THOMAS KARLAUF

PORTRÄT EINES

ATTENTÄTERS

Pantheon

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Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring, Berlin

Umschlagabbildung: Unterschrift Claus von Stauffenbergs

aus einem Brief an General Friedrich Paulus, 12. Juni 1942

© Privatbesitz/Reproduktion Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Porträt Stauffenberg [>>]: © Stefan George Archiv in der WLB, Stuttgart

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-24349-4
V003

www.pantheon-verlag.de

Denn wo ein Land ersterben soll, da wählt

Der Geist noch Einen sich zuletzt

Hölderlin, Der Tod des Empedokles

Claus Schenk Graf von Stauffenberg (15. November 1907 – 21. Juli 1944) als Leutnant des Reiterregiments 17(Aufnahme vor Mai 1933)

Inhalt

Prolog

Totenwache

1 Die Welt von gestern

Grundlagen einer Biographie

2 Waffenträger der Nation

Juni 1934

3 Von der Reichswehr zur Wehrmacht

März 1935 bis März 1936

4 Das Handwerk des Krieges

Oktober 1936

5 Das Erbe

Juni 1936 bis Juni 1938

6 Die Krise der Wehrmacht

November 1937 bis September 1938

7 Siegreiche Jahre

September 1939 bis Dezember 1941

8 Auf dem Weg in die Katastrophe

Dezember 1941 bis Februar 1943

9 Flucht an die Front

Februar 1943 bis August 1943

10 Die Würfel rollen

August 1943 bis Oktober 1943

11 Im Zentrum der Verschwörung

Oktober 1943 bis Juli 1944

12 Der 20. Juli 1944

Ein deutsches Missverständnis

Nachwort zur Neuauflage

Anhang

Danksagung

Anmerkungen

Verzeichnis der zitierten Literatur

Zeittafel

Prolog

Totenwache

Am 2. Dezember 1933 reichte Claus Graf Stauffenberg, Oberleutnant im Reiterregiment 17 in Bamberg, bei seinem Dienstvorgesetzten, dem Chef der 5. Eskadron Rittmeister Walzer, dreitägigen Sonderurlaub ein. Am Morgen hatte ihn sein Bruder Berthold angerufen: Der Zustand des Meisters habe sich dramatisch verschlechtert, Claus müsse sich beeilen, wenn er ihn noch lebend sehen wolle. Der Meister – das war der Dichter Stefan George, dem die Brüder Stauffenberg in grenzenloser Bewunderung anhingen, seit sie ihm 1923 vorgestellt worden waren. Der 65-Jährige, in dem sie den größten lebenden Deutschen und den Künder eines neuen Zeitalters verehrten, lag in seinem Refugium oberhalb des Lago Maggiore im Sterben.

Claus nahm den Nachtzug nach München (Bamberg ab 3.12 Uhr), stieg dort am Morgen um nach Zürich, wo er Berthold traf, der aus Den Haag kam; gemeinsam erreichten sie am Sonntagabend gegen neun Uhr Locarno. Frank Mehnert, der Georges Leben im Tessin organisierte, hatte die beiden im »Buenos Aires« an der Uferpromenade auf halbem Weg zwischen Locarno und Minusio einquartiert. Vier Jahre jünger als Berthold von Stauffenberg und durch diesen als Gymnasiast in den Kreis um den Dichter eingeführt, war Mehnert dem Meister als ständiger Begleiter und Sekretär in den letzten Jahren unentbehrlich geworden.

George lag seit Anfang der Woche in der von frommen Schwestern geleiteten Klinik Sant’ Agnese, nur ein paar Gehminuten entfernt von seinem letzten Domizil. Claus von Stauffenberg betrat das Sterbezimmer gegen 22.30 Uhr. Dort saßen außer Berthold und Mehnert der von George bestimmte Haupterbe Robert Boehringer, den Stauffenberg hier, im Dunkel des Sterbezimmers, zum ersten Mal sah, der Berliner Leibarzt Walter Kempner sowie Bertholds Zwillingsbruder Alexander und der junge Karl Josef Partsch, genannt Cajo. Kurz darauf kamen drei Freunde hinzu, denen sich die Stauffenbergs besonders verbunden fühlten – Albrecht von Blumenthal, genannt Albo, Walter Anton, genannt der Löwe, und Ludwig Thormaehlen, der Bildhauer. Alle hätten auf Schemeln entlang der Wand gegenüber dem Fenster gesessen, wird Alexander von Stauffenberg zehn Jahre später dichten, und dann habe der Meister jedem Einzelnen von ihnen tief in die Augen geblickt, »als gälte es auf ewig sie zu bannen«.1 Aber der Meister erkannte niemanden. Als sein Atem um 1.15 Uhr stillstand, waren zehn Freunde im Raum versammelt. Mehnert drückte dem Toten die Augen zu.

