PETER PRANGE | mit Frank Baasner | und Johannes Thiele
WERTE
Von Plato bis Pop –
Alles, was uns verbindet
FISCHER E-Books
Peter Prange ist als Autor international erfolgreich. Er studierte Romanistik, Germanistik und Philosophie in Göttingen, Perugia und Paris. Nach der Promotion gewann er besonders mit seinen historischen Romanen eine große Leserschaft. Seine Werke haben eine internationale Gesamtauflage von über zweieinhalb Millionen verkaufter Exemplare erreicht und wurden in 24 Sprachen übersetzt. Mehrere Bücher wurden verfilmt bzw. werden zur Verfilmung vorbereitet. Der Autor lebt mit seiner Frau in Tübingen.
www.peterprange.de
Frank Baasner, geboren 1957, ist Direktor des Deutsch-Französischen Instituts, Ludwigsburg. Seit 1955 ist er Professor für Romanische Philologie an der Universität Mannheim. Gastprofessuren in Österreich, Spanien und Schweden.
Johannes Thiele, geboren 1954, ist seit 1981 freier Autor und Publizist; darüber hinaus hat er als Programm-Macher verschiedene deutsche Verlage geprägt. Er ist Herausgeber von »Das Buch der Deutschen«. Johannes Thiele lebt und arbeitet in München.
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Alle suchen nach Werten – dabei sind sie längst da! In zwanzig spannenden Entdeckungsreisen entführt uns Bestseller-Autor Peter Prange in den Wertekosmos der europäischen Geistesgeschichte – quer durch die Epochen und Nationen, durch Mythologie und Philosophie, Literatur und Theologie, Folklore und Popkultur. Was sind unsere Werte? Wie sind sie entstanden und wie wirken sie fort? Was wir sind und woran wir glauben, erfahren wir in der abendländischen Geistesgeschichte: bei Plato und Tolstoj, bei Rousseau und Casanova, bei Goethe und den Beatles. Die Werte, die sie uns vermitteln, sind nicht nur unsere Herkunft, sondern auch unsere Zukunft.
Covergestaltung: bürosüd°, München
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2016 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-403779-0
Tausend Genüsse sind nicht eine Qual wert.
Ich bin der Mann, der gesehen hat.
Niemand ist unglücklich, es sei denn im Vergleich mit anderen.
Für Stephan Triller,
weil er die Werte, die wir meinen,
nahezu in Reinkultur verkörpert,
sowie für Kasimir M. Magyar,
den Europäer ungarischer Herkunft,
auf polnischen Namen getauft,
wiedergeboren in der Schweiz,
in Liebe »gegen« eine Deutsche verheiratet,
in Frankreich zu professoralen Würden gelangt,
in zweiter Ehe kontinentale Grenzen überschreitend
»Gesamt-Anblick des zukünftigen Europäers: derselbe als das intelligenteste Sklaventier, sehr arbeitsam, im Grunde sehr bescheiden, bis zum Exzess neugierig, vielfach, verzärtelt, willensschwach – ein kosmopolitisches Affekt- und Intelligenzen-Chaos.«
Friedrich Nietzsche
Haben wir noch alle Tassen im Schrank? Da haben wir in jahrzehntelanger Arbeit an einem gemeinsamen europäischen Haus gebaut, um Frieden, Wohlstand und Freiheit auf Dauer in Europa zu sichern – und was tun wir, kaum dass die ersten Stürme aufziehen? Statt das Haus wetterfest zu machen, verlassen wir es in Scharen, um Zuflucht in unseren alten Höhlen zu suchen, und während es vor unseren Augen auseinander fliegt, schieben wir uns gegenseitig die Schuld daran zu, warum es nicht gehalten hat.
Geboren im Jahr 1955, bin ich von Kindes Beinen an im europäischen Haus aufgewachsen, gleichsam während darin und daran ständig gebaut wurde. Anfangs eher eine Art Notunterkunft, entwickelte es sich im Laufe meiner Jahre zu einem prächtigen Palast, den ich mit keiner anderen Behausung auf der Welt hätte tauschen wollen. Während ich in seinem Innern wohlbehütet die Freiheiten genoss, die er seinen Bewohnern wie selbstverständlich ermöglichte, war er mir nach außen eine Trutzburg des Friedens und des Wohlstands.
Doch die Tage dieses Palastes scheinen gezählt. Einige wenige Krisen in jüngster Zeit haben genügt, und schon droht das europäische Haus, keine sechzig Jahre nach Abschluss der Römischen Verträge, mit denen sein Grundstein gelegt wurde, zu einer Bruchbude zu verkommen, in dem es immer ungemütlicher wird, weil seine Bewohner wie zerstrittene Eigentümerparteien sich nicht über die nötigen Maßnahmen zu seiner Instandhaltung einigen können, obwohl der scharfe Wind, der Frieden, Wohlstand und Freiheit gefährdet, bereits durch sämtliche Ritzen und Fugen pfeift.
