Roald Dahl
... steigen aus ... maschine brennt ...
10 Fliegergeschichten
Aus dem Englischen von Alfred Scholz
Rowohlt E-Book
Roald Dahl wurde am 13. September 1916 in Llandaff bei Cardiff in Wales als Sohn norwegischer Einwanderer geboren. Sein Vater starb, als der Junge drei Jahre alt war. Nach dem Besuch der Public School Repton absolvierte Dahl eine kaufmännische Lehre bei der Shell Oil Company in London. Im Zweiten Weltkrieg diente er als Pilot der Royal Air Force. Nach einer schweren Verwundung wurde er bis zum Kriegsende als stellvertretender Luftwaffenattaché an die britische Botschaft in Washington versetzt. Anschließend lebte Dahl abwechselnd in den USA und in England als Drehbuchautor, Publizist und freier Schriftsteller. Er starb am 21. November 1990 in der Nähe von London.
Weitere Veröffentlichungen:
Charlie und die Schokoladenfabrik
Danny oder Die Fasanenjagd
James und der Riesenpfirsich
Sophiechen und der Riese
Hexen hexen
Matilda
Die Zwicks stehen kopf
Der gläserne Fahrstuhl
Das Wundermittel
Ich sehe was, was du nicht siehst
Onkel Oswald und der Sudankäfer
Die Prinzessin und der Wilderer
Konfetti
Mein Freund Claud
Boy
Im Alleingang
Diese zehn Geschichten zeigen uns Roald Dahl, den erfolgreichen Autor der amüsant-makabren «Küsschen, Küsschen»-Storys, von einer überraschend neuen Seite. Mit einer an Hemingway erinnernden Knappheit lässt er für uns die harte männliche Welt der Kriegsflieger erstehen – Schicksale zwischen exzessiver Lebensgier und Todesnähe.
Die Originalausgabe erschien 1946 unter dem Titel «Over to You» bei Reynal and Hitchcock.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, August 2014
Copyright © 1966 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
«Over to You» © 1946 by Roald Dahl Nominée Ltd.
Copyright © 1942, 1944, 1945 by Curtis Publishing Company
Copyright © 1945 by Hearst Magazines, Inc.
Copyright © 1944 by Creative Age Press
Copyright © 1944, 1945 by Harper and Bros.
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Umschlaggestaltung Werner Rebhuhn
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ISBN Printausgabe 978-3-499-10868-6 (31. Auflage 2010)
ISBN E-Book 978-3-644-53081-2
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-53081-2
Für S.M.D.
Meinen aufrichtigen Dank an The Saturday Evening Post, Tomorrow, Harpers Magazine, Ladies’ Home Journal und Town and Country, in denen einige dieser Erzählungen schon früher veröffentlicht worden sind.
Diese Geschichten beziehen sich nicht auf bestimmte Personen. Die Namen der Piloten sind nicht die der Piloten, die ich gekannt habe, und wo ich in der ersten Person schreibe, meine ich nicht unbedingt mich selbst.
O Gott, was habe ich für eine Angst!
Jetzt, da ich allein bin, brauche ich sie nicht mehr zu verbergen; ich brauche überhaupt nichts mehr zu verbergen. Ich kann mein Gesicht gehenlassen, weil mich niemand sieht; weil sechstausend Meter zwischen mir und den anderen liegen und weil ich mich jetzt, da es wieder so weit ist, doch nicht mehr verstellen könnte, auch wenn ich wollte. Jetzt brauche ich nicht mehr die Zähne zusammenzubeißen und die Kiefermuskeln anzuspannen, wie ich es beim Mittagessen tat, als der Corporal die Meldung hereinbrachte; als er sie Tinker gab und Tinker mich ansah und sagte: «Charlie, du bist dran. Du sollst als Nächster rauf.» Als ob ich das nicht gewusst hätte. Als ob ich nicht gewusst hätte, dass ich als Nächster rauf sollte. Als ob ich es nicht gestern Abend schon gewusst hätte, als ich zu Bett ging, und um Mitternacht, als ich noch immer wach war, und die ganze Nacht hindurch, um eins in der Frühe und um zwei und drei und vier und fünf und sechs und um sieben Uhr, als ich aufstand. Als ob ich es nicht gewusst hätte, während ich mich anzog und während ich frühstückte und während ich in der Messe in dem Magazin las, in der Messe Shove-Halfpenny spielte, in der Messe die Anschläge las, in der Messe Billard spielte. Ich wusste es die ganze Zeit über, und ich wusste es, als wir zum Mittagessen hineingingen und während wir das Hammelfleisch aßen. Und als der Corporal mit der Meldung hereinkam – war das nicht von Belang. Es bedeutete nicht mehr, als etwa, dass es anfängt zu regnen, wenn eine schwarze Wolke am Himmel hängt. Als er Tinker den Zettel reichte, wusste ich, was Tinker sagen würde, bevor er den Mund geöffnet hatte. Ich wusste genau, was er sagen würde.