Keiner sprach ein Wort. Gegen zwei Uhr gingen alle außer Kempner über die Brücke hinüber ins Molino, das ehemalige Mühlenhaus, in dem George auf der Flucht vor der feuchten Kälte des Nordens die letzten beiden Winter verbracht hatte. In dem Atelierraum, in dem sie immer empfangen worden waren – »drin unverkennbar sein vertrauter duft«2 –, hing jeder eigenen Erinnerungen nach. Dann fragte einer, was der Meister zuletzt eigentlich gelesen habe. Mehnert konnte berichten, dass er ihm am vorletzten Samstag nach dem Tee aus Jean Paul und abends, als der Meister bereits zu Bett gegangen war, ein Stündchen aus Tausendundeiner Nacht vorgelesen habe. Bis zur 48. Nacht seien sie gekommen, von dieser habe man noch eineinhalb Seiten geschafft. »Siehe, da kam ihm ein wunderbar schöner Reigen entgegen: mehr als zwanzig Mädchen, Mondsicheln gleich. Und als er sie ansah, war er vor Freuden fast von Sinnen, und er vergaß sein Heer.« An dieser Stelle habe der Meister unterbrochen, für heute sei es genug. Er zündete sich noch eine Zigarette an und ließ seine Gedanken zu den Mondsicheln schweifen. Es war immer das Gleiche: Über den Weibern vernachlässigen sie den Krieg.3

Am Sonntag sei es ihm dann bereits sehr schlecht gegangen. Am Tag darauf habe er nach dem Essen nur noch kurz in einer der spanischen Illustrierten geblättert, die ihm seine Hilfe, Frau Schlayer, gelegentlich mitbrachte, und sich am Nachmittag in Perthes’ grünen Taschenatlas vertieft. Das tat er in den letzten Jahren gern: auf Landkarten die Fahrten nachzeichnen, durch die das Aussehen unserer Erde verändert worden war, den Zug Alexanders zum Indus oder Humboldts Reise den Orinoko hinauf – Eroberungen, die sich schon der Phantasie des Knaben in all ihren Herrlichkeiten erschlossen hatten. An einem der letzten Abende hätten sie über die Abdankung Karls V. gesprochen, der sich von einem auf den anderen Tag in ein Landhaus in Kastilien zurückzog. Das sei für ihn wahre Herrschaft, sagte der Meister, seine Zelte abzubrechen, sobald die Zeit gekommen sei, und niemanden Rechenschaft ablegen zu müssen. Er könne das gut nachvollziehen, er habe das auch immer so gehalten.

Die Schwestern von Sant’ Agnese brauchten etwa zwei Stunden, die Leiche zu waschen und die sonstigen Vorkehrungen zu treffen. Zur vereinbarten Zeit gingen Berthold und Mehnert zurück in die Klinik und übernahmen die Wache. Robert Boehringer nutzte die frühen Morgenstunden für einen kurzen Schlaf und kam gegen acht Uhr nach. Um neun Uhr begannen zwei Bildhauer aus dem Tessin mit dem Abnehmen der Totenmaske; Thormaehlen achtete darauf, dass der Gips auch die großen, weit hörenden Ohren des Meisters einschloss, die Hände wurden ebenfalls abgegossen. Die Arbeiten zogen sich mehrere Stunden hin, Berthold und Boehringer führten abwechselnd die Aufsicht.

Als Claus von Stauffenberg am Mittag in der Klinik eintraf, fragte sein Bruder ihn, ob er die Totenwache organisieren könne. Das war keine leichte Aufgabe angesichts der zahlreichen Rivalitäten, die den Freundeskreis seit eh und je belasteten und nach den politischen Umwälzungen der jüngsten Zeit dramatische Formen angenommen hatten. Jeder musste bei der Einteilung berücksichtigt werden, keiner durfte sich zurückgesetzt fühlen. Stauffenberg beschaffte sich Stift und Papier und erstellte eine erste Liste mit den Namen derer, die bereits in Minusio eingetroffen waren und die noch erwartet wurden.