Ob Ukraine- oder Syrien-Krise, ob IS-Terror oder Klimaschutz, ob Bankenaufsicht, Regulierung der Finanzmärkte oder Freihandelsabkommen mit den Vereinigten Staaten: Fast überall, wo europäische Einheit gefragt ist, zeigt Europa sich uneins. Ja, schlimmer noch, in vielen Fällen scheitert Europa nicht nur an seinen Problemen, sondern mehr noch an sich selbst.
Zum Beleg brauchen wir uns nur ein paar Ereignisse des vergangenen Jahres zu vergegenwärtigen, zusammen mit ihren paradoxen Folgen:
Charlie Hebdo. Selbst ein Sturmgeschütz der Toleranz, hat das Attentat auf das französische Satiremagazin in ganz Europa für eine spürbare Reduzierung der Toleranz gesorgt, um weitere Angriffe auf unsere Lebensart zu verhindern.
Pegida. Angetreten mit dem Anspruch, Europa vor einer vermeintlichen Islamisierung zu schützen, haben die Aufmärsche tatsächlich Europa in Deutschland und Deutschland in Europa diskreditiert.
Wahlen. Je lauter und schärfer Europa-Kritiker Europa kritisieren, desto größer ist ihr Erfolg bei Europawahlen und ihr Einfluss im Europaparlament.
Schuldenkrise. Je mehr Solidarität die Eurostaaten mit schwächelnden Mitgliedsländern zeigen, desto mehr schwindet die Solidarität zwischen den Völkern und vergeht den Bürgern die Lust auf Europa.
Migration. Während Menschen aus aller Welt nach Europa strömen, um wie wir in Frieden, Wohlstand und Freiheit zu leben, stellen wir zunehmend unsere Werte in Frage, denen wir unsere privilegierte Lebensform verdanken.
Angesichts dieser Krisen und Paradoxien steht die europäische Idee plötzlich zur Disposition. War Europa etwa nur eine Schimäre?
Keine Frage, die Europa-Skeptiker haben Konjunktur, und die intellektuelle Schickeria gefällt sich zunehmend darin, die Idee der Union als eine Fiktion, das europäische Haus als ein phantastisches Wolkenkuckucksheim zu denunzieren. Europa sei ein Mythos, unken sie, vor Urzeiten von einem Märchenerzähler namens Heredot erfunden, um die Griechen gegen die Perser zu mobilisieren. Tatsächlich aber sei Europa nur eine Anhäufung von Nationen und Gesellschaften unterschiedlichster Traditionen, von armen und reichen, von protestantischen und katholischen, von erzkapitalistischen und postkommunistischen Staatsgebilden, denen das Verbindende fehle, um mehr als nur ein loser Verbund, um eine wirkliche Einheit zu sein.
»Alles, was uns verbindet, sind unsere Gegensätze«, schrieb ich im Jahr 2006 voller Optimismus im Vorwort zur Erstausgabe dieses Buchs. »Aber das ist nicht unsere Schwäche«, behauptete ich weiter, »sondern unsere Stärke. Denn alles, was wir Europäer je zustande gebracht haben, verdanken wir unserer inneren Widersprüchlichkeit, dem ewigen Zwiespalt in uns selbst, dem ständigen Hin und Her von Meinung und Gegenmeinung, von Idee und Gegenidee, von These und Antithese.«
In diesen Optimismus fiel sogar Bundeskanzlerin Angela Merkel ein, als sie zu Beginn der deutschen Ratspräsidentschaft 2007 vor dem europäischen Parlament in Straßburg ihre Europavision skizzierte. Doch in der Tat, von der produktiven Widersprüchlichkeit, die ich damals beschwor, scheint nicht mehr viel übrig zu sein. Das Ringen um die Synthese, die Meinung und Gegenmeinung verbindet, um gemeinsam etwas Besseres zu schaffen, als jeder Einzelne auf sich allein gestellt vermöchte, weicht im politischen Alltag wie in der gesellschaftlichen Debatte immer öfter dem parteiisch geführten Streit der Egoismen, in dem sich Ideologen aller Länder und Couleurs die Beleidigungen nur so um die Ohren hauen und sich einander wahlweise der Ignoranz oder Unfähigkeit bezichtigen, ohne sich um den kontinentalen Schaden zu scheren, den sie damit anrichten.
Aber sollen wir darum die europäische Idee aufgeben?
Mag sein, dass Europa es in den letzten Jahren mit sich selbst zu eilig hatte, weshalb die Vertiefung mit der Erweiterung der Union nicht Schritt halten konnte. Mag sein, dass wir die Adaptions- und Entwicklungsfähigkeit der europäischen Institutionen überschätzt und überfordert haben. Mag sein, dass die politische und gesellschaftliche Wirklichkeit noch längst nicht den Werten entspricht, die den in Jahrtausenden gewachsenen europäischen Wertekosmos auszeichnen. Doch darum auf den normativen Wert der Werte zu verzichten, nur weil die Wirklichkeit hinter der Idee zurückbleibt, wäre ein fataler Kurzschluss.
Die globale Abstimmung mit den Füßen zeigt, was auf dem Spiel steht: Europa ist der attraktivste Lebensraum der Welt, und Freizügigkeit ist seine Seele. Diese ist kein Luxus, den wir uns leisten können, weil es uns gut geht – vielmehr geht es uns gut, weil Freizügigkeit unser Zusammenleben bestimmt: politisch, gesellschaftlich, wirtschaftlich.
