastenanschläge aufzeichnen. Meine Wachstumsschübe wurden nicht mit Smart-Home-Technologie festgehalten, sondern in dem Haus, in dem ich aufwuchs, mit einem Messer in den hölzernen Türrahmen eingekerbt.

 

Wir wohnten in einem großen alten Haus aus rotem Backstein. Es stand auf einem kleinen Stück Rasen, auf den die Schatten von Hartriegelbäumen fielen. Im Sommer war das Gras von weißen

Über der Wohnetage lag ein staubiger, von Spinnweben durchzogener, verbotener Dachboden, der als Abstellraum diente. Meine Mutter erklärte mir, er werde nur von Eichhörnchen heimgesucht, aber mein Vater behauptete steif und fest, dort seien Vampire und Werwölfe, die jedes Kind auffressen würden, das so töricht sei, sich dort hinaufzuwagen. Unter der Wohnetage lag ein mehr oder weniger fertig ausgebauter Keller, eine Seltenheit in North Carolina und insbesondere so nahe an der Küste. Keller werden leicht überschwemmt, und unserer war sicher das ganze Jahr über feucht, obwohl ständig ein Entfeuchter und eine Pumpe liefen.

Als meine Familie einzog, wurde die Hauptetage nach hinten erweitert. So entstanden ein Hauswirtschaftsraum, ein Badezimmer und ein Zimmer für mich sowie ein Fernsehzimmer mit einer Couch. Von meinem Zimmer aus konnte ich durch ein Fenster, das sich in der ursprünglichen Außenwand des Hauses befand, in das Fernsehzimmer sehen. Dieses Fenster, das früher nach draußen ging, blickte jetzt nach innen.

Fast während der gesamten Zeit, in der meine Familie in dem Haus in Elizabeth City wohnte, gehörte dieses Zimmer mir, und das Fenster ebenfalls. Obwohl das Fenster einen Vorhang hatte, bot es wenig bis gar keine Privatsphäre. Solange ich mich zurückerinnern kann, bestand meine Lieblingsbeschäftigung darin, den Vorhang zur Seite zu ziehen und durch das Fenster in das Fernsehzimmer zu spähen. Oder anders gesagt: Soweit ich mich zurückerinnern kann, war Spionage meine Lieblingsbeschäftigung.

Mein Vater war bei der Küstenwache, aber damals hatte ich nicht die geringste Ahnung, was das bedeutete. Ich wusste, dass er manchmal eine Uniform trug und manchmal nicht. Er ging morgens früh aus dem Haus, und wenn er spät nach Hause kam, hatte er oft neue Gerätschaften dabei: einen wissenschaftlichen Taschenrechner TI-30 von Texas Instruments, eine Casio-Stoppuhr an einem Trageband, einen einzelnen Lautsprecher für eine Stereoanlage; manches davon zeigte er mir, anderes versteckte er. Man kann sich leicht vorstellen, wofür ich mich mehr interessierte.

Das Gerät, auf das ich am neugierigsten war, traf eines Abends kurz nach der Schlafenszeit ein. Ich lag schon im Bett und war fast eingeschlafen, da hörte ich die Schritte meines Vaters auf dem Flur. Ich stellte mich auf mein Bett, zog den Vorhang zur Seite und beobachtete. Mein Vater hatte eine rätselhafte Kiste von der Größe einer Schuhschachtel in der Hand und entnahm ihr ein beigefarbenes Objekt, das aussah wie ein Betonziegel. Aus dem Gegenstand hingen lange schwarze Kabel heraus, die sich wanden wie die Tentakel eines Tiefseeungeheuers aus einem meiner Albträume.

Mit langsamen, systematischen Handgriffen – die zum Teil der disziplinierten Herangehensweise des Ingenieurs, zum Teil aber auch dem Bemühen, leise zu sein, geschuldet waren – entwirrte mein Vater die Kabel und verlegte eines davon über den groben Wollteppich von der Rückseite der Kiste bis zur Rückseite des

Plötzlich leuchtete der Fernseher auf, und damit auch das Gesicht meines Vaters. Normalerweise saß er abends einfach auf der Couch, trank Limonade und sah zu, wie Leute im Fernsehen auf einem Spielfeld herumliefen, aber das hier war etwas anderes. Es dauerte nur einen Augenblick, dann kam mir die verblüffendste Erkenntnis meines ganzen bisherigen, zugegebenermaßen noch kurzen Lebens: Mein Vater bestimmte darüber, was auf dem Bildschirm geschah.