Also war das auch nicht von Belang.
Aber als er die Meldung zusammenfaltete und in die Tasche steckte und sagte: «Iss deinen Pudding zu Ende. Du hast noch genug Zeit», da wurde es schlimmer, denn ich hatte nun die Gewissheit, dass es wieder passieren würde, dass ich mich innerhalb einer halben Stunde in meinem Sitz anschnallen, den Motor prüfen und den Männern das Zeichen geben würde, die Bremsklötze wegzuziehen. Die anderen saßen alle um mich herum und aßen ihren Pudding; meiner war noch auf dem Teller, und ich konnte keinen Mundvoll mehr davon essen. Aber es machte sich gut, wie ich meine Kiefermuskeln anspannte und sagte: «Gott sei Dank. Ich habe es satt, hier herumzusitzen und in der Nase zu bohren.» Es machte sich bestimmt gut, wie ich das sagte. Es muss sich angehört haben wie bei allen anderen, wenn sie gleich darauf starten sollten. Und als ich vom Tisch aufstand und sagte: «Dann bis heut Abend, zum Tee», muss sich das auch ganz ordentlich angehört haben.
Aber jetzt habe ich so etwas nicht nötig. Gottlob habe ich das jetzt nicht nötig. Ich kann mich einfach entspannen und mich gehenlassen. Ich kann tun oder sagen, was ich will, solange ich dieses Flugzeug ordentlich fliege. Es war nicht immer so. Vor vier Jahren war es noch wunderbar. Ich tat es gern, weil es aufregend war, weil das Warten auf dem Flugplatz nichts anderes war als das Warten vor einem Fußballspiel oder bevor man beim Cricket als batsman rein sollte; und vor drei Jahren war es auch noch gut. Aber dann, immer die drei Monate Ruhe und wieder zurück zum Einsatz und wieder Ruhe und wieder zurück; immer wieder zurückgehen und immer noch davonkommen, und alle sagen, was für ein guter Pilot, und keiner weiß, wie knapp es damals bei Brüssel war, und wie viel Glück das eine Mal bei Dieppe dabei war und wie schlecht es das andere Mal bei Dieppe verlief und wie viel Glück und Unglück und Angst ich jede Minute jedes Fluges jeder Woche dieses Jahres gehabt habe. Niemand weiß das. Alle sagen sie: «Charlie ist ein hervorragender Pilot», «Charlie ist der geborene Flieger», «Charlie ist großartig».
Ich glaube, er war es einmal, aber er ist es nicht mehr.
Jedes Mal wird es jetzt schlimmer. Es kommt zuerst ganz langsam, verstärkt sich allmählich, schleicht einen von hinten an, ganz leise, dass man sich nicht umdreht und es kommen sieht. Wenn man es kommen sähe, könnte man es vielleicht aufhalten, aber man wird nicht vorgewarnt. Es kriecht näher und näher, wie eine Katze näher kriecht, wenn sie einen Spatzen anschleicht, und dann, wenn es dicht hinter dir ist, springt es nicht, wie die Katze das tun würde; es beugt sich nur vor und flüstert dir ins Ohr. Es tippt dir leise auf die Schulter und flüstert dir zu, dass du jung bist, dass du noch unzählige Dinge tun und unzählige Dinge sagen möchtest, dass es dich erwischen kann, wenn du nicht aufpasst, dass es dich fast mit Sicherheit früher oder später erwischen wird und dass du dann nichts mehr bist; dann bist du nur eine verkohlte Leiche. Es flüstert dir zu, wie deine Leiche aussehen wird, wenn sie verkohlt ist, wie schwarz sie sein wird, wie verkrümmt und spröde, das Gesicht schwarz, die Finger schwarz und die Füße bloß, weil man immer die Schuhe verliert, wenn man auf diese Art stirbt. Zuerst flüstert es dir nachts zu, wenn du wach im Bett liegst. Dann flüstert es ab und zu bei Tage, während du deine Zähne putzt, während du ein Glas Bier trinkst oder während du den Gang entlanggehst; und am Ende kommt es so weit, dass du es den ganzen Tag und die ganze Nacht, zu jeder Zeit hörst.