Diesen Lebensraum gilt es zu bewahren und fortzuentwickeln. Nicht, indem wir unsere Werte preisgeben, sondern indem wir sie ernst nehmen. Werte sind innere Nötigung und äußere Orientierung zugleich. Sie beschreiben nicht nur unsere Herkunft, sondern auch unsere Zukunft: Sind Verträge und Institutionen die Bausteine des europäischen Hauses, sind unsere Werte der geistig-emotionale Mörtel, der es zusammenhält. Denn Freizügigkeit, wie wir sie meinen, bedeutet keineswegs Beliebigkeit – im Gegenteil. Toleranz und Prinzipientreue, Idealismus und Realismus, Freiheit und Verantwortung, Mensch und Recht, Glaube und Vernunft: Im Spannungsfeld solcher Gegensätze hat Europa seine Identität bewahrt, indem es sich immer wieder neu erfunden hat, nach Maßgabe sich wandelnder Anforderungen, seit über zweitausend Jahren.
Gerade die Pariser Anschläge vom 13. November, die nichts anderes waren als ein Anschlag auf unsere Lebensart, haben, gegen den Willen der Attentäter, bewiesen, dass Europa weit mehr ist als nur eine Interessengemeinschaft: eine freie, offene Gesellschaft, in der jeder nach seiner Vorstellung glücklich oder unglücklich werden kann. Sie zu erhalten und zu verteidigen wird die große Herausforderung der kommenden Jahre sein, mit allen uns zu Gebote stehenden Mitteln – auch auf die Gefahr hin, dass der Palast Europa mitunter zur Trotzburg wird, damit er nicht zur Bruchbude verkommt.
Wenn uns das gelingt, bedeutet der 13. November vielleicht nicht das Ende Europas, wie heute manchmal zu hören ist, sondern den Beginn seiner Wiederentdeckung. Des lebenswertesten Lebensraums, den Menschen je geschaffen haben. Ohne Furcht vor Intoleranz und Hass, ohne Aufgabe unseres Lebensstils, ohne Einschränkung der für alle hier lebenden und hier leben wollenden Menschen gültigen Rechte. Sondern im Zeichen jener Werte, die vor über zweihundert Jahren in Paris geboren wurden, um von dort aus den ganzen Kontinent zu erobern: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.
Peter Prange,
im November 2015
»Es gibt auf dem Erdball eine Gegend, die, vom Menschen her gesehen, sich zutiefst von allen anderen unterscheidet. In der Ordnung der Macht und in der Ordnung der exakten Erkenntnis wiegt Europa viel schwerer als der übrige Erdball, oder besser gesagt: Es ist nicht Europa, das den Sieg davonträgt, sondern der europäische Geist, zu dessen Furcht erregenden Schöpfungen Amerika gehört.«
Paul Valéry
Haben wir noch alle Tassen im Schrank? Da bellt ein amerikanischer Minister wüste Beleidigungen über den Atlantik – und was tun wir? Anstatt ihn daran zu erinnern, dass sein großes Amerika nur ein Ableger eben jenes alten Europas ist, das er so übel beschimpft, knallen wir die Hacken zusammen und fragen, womit wir zu Diensten sein dürfen.
Haben wir noch alle Tassen im Schrank? Da sagen uns fundamentalistische Fanatiker den Kampf an, weil wir in ihren Augen »Ungläubige« sind – und was tun wir? Anstatt sie zur Rede zu stellen, entschuldigen wir uns für unsere Aufklärung, weil diese sie angeblich zu ihren Verbrechen provoziert.
Haben wir noch alle Tassen im Schrank? Da raunen selbsternannte Gurus dunkle Worte vor sich hin oder malen rätselhafte Zeichen auf Seidenpapier – und was tun wir? Anstatt mal wieder in die »Zauberflöte« oder in »Macbeth« zu gehen, üben wir in Volkshochschulkursen das heilige »Om« und richten unsere Wohnungen nach Feng-Shui-Prinzipien ein.
Was sind wir Europäer für Menschen? Während andere Kulturen ihre Identität bis aufs Blut verteidigen, manche sogar versuchen, der ganzen Welt ihren Stempel aufzudrücken, zeigen wir so wenig Profil, dass man nicht mal Witze über uns machen kann. Schließlich setzt jede Karikatur ein Mindestmaß an Kontur voraus.
Dabei haben wir nicht den geringsten Grund, uns vor anderen Kulturen zu verstecken. Immerhin haben wir Himmel und Erde entdeckt, das Universum und die Kontinente der Welt. Wir haben die Demokratie und den Rechtsstaat erfunden, den Humanismus und die Menschenrechte, die Gleichheit von Mann und Frau, die Evolution und die Entropie, den Leistungssport und die soziale Marktwirtschaft, die perspektivische Malerei und den Goldenen Schnitt, die Polyphonie und die Popmusik, das Absolute und die Relativitätstheorie. Ja, wir haben es sogar geschafft, das Papsttum und die Reformation, die Mystik und die Aufklärung, den wissenschaftlichen Gottesbeweis und den wissenschaftlichen Atheismus hervor- und unter einen Hut zu bringen.
