Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Mai 2015
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ISBN Printausgabe 978-3-499-62921-1 (1. Auflage 2015)
ISBN E-Book 978-3-644-53911-2
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Die Schweizer behaupten: Schweizerdeutsch ist eine eigene Sprache!
Die Deutschen widersprechen empört, nein, es handelt sich lediglich um einen Dialekt, allenfalls eine Halskrankheit.
Recht haben: die Schweizer!
Schon der Begriff Schweizerdeutsch ist irreführend. Das Schweizerische ist mit dem Hochdeutschen ungefähr so eng verwandt wie die Schwalbe mit dem Krokodil: Beide stammen von Sauriern ab.
Das eine, für alle gültige Schweizerische oder gar Hochschweizerische gibt es nicht. Es klingt in jedem Kanton und jeder Region anders, verfügt über verschiedene Wort-Schätze und unterschiedliche Betonungen. Ein Basler zum Beispiel hat ernsthafte Schwierigkeiten, einen Innerschweizer Bergbauern zu verstehen. Das Schweizerische ist eine sehr variantenreiche Sprache, die in mündlicher Form von Generation zu Generation weitergegeben wird. Es ist Gebrauchssprache für den Alltag. Keine Schnörkel im Satzbau und keine Hemmungen bei Wortwiederholungen.
Der Vorteil einer fast nur im Mündlichen existenten Sprache: Sie lebt! Permanent kommen neue Wortgebilde hinzu, gerne wird aus dem Ausland übernommen. Aktuell aus dem Englischen: Der Computer wird zum «Kompi», das Mittagessen zum «Löntsch» und das Blatt Papier zum «Schiit»; wenn jemand den Heimweg antritt, macht er den «Houmrönn», und wenn einer vom rechten Weg abgekommen ist, muss man ihn wieder «bäck on Träck» bringen. Früher war’s das Französische. Aus «adieu» wurde «adiä», der Gehsteig heißt «Trottuar», und statt auf das Sofa fläzen sich die Schweizer «ufs Kanapee». Dafür bleibt die aus dem Deutschen importierte Joppe ein «Tschoopen», selbst wenn es sich um ein Designerjackett handelt.
Der Nachteil einer fast nur im Mündlichen existenten Sprache: Sie lebt! Und ist daher nicht mit Regeln zu bändigen. Was eine ganze Reihe von Duden-affinen Lektorinnen und Korrektoren beim Rowohlt Verlag in den schieren Wahnsinn trieb. Sie mussten es ertragen, dass ich in weiten Teilen des Büchleins das typisch Schweizerische ans Deutsche anpassen musste, etwa die Erzählungen vom Dietr oder die Gedankenwelt vom Geeri. Daraus wird das sogenannte Schriftdeutsch. Das hat so wenig mit Deutsch zu tun wie der folgende Satz eines Deutschen mit Englisch: «You can me you say, because I also a football fan am like you, and I find it very beautiful, that we two us here meet.» Merken Sie? Bei der Eins-zu-eins-Übertragung in eine andere Sprache wird’s kurios. Und genau das macht der Schweizer im Schriftdeutsch. Er übersetzt das Schweizerische mehr oder weniger eins zu eins Richtung Deutsch. Und der Deutsche wundert sich.
So wie Sie, verehrte Leser, sich wundern werden über die vielen «dann» und «auch». Oder über die mangelnden Synonyme für die Wörter «kommen» und «machen», «sagen» und «sein». Wundern Sie sich nicht, Schweizer reden und denken so.
Sie glauben, diese vielen «odr» am Schluss von Aussagen seien wirklich als Frage gemeint? Falsch, es ist eine Bestätigung der Aussage wie das «hugh» bei Karl Mays «Winnetou».
Verstärkungen von Aussagen gibt es übrigens in mannigfaltiger Form. Wenn ein Schweizer nicht einverstanden ist, sagt er: «Find ich nicht gut.» Gar nicht einverstanden heißt: «Find ich, im Fall, nicht gut.» Die nächste Steigerung der Ablehnung lautet: «Find ich dann aber, im Fall, gar nicht gut», und wenn etwas nur über seine Leiche passieren wird: «Du, find ich dann aber, im Fall beim Eid, dann aber grad gar nicht gut, gäll, du, und überhaupt sowieso, odr, hä!» Der Effekt ist klar: Je mehr Füllwörter, desto länger wird die mündliche Ablehnung und darum umso eindeutiger.
Sie werden sich bestimmt auch über den oft nicht vorhandenen Genitiv wundern. Tatsächlich existiert er im Schweizerischen gar nicht. Und im Schriftdeutschen auch nur notfalls. So werden aus «Dietrs Wanderschuhen» die Wanderschuhe vom Dietr oder dem Dietr seine Wanderschuhe. Was in Deutsch nach Deppensprache klingen mag, ist im Schweizerischen sowohl literarisch erlaubt wie auch grammatikalisch korrekt.
Sie wundern sich, warum Menschen weiblichen Geschlechts im Schweizerischen versächlicht werden? «Das Lotti», «das Vreni», «das Muätti»? Dies Phänomen hat mit dem verkleinernden «i» am Namensende zu tun. Wie im Deutschen aus der Tasche das Täschchen wird, verwandelt sich alles Weibliche in der schweizerischen Verkleinerung zur Sache. Inklusive der Frauen selbst. Nicht so bei den Männern. Der Gerhard bleibt auch als kleiner Bub der Geeri, der Dietr bleibt der Dieti. Warum? Weil es schon der Grosvatti und das Grosmuätti so gesagt haben, odr!
Mein Tipp: Lassen Sie sich die Leute vom Lektorat ein warnendes Beispiel sein. Die wunderten sich, dann empörten sie sich, schließlich versuchten sie unter Einsatz ihres Lebens, die Welt der Sprachregelung zu retten, um schließlich resigniert zu verzweifeln. Es geht diesen tapferen Frauen und Männern inzwischen und nach einer notfallmäßigen Trauma-Intensivbehandlung wieder etwas besser, aber es war hart! Dies soll Ihnen erspart bleiben, daher rufe ich Ihnen zu: Wundern Sie sich über nichts, bewahren Sie ruhig Blut, es ist alles in Ordnung, es handelt sich lediglich um Schweizerisch. Nehmen Sie’s einfach hin, vielleicht macht’s, im Fall, ja sogar Freude …
Ja, zugegeben, «Dieter» ist ein weitverbreiteter und anerkannter Name. Viele respektable Persönlichkeiten tragen ihn gelassen und mit akzeptabler Zufriedenheit. Unter den prominenten Dieters gibt es alles, was Kultur, Wirtschaft und Unterhaltung zu bieten hat. Von Sängerwettbewerbs-Juroren über Hitparade-Showmaster, aktive wie auch leider verstorbene Kabarettisten, Filmemacher, Ost-Rocker, Skispringer, Volksschauspieler, Journalisten, Lobbyisten, Filmfestivaldirektoren, Multimilliardäre bis hin zu einem Edelkarossenschmiedenvorstandsvorsitzenden samt Schnauzer. Nicht Hund, Oberlippenbart.