Dort ist Ijmuiden. Sieht genauso aus wie sonst, mit dem kleinen Buckel, der daneben herausragt. Dort sind die Friesischen Inseln, Texel, Vlieland, Terschelling, Ameland, Juist und Norderney. Ich kenne sie alle. Sie sehen aus wie Bakterien unter einem Mikroskop. Dort ist die Zuider Zee, dort ist Holland, dort ist die Nordsee, dort ist Belgien und dort ist die Welt, dort ist die ganze große Welt, mit all den Leuten, die nicht den Tod vor Augen haben, und all die Häuser und die Städte, und das Meer mit all den Fischen. Auch die Fische haben den Tod nicht vor Augen. Ich bin der Einzige, der sterben soll. Ich will nicht sterben. O mein Gott, ich will nicht sterben. Ich will wenigstens heute noch nicht sterben. Und es ist nicht der Schmerz. Wirklich, es ist nicht der Schmerz. Es macht mir nichts aus, wenn mein Bein zerschmettert wird oder mein Arm abbrennt; ich schwöre euch, das macht mir nichts aus. Aber ich will nicht sterben. Vor vier Jahren hätte ich nichts dagegen gehabt. Ich erinnere mich genau, dass ich vor vier Jahren nichts dagegen gehabt hätte. Auch vor drei Jahren hätte ich noch nichts dagegen gehabt. Es war alles schön und aufregend; das ist es immer, wenn es so aussieht, als würde man sowieso verlieren, so wie damals. Es ist immer schön, zu kämpfen, wenn man nichts mehr zu verlieren hat, und so sah es vor vier Jahren aus. Aber jetzt gewinnen wir. Es ist alles anders, wenn man gewinnt. Wenn ich jetzt sterbe, verliere ich fünfzig Lebensjahre, und die möchte ich nicht verlieren. Ich will auf alles verzichten, nur nicht darauf, denn das wären all die Dinge, die ich noch tun möchte, und all die Dinge, die ich sehen möchte; all die Dinge wie: weiter mit Joey zu schlafen, manchmal nach Hause zu fahren, durch einen Wald zu laufen, ein Glas einzuschenken. Dinge wie: sich auf die Wochenenden zu freuen und jede Stunde, jeden Tag, jedes der fünfzig Jahre am Leben zu sein. Wenn ich jetzt sterbe, entgeht mir das alles, und es entgeht mir auch alles andere. Es entgehen mir die Dinge, von denen ich nichts weiß. Ich glaube, das sind in Wirklichkeit gerade die Dinge, die ich mir am wenigsten entgehen lassen möchte. Ich glaube, der Grund, warum ich nicht sterben will, sind die Dinge, die ich mir erhoffe. Ja, das stimmt. Gewiss ist es das. Halte einem Landstreicher, einem nassen, frierenden Landstreicher am Straßenrand eine Pistole vor die Brust und sage: «Ich werde dich erschießen», und er wird schreien: «Nicht schießen! Bitte, nicht schießen!» Der Landstreicher klammert sich an sein Leben wegen der Dinge, die er sich noch erhofft. Ich klammere mich aus demselben Grunde an meines; aber ich habe mich jetzt schon so lange daran geklammert, dass ich es nicht mehr lange werde halten können. Bald werde ich loslassen müssen. Es ist, als hinge ich über einem Abgrund, ja, so ist es; und ich habe jetzt schon so lange da gehangen und habe mich mit den Fingern an der Kante festgehalten. Es ist mir nicht gelungen, mich wieder hinaufzuziehen, und meine Finger werden immer müder, fangen an zu schmerzen, und ich weiß, dass ich über kurz oder lang werde loslassen müssen. Ich wage nicht, um Hilfe zu rufen; das ist etwas, das ich nicht wage; und so hänge ich weiter über dem Abgrund, und während ich da hänge, zapple ich ein wenig mit den Beinen und suche verzweifelt einen Halt an der Felswand, aber sie ist steil und glatt wie die Bordwand eines Schiffes, und es gibt keinen Halt für meine Füße. Ich zapple. Ja, das ist es. Ich stoße mit meinen Füßen gegen die glatte Felswand, und sie finden keinen Halt. Bald muss ich loslassen. Je länger ich festhalte, desto stärker wird die Gewissheit, dass ich loslassen muss, und so wächst mit jeder Stunde, jedem Tag, jeder Nacht, jeder Woche meine Angst. Vor vier Jahren hing ich nicht so über dem Abgrund. Da lief ich oben auf dem Feld umher, und obwohl ich wusste, dass es irgendwo einen Abgrund gab und ich hinunterfallen konnte, machte mir das nichts aus. Vor drei Jahren war es noch so, aber jetzt ist es anders.