Bräuchte die Welt also eine europäische Leitkultur? Natürlich nicht, so wenig wie eine amerikanische oder arabische oder chinesische oder australische. Wenn jemand eine europäische Leitkultur braucht, dann höchstens wir Europäer. Denn was immer wir vollbracht haben – wir haben fast immer zugleich auch das Gegenteil vollbracht. Mit der fixen Idee, uns die Erde untertan zu machen, haben wir Weltreiche erbaut und Weltreiche zerstört. Unser Machbarkeitswahn hat Wunderwerke der Technik ermöglicht und zugleich die Natur ruiniert. Unser Glaube an den Heiligen Geist hat zu den herrlichsten Abstraktionen von Philosophie und Mathematik geführt, doch in unserer Sucht, die Welt rational zu durchdringen, haben wir uns von den idealistischsten Ideen zu den idiotischsten Ideologien verstiegen: Nahezu alle »Ismen« dieser Welt entstammen dem europäischen Geist, und die haben bekanntlich mehr Schaden als Nutzen angerichtet.
Nein, wir halten uns nicht für vollkommener als andere Kulturen. Im Gegenteil. Wir sind problematisch, wir sind schwierig, wir sind kompliziert – vor allem sind wir widersprüchlich. Aber das ist nicht unsere Schwäche, sondern unsere Stärke. Denn alles, was wir Europäer je zustande gebracht haben, verdanken wir unserer inneren Widersprüchlichkeit, dem ewigen Zwiespalt in uns selbst, dem ständigen Hin und Her von Meinung und Gegenmeinung, von Idee und Gegenidee, von These und Antithese.
Alle suchen nach Werten, dabei sind sie längst da. Sie werden in Europa buchstäblich zu Markte getragen – seit über zweitausend Jahren.
Den Anfang machte Sokrates. Wenn er nicht mehr weiterwusste, setzte er sich auf den Marktplatz seiner Heimatstadt Athen und sprach Passanten an, um sie in ein Gespräch zu verwickeln. Was ist Wahrheit? Was ist Gerechtigkeit? Was ist das Gute?, wollte er wissen, um im Dialog mit oft wildfremden Menschen Antworten auf seine Fragen zu finden. In diesem Wechselspiel von Gedanken entstand eine Denkform, die wir Dialektik nennen, das Prinzip von Rede und Gegenrede, auf dem nicht nur die europäische Philosophie beruht, sondern in der zugleich die ganze europäische Lebensart ihren besonderen Ausdruck findet.
Diese dialektische Kultur hat in Europa ihren natürlichen Ort. Verglichen mit anderen Kontinenten ist unser Erdteil ja nichts anderes als ein etwas groß geratener Marktplatz. Nirgendwo sonst auf der Welt drängen sich so viele Völker und Kulturen auf einem so eng begrenzten Raum. Seit Jahrhunderten und Jahrtausenden begegnen sich auf dieser Piazza die unterschiedlichsten Menschen mit den unterschiedlichsten Meinungen, stets voller Neugier darauf, in der Kontroverse die allzu engen Grenzen ihrer geografischen und gedanklichen Provinzen zu überschreiten. Zusammen haben sie eine Kultur der Gegensätze geschaffen, eine Kultur der produktiven Spannungen, die bis heute unsere Eigenart bestimmt.
Europa bedeutet größte Vielfalt auf engstem Raum. Diese Erfahrung bestätigt uns nicht nur jede Urlaubsreise, sondern auch ein Blick in unsere Seelen: Alles, was uns verbindet, sind unsere Gegensätze. Sie machen unsere Einmaligkeit aus, die uns von anderen Kulturen unterscheidet.
Wir Europäer sind immer zweierlei zugleich: Wir verkörpern eine Position und zur gleichen Zeit auch deren Gegenteil. Wir sind Gottessucher und Agnostiker, Hedonisten und Asketen, Selbstverwirklicher und Selbstverleugner – und finden das auch noch normal. Wir preisen den Gleichheitsgrundsatz und verlangen nach Eliten. Wir bauen auf den Fortschritt und trauen ihm keinen Schritt über den Weg. Wir sind sexbesessen und triefen vor Nächstenliebe. Wir sind offen für das Fremde und provinziell bis zum Faschismus. Wir sind wirklichkeitsfremde Phantasten und knallharte Realisten. Und vor allem sind wir unendlich neugierig und zutiefst skeptisch in ein und derselben Person.
Dieses widerspruchsvolle Wesen begegnet uns auf Schritt und Tritt: in Deutschland und Luxemburg genauso wie in England und Frankreich, in Italien oder Dänemark, Rumänien oder Portugal. Vor allem aber begegnet es uns in der eigenen Wohnung: im eigenen Spiegel, am eigenen Arbeitsplatz, im eigenen Bett.