Dennoch ist das kein objektives Kriterium dafür, dass jeder diesen Namen liebhaben muss. Er wird nämlich auch von Mördern, Entführern, Vergewaltigern, Erpressern, Steuerhinterziehern und Kettenrauchern getragen. Was wiederum kein objektives Kriterium dafür ist, diesen Namen zu verabscheuen.
Objektiv kommen wir hier also nicht weiter, womit wir beim Subjektiven sind und damit beim Geschmack, über den sich trefflich streiten lässt, wenngleich ergebnislos. Objektiv gibt es Dieters, die unter ihrem Namen subjektiv leiden. Es ist kein Zufall, dass im Internet ein recht schräges Filmchen über eine Selbsthilfegruppe von Dieter-Traumatisierten kursiert. Ich gehörte zu diesen Leidenden, wenngleich es nicht so schlimm war, dass mir der Gedanke gekommen wäre, eine Selbsthilfegruppe ins Leben zu rufen.
Aber es hat mich schon seit jeher gestört, dass meine Eltern in den späten 50er Jahren auf die in der damaligen Schweiz doch sehr unübliche Idee verfallen sind, mich mit diesem Namen zu markieren. Ich verstand auch nicht, warum sie dies so konsequent alternativlos gemacht haben. Warum keine gnädige Verwässerung wie Dieter-Thomas oder Dieter-Karl oder Heinz-Dieter oder Sven-Dieter-Richard?
Warum einzig dieses nackte «Dieter»? Sie konnten oder wollten mir keine wirklich erschöpfende Auskunft dazu geben. «Hat uns halt gefallen, einfach darum … nein, wir erinnern uns nicht, wer die Idee zuerst hatte … wir fanden’s eben gut …»
«Aber warum nicht zum Beispiel Jakob, Viktor oder Max?!», fragte ich weiter. «Max hätte mir maximal gut gefallen!»
«Nein, niemals Max!», riefen sie und schlugen die Hände über dem Kopf zusammen, ich solle bloß froh sein, nicht so zu heißen, da würde doch jeder sofort an Max und Moritz vom Wilhelm Busch denken!
Nun, mich hätte das nicht gestört. Denn woran denkt man bei Dieter? Wie würde ein Tier aussehen, das Dieter heißt? Irgendwas braun gefiedert Zerrupftes, Flugunfähiges vielleicht. Welches Haushaltsprodukt würde man «Dieter» nennen? Höchstens einen Ceranfeld-Schaber. Was würde ein schwedisches Möbelhaus denn mit «Dieter» etikettieren, den Teekannen-Tropfenfänger oder doch den Blecheimer? Und wer würde zum Laufsteg eilen, wenn «Dieter-Moden» vorgeführt würden? Doch allenfalls Menschen, die auch das Guidomobil geil fanden.
Die Fastfood-Kette «Dieter’s», die Dieter-Bank oder Dieter-Airways: zum Bankrott verurteilt. Warum heißt kein einziges Automodell weltweit Dieter, warum kein Smartphone und kein Laserdrucker, ja, nicht einmal eine popelige Zahnbürste oder wenigstens ein Lipgloss? Eben!
Aber ein wehrloses, süßes und ahnungslos vertrauensvolles Knuddel-Babylein, das schon, gell? Das darf bedenkenlos Dieter genannt werden, oder was?
Es darf! Auch in der Schweiz der späten 50er, wenn das auch eher selten exekutiert wurde. Und das ist gut so, denn von Schweizern ausgesprochen, wird der Name zur Drohung. Das deutsche Diita klingt gegen das harte schweizerische Diätrr geradezu nach Wohlfühltee.
Kleiner Aussprachekurs in Sachen Dieter auf Schweizerisch gefällig? Bitte sehr! (Es wird darauf hingewiesen: Für unerwünschte Nebenwirkungen übernimmt der Autor keine Haftung.)
Also: Wer Hochdeutsch spricht und das geschriebene Wort «Diätr» vorliest, wird es aussprechen wie «Diät», also wie: «Der männliche Diäter ist am Kühlschrank gescheitert.» Und ist damit schon recht nah am Schweizerdeutschen. Es muss nur noch die Betonung innerhalb des Wortes vom «ä» aufs «i» verlegt werden, also nicht Diäter, sondern Diäter. Jetzt noch flugs das zweite «e» weggelassen, also Diätr, ja, sehr schön, und nun bitte das «r» schön rrrussisch rrrollen lassen, Diätrrr. Bravo, ausgezeichnet, hundert Punkte.
Im folgenden, 268-seitigen Übungstext kommt das Wort recht häufig vor, dort dann allerdings «Dietr» geschrieben. Anfangs mag es ungewöhnlich sein, mit den Augen Dietr zu lesen und mit der Zunge Diätrr zu sagen, aber recht bald kommt es so fließend über die Lippen wie das in Deutschland allseits beliebte «Chuchichäschtli». Nur den Mut nicht verlieren und viel Glück!
Ach so, fast hätt ich’s vergessen, ich wollte ja berichten, warum der Max nicht mehr der Dietr ist: Ich hab mich umbenannt.
Endlich.
Die Schweiz ist groß. Unendlich groß. So groß wie die größte Sache von der ganzen Welt mal tausend. Und schön. So schön wie die schönste Sache von der ganzen Welt mal tausend. Auch ich bin ein Stückchen Schweiz. Weil, ich bin Schweizer. Ich will, später im Leben, wenn ich erwachsen bin, die ganze Schönheit von der ganzen Schweiz kennenlernen. Alles.
Bis jetzt kenne ich erst die Schönheit von Mellikon, wo wir wohnen.
Wenn ich alle Schönheiten der riesigen Schweiz kennenlernen will, also dann muss ich mein ganzes Leben lang jeden Tag darin herumwandern. Ohne je zweimal denselben Weg zu machen. Und erst als alter, alter Mann, sogar noch älter als der Vatti oder das Muätti, erst wenn ich einmal so alt geworden bin wie der Grosvatti, also über sechzig Jahre alt, erst dann könnte ich vielleicht sagen: «So, jetzt kenne ich die ganze Schönheit der ganzen Schweiz!» Und könnte in Frieden sterben.
So wie mein Urgrosvatti. Der ist auch in Frieden gestorben. Obwohl er die ganze Schweiz noch gar nicht kannte. Noch lange nicht. Eigentlich kannte er nur seinen Bauernhof, den Hinteracher. Dort ist er eines Abends im Bett eingeschlafen, und als er am nächsten Morgen erwachte, merkte er, dass er tot ist.
Das Urgrosmuätti hat es auch gemerkt, aber erst später, als die Sonne schon oben war. Der Maa wollte und wollte einfach nicht runterkommen, obwohl sie ihn so viele Male gerufen hatte, zu seinem Milch-Kafi mit Brotbröcken, den sie für ihn zwäg gemacht hatte, das ist doch sein Lieblings-Zmorgen-Essen. Dann ist sie halt über die steile Holztreppe rauf zu ihm. Und dann hat sie es auch gemerkt.
Mein Urgrosvatti hat die Schweiz nicht kennengelernt, weil er auf seinem Hinteracher, statt auf das Schöne der Schweiz zu schauen, schauen musste, dass die Kühe und die Schweine und die Enten und der Hund und die Katzen es schön haben. Und drum hat auch seine Frau, das Urgrosmuätti, die Schweiz nicht kennengelernt, weil sie immer nur bei ihrem Mann sein wollte. So fest wollte sie immer bei ihm sein, dass sie nach dem Morgen, als er tot aufgewacht ist, noch ein Weilchen ohne ihn durchgehalten hat und dann, exakt am gleichen Morgen, nur einen Monat später, aufwachte und gleichfalls tot war. Jetzt sind die beiden wieder zusammen, im Himmel, beim lieben Gott. Ohne die ganzen Schönheiten der ganzen Schweiz je kennengelernt zu haben. Obwohl sie doch schließlich Schweizer gewesen sind! Dafür können sie jetzt die Schönheit vom Himmelreich kennenlernen, hat der Pfarrer gesagt, und haben auch genug Zeit dafür, weil sie dort oben keinen Hinteracher haben und ewiglich leben, in Ewigkeit, amen.
Ich will zuerst die ganzen Schönheiten der ganzen großen Schweiz kennenlernen und erst hinterher die Schönheit vom Himmelreich. Weil, umgekehrt funktioniert’s glaub ich nicht.
Auch der Sohn vom Urgrosvatti, der Grosvatti, hat die Schweiz nicht kennengelernt. Er hat zwar keinen Hinteracher, kann aber trotzdem nicht herumwandern, weil: Er muss in die Fabrik. An manchen Sonntagen versucht er trotzdem, ein paar Schönheiten kennenzulernen, und wandert von Bubikon nach Rüti. Oder vom Fischental hinauf, auf den Bachtel. Aber weiter kommt er nie. Er ist einfach nicht schnell genug. Obwohl er einen Spazierstock hat, mit einem Metallspitz unten dran, und oben ist ein Drehverschluss und da drunter ein Metallröhrli und dadrin Kirsch. Er brauche halt Brennstoff, sagt er zum Grosmuätti, die es nicht so gern hat, wenn er den Spazierstock vor jeder Wanderung nachlädt, aus der Kirschflasche.
Der Sohn vom Grosvatti, mein Vatti, hat es da schon viel besser getroffen: Er hat nämlich, als Allererster in der ganzen Familie, einen Fauweh-Käfer! Einen schönen, perlweißen. Gut, das Tanti Lotti hatte schon vor dem Vatti einen Fauweh-Käfer, einen Taubengrauen, aber das Tanti Lotti ist eben eine aus der Familie vom Muätti, und die sind ein anderes Geschlecht, und darum zählt die nicht. «Ich bin von allen Mooren der Erste mit eigenem Auto», sagt der Vatti stolz. Stimmt ja auch, schließlich.
Mit diesem perlweißen Fauweh kann er viel schneller als zu Fuß die Schönheiten der Schweiz kennenlernen. Er muss auch nicht in eine Fabrik, sondern kann in ein Büro in der Winterthur-Lebensversicherung. Aber nicht immer. An manchen Tagen darf er mit dem Fauweh hinausfahren, zu den Handwerkern und den Bauern und den Einfamilienhausbesitzern. So lernt er die Schönheit von mehr Dörfern kennen als der Grosvatti und der Urgrosvatti zusammen.
Aber er darf eben nie weiter fahren. Nie über den Aargau hinaus, weil dort hört sein Gebiet dann auf.
Der Aargau liegt in der Mitte der Schweiz, aber am oberen Rand, an der Grenze zu den Schwaben. Der Aargau ist der schönste Kanton der Schweiz. Darum sind die anderen Kantone neidisch auf den Aargau und spotten über ihn. Zum Beispiel: Auf den Nummernschildern der Aargauer Autos steht neben dem schönen Kantonswappen geschrieben: AG. Die anderen Autofahrer behaupten, das heiße «Achtung Gefahr». Obwohl sie selber ganz genau wissen, dass AG die Abkürzung von Aargau ist. Aber wir rächen uns und sagen, dass das ZH von den Zürcher Autofahrern «Zuchthäusler» heiße. Mein Vatti sagt, die Zürcher fahren wirklich wie die Gängschter.
Die anderen Kantone behaupten auch, der Kanton Aargau habe nichts als Rüäbli und Stroh. Dabei ist das Strohdach vom Heimatmuseum Muhen weit über den Aargau hinaus berühmt. Und unsere Rüäbli-Torte wird sogar bis ins Ausland gern gegessen. Gut, der Aargau hat halt wirklich keine Berge, das stimmt schon. Aber dafür die schönen Hügel vom Jura, im Jura waren früher die Dinosaurier. Und wir haben den größten Eisenbahnknotenpunkt der Schweiz, in Olten, und die größte Kavalleriekaserne, in Aarau, und die größte Schuhfabrik, die Bally. Und die vielen Wasserkraftwerke an der Aare. Und die Habsburgerburg, wo die Habsburger herkommen, gegen die der Wilhelm Tell gekämpft hat, und das große Betonwerk und die Weyacher Kiesgrube mit dem berühmten Weyacher Kies und das Schloss Hallwyl und neben dran noch eine echte Pfahlbauersiedlung.
All diese Schönheiten vom Aargau und noch viele mehr hat der Vatti mit dem Fauweh auf den Besuchen bei den Kunden kennengelernt. Aber eben nur vom Aargau. Der ist zwar ziemlich riesig, aber die Schweiz ist eben noch riesiger, und da hat es noch viel mehr Schönheiten.
Ich kenne niemanden, der alle Schönheiten von der ganzen Schweiz kennt.
Die Schweizer Männer kennen mehr Schönheiten als die Schweizer Frauen, weil die Frauen dürfen nicht in den Militärdienst. Im Militärdienst kommt man nämlich ziemlich herum, in der Schweiz. Zum Beispiel haben wir hier bei uns in Mellikon immer wieder Soldaten. Die übernachten dann in unserer Schule, und wir haben frei. Die kommen oft zu uns, weil Mellikon am Rhein liegt. Aber, Achtung: Ab Mitte Rhein ist dann nämlich schon Deutschland! Wir sind also nur ein paar Meter neben dem Ausland, also schändlich nah dran, hä. Und dort haben die schon ihre eigenen Soldaten, so Deutsche, und darum müssen wir hier auch unsere eigenen Soldaten haben.
Die Unseren bauen dann vor dem Schulhaus ein Zelt auf, mit einer Küche drin, und dann riecht es gut im ganzen Dorf. Nach Fleischvögeln und nach Rüäbli-Suppe, und als Kind kann man da hingehen und fragen, ob sie vielleicht foorigi Militär-Schoggi haben oder Militär-Guätzli oder Panzer-Chääsli, und meistens bekommt man dann etwas und darf es mit nach Hause nehmen. Außer, die anderen Kinder waren schneller und es hat nur noch so wenig, dass die Soldaten es für sich selber brauchen.
«Leider, nichts für ungut.»
Diese Soldaten kommen von überall her zu uns, aus der ganzen Schweiz. Sie kommen mit riesigen Militärlastautos, ein paar sogar mit Panzern, damit sie die Schönheit von Mellikon kennenlernen und das Melliker Schulhaus, das ich zwar nicht sooo schön finde, aber trotzdem.
Die Soldaten müssen nämlich bei uns alles kennenlernen, klar, odr? Damit sie es verteidigen können, wenn dann im Ernstfall die Schwaben kommen.
Und dann sind dann die Deutschen schaurig im Nachteil, wenn sie kommen. Die haben im Fall keine Ahnung, wo bei uns welcher Weg wohin geht und wo der Zwissig-Bauer seinen Hof hat. Unsere Soldaten aber schon. Und wir Melliker auch. Und wenn wir auch nur die Wegweiser andersrum hinstellen, wissen wir trotzdem noch, wohin, aber die Deutschen verlaufen sich im Wald und sind verloren. Und wenn sie dann Hunger haben, wissen die nicht einmal, wem der obere und wem der untere Dorfladen gehört.
Das ist für uns ein Standortvorteil, sagt der Vatti. Logisch, weil zum Beispiel: Hörnli darf man nur im unteren Laden kaufen. Als wir hier noch neu waren in Mellikon und es noch nicht besser wussten und im oberen Laden Hörnli kauften, weil das Muätti Älplerhörnli mit Chääs und Apfelmus kochen wollte, da waren kleine Würmchen drin, im Hörnlipack. Die haben sich schön gewunden, als sie merkten, dass wir sie entdeckt haben! Das Muätti hat es richtig durcheinandergeschüttelt, so hat es sie gegruust, vor den Würmli. Da merkten wir: Hörnli nur im unteren Laden kaufen. Dafür muss man Caramel-Bouchées und Fünfer-Möcken im oberen Laden kaufen, weil: Im unteren hat’s die gar nicht.
Das muss man wissen!
Und unsere Soldaten wissen das eben, wenn sie im Militär die Schönheit von Mellikon kennengelernt haben. Und die Schwaben nicht. Und wenn dann der Ernstfall da ist und sie über den Rhein kommen, um uns zu überfallen, fressen sie die Würmchen-Nudeln, und ihnen wird schlecht, und sie können nur noch kotzen, und vor lauter Kotzen können sie uns die Freiheit nicht rauben, und dann geben sie auf. Und die guten Hörnli vom unteren Laden können wir für uns alleine behalten.
Auch mein Vatti hat im Militär viele schweizerische Schönheiten kennengelernt, damit er sie verteidigen kann. Zuerst in der Rekrutenschule, RS, und dann im WK. Zum WK kann man auch Wiederholungs-Kurs sagen. Da geht der Vatti jedes Jahr wochenlang hin und übt alles immer wieder von vorne, damit er nicht vergisst, wie das geht mit dem Verteidigen. Der Vatti ist bei den Telefönlern, und darum kann er das Morse-Alphabet auswendig. Da muss er dann in schöne fremde Dörfer der Schweiz einrücken und üben, und dann fährt er zu wieder anderen Schönheiten, wo er lange Drähte von der Kabelrolle abrollt, damit er Soldatengeheimnisse morsen kann.
«In dieser Schule dahinten habe ich auch schon biwakiert», sagt der Vatti oft am Sonntag, wenn er nicht in die Winterthur muss oder mit dem Fauweh zu den Kunden, sondern ein Sonntagsfährtli mit uns macht. Oder: «Da drüben, der Bären, das ist noch eine währschaft gute Beiz, die kenn ich vom WK.» Oder: «Da in dem Tal da rechts, da haben wir in der RS von der Sennerin Ziegenmilch bekommen, die war dann schön fein, die Milch, du, mhmmmm …»
Das Muätti sitzt bei diesen Ausflügen jeweils auf dem Autositz neben dem Vatti. Das sei der Todessitz, sagt der Vatti, weil statistisch gesehen die meisten Toten auf diesem Sitz waren, bevor der Autounfall passierte. Auf dem sitzt also das Muätti und hat die Generalstabskarte auf dem Schoß, wo die ganze Schweiz daraufgezeichnet ist, sogar die Telefonmasten und die Dorfbrunnen. Und sie sagt dem Vatti, ob rechts oder links oder geradeaus. Manchmal streiten sie, weil das Muätti es zu spät sagt oder falsch oder der Vatti es nicht gehört hat oder links abgebogen ist, obwohl sie rechts gesagt hat. Oder sagen wollte. Oder weil das nächste Dorf, huäregopfertami, auf der Tafel am Straßenrand anders angeschrieben ist als auf der Karte. Dann kehrt der Vatti mit dem Fauweh um, und das Muätti gibt ihm einen Schluck Milch-Kafi aus der Thermoskanne mit der pfefferminzgrünen Plastikhülse, zur Beruhigung.
Ich will alle Schönheiten der Schweiz unbedingt kennenlernen. Und darum mach ich die Ausflüge mit dem Fauweh mit. Was ich aber nicht verstehe, ist, warum der Vatti unbedingt will, dass wir genau ausgerechnet gerade die Schönheit von dem Dorf kennenlernen müssen, das er sich vorher ausgewählt hat auf der Generalstabskarte. Wo wir doch auf dem Weg zu seinem ausgewählten Dorf geschlagene Stunden lang durch Dörfer fahren, von denen wir genauso gut ihre Schönheit kennenlernen könnten, aber eben leider nicht kennenlernen, weil wir nur durchfahren. Beim Durchfahren wird das nichts, mit dem Kennenlernen. Auf der Rückbank vom Fauweh sehen wir Kinder nur die Hausdächer und die Straßenlampen an den Seitenfensterchen vorbeiflitzen, und wenn man in der Mitte auf der Rückbank sitzt, nicht einmal das richtig. Das bin meistens ich! Meistens werde gerade ausgerechnet ich vom Vatti oder vom Muätti oder vom Vreni oder vom Matti gezwungen, in der Mitte zu sitzen, weil ich auch vom Alter her der Mittlere sei, sagen sie.
Ja, gut, dafür sieht man in der Mitte besser nach vorn. Zwischen dem Kopf vom Vatti und dem Kopf vom Muätti hindurch kann man gut sehen, was da vorne auf einen zukommt. Aber kaum sehe ich etwas Schönes, was ich kennenlernen will, wusch, ist es schon nicht mehr vorne, sondern seitlich, und wenn ich den Kopf verdrehe und es seitlich anschauen will, sehe ich nur den Kopf vom Vreni oder vom Matti, und die kenne ich beide schon. Außerdem kommt es mir nicht unbedingt vor, dass die schön sind.
Vom vielen Gucken und Wusch und Neugucken und wieder Wusch wird mir immer schlecht, hinten im Fauweh. Aber Augen zumachen, damit ich nicht mehr gucken muss, hilft auch nichts, weil ich dann, mit Augen zu, den Geruch stärker rieche vom perlweißen Plastikhimmel vom Fauweh, und davon wird mir noch schlechter.
Und wenn ich sage, «mir ist schlecht», wird die Stimmung im Fauweh auch schlecht, und der Vatti sagt, wir sind bald da, und dann sagt das Muätti, das glaube sie nicht, und schaut in die Karte, und dann sagt der Vatti, Kartenlesen sei keine Glaubensfrage, sondern eine Könnensfrage, und dann sagt das Muätti, er solle doch die Schiiss-Karte selber lesen, und dann sagt der Vatti, das könne er nicht, weil er ja fahren müsse, und dann sagt das Muätti, das habe er jetzt davon, dass sie keinen Fahrausweis habe, und dann sagt der Vatti, wenn sie Karte lesen könnte, brauche sie keinen Fahrausweis, dann könne er uns überall hinfahren, und dann sagt das Muätti, wenn sie den Fahrausweis hätte, dann könne sie uns auch überall hinfahren, weil ja dann er auf dem Todessitz die Karte lesen würde, was er ja angeblich so gut könne, und dann sagt der Vatti, nicht angeblich, sondern echt, und wenn sie so Auto fahren würde, wie sie Karte lese, dann würde sie ja nie wohin kommen, außer in den Straßengraben, vielleicht beim Eid, noch mit Toten, und das könne er nicht verantworten, so eine Katastrophe, und dann sagt das Muätti, das reiche ihr jetzt, er könne ihr in die Schuhe blasen, und wirft dem Vatti die Karte an den Kopf, und dann sieht er nicht mehr die echte Straße, sondern nur die gezeichnete von der Karte, und dann macht der Vatti eine Vollbremsung, und die hinter uns hupen, und der Vatti reißt sich die Karte vom Gesicht, und davon geht sie kaputt, und dem Vatti ist es peinlich, dass sie hinter uns gehupt haben, wegen ihm, und jetzt sicher denken «Achtung Gefahr, typisch Aargau», und er fragt das Muätti, ob sie spinne oder was, doch das Muätti sagt nichts, sondern reibt sich die Stirne, die an die Windschutzscheibe gekracht ist bei der Vollbremsung, und ich denke, warum die Scheibe nicht nachgegeben hat, wo doch der Vatti ganz stolz ist auf die Windschutzscheibe, weil aus Sicherheitsglas. Aber sicher ist die eben doch nicht, weil das Muätti jetzt laut «auaaaaa» ruft und der Vatti noch lauter «huäregopfertami», und der Matti sagt leise «mir ist auch schlecht».
Der Vatti lässt mit der Drehkurbel die Scheibe hinab und fährt an den Straßenrand, das Muätti steigt aus, klappt ihren Sitz nach vorn, und dann steigen wir Kinder aus, und der Matti hat nasse Hosen, und es riecht nach Abgas und Wiese, und der Vatti bleibt sitzen.
Der Matti ist nass, dem Dietr ist schlecht, und ich hab Kopfweh, sagt das Muätti, mir ist auch schlecht, sagt das Vreni, der Matti tut, als wäre ihm nicht mehr schlecht.
Also, ich fahre nicht mehr weiter, sagt das Muätti, wir picknicken gleich hier, da, schau, auf der Wiese dahinten. Der Vatti sagt zu mir, mach die Tür zu, und ich gebe der Fauwehtür einen starken Schubs, dass sie ins Schloss scheppert. Nicht so grob, die geht doch kaputt, du Lööli, ruft der Vatti, aber ich höre ihn nur schwach, hinter der Fauwehtür. Dafür höre ich sehr laut, wie er den Motor aufheulen lässt, und jetzt fährt er davon.
Ich erschrecke, weil wir ohne den Fauweh und ohne Generalstabskarte nie mehr nach Hause kommen. Dann fällt mir ein, dass die Generalstabskarte sowieso kaputt ist, und sowieso kann das Muätti sie ja nicht lesen, und wir biegen falsch ab und kommen trotz Karte nie nach Hause. Sondern in fremde Dörfer.
Die wir aber dann immerhin kennenlernen können.
Dann sehe ich, der Vatti fährt gar nicht davon, sondern biegt da vorne in den Feldweg ein, macht darauf eine Staubwolke und hält in der Wiese. Er steigt aus, öffnet vorne den Kofferraumdeckel und holt das Picknick aus der Fauwehschnauze.
Beim Picknick sind der Vatti und das Muätti wieder lieb und sagen nicht, wie sonst immer, Moni und Geeri zueinander, sondern «Spatz», wie früher, bevor ich auf die Welt gekommen bin.
Der Matti ist untenherum blutt, seine Hose trocknet an einem Apfelbaumast in der Sonne, das Vreni sucht Blumen für einen Blumenkranz, und mir ist nach einem Riegeli Ovo-Sport schon ein wenig weniger schlecht.
Ich bin froh, dass ich da nie mehr herkommen muss, zu diesem Stück Schweiz, weil diese Schönheit kenne ich ja jetzt.
Später hat der Vatti dann auch das Gefühl bekommen, mehr als zwei Stunden hinausfahren sei eigentlich zu weit. Also sind wir nie mehr mehr als zwei Stunden hinausgefahren. Dafür sind wir den Rest vom Sonntag gewandert. Der Vatti hat uns extra Wanderschuhe gekauft und Rucksäcke mit kariertem Muster. Rot für Vreni, grün für Matti, und ich bekam den blauen.
Die Vorfreude auf das Wandern war bei allen groß, und schon nach anderthalb Stunden im Fauweh durften wir aussteigen und loswandern.
Beim Wandern lernt man die Schönheiten der Schweiz viel besser kennen als im Fauweh. Man merkt, wenn es bergauf geht. Dann tun die Oberschenkel weh. Und man merkt, wenn es bergab geht. Dann tun die Knie weh. In der Schweiz geht es fast immer bergauf oder bergab. Und wenn es doch einmal flach ist, tut an den Beinen nichts weh, aber dafür merkt man dann viel besser die Füße, die in den neuen Wanderschuhen weh tun. Und den Rücken, der weh tut, weil sich der Rucksack immer daran wetzt. Und die Schultern, weil der Rucksack sie immer nach hinten zieht. Und das Kreuz, weil man nach vorn gebeugt geht, damit der Rucksack weniger nach hinten zieht und sich am Rücken wetzt.
Am Abend hat man dann die Schönheiten der Schweiz wieder nicht richtig kennengelernt, weil zu viel Weh. Aber immerhin: In den Wanderpausen lernt man den Stein kennen, auf dem man sitzt, und die roten Ameisen, die auch daraufsitzen. Und man sieht auch die Aussicht, von der der Vatti und das Muätti immer wieder abwechselnd sagen, wie schön sie ist. Ich finde das nicht, weil: Die Aussicht ist immer viel zu weit weg zum Kennenlernen. Und darum nicht schön, sondern gefährlich, weil ich Angst haben muss, die Eltern könnten beschließen, dass wir zu der schönen Aussicht hinwandern müssen, statt zur Postautostation oder zur Alpenvereinwirtschaft, wo der Fauweh auf uns wartet und das Gehen zu Ende geht.
Eines Tages verkündet der Vatti, wir müssten die Schönheit «vo de Heimet» kennenlernen und darum über den Gotthard wandern. Ich weiß zwar nicht, wo dieses «Vodeheimet» genau liegt, aber ich habe nichts dagegen, auch seine Schönheit kennenzulernen. Und den Gotthard kenne ich schon ein wenig von der Schule her, da haben wir den Bau vom Gotthard-Eisenbahntunnel kennengelernt, er ist der längste Eisenbahntunnel von der ganzen Welt. Aber die Arbeiter wollten nicht mehr weitermachen, und die Zürcher schickten Soldaten, die dann auf die Arbeiter schossen, die cheiben Zuchthäusler, es gab Tote, und alle sind erschrocken, und dann wurde der Tunnel doch noch fertig durchgestochen. Eigentlich heißt der Gotthard «Sankt Gotthard». Sankt heißt heilig. «Heiliger, Gott, hart». Darum sagen wir Schweizer Gotthart, mit hartem «t» ohne heilig.
Viele Berge haben ein «Sankt» vor dem Namen. Zum Beispiel auch der Sankt Bernhardino. Weil die Menschen früher dachten, die Berge seien Götter. Aber die alten Römer haben uns dann erklärt, dass es einen noch höheren Gott gibt als die Berge. Eben: Gott. Seither lassen wir das «Sankt» bei den Bergen weg und sagen nur noch bei der Stadt Gallen «Sankt Gallen». Obwohl Gallen ja auch keine Götter sind, sondern Organe. Logisch ist das nicht, aber so machen wir es.
Bei den Bergen, wie gesagt, sagen wir seit den Römern nur noch «Gotthart» oder «Bernhardino». Auf dem Bernhardino hat es Bernhardiner. Die scharren die Leute aus den Lawinen und haben auch Schnaps dabei, im kleinen Fässli am Halsband. Wenn die Ausgescharrten davon trinken, wird ihnen wieder warm, und sie überleben. Dann sind sie den Bernhardinern zu ewigem Dank verpflichtet, und drum sind die Bernhardiner auch so beliebt auf der ganzen Welt. Sie sind eine sehr schöne Schweizer Schönheit. Ich kenne leider noch keinen einzigen Bernhardiner, und darum wäre ich lieber über den Bernhardino gewandert, aber der Vatti hat auf der Generalstabskarte gelesen, der Bernhardino sei zu hoch für uns, darum der Gotthart. Der Bernhardino dann vielleicht ein anderes Mal.
Der Vatti sagt, wir würden einige Tage unterwegs sein. Mit dem Fauweh nach Züri Hauptbahnhof, dann mit der SBB nach Hoschpental, dann zu Fuß bis Airolo und von dort per SBB retour zum Fauweh und mit dem wieder nach Hause.
Alle diese vielen Schönheiten würde ich kennenlernen, ich finde das maximal gut. Die Schönheit vom Gotthart kenne ich auch schon ein bisschen von den Diabildern vom Lehrer Diriwächter und vom Drüberfahren. Den Gotthart haben wir nämlich schon einmal mit dem Fauweh gemacht, auf dem Weg ins Tessin. Das ist ein sehr weiter Weg, wir sind erst am Abend ins Tessin gekommen, obwohl wir schnell gefahren sind, einmal rasten wir volle hundertzwanzig, aber nur bis das Muätti sagte, sie halte das nicht aus.
Am Gotthart selber waren wir dann sogar schneller als die Schwaben. Die sind nämlich am Straßenrand gestanden und haben statt zur Schönheit vom Gotthart nur auf ihre dicken Märzedesse und Opel Admirals geschaut und traurig zugesehen, wie es denen aus dem Motor raucht. Unser Fauweh rauchte kein bisschen, weil luftgekühlt, und der Vatti freute sich und fräste im zweiten Gang an denen vorbei und sagte, er käme sich vor wie der Jochen Rindt. Das ist ein Autorennfahrer. Der Vatti wollte das auch sein. Das Muätti hielt sich am Griff über dem Handschuhfach fest und sagte nichts, aber wenn sie einen Fahrausweis gehabt hätte, ich glaube, sie wäre lieber selber gefahren.
Ich war stolz auf den Fauweh und meinen Jochen-Rindt-Vatti, weil wir alle Ausländer und alle Zürcher mit ihren dicken Schlitten überholten, und ich hörte gerne zu, wie uns der Vatti die Schönheit der Tremula erklärte, so heißt die Straße über den Gotthart. Sie sei eine Meisterleistung der schweizerischen Ingenieurskunst im Straßenbau, weil sie die vielen engen Kurven habe, die heißen Serpentinen, und nirgends gäbe es eine Straße mit so vielen Serpentinen wie hier am Gotthart, und jeder Schweizer müsse wenigstens einmal im Leben die Tremula gemacht haben, am besten luftgekühlt. Die Serpentinen müsse man immer im Außenradius anfahren, dann in der Kurvenmitte den Innenradius anpeilen und wieder im Außenradius ausfahren, sagte der Vatti, so erweitere man den Durchschnittsradius der Kurve und habe keine Schleudergefahr. Ich verstand das nicht so richtig, aber ich merkte, dass der Vatti nicht, wie sonst immer, nur am rechten Straßenrand fuhr, sondern oft zum linken herüberzog. Wo der Gegenverkehr war. Das Muätti sagte, er solle damit aufhören, und der Vatti sagte, das sei die sicherste Kurventechnik, das habe der Jochen Rindt im Radio erklärt. Das Muätti sagte, der Fauweh sei aber kein Rennauto und Jochen Rindt würde seine Rennen machen ohne Familie im Rennauto. Der Vatti wollte dann darauf noch etwas sagen, aber dann bemerkte er das große Postauto, das uns entgegenkam. Und auch die Jochen-Rindt-Technik anwendete. Unser Fauweh und das Postauto waren beide korrekt auf der Innenseite der Kurve, aber da war zu wenig Platz für beide. Blitzschnell drehte der Vatti das Lenkrad nach links, sodass der Fauweh zur Außenseite der Kurve raste, Richtung Abgrund. Dadurch fuhren wir nicht in das Postauto hinein, das dankbar ein fröhliches «Tatütata» hupte, dafür fast in die Aussicht.
Leider kam hinter dem Postauto ein Zürcher, der die Jochen-Rindt-Technik nicht kannte und darum auf der Außenseite der Kurve fuhr, aber die war schon von unserem Fauweh besetzt. Schnell riss der Vatti das Lenkrad wieder nach rechts, und der Fauweh schleuderte knapp am Zürcher vorbei wieder zur Innenseite der Kurve, wo das Postauto nicht mehr war, dafür die Felswand. Das Muätti bekam Angst vor der Felswand und warf sich nach links auf den Vatti, was aber nicht nötig gewesen wäre, wir streiften den Fels nur leicht mit dem Kotflügel, aber es reichte, dass der Fauweh wieder gerade auf die Fahrbahn geworfen wurde.
Der Vatti und das Muätti waren jetzt weiß im Gesicht und sagten nichts zueinander. Der Vatti nahm die nächsten Serpentinen dann so, wie man es eben nicht macht, er blieb immer am rechten Straßenrand, ohne den Durchschnittsradius zu erweitern.
Bei einer blauen Tafel, mit einem weißen Feldstecher darauf, fuhr der Vatti auf den Parkplatz. Solche Tafeln stehen immer an den Aussichtspunkten, wo die Schönheit der Schweiz besonders ist. Da standen auch ein paar Bonzenautos mit deutschen Nummernschildern, und die Deutschen guckten, wie es ihnen die Tafel befahl, mit ihren Feldstechern die schöne Aussicht an.
Wir stiegen aus, obwohl wir keinen Feldstecher dabeihatten. Der Vatti war immer noch bleich, aber schon nicht mehr so bleich wie das Muätti. Obwohl ich froh war, dass wir eine Pause machten, weil mir nämlich schon wieder ein wenig kötzelig war, ärgerte es mich, dass jetzt all die Zürcher und Ausländer, die wir vorher überholt hatten, einfach an uns vorbeirauschen konnten und wir jetzt wieder von vorne anfangen mussten mit dem Überholen.
«Diese Luft», sagte mein Vatti, «riecht ihr diese Bergluft!» Er musste es laut sagen, weil der Gotthart-Verkehr so einen Krach machte. «Und die schöne Aussicht, seht ihr diese Aussicht!» Aber er schaute die Aussicht gar nicht an, sondern den Märzedes neben uns. Dann sagte er: «Mit so einem Bonzenschlitten da wären wir jetzt alle tot. Habt ihr gesehen, was für eine Granatenbodenhaftung unser Fauweh hat, hä? Mit dem da …», er hackte mit dem Zeigefinger Richtung Märzedes, «mit dem da wären wir garantiert in den Abgrund gestürzt. Oder wir hätten uns überschlagen, und das Postauto hätte uns erdrückt. Oder wir wären in die Felswand gedonnert, stellt euch das vor, mit dem Motor voran in den Fels, der wäre glatt explodiert, der Motor, und wir wären verbrannt, weisch wiä. Beim Fauweh kann das eben nicht passieren, odr! Weil wir den Motor hinten haben. Da habt ihr ein schönes Glück, dass ich einen praktischen und vernünftigen Fauweh gekauft habe und nicht so einen blöden Blöffer-Märzedes.»
Ich beschloss, wenn ich groß bin und den Gotthart mache, dann mach ich den ganz sicher nicht im Märzedes. Außer, er hat den Motor hinten.
Als wir mit dem verbeulten Kotflügel weiterfuhren, sagte der Vatti, ein Drittel der Serpentinen hätten wir schon. Er fuhr weiterhin falsch, nämlich rechts, und auch viel langsamer. Hinter einem Wohnwagen her.
Hinterher!
Ohne zu überholen. Ich hatte das Gefühl, dass es dem Vatti schon ein wenig leidtat um die schönen Serpentinen, aber er wusste halt nicht, wie viele Postautofahrer es am Gotthart noch gibt, die die Radiosendung mit dem Jochen Rindt auch gehört haben.
Schlecht ist mir trotzdem geworden, und wir lernten noch die Schönheiten von vier weiteren Aussichtspunkten kennen, an denen wir anhielten zum Kotzen.
Also, vor der Gotthart-Wanderung kannte ich die Schönheit vom Gotthart schon vom Drüberfahren her, mit dem Fauweh.
Und von einmal mit dem Zug, also unserer SBB, unten durchfahren, bei der Schulreise mit dem Lehrer Diriwächter. Dabei lernte ich auch die Schönheit vom Kirchlein von Wassen kennen, wegen den Kehrtunnels, die auch eine weltberühmte Schweizer Ingenieursleistung sind. Nur eben im Kehrtunnelbau. Wegen denen sieht man das Kirchlein von Wassen zuerst von unten durch das Zugfenster und dann noch einmal von der Seite durch das gegenüberliegende Zugfenster und dann wieder durch das erste Zugfenster von oben. Da meint man, es gäbe drei Kirchlein von Wassen, aber es ist immer wieder nur dasselbe.
Auch mit der SBB kann man bis zum Abend fahren, und die Schweiz ist immer noch nicht zu Ende, obwohl die SBB auch tifig vorwärz kommt. Es gibt so weit abgelegene Gegenden in der Schweiz, dass die Leute dort gar kein Schweizerdeutsch mehr verstehen und das ganze Leben lang nur italienisch sprechen müssen oder rätoromanisch oder französisch. Am abgelegensten von allen ist das Tessin. Das liegt sogar noch hinter dem Gotthart. Dort reden sie italienisch. Ich bin mal gespannt, wie das wird, wenn wir dann über den Gotthart wandern. Da sagen dann immer mehr Leute um uns herum «bontschorno» statt «grüätzi» oder «ariwerdertschi» statt «uf widerluäge». Bis wir am Ende noch die Einzigen sind, die normal reden. Das wird maximal interessant!
Mir gefällt dem Vatti sein Plan sowieso immer besser, auch, weil ich in der Schule nicht schlecht Punkte gemacht habe, als ich ihnen sagte, dass ich zu Fuß über den Gotthart wandere. Und der Lehrer Diriwächter erzählte uns, dass früher auch schon einmal einer über den Gotthart gewandert sei. Der hieß Haniball und hat Elefanten dabeigehabt. «Und du wandelst jetzt also auf den Spuren Haniballs», sagte der Diriwächter, und ich sagte «jawoll», und alle staunten mich an. Sogar das Lilian aus der Achten, die immer so gut riecht.
Als der Vatti, das Muätti, der Matti, das Vreni und ich dann schließlich in Hoschpental, das mir gar nicht so besonders schön vorkommt, loslegen mit der Wanderei, merke ich schnell, dass das keine schlechte Idee war von dem Haniball, Elefanten mitzunehmen. Es geht nämlich die ganze Zeit nur bergauf hier, und der Rucksack wird immer schwerer. Meine Oberschenkel fangen schon wieder an mit dem Wehtun. Und ich kann nicht hinaufschauen, zur Schönheit der Schweizer Bergwelt, sondern immer nur runter, auf die Wanderschuhe, wegen dem vielen Geröll, das da überall im Weg herumliegt. Ich will einen Elefanten, auf dem ich reiten kann, und die Schönheit der Aussicht kennenlernen, weil ich nicht auf die Elefantenfüße schauen muss, weil der Elefant schaut ja selber schon auf seine Füße. Und hoch oben auf dem Elefanten wäre die Aussicht sehr schön, aber trotzdem nah genug zum Kennenlernen. Und ich hätte rundherum freie Sicht, ohne Fauwehfenster und Matti- und Vreni-Köpfe. Und ohne Wusch, sondern schön langsam. Den Rucksack könnte ich ebenfalls auf den Elefanten tun, der würde das Gewicht gar nicht spüren mit seinem starken Rücken, und er würde bergauf wandern auf seinen dicken Beinen, ohne dass ihm etwas weh tun würde. Und mir würde auch nichts weh tun.
Aber ich habe keinen Elefanten, nur dünne Oberschenkel.
Als ich zum Vatti sage, ich habe eine gute Idee, wir sollen umkehren und zurück nach Hoschpental wandern und dort ein paar Elefanten holen, weil wir dann viel leichter die schöne Aussicht kennenlernen, behauptet er, das sei ohne jede Aussicht, die hätten keine Elefanten in Hoschpental und fertig. Ich glaube nach wie vor, dass das mit den Elefanten sogar sehr viel Aussicht gehabt hätte. Ich sage es aber nicht, weil ich weiß, warum der Vatti keine Elefanten will. Nämlich, weil er die Idee nicht selber hatte, darum.
Ich frage mich, wie der Haniball das wohl fertiggebracht hat, dass er damals schon Elefanten hatte. Und ich hab bis heute noch keinen einzigen.
Also wandere ich halt eben ohne Elefant und sehe keine Schönheit, sondern schaue auf die Wanderschuhe, wie sie abwechselnd unter mir hervorkommen, einer auf den Pfad trampt und wieder unter mir verschwindet, während der andere Wanderschuh unter mir hervorkommt, auf den Pfad trampt und wieder unter mir verschwindet, während wieder der erste unter mir hervorkommt und unter mir verschwindet.
Ich bleibe stehen, damit ich nach oben schauen kann, dorthin, wo wir hinmüssen, aber ich sehe den Gotthart nicht. Der Vatti sagt, das ginge ja gar nicht, der Gotthart sei noch viel zu weit weg, dass man ihn schon hier sehen könne. Aber ich sehe auch keine einzige andere Bergschönheit, sondern nur, wie der Pfad über der nächsten Kuppe im Dunkelgrau verschwindet.
Aus dem Dunkelgrau beginnt es zu regnen. Der Vatti sagt, dass es gleich wieder aufhöre, dahinten werde es ja schon wieder hell, das Wetter wechsle eben rasch in den Bergen. Aber es wechselt nicht, sondern wird immer nasser, und das Helle dahinten ist jetzt auch dunkelgrau. Wir ziehen unsere Regenpelerinen aus den Rucksäcken und uns an. Jetzt bleiben wir schön trocken, obwohl es regnet, sagt der Vatti.
Ich werde trotzdem nass. Das Regenwasser rinnt mir überall unter die Pelerine, bei den Händen hinein bis zu den Ellenbogen, auf meinen Haaren landen Millionen von Tropfen, rinnen von dort in die Augen, unter die Nase und dann vom Hals bis zum Bauch und auch von den Haaren hinten herunter ins Genick, dann bis zum Rücken, unter dem Rucksack durch, bis in die Hosen, an den Beinen entlang, runter bis in die Wanderschuhe. Ich verkünde, dass ich auch mit Pelerine nass werde, weil sie nicht funktioniert. Das Muätti zerrt am Hinterteil von meiner Regenpelerine herum, dann rupft sie dort eine Kapuze heraus und mir über den Kopf. «Damit er nicht nass wird», sagt sie, obwohl sie sieht, dass er schon maximal nass ist.