Ich weiß, dass ich kein Feigling bin. Dessen bin ich sicher. Ich werde immer weiterfliegen. Hier sitze ich heute, um zwei Uhr nachmittags, und fliege einen Kurs von hundertfünfunddreißig Grad mit fünfhundertfünfzig in der Stunde. Ich fliege gut, und obwohl ich solche Angst habe, dass ich kaum noch denken kann, werde ich das immer weiter tun. Nicht zu starten oder umzukehren kam nie in Frage. Ich will lieber sterben als umkehren. Der Gedanke an Umkehren kommt mir gar nicht. Es wäre leichter, wenn er das täte. Ich würde lieber gegen ihn ankämpfen als gegen diese Angst.
Dort ist Wassalt. Kleine, getarnte Häusergruppen und großer, getarnter Flugplatz, wahrscheinlich voll von Me 109 und FW 190. Holland sieht schön aus. Im Sommer muss es dort nett sein. Ich nehme an, sie machen dort jetzt gerade Heu. Ich nehme an, die deutschen Soldaten sehen den holländischen Mädchen beim Heumachen zu. Hunde! Ihnen beim Heumachen zusehen und sie danach mit nach Hause nehmen. Ich würde jetzt gern Heu machen. Ich würde gern Heu machen und Apfelmost trinken.
Der Pilot saß aufrecht in seiner Kabine. Sein Gesicht war fast ganz unter seiner Brille und seiner Sauerstoffmaske versteckt. Seine rechte Hand ruhte leicht auf dem Steuerknüppel, und seine linke Hand lag vorn auf dem Gashebel. Die ganze Zeit sah er sich am Himmel um. Es war ihm schon zur Gewohnheit geworden. Sein Kopf bewegte sich unaufhörlich von einer Seite zur anderen, langsam, mechanisch, wie ein Uhrwerk, sodass er fast jeden Augenblick jedes Stück des blauen Himmels absuchte, oben, unten und ringsherum. Aber in das Licht der Sonne selbst sah er zweimal so lange wie sonst wohin; denn das ist der Ort, wo der Feind sich versteckt und wartet, bevor er einen anfällt. Es gibt am Himmel nur zwei Möglichkeiten, sich zu verstecken; entweder in Wolken oder im Sonnenlicht.
Er flog weiter; und obwohl sein Geist sich mit vielen Dingen beschäftigte und sein Gehirn das Gehirn eines verängstigten Mannes war, blieb sein Instinkt der Instinkt eines Piloten, der im Luftraum des Feindes flog. Mit einem schnellen Blick, ohne die Bewegungen seines Kopfes zu unterbrechen, überprüfte er seine Instrumente. Der Blick dauerte nicht länger als eine Sekunde, und so wie eine Kamera mit einer Öffnung des Verschlusses ein Dutzend Dinge festhalten kann, registrierte er in dem einen Augenblick den Öldruck, den Kraftstoffvorrat, den Sauerstoffvorrat, die Drehzahl seines Motors, den Ladedruck und die Fluggeschwindigkeit, und fast im gleichen Augenblick sah er wieder nach oben in den Himmel. Er sah in die Sonne, und als er hinsah, als er seine Augen zusammenkniff und in der blendenden Helle suchte, meinte er, etwas gesehen zu haben. Ja, dort war es; ein kleines schwarzes Pünktchen, das sich langsam über die helle Sonnenscheibe bewegte, und für ihn war dieses Pünktchen kein Pünktchen, sondern ein lebensgroßer deutscher Pilot in einer Focke-Wulf, die Kanonen in ihren Flügeln hatte.