Wenn wir uns in Europa zu Hause fühlen, dann aus einem einfachen Grund: weil wir Europa in uns tragen, in unseren Herzen und Seelen und DNA-Ketten. In den trivialsten Lebensvollzügen – beim Frühstück, beim Fußball, beim Streit mit dem Lebenspartner – überall können wir dieses Europa in uns entdecken, und mit ihm den Europäer: in Gestalt des streitbaren Friedensapostels oder des intellektuellen Erotomanen, des arbeitswütigen Müßiggängers oder des toleranten Prinzipienreiters, je nach Tagesform. Denn was immer wir denken oder tun, was immer wir hoffen oder wünschen – überall ist der europäische Geist längst in uns am Werke. Seine Werte prägen uns und unser Verhalten wie die Gene unseres biologischen Erbguts.
Warum verzweifeln wir so lustvoll am Rätsel der Liebe? Warum können wir nicht aufhören, nach dem Sinn des Lebens zu fragen? Warum müssen wir uns immer wieder quälen, um glücklich zu sein? Warum empfinden wir das Recht so oft als ungerecht? Warum suchen wir sogar noch als Atheisten nach Gott?
Warum wir wurden, wie wir sind, erfahren wir in der Geschichte des europäischen Geistes: bei Plato und Stephen Hawking, bei Augustinus und Giacomo Casanova, bei Goethe und bei den Beatles. Ihren Zeugnissen gelten die Entdeckungsreisen dieses Buches: quer durch die Epochen und Nationen, quer durch Mythologie und Philosophie, Literatur und Theologie, Folklore und Popkultur. Eine Expedition durch den abendländischen Wertekosmos und zweieinhalb Jahrtausende Ideengeschichte mit dem Ziel, uns mit jeder Etappe ein Stückchen weiter auf die eigene Pelle zu rücken.
Dabei haben wir natürlich alles falsch gemacht. Statt zwanzig Kapitel hätten es vielleicht auch fünfzehn oder fünfundzwanzig sein können. Auch die Gegensatzpaare selbst, mit denen wir die Kapitel strukturieren, hätten andere vermutlich anders gebildet. Und schließlich ist die Auswahl der Autoren und Texte, mit denen wir jedes Kapitel illustrieren, hoffnungslos subjektiv – von einzelnen Thesen und Interpretationen ganz zu schweigen.
Aber gehört Subjektivität nicht auch zu den genuin europäischen Werten? Zumindest dann, wenn sie sich, in Gestalt von These und Antithese, um größtmögliche Objektivität bemüht?
Dieses Buch ist Reiseführer und Lesebuch zugleich, eine Sammlung von Essays und eine Anthologie, die herausragende Zeugnisse der europäischen Geistesgeschichte in sich vereint. Sie geben uns die Möglichkeit, unsere Werte und deren Bedeutung für unser Leben zu überprüfen.
Was sind unsere besonderen Werte? Was und wie viel sind diese Werte uns wert? Sind wir bereit, für ihren Bestand und Erhalt Steuern zu bezahlen? Unsere Freizeit zu opfern? Unsere Partner zu wechseln? Hohn und Spott zu ertragen? Auf materielle Vorteile zu verzichten? In den Krieg zu ziehen? Unser Leben einzusetzen?
Ein Wesensmerkmal der europäischen Kultur ist ihre Offenheit für andere Kulturen. Wenn wir diese Offenheit verlieren, verlieren wir zugleich ein Stück unserer Identität. Doch müssen wir uns darum selbst verleugnen? Bei allen Vorzügen, die unsere Offenheit bietet, hat sie, in einer Art sprachlicher Subkultur, zu einem fragwürdigen Jargon der Uneigentlichkeit geführt. Zu »eigentlichen« Bekenntnissen ringen wir uns höchstens noch durch, wenn es um Antisemitismus oder Kinderpornografie geht – andere Bekenntnisse empfinden wir als lächerlich oder peinlich. Aber verdient nicht auch unsere Kultur ein Bekenntnis?
Europa ist mehr als eine Vereinigung von Ländern und Organisationen. Europa ist ein Wertekosmos, eine bestimmte, in Jahrtausenden erprobte Art und Weise, die Welt zu begreifen und zu verändern – in Richtung auf ein Leben, das den Menschen als Alpha und Omega begreift, als Ausgang und Ziel allen Denkens und Handelns. Ein System von Werten, die das Leben nach unserem Empfinden erst wirklich lebenswert machen.
Dieser Kultur können wir vielleicht nur treu bleiben, indem wir gelegentlich über ihren Schatten springen. Ja, wir bekennen uns zum Menschenrecht auf Freiheit – aber müssen wir darum wild gewordenen Cowboys die Steigbügel halten, wenn sie zu transatlantischen Kreuzzeugen in den Orient aufbrechen, anstatt auf die Überzeugungskraft des Wortes zu setzen? Ja, wir bekennen uns zur Toleranz – aber dürfen wir darum Intoleranz tolerieren, wenn Vertreter anderer Kulturen sie in unsere Kultur hineintragen wollen? Ja, wir bekennen uns zum Reichtum spiritueller Erfahrungen – aber müssen wir darum jeden esoterischen Unsinn mitmachen, der irgendwo auf Gottes weiter Welt gepredigt wird?