Es handelte sich um einen Commodore 64, eines der ersten Heimcomputersysteme auf dem Markt.

Natürlich hatte ich keine Ahnung, was ein Computer war, und erst recht wusste ich nicht, was mein Vater damit tat, ob er ein Spiel spielte oder arbeitete. Er lächelte zwar, und es schien ihm Spaß zu machen, aber er widmete sich den Vorgängen auf dem Bildschirm mit der gleichen Konzentration, mit der er sich auch jeder Aufgabe rund ums Haus widmete. Ich wusste nur eines: Was er auch tat, ich wollte es ebenfalls tun.

Von nun an stand ich jedes Mal, wenn mein Vater in das Fernsehzimmer kam und den beigefarbenen Stein herausholte, in meinem Bett, zog den Vorhang zur Seite und spionierte seinen Abenteuern nach. Eines Abends zeigte der Bildschirm eine fallende Kugel und am unteren Rand einen Balken; mein Vater musste den Balken horizontal bewegen, die Kugel treffen, so dass sie nach oben geschleudert wurde, und eine Mauer aus vielfarbigen Steinen umwerfen (Arkanoid). An einem anderen Abend saß er vor einem Bildschirm, auf dem Steine in verschiedenen Farben und in unterschiedlichen Formen zu sehen waren. Sie fielen fortwährend herunter, und während sie fielen, bewegte und drehte er sie so, dass sie unten vollständige Reihen bildeten, die dann sofort verschwanden (Tetris). Wirklich verwirrt war ich aber, als ich meinen Vater eines Nachts –

Meinem Vater hatte es immer Spaß gemacht, mir draußen die echten Hubschrauber vom Flugstützpunkt der Küstenwache zu zeigen, wenn sie an unserem Haus vorüberflogen; jetzt steuerte er hier, in unserem Fernsehzimmer, seinen eigenen Helikopter. Er startete von einer kleinen Basis, die sogar mit einer winzigen, wehenden amerikanischen Fahne ausgestattet war, erhob sich in einen schwarzen Nachthimmel mit blinkenden Sternen und stürzte dann ab. Er stieß einen kleinen Schrei aus, der meinen übertönte, aber gerade als ich dachte, jetzt sei der Spaß vorüber, war er schon wieder auf der kleinen Hubschrauberbasis mit der winzigen Fahne und hob ein weiteres Mal ab.

Das Spiel hieß Choplifter!. Das Ausrufezeichen war dabei nicht nur ein Teil des Namens, sondern auch Teil des Spielerlebnisses. Choplifter! war spannend. Immer und immer wieder sah ich zu, wie die Maschinen aus unserem Fernsehzimmer hinaus und über einen flachen Wüstenmond flogen, auf feindliche Flugzeuge und Panzer schossen und von ihnen beschossen wurden. Immer wieder landete der Hubschrauber, um kurz darauf wieder abzuheben, als mein Vater versuchte, eine aufblitzende Menschenmenge zu retten und in Sicherheit zu bringen. Das war mein erster Eindruck von meinem Vater: Er war ein Held.

Der Jubel, der von meinem Bett kam, als der kleine Helikopter zum ersten Mal mit einer ganzen Ladung von Miniaturmenschen unversehrt landete, war ein wenig zu laut. Mein Vater drehte den Kopf ruckartig zu dem Fenster, um zu sehen, ob er mich gestört hatte, und blickte mir geradewegs in die Augen.

Ich ließ mich ins Bett fallen, zog die Decke über mich und lag vollkommen still, während die schweren Schritte meines Vaters sich meinem Zimmer näherten.

Ich hielt den Atem an.

Plötzlich öffnete er das Fenster, streckte den Arm in mein Zimmer, griff nach mir – einschließlich der Decke – und zog mich hinüber ins Fernsehzimmer. Es ging alles ganz schnell, meine Füße berührten nicht einmal den Teppich. Bevor ich auch nur einen Gedanken fassen konnte, saß ich als Copilot auf dem Schoß meines Vaters. Ich war so jung und aufgeregt, dass ich gar nicht merkte, dass der Joystick, den er mir gegeben hatte, nicht angeschlossen war. Wichtig war nur, dass ich zusammen mit meinem Vater einen Hubschrauber steuerte.