Er wusste, dass man ihn gesehen hatte. Ihm war ganz klar, dass der dort oben ihn beobachtete, sich Zeit ließ, weil er sich in dem grellen Sonnenlicht für gut versteckt hielt. Er beobachtete die Spitfire und wartete auf die Gelegenheit zum Angriff. Der Mann in der Spitfire ließ das kleine schwarze Pünktchen nicht aus den Augen. Sein Kopf stand jetzt ganz still. Er beobachtete den Feind, und während er beobachtete, ließ seine linke Hand den Gashebel los und begann sich in der Kabine hin und her zu bewegen. Sie bewegte sich schnell und sicher, berührte dieses und jenes, schaltete das Reflexvisier ein, entsicherte den Abzugsknopf und drückte leicht mit dem Daumen auf einen Hebel, der den Anstellwinkel der Luftschraube ein klein wenig erhöhte.
In seinem Kopf war jetzt kein anderer Gedanke als der Gedanke an den Kampf. Er hatte keine Angst mehr und dachte nicht mehr an Angst. All das war ein Traum, und so wie ein Schläfer morgens aufwacht und seinen Traum vergisst, so hatte dieser Mann den Feind gesehen und vergessen, dass er Angst gehabt hatte. Es war immer das Gleiche. Es war schon hundertmal so gewesen, und jetzt war es wieder so. Plötzlich, in einem Augenblick, war er kühl und präzise geworden, und während er sich vorbereitete, während er seine Kabine zurechtmachte, beobachtete er den Deutschen und wartete ab, was dieser tun würde.
Der Mann in der Spitfire war ein großer Pilot. Wenn es so weit war, jedes Mal wenn der Augenblick kam, war seine Kaltblütigkeit groß, war sein Mut groß, und vor allem sein Instinkt war groß, viel größer noch als seine Kaltblütigkeit oder sein Mut oder seine Erfahrung. Nun schob er sachte den Gashebel nach vorn und zog den Steuerknüppel leicht nach hinten, um ein wenig Höhe zu gewinnen, um ein wenig von den fünfzehnhundert Metern zu gewinnen, um die der Deutsche im Vorteil war. Aber er hatte nicht viel Zeit. Die Focke-Wulf kam mit gesenkter Nase aus der Sonne herunter, und sie kam schnell. Der Pilot sah sie kommen, flog weiter geradeaus und tat so, als hätte er sie nicht gesehen, dabei sah er die ganze Zeit über die Schulter und beobachtete den Deutschen und wartete auf den Augenblick zum Wegkurven. Wenn er zu früh kurvte, würde der Deutsche mitkurven, und er wäre geliefert. Wenn er zu spät kurvte, würde der Deutsche ihn sowieso erwischen, vorausgesetzt, dass er geradeaus schießen konnte, und dann wäre er auch geliefert. Also beobachtete und wartete er, drehte seinen Kopf und sah über die Schulter und schätzte den Abstand; und als der Deutsche auf Schussweite heran war, als er eben mit seinem Daumen auf den Knopf drücken wollte, drehte der Pilot ab. Er riss den Steuerknüppel hart zurück und nach links, er trat mit seinem linken Fuß hart in die Ruderpedale, und die Spitfire kippte auf die Seite und änderte ihre Richtung wie ein Blatt, das von einem Windstoß aufgehoben und davongetragen wird.
Als sein Sehvermögen wiederkehrte, als das aus seinem Kopf und von seinen Augen abgezogene Blut zurückkam, sah er auf und entdeckte den Deutschen weit vor ihm. Er kurvte mit ihm, steil auf der Seite liegend, und versuchte, enger und enger zu kurven, um wieder an den Schwanz der Spitfire zu gelangen. Der Kampf war im Gange. «Also los», sagte er sich. «Jetzt geht’s wieder los», und er lächelte kurz, weil er Selbstvertrauen hatte und weil er das schon so oft getan hatte und weil er jedes Mal gewonnen hatte.