Darum raus aus der Uneigentlichkeit! Haben wir den Mut, uns zu unseren eigenen Werten zu bekennen! Nicht, um eine europäische Leitkultur zu etablieren, sondern um unsere eigene Kultur im Zeichen der Globalisierung einem globalen Wettbewerb auszusetzen: einem Wettbewerb von Ideen und Lebensformen, der den Vergleich mit anderen Kulturen nicht scheut, sondern fördert, einem Wettbewerb, der Vielfalt und Identität gleichermaßen ermöglicht und erlaubt.
»Um die Wette leben«, so lautet die Empfehlung eines berühmten europäischen Dichters an die Kulturen dieser Welt. – Wer dieser Dichter war? Wer ihn sucht, wird ihn in diesem Buch finden.
Peter Prange
Tübingen, Ostern 2006
Ich erinnere mich noch genau. Ich war etwa fünfzehn Jahre alt, mitten in der Pubertät, und hatte einen fürchterlichen Streit mit meinen Eltern. Statt zu argumentieren, schrien wir uns nur noch an. »Ihr habt mich ja nicht gefragt, als ihr mich in diese Scheißwelt gesetzt habt!«, schleuderte ich meinen Erzeugern irgendwann entgegen. Es entstand tödliches Schweigen. »Du … du weißt ja gar nicht, was du da sagst«, stammelte schließlich meine Mutter. Und mein Vater fügte hinzu: »Du versündigst dich am Leben.«
Ich lebe – doch warum und wozu? Diese Frage stellt sich vermutlich niemand, der gerade glücklich oder zumindest im Reinen ist mit sich und seinem Dasein. Ja, vielleicht ist sie grundsätzlich Ausdruck von Unreife und Schwäche, wie sie eher einem Fünfzehnjährigen ansteht als einem erwachsenen Menschen. Doch können wir die Frage nach dem Leben und seinem Sinn darum als schlichte Pubertätsfrage abtun?
Schön wär’s, denn die Aussicht auf eine allseits befriedigende Antwort ist ungefähr so groß wie die Aussicht auf einen Sechser im Lotto – Douglas Adams bricht bekanntlich »Per Anhalter in die Galaxis« auf, weil selbst der leistungsstärkste Computer sich in Millionen Jahren als unfähig erweist, den Sinn des Lebens zu ermitteln. Und trotzdem können wir Europäer nicht aufhören, uns immer wieder dieser Frage auszusetzen. Das aus mindestens doppeltem Grund. Einerseits gilt uns das Leben als höchstes Gut schlechthin: Kein Wert nimmt einen höheren Rang in unserem Wertesystem ein als dieser, weshalb der Schutz menschlichen Lebens in allen europäischen Verfassungen verankert ist. Andererseits aber, und das macht die Sache problematisch, empfinden wir selber ein Leben ohne Sinn als wertlos. Sinn ist, was sich den Sinnen entzieht – doch er allein gibt uns Orientierung. Wo er fehlt, irren wir ziel- und richtungslos durch das Leben, verloren wie eine Ameise ohne Instinkte in der Wüste. »There must be more to life than this«, singt darum Freddie Mercury, den eigenen Aids-Tod bereits vor Augen, »there must be more than meet the eyes.«
Was kann dieses unbekannte Etwas sein? Genau darüber streiten sich die abendländischen Gelehrten von allem Anfang an. »Das Leben«, schreibt Seneca, »ist lang genug und völlig ausreichend zur Vollführung auch der herrlichsten Taten, wenn es nur vom Anfang bis zum Ende gut verwendet würde.« Doch wonach sollen wir uns dabei richten? Wer oder was gibt uns Aufschluss über den sinnvollen Gebrauch und Vollzug unserer Existenz? Der heilige Augustinus glaubt die Antwort zu ahnen, doch um sich zu ihr durchzuringen, muss er einen schmerzlichen Prozess erleiden: »Noch zauderte ich zwischen Tod und Leben«, berichtet er über seine Bekehrung zum christlichen Glauben, »und mehr vermochte in mir noch das gewohnte Schlechtere als das ungewohnte Bessere, und je näher mir der Zeitpunkt trat, wo ich ein anderer werden sollte, desto größerer Schauder erfüllte mich …«
Betrachtet Seneca es als Aufgabe des Menschen, seine Existenz selbst mit Sinn zu füllen, so begreift Augustinus das Dasein als göttlichen Auftrag: Der Sinn des Lebens ist jedem von uns vorgegeben, denn das irdische Leben ist – als ein Geschenk Gottes – ja nichts anderes als Bewährung für das ewige Leben im Jenseits. Sinnvolles Leben kann deshalb nur ein gottgefälliges Leben sein, nach Maßgabe der offenbarten Wahrheit.