Die unsichtbare Mauer

Elizabeth City ist eine idyllische, mittelgroße Hafenstadt mit einem relativ gut erhaltenen historischen Kern. Wie die meisten anderen Siedlungen aus der Frühzeit der Vereinigten Staaten entstand sie am Wasser, in diesem Fall an den Ufern des Pasquotank River. Der Name ist die englische Abwandlung eines Wortes aus der Algonquin-Sprache, das so viel wie »wo der Strom sich gabelt« bedeutet. Der Fluss verläuft an der Chesapeake Bay entlang durch die Sümpfe an der Grenze zwischen Virginia und North Carolina und mündet zusammen mit dem Chowan, dem Perquimans und anderen Flüssen in den Albemarle Sound. Wenn ich daran denke, in welche anderen Richtungen mein Leben hätte laufen können, fällt mir immer diese Wasserscheide ein: Ganz gleich, welchen Verlauf das Wasser von der Quelle im Einzelnen nimmt, letztlich hat es immer den gleichen Bestimmungsort.

Meine Familie war insbesondere auf mütterlicher Seite stets dem Meer verbunden. Ihre Abstammung geht unmittelbar auf die Pilgerväter zurück: Ihr erster Vorfahre an unserer Küste war John Alden, der Küfer oder Böttcher der Mayflower. Er heiratete eine Mitreisende namens Priscilla Mullins, die in dem zweifelhaften Ruf stand, die einzige alleinstehende Frau im heiratsfähigen Alter auf dem Schiff und somit auch in der gesamten ersten Generation der Kolonie von Plymouth gewesen zu sein.

Die Verbindung von John und Priscilla um die Zeit des Thanksgiving Day hätte aber beinahe nicht stattgefunden, weil sich Myles Standish, der Kommandant der Kolonie von Plymouth, einmischte.

In dem Zimmer hörte man nichts außer der eiligen Feder des Bürschchens,

welches geschäftig wichtige Nachrichten schrieb: Er wolle mit der Mayflower fahren

und sei bereit, morgen oder spätestens übermorgen in See zu stechen, so Gott wolle!

In Richtung Heimat mit den Neuigkeiten über diesen ganzen schrecklichen Winter,

Briefe, geschrieben von Alden, voll mit dem Namen Priscilla. Voll mit dem Namen und Ruhm der puritanischen Maid Priscilla!

Elizabeth, die Tochter von John und Priscilla, war das erste Kind der Pilgerväter, das in Neuengland geboren wurde. Meine Mutter, die ebenfalls Elizabeth heißt, ist ihre direkte Nachfahrin. Da die Abstammungslinie aber fast ausschließlich über die Frauen verläuft, änderte sich der Familienname nahezu in jeder Generation – eine Alden heiratete einen Pabodie heiratete einen Grinnell heiratete einen Stephens heiratete einen Jocelin. Meine seefahrenden Vorfahren segelten an der Küste entlang vom heutigen Massachusetts nach Connecticut und New Jersey, sie befuhren die Handelsrouten zwischen den Kolonien und der Karibik (wobei sie den Piraten auszuweichen versuchten), bis sich während des Unabhängigkeitskrieges die Jocelin-Linie schließlich in North Carolina ansiedelte.

Mein Großvater mütterlicherseits, den ich Pop nenne, ist besser als Konteradmiral Edward J. Barrett bekannt. Zur Zeit meiner Geburt war er stellvertretender Stabschef der Abteilung für Luftfahrttechnik am Hauptquartier der Küstenwache in Washington, D.C. In seiner weiteren Laufbahn hatte er das Kommando über verschiedene technische und operative Einheiten von Governors Island in New York City bis nach Key West in Florida, wo er Direktor der Joint Interagency Task Force East war (einer behördenübergreifenden, multinationalen Einheit unter Leitung der US-Küstenwache, deren Aufgabe es war, den Rauschgiftschmuggel in der Karibik zu unterbinden). Mir war nicht klar, in welche hohen Ränge Pop aufgestiegen war, aber ich wusste, dass die Willkommenszeremonien an neuen Einsatzorten im Laufe der Zeit immer aufwendiger wurden, die Reden länger und die Kuchen größer. Ich erinnere mich noch an das Andenken, das mir ein Wachtposten der Artillerie bei einer