Der Mann war ein hervorragender Pilot. Aber der Deutsche war auch gut, und wenn die Spitfire die Klappen ein wenig ausfuhr, um enger kurven zu können, schien die Focke-Wulf dasselbe zu tun, und sie kurvten miteinander. Wenn der in der Spitfire plötzlich das Gas wegnahm, um sich hinter ihn zu setzen, legt der andere seine Focke-Wulf auf den Rücken und stürzte nach unten weg, zog wieder hoch, drehte eine halbe Rolle und saß wieder hinter ihm. Die Spitfire flog eine halbe Rolle und stürzte weg, aber der in der Focke-Wulf hatte das vorausgeahnt, rollte und stürzte mit, genau hinter ihm, und dabei gab er einen kurzen Feuerstoß auf die Spitfire ab, aber er traf nicht. Wenigstens eine Viertelstunde lang rollten und stürzten die beiden kleinen Flugzeuge am Himmel umeinander. Manchmal trennten sie sich, flogen in einem engen Kreis in der Runde und belauerten einander, wie zwei Boxer sich belauern, wenn sie sich im Ring umkreisen und auf eine Angriffsmöglichkeit oder ein Loch in der Deckung warten; dann riss einer seine Maschine herum und griff den anderen an, und das Stürzen, Rollen und Steigen fing wieder von vorn an.
Die ganze Zeit über saß der Pilot in der Spitfire aufrecht in seiner Kabine, und er flog seine Maschine nicht mit den Händen, sondern mit den Fingerspitzen, und die Spitfire war keine Spitfire, sondern ein Teil seines Körpers; die Muskeln seiner Arme und Beine waren die Flügel und das Leitwerk der Maschine, sodass er beim Rollen und Kurven und Stürzen und Steigen nicht seine Arme und Beine bewegte, sondern nur die Flügel und das Leitwerk und den Rumpf des Flugzeuges; denn der Rumpf der Spitfire war der Leib des Piloten, und Mann und Maschine waren eins.
So ging es weiter, und während sie kämpften und während sie flogen, verloren sie Höhe und kamen den Feldern von Holland immer näher, sodass sie bald nur noch neunhundert Meter über dem Boden kämpften und man die Hecken und die kleinen Bäume sehen konnte, und die Schatten, die die kleinen Bäume auf den Rasen warfen.
Einmal versuchte der Deutsche einen langen Feuerstoß aus neunhundert Meter Entfernung, und der Pilot der Spitfire sah die Leuchtspurgeschosse vor dem Bug seiner Maschine vorbeifliegen. Einmal, als sie nahe aneinander vorbeiflogen, sah er für einen Augenblick Kopf und Schultern des Deutschen unter dem Glasdach seiner Kabine; den Kopf ihm zugewandt, mit der braunen Haube, der Brille, der Nase und dem weißen Schal. Einmal, als ihm beim harten Abfangen schwarz vor Augen wurde, hielt die Blindheit länger an als gewöhnlich. Es dauerte vielleicht fünf Sekunden, und als das Sehvermögen zurückkehrte, sah er sich schnell nach der Focke-Wulf um und entdeckte sie in einer Entfernung von siebenhundertfünfzig Metern. Sie kam von der Seite genau auf ihn zu, eine dünne schwarze Linie von zweieinhalb Zentimeter Länge, die schnell wuchs, sodass sie fast augenblicklich nicht mehr zweieinhalb Zentimeter, sondern vier Zentimeter lang war, dann sechs Zentimeter, dann fünfzehn, dann dreißig. Es war keine Zeit zu verlieren. Er hatte eine Sekunde oder höchstens zwei, aber das war genug, denn er brauchte nicht erst zu überlegen, was er tun sollte; er brauchte nur seinem Instinkt zu erlauben, seine Arme und seine Beine, die Flügel und den Rumpf seines Flugzeuges zu steuern. Es gab nur eines zu tun, und die Spitfire tat es. Sie legte sich steil auf die Seite und kurvte auf die Focke-Wulf zu, bot ihr die Stirn und flog im Frontalangriff auf sie zu.
Die zwei Maschinen flogen mit hoher Geschwindigkeit aufeinander zu. Der Pilot der Spitfire saß aufrecht in seiner Kabine, und jetzt war, noch mehr als sonst, das Flugzeug ein Teil seines Körpers. Sein Blick ruhte auf dem Reflexvisier, auf dem kleinen gelben Lichtpunkt, der vor seiner Windschutzscheibe in den Raum projiziert war, und auf dem dünnen Strich der Focke-Wulf dahinter. Schnell, präzise bewegte er sein Flugzeug ein wenig hierhin und dorthin, und der gelbe Punkt, der sich mit dem Flugzeug bewegte, tanzte und hüpfte hierhin und dorthin, und dann war er plötzlich auf dem dünnen Strich der Focke-Wulf und blieb dort. Sein rechter Daumen in dem Lederhandschuh tastete nach dem Abzugsknopf; er drückte sachte darauf, so wie ein Schütze am Abzug zieht. Seine Maschinengewehre schossen, und zur gleichen Zeit sah er die kleinen Flammenzungen von der Kanone im Bug der Focke-Wulf. Die ganze Sache dauerte, von Anfang bis Ende, vielleicht so lange, wie man braucht, um sich eine Zigarette anzuzünden. Der deutsche Pilot kam gerade auf ihn zu, und er sah für einen Augenblick wie einen Schatten das runde Gesicht und die ausgestreckten Flügel der Focke-Wulf. Dann gab es ein Krachen, als ihre Flügelenden zusammenstießen, und ein Splittern, als die linke Tragfläche vom Rumpf der Spitfire abbrach.