Eine zentrale Frage lautete, ob Frauen an der Wache beteiligt werden durften. Es ging vor allem um Clotilde Schlayer, die Freundin des Arztes, die sich in den letzten Jahren große Verdienste um den Meister erworben und nicht nur das Winterquartier in Minusio, sondern auch andere Unterkünfte besorgt und alles stets zu seiner Zufriedenheit vorbereitet hatte. Am Anfang war Frau Schlayer so gut wie unsichtbar gewesen, selbst in ihrem eigenen Haus in Berlin-Dahlem. Wenn George dort einzog, wich sie, um nicht zu stören, ins Souterrain aus. Im Molino war ihr zuletzt aber immer häufiger gestattet worden, am Essen teilzunehmen, und manchmal hatte ihr George sogar ein Glas von seinem Wein gereicht oder ihr eine seiner selbst gedrehten Zigaretten angeboten. Mehnert beklagte sich wiederholt, dass die ehernen Ideale des Kreises verraten würden, wenn man der Frau Zutritt zum Innersten gewähre, aber der Meister wiegelte ab: Die Verdienste der »Zuckernen«, wie er sie nannte, seien kolossal.

Claus wäre wohl nicht so weit gegangen wie sein Bruder Alexander, der später, in einem Gedicht zum zehnten Todestag des Meisters, von den »stummen elf«4 am Sterbebett sprach, Clotilde Schlayer also als Vollmitglied zählte. Andererseits gab es für ihn keinen Grund, Frau Schlayer, die Unentbehrliche, die während der letzten Tage gemeinsam mit Kempner Stunde um Stunde am Bett des Meisters ausgeharrt hatte, von der Wache auszuschließen. Allerdings musste Stauffenberg auf die Empfindlichkeiten Mehnerts Rücksicht nehmen, der in geradezu krankhafter Rivalität zu Clotilde Schlayer stand. Deshalb teilte er sie und Walter Kempner für die fünfte Wache Dienstagmorgen 4.30 Uhr ein, sodass Mehnert weder an sie übergeben noch von ihr übernehmen musste. Dass Schlayer und Kempner die Ablösung dann verschliefen, sodass Blumenthal und Anton eine Stunde länger Wache stehen und Alexander und Claus eine Stunde früher raus mussten, bestätigte Mehnert in seinen Vorurteilen gegen Frauen.

Während Stauffenberg noch über die Anordnung der Totenwachen nachdachte und dabei seine Listen ständig umarbeiten musste, weil ihm stets neue Namen zugerufen wurden, eskalierte der Streit in der wichtigsten Frage überhaupt, wo denn der Meister seine letzte Ruhe finden sollte. Auf der einen Seite stand der Haupterbe Robert Boehringer; die andere Seite wurde angeführt von den beiden Nacherben Berthold von Stauffenberg und Frank Mehnert. Mit seiner Auffassung, ein Mensch müsse an dem Ort beerdigt werden, an dem er sterbe, stand Boehringer zunächst ziemlich allein. Am frühen Morgen konnte er sich dann mit seinem Vorschlag durchsetzen, die Meinung der Schwester Georges in Bingen einzuholen. Damit gewann er Zeit und überlistete so die Mehrheit der Freunde, deren Mantra lautete: Ein deutscher Dichter gehört in deutsche Erde!

Wären die politischen Verhältnisse in Deutschland andere gewesen, hätte sich Boehringer diesem Argument wahrscheinlich nicht widersetzt. Aber 1933 gab es unter Georges Freunden viele, die sich für das neue Regime begeisterten und anfingen, Poesie in Wirklichkeit umsetzen zu wollen. Boehringer warnte, dass eine Überführung des Leichnams nach Deutschland unweigerlich das Propagandaministerium auf den Plan rufen werde. Goebbels ließe sich die Gelegenheit sicher nicht entgehen, den Toten, den er zuletzt heftig umworben hatte, mit allem Pomp ins nationalsozialistische Walhalla zu geleiten. Womöglich würde der Sarg von Basel nach Bingen den Rhein hinunter gefahren und zum letzten Geleit am Ufer SA aufmarschieren. Man dürfe in dieser Frage das Heft nicht aus der Hand geben, staatliche Regie sei weder im Sinne des Toten noch im Interesse des Kreises.

Politische Konflikte hatte es im Freundeskreis immer gegeben. Boehringer selbst war als junger Mann im Sommer 1911 bei einer Landpartie nach Rheinsberg mit einem Ruder auf zwei Kontrahenten losgegangen, deren salbungsvolle Reden vom hohen Dienst im Tempel Georges er unerträglich bigott fand. Nach dem Krieg rissen Auseinandersetzungen über das politische System der Weimarer Republik und die Frage nach der Zukunft Deutschlands tiefe Gräben. Als im Januar 1933 die Nationalsozialisten an die Macht kamen, hofften die jüdischen Freunde vergebens auf eine klare Stellungnahme Georges. Besonders für Jüngere sei es sehr schwer, meinte einer seiner engsten Weggefährten, der Jude Ernst Morwitz, »die Texte Georges zu lesen und nicht zu glauben, was in Deutschland jetzt geschehe, sei das, was George gewollt habe«.5 Der Dichter selbst stand der Entwicklung durchaus aufgeschlossen gegenüber. »Es sei doch immerhin das erste Mal«, hörte ihn Edith Landmann im März 1933 sagen – auch sie eine Jüdin –, »dass Auffassungen, die er vertreten habe, ihm von außen wiederklängen.«6