Dann ist da mein Vater Lon. Er war zur Zeit meiner Geburt Oberbootsmann beim technischen Luftfahrt-Ausbildungszentrum der Küstenwache in Elizabeth City, wo er als Lehrplangestalter und Dozent für Elektronik arbeitete. Er war häufig unterwegs, während meine Mutter sich zu Hause um mich und meine Schwester kümmerte. Um unser Pflichtbewusstsein zu fördern, übertrug sie uns Aufgaben im Haus; um uns das Lesen beizubringen, brachte sie an allen unseren Kleiderschubladen Schilder an, die über deren Inhalt Auskunft gaben: SOCKEN, UNTERWÄSCHE und so weiter. Sie lud uns in unseren Red-Flyer-Kombi und schleppte uns in die örtliche Bibliothek, wo ich sofort meine Lieblingsabteilung fand: Ich nannte sie »GROSE MASCHIENEN«. Als meine Mutter mich fragte, ob ich mich für bestimmte große Maschinen interessierte, war ich nicht mehr zu bremsen: »Kipplaster und Dampfwalzen und Gabelstapler und Kräne und …«

»Ist das alles, mein Freund?«

»Ach«, sagte ich dann, »und auch Zementmischer und Bulldozer und …«

Meine Mutter stellte mir gern schwierige Rechenaufgaben. Bei K-Mart oder Winn-Dixie durfte ich mir Bücher, Modellautos und Lastwagen aussuchen, die sie mir kaufte, wenn ich im Kopf die Preise richtig zusammenzählte. Im Laufe meiner Kindheit steigerte sie den Schwierigkeitsgrad: Zuerst sollte ich Schätzungen anstellen und auf den nächsten Dollar aufrunden, dann musste ich den genauen Betrag in Dollar und Cent ermitteln, und dann ließ sie mich drei Prozent des Betrages berechnen und zur Gesamtsumme hinzufügen. Diese letzte Aufgabe stürzte mich in Verwirrung: nicht wegen der Rechenaufgabe, sondern wegen der Begründung. »Warum?«

»Was machen die damit?«

»Du magst doch Straßen? Du magst Brücken?«, antwortete sie. »Die repariert die Regierung mit dem Geld. Und sie schaffen damit Bücher für die Bibliothek an.«

Ein wenig später fürchtete ich, meine aufkeimenden mathematischen Fähigkeiten könnten mich verlassen haben, weil die im Kopf ermittelte Summe plötzlich nicht mehr mit dem Betrag auf der Anzeige der Registrierkasse übereinstimmte. Aber wieder einmal hatte meine Mutter eine Erklärung parat. »Sie haben die Umsatzsteuer erhöht. Jetzt musst Du vier Prozent dazurechnen.«

»Dann bekommt die Bibliothek jetzt also noch mehr Bücher?«, fragte ich.

»Hoffen wir’s«, sagte meine Mutter.

Meine Großmutter wohnte ein paar Straßen von uns entfernt gegenüber der Carolina Feed and Seed Mill und einem hoch aufragenden Pekannussbaum. Nachdem ich in meinem Hemd herabgefallene Nüsse gesammelt hatte, ging ich hinüber zu ihrem Haus und ließ mich auf dem Teppich neben den langen, niedrigen Bücherregalen nieder. Gesellschaft leisteten mir dabei in der Regel eine Ausgabe der Fabeln von Äsop und Bulfinch’s Mythology, eines meiner Lieblingsbücher. Ich blätterte die Seiten durch, hielt nur inne, um ein paar Nüsse zu knacken, und verschlang Berichte über fliegende Pferde, komplizierte Labyrinthe und Gorgonen mit Schlangenhaaren, die Sterbliche in Stein verwandelten. Ich hatte Ehrfurcht vor Odysseus, und ich mochte auch Zeus, Apollon, Hermes und Athena. Aber die Gottheit, die ich am meisten bewunderte, war Hephaistos, der hässliche Gott des Feuers, der Vulkane, der Schmiede und Zimmerleute, der Gott der Bastler. Ich war stolz darauf, dass ich seinen griechischen Namen buchstabieren konnte, und ich wusste auch,