Doch ach, nicht jeder ist wie Augustinus zum Heiligen geboren, und je tiefer wir uns in das irdische Leben verstricken, desto schneller schwindet solche metaphysische Sinn- und Seinsgewissheit. Davon wissen die zwei größten Figuren des europäischen Dramas ein Lied zu singen. »Sein oder Nichtsein«, hadert Hamlet angesichts der Allgegenwart des Todes mit seinem Schicksal, dessen Ziel und Zweck sich ihm verschließen. Für den Dänenprinzen ist der Tod nicht mehr die Schwelle, hinter der eine höhere Instanz zuverlässig und gerecht die Summe aus dem Leben des Einzelnen zieht. Vielmehr lähmt das Bewusstsein der Ungewissheit jeden Entschluss mit so starken Zweifeln, dass Hamlets Erfahrung ganze Generationen nachfolgender Helden mit dem Gefühl der Ausweglosigkeit infiziert. »Hier steh ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor«, konstatiert sein deutscher Neffe Faust ebenso lapidar wie verzweifelt sein Scheitern in dem Bemühen, »zu erkennen, was die Welt, im Innersten zusammenhält«.
Mit der Aufklärung holt die abendländische Philosophie den Sinn des Lebens vom prinzipiell unerkennbaren Jenseits ins vermeintlich begreifbare Diesseits. Das Leben ist nicht mehr Mittel zu einem späteren Zweck, der sich hinter dem Schleier der Metaphysik verbirgt, sondern trägt seinen Sinn in sich selbst, ist Selbstzweck: Seine Unverletztlichkeit wird in den Kanon der Menschenrechte aufgenommen. Diese innerweltliche Aufwertung des Lebens erfährt wenig später durch die Naturwissenschaft eine verblüffende Rechtfertigung. Alles Leben, so interpretiert Charles Darwin die »Entstehung der Arten«, hat zum einzigen Ziel, sich selbst zu erhalten, im großen und ewigen Kampf ums Dasein. Doch ist nicht auch dieser Kampf vergebens? Schließlich ist jedem Leben, vom Augenblick seiner Zeugung an, Alter und Tod eingeprägt. Wozu, fragt darum Schopenhauer, »die mit unablässiger Mühe und steter Sorge, im Kampf mit der Not täglich errungene, kärgliche Erhaltung dieses Daseins«? Wenn jenseits des Todes keine Belohnung für das Leiden an und in der Existenz mehr wartet, fällt die Natur ja selbst ihr Verdammungsurteil über den Willen zum Leben. So dass sich dieses am Ende als nichts anderes entpuppt als ein »fortgesetzter Betrug, im Kleinen wie im Großen«.
Von diesem Vorschlaghammer der Philosophie getroffen, zerfällt der Sinn des Lebens europaweit in kaum noch wahrzunehmende Atome. Während Rilke in seinen »Duineser Elegien« einen Lobpreis auf das Leben anstimmt, der nur noch im Reich der Dichtung Sinn machen kann, zieht Don Fabrizio, Lampedusas »Leopard«, auf seinem Sterbebett erschütternde Bilanz: wie »Goldkörnchen im Sand« erscheinen ihm die wenigen Augenblicke, die es in siebzig langen Jahren wert gewesen waren, gelebt zu werden.
»Unser Leben währet siebzig Jahre, und was daran köstlich erscheint, ist doch nur Mühe.« Schopenhauer, Lampedusa, die Propheten des Alte Testaments – sie haben beschrieben, wie ich als Fünfzehnjähriger meine Existenz zu empfinden glaubte: als absurd. Wladimir und Estragon, Becketts traurig-komische Figuren, erschienen mir wie Brüder beim »Warten auf Godot«. Mein absoluter Lieblingslesebuchheld der damaligen Zeit aber war Sisyphos, der tragischste Held der Antike, und zwar in der Gestalt, die Albert Camus ihm verliehen hatte. Keiner verkörperte mein eigenes Lebensgefühl so großartig wie er. Von den Göttern dazu verurteilt, immer wieder einen Felsbrocken den Berg des Lebens hinaufzuwälzen, ohne je ans Ende dieser sinnlosen Plackerei zu gelangen, erschien Sisyphos nun als Inbegriff des modernen Menschen – und ich durfte mich in ihm wiedererkennen! Welch schaurig-dramatische Größe wuchs mir auf diese Weise zu … Dabei sah ich geflissentlich über die entscheidende Wende hinweg, mit der Camus am Ende seines Essays gegen sein eigenes Fazit aufbegehrt – dass wir uns Sisyphos nämlich »als einen glücklichen Menschen« vorstellen müssen.
Wie soll ein solches Kunststück gelingen? Mit der Beantwortung dieser Frage hat der Wiener Psychologe Viktor Frankl sein ganzes Leben verbracht. Als eine der größten Krankheiten der Moderne diagnostiziert er das Gefühl der Sinnlosigkeit, von dem er auch und gerade solche Menschen befallen sieht, die in objektiv beneidenswerten Umständen leben (wie zum Beispiel ich mit fünfzehn Jahren). Ihnen hält er entgegen, dass jeder Mensch die Chance hat, sich von diesem existenziellen Vakuum selbst zu kurieren. Nicht, indem er nach einem wie auch immer gearteten metaphysischen Sinn sucht, einem Sinn »an sich«, der für immer und ewig und jeden Menschen gleichermaßen gilt. Sondern, indem er seinen ganz eigenen, nur ihm gehörigen Sinn aufspürt, den das Leben für ihn persönlich bereithält: »Sinn ist jeweils der konkrete Sinn in einer konkreten Situation. Jeder Tag, jede Stunde wartet mit einem neuen Sinn auf, und auf jeden Menschen wartet ein anderer Sinn.«
Was für ein Bekenntnis zum Leben, was für ein Bekenntnis zum Sinn! Ausgesprochen von einem Mann, der selber das größte Leid durchlitten hat, das Menschen in der Geschichte Europas je erfuhren: im Konzentrationslager von Auschwitz.