Der Riss, der sich in Minusio zwischen den Jüngeren um Frank Mehnert und die Brüder Stauffenberg auf der einen, Robert Boehringer auf der anderen Seite abzeichnete, hatte ursächlich mit der Machtübernahme Hitlers zu tun, reichte aber tiefer. Seinen Anfang hatte der »weltanschauliche Generationenkonflikt«7 zehn Jahre zuvor genommen, als George, eingeschränkt durch lange Krankheit und stets auf Suche nach einer Bleibe, seinen Lebensrhythmus zu ändern begann. Er trennte sich damals von zahlreichen Freunden, von denen seiner Meinung nach nicht mehr viel zu erwarten war und die ihm teilweise lästig wurden. Die neuen, die damals in sein Leben traten, waren allesamt sehr jung und wollten von Vorrechten Älterer wenig wissen. Weil Jugend bei George als ein Wert an sich galt, wurde es für ältere Freunde jetzt schwer, vor den jungen Radikalen zu bestehen. Der begabteste unter ihnen, Max Kommerell, den George im Sommer 1921 an sich zog, spielte seine Sonderstellung als Sekretär, Quartiermeister, Geliebter in einer Person viele Jahre lang rücksichtslos aus.8

Berthold und Claus von Stauffenberg waren im Mai 1923 durch Albrecht von Blumenthal zum Meister gebracht worden – Berthold 18, Claus 15 Jahre alt. Blumenthal, Altphilologe in Jena, Mitte dreißig, fühlte sich zum älteren der beiden Brüder hingezogen, der seine Liebe freilich nicht so erwiderte, wie es sich Blumenthal gewünscht hätte, weil George selbst Gefallen an ihm fand. Es gehörte zu den ungeschriebenen Gesetzen des Kreises, dass jeder Jüngere durch einen Älteren geführt wurde, der ihn mit den Gepflogenheiten und Regeln der Gemeinschaft vertraut machte und für ihn bürgte. Üblicherweise oblag diese Aufgabe demjenigen, der den Neuen entdeckt und von George die Zustimmung zu seiner Erziehung erwirkt hatte. Weil Blumenthal an Berthold hing, schied er als Gewährsmann für Claus ebenso aus wie Berthold selbst, denn nur ein Älterer, der nach kreisinternem Sprachgebrauch vom »pädagogischen Eros« beseelt war, konnte einen Jüngeren über die Schwelle tragen, ein leiblicher Bruder kam dafür nicht in Betracht.

Claus’ Wahl fiel auf Max Kommerell. George fand, dass die beiden füreinander bestimmt waren, und gab der Liaison seinen Segen. Kommerell war wie die Stauffenbergs auf der Schwäbischen Alb groß geworden, dies schuf eine zusätzliche Vertrautheit. Wenn sie zusammen im Gras lagen und der Ältere dem Jüngeren aus Jean Pauls Titan vorlas oder ihm Hölderlin-Gedichte erklärte, drehte sich das Gespräch immer auch um die Bedeutung der Heimat, nicht zuletzt um die Staufer, denen im George-Kreis in diesen Jahren wachsende Bedeutung beigemessen wurde. Durch Kommerell, der 1924 mit einer Arbeit über Jean Pauls Verhältnis zu Rousseau promoviert wurde und anschließend sein Wanderleben an der Seite Georges aufnahm, war Claus fast so nah am Meister wie sein Bruder Berthold.

Kommerell war von seiner neuen Aufgabe, einen Jüngeren heranzuziehen, nicht weniger begeistert als von seinen literarischen Entdeckungen. Legt man seinen 1926/27 entstandenen Gedichtzyklus »Verse für C.« neben das ein Jahr später erschienene Buch Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik, in dem die Freundschaft zum eigentlichen Schwungrad der deutschen Dichtung von Klopstock bis Hölderlin erklärt wurde, zeigt sich, wie durchlässig die Grenze zwischen Dichtung und Wirklichkeit im George-Kreis war und wie stark die Lektüre das Erleben bestimmte. Vielleicht war es aber auch umgekehrt und Kommerell von der Freundschaft