Die Spitfire war tot. Sie fiel wie ein toter Vogel, flatterte ein wenig, während sie starb, und behielt noch im Fallen die Flugrichtung bei. Fast in einer einzigen Bewegung lösten die Hände des Piloten die Gurte, streiften die Kopfhaube ab und schoben das Kabinendach zurück; dann fassten sie nach dem Rand der Kabine, und er war draußen, fiel, fasste nach der Reißleine, ergriff sie mit der rechten Hand, zog daran, dass sich sein Fallschirm öffnete und aufblähte und die Gurte ihn hart zwischen den Beinen rissen.
Plötzlich herrschte eine großartige Stille. Der Wind blies ihm ins Gesicht und durch sein Haar, und er hob eine Hand und strich sich das Haar aus den Augen. Er war etwa dreihundert Meter hoch, und als er hinunter sah, sah er flaches, grünes Land mit Wiesen und Hecken und kleinen Bäumen. Auf der Wiese unter sich sah er einige Kühe. Dann sah er auf und als er hinsah, sagte er: «Mein Gott!», und seine rechte Hand ging schnell an seine rechte Hüfte und tastete nach seinem Revolver, den er nicht mitgenommen hatte. Denn dort, keine vierhundertfünfzig Meter von ihm, hing zur gleichen Zeit in gleicher Höhe ein anderer Mann am Fallschirm, und er wusste, als er ihn sah, dass es nur der deutsche Pilot sein konnte. Natürlich war auch seine Maschine bei dem Zusammenstoß beschädigt worden, genau wie die Spitfire. Er musste auch schnell herausgekommen sein; und nun gingen sie also beide mit dem Fallschirm nieder, so dicht beieinander, dass sie womöglich auf derselben Wiese landen konnten.
Er sah wieder nach dem Deutschen, der dort in den Gurten hing, mit gespreizten Beinen und mit den Händen über seinem Kopf, an den Leinen des Fallschirms. Er schien ein kleiner, untersetzter und keinesfalls junger Mann zu sein. Der Deutsche sah auch zu ihm herüber. Er sah ständig herüber, und wenn sein Körper sich nach der anderen Seite drehte, wandte er den Kopf und sah über seine Schulter.
So fielen sie weiter. Beide Männer beobachteten einander und dachten daran, was bald passieren würde, und der Deutsche war der König, denn er landete in seinem eigenen Hoheitsgebiet. Der Pilot der Spitfire kam in Feindesland herunter; er würde gefangen genommen werden, oder er würde getötet werden, oder er würde den Deutschen töten, und wenn er das täte, würde er fliehen. Ich werde auf jeden Fall fliehen, dachte er. Ich kann bestimmt schneller laufen als der Deutsche. Er sieht nicht so aus, als könnte er sehr schnell laufen. Ich werde einen Wettlauf über die Felder mit ihm machen und werde ihm davonlaufen.