Lucius Annaeus Seneca
Lucius Annaeus Seneca (4 v. Chr.–65 n.Chr.) ist einer der großen Vertreter der klassischen römischen Zeit. Als Philosoph und Dichter genoss er hohes Ansehen, weshalb er 48 zum Erzieher von Kaiser Nero ernannt wurde. Die Grundsätze seines Denkens sind Gelassenheit, Pflichterfüllung und Freiheit. Von der Kürze des Lebens handelt von der Maxime, hier und heute zu leben, anstatt auf dauernde Arbeit zu setzen. Nachdem ihn Nero der Konspiration verdächtigt hatte, wurde er ohne Gerichtsurteil zum Selbstmord gezwungen. In Anwesenheit seiner Freunde öffnete sich der Philosoph die Pulsadern. Außerdem trank er Gift aus dem Schierlingsbecher, mit dem sich schon Sokrates getötet hatte.
1. Die meisten Menschen, meint Paulinus, klagen über die Bosheit der Natur: unsere Lebenszeit, heißt es, sei uns zu kurz bemessen, zu rasch, zu reißend verfliege die uns vergönnte Spanne der Zeit, so schnell, daß mit Ausnahme einiger weniger den anderen das Leben noch immer unter den Zurüstungen zum Leben entweiche. Und es ist nicht etwa bloß der große Haufe und die unverständige Menge, die über dies angeblich allgemeine Übel jammert, nein, auch hoch angesehene Männer haben, von dieser Stimmung angesteckt, sich in Klagen ergangen. Daher jener Ausruf des größten der Ärzte: »Kurz ist das Leben, lang die Kunst.« Daher der einem Weisen wenig ziemende Hader des Aristoteles mit der Natur: »Die Natur habe es mit den Tieren so gut gemeint, daß sie ihnen fünf, ja zehn Jahrhunderte Lebenszeit vergönne, während dem Menschen, der für so vieles und für so Großes geboren sei, ein so viel früheres Ende beschieden sei.« Nein, nicht gering ist die Zeit, die uns zu Gebote steht; wir lassen nur viel davon verloren gehen. Das Leben, das uns gegeben ist, ist lang genug und völlig ausreichend zur Vollführung auch der herrlichsten Taten, wenn es nur von Anfang bis zum Ende gut verwendet würde; aber wenn es sich in üppigem Schlendrian verflüchtigt, wenn es keinem edlen Streben geweiht wird, dann merken wir erst unter dem Drucke der letzten Not, daß es vorüber ist, ohne daß wir auf sein Vorwärtsrücken achtgegeben haben. So ist es: nicht das Leben, das wir empfangen, ist kurz, nein, wir machen es dazu; wir sind nicht zu kurz gekommen; wir sind vielmehr zu verschwenderisch. Wie großer fürstlicher Reichtum in der Hand eines nichtsnutzigen Besitzers, an den er gelangt ist, sich im Augenblick in alle Winde zerstreut, während ein, wenn auch nur mäßiges Vermögen in der Hand eines guten Hüters durch die Art, wie er damit verfährt, sich mehrt, so bietet unser Leben dem, der richtig damit umzugehen weiß, einen weiten Spielraum.
2. Was klagen wir über die Natur? Sie hat sich gütig erwiesen: das Leben ist lang, wenn man es recht zu brauchen weiß. Aber den einen hält unersättliche Habsucht in ihren Banden gefangen, den anderen eine mühevolle Geschäftigkeit, die an nutzlose Aufgaben verschwendet wird; der eine geht ganz in den Freuden des Bacchus auf, der andere dämmert in trägem Stumpfsinn dahin; den einen plagt der Ehrgeiz, der immer von dem Urteil anderer abhängt, den anderen treibt der gewinnsuchende, rastlose Handelsgeist durch alle Länder, durch alle Meere; manche hält der Kriegsdienst in seinem Bann; sie denken an nichts anderes, als wie sie anderen Gefahren bereiten oder ihnen selbst drohende Gefahren abwehren können; manche läßt der undankbare Herrendienst sich in freiwilliger Knechtschaft aufreiben; viele kommen nicht los von dem Glücke anderer oder von der Klage über ihre eigene Lage; die meisten jagt mangels jeden festen Ziels ihre unstete, schwankende, auch sich selbst mißfällige Leichtfertigkeit zu immer neuen Entwürfen. Manche wollen von einer sicher gerichteten Lebensbahn überhaupt nichts wissen, sondern lassen sich vom Schicksal in einem Zustand der Schwäche und Schlaffheit überraschen, so daß ich nicht zweifle an der Wahrheit des Wortes jenes erhabenen Dichters, das wie ein Orakelspruch klingt:
»Ein kleiner Teil des Lebens nur ist wahres Leben«;