Der Boden war jetzt nahe. Es konnte nicht mehr viele Sekunden dauern. Er sah, dass der Deutsche fast mit Sicherheit auf derselben Wiese landen würde wie er, auf der Wiese mit den Kühen. Er blickte hinab, um zu sehen, wie die Wiese beschaffen war und ob die Hecken dicht waren und ob ein Tor in der Hecke war, und dabei sah er unter sich auf der Wiese einen kleinen Tümpel, und durch den Tümpel floss ein kleines Bächlein. Es war eine Tränke für die Kühe, schlammig am Rand und schlammig im Wasser. Der Tümpel war genau unter ihm. Er war nicht mehr als haushoch darüber, und er fiel schnell; er fiel genau mitten in den Tümpel. Schnell griff er nach den Leinen über seinem Kopf und versuchte, den Fallschirm nach einer Seite zu kippen, um die Richtung zu ändern, aber es war zu spät; es hatte keinen Zweck. Plötzlich strich etwas über seine Hirnrinde und über seinen Magen, und die Angst, die er über dem Kampf vergessen hatte, war wieder da. Er sah den Tümpel und die schwarze Wasseroberfläche, und der Tümpel war kein Tümpel und das Wasser war kein Wasser; es war ein kleines schwarzes Loch in der Erdoberfläche, das meilenweit in die Tiefe führte, mit steilen, glatten Wänden, wie die Bordwand eines Schiffes, und es war so tief, dass man, wenn man hineinfiel, tiefer und tiefer fiel und nie aufhörte zu fallen. Er sah die Mündung des Loches und seine Tiefe, und er war nur ein kleiner brauner Stein, den jemand aufgehoben und in die Luft geworfen hatte, um ihn in das Loch fallen zu lassen. Er war ein Stein, den jemand auf dem Rasen aufgehoben hatte. Das war alles, was er war, und nun fiel er, und das Loch war unter ihm.
Platsch. Er war im Wasser. Er fuhr durch das Wasser, und seine Füße stießen auf den Boden des Tümpels. Sie sanken in dem Schlamm auf dem Boden ein, und sein Kopf tauchte unter, aber er kam wieder hoch und stand bis an die Schultern im Wasser. Der Fallschirm lag über ihm; sein Kopf steckte in einem Gewirr von Schnüren und weißer Seide, und er zog mit den Händen daran, erst in dieser Richtung, dann in der anderen, aber es wurde nur schlimmer, und die Angst wurde schlimmer, weil die weiße Seide seinen Kopf zudeckte und er nichts sehen konnte als eine Masse weißen Stoffes und ein Gewirr von Schnüren. Dann versuchte er zum Ufer zu gehen, aber seine Füße steckten im Schlamm fest; er war bis an die Knie im Schlamm eingesunken. Also kämpfte er mit dem Fallschirm und den verhedderten Fallschirmleinen, zog mit den Händen daran und versuchte, sie von seinem Kopf wegzuziehen; und während er das tat, hörte er die schnellen Schritte auf dem Rasen. Er hörte die Schritte näher kommen, dann musste der Deutsche gesprungen sein, denn es platschte, und er wurde vom Gewicht eines Mannes umgeworfen.
Er war unter Wasser und begann instinktiv zu strampeln. Aber seine Füße steckten immer noch im Schlamm, der Mann war über ihm, und es lagen Hände um seinen Hals, die ihn unter Wasser hielten und seine Kehle mit starken Fingern zusammendrückten. Er öffnete die Augen und sah braunes Wasser. Er bemerkte die Blasen in dem Wasser, kleine, helle Blasen, die in dem braunen Wasser langsam aufstiegen. Da war kein Lärm oder Geschrei oder sonst etwas, da waren nur die hellen Blasen, die in dem Wasser aufstiegen, und plötzlich, als er sie beobachtete, wurde sein Geist klar und ruhig wie ein sonniger Tag. Ich werde mich nicht wehren, dachte er. Es hat keinen Sinn, sich zu wehren. Ich war dumm, mich so sehr und so lange gewehrt zu haben; ich war dumm, um Sonnenschein gebetet zu haben, wenn eine dunkle Wolke am Himmel hing. Ich hätte um Regen beten sollen; ich hätte nach Regen schreien sollen. Ich hätte schreien sollen: Lass es regnen, lass es regnen wie aus Kannen, und es soll mir nichts ausmachen. Dann wäre alles leicht gewesen. Es wäre alles so leicht gewesen. Ich habe mich fünf Jahre lang gewehrt, und nun habe ich es nicht mehr nötig. Das ist so viel besser; das ist so unsäglich viel besser, weil da irgendwo ein Wald ist, durch den ich wandern möchte, und man kann nicht durch einen Wald wandern, wenn man sich wehrt. Da ist irgendwo ein Mädchen, mit dem ich schlafen möchte, und man kann nicht mit einem Mädchen schlafen und sich wehren. Man kann gar nichts tun, solange man sich wehrt; besonders leben kann man nicht, solange man sich wehrt, und darum werde ich jetzt all die Dinge tun, die ich tun möchte, und ich werde mich nie mehr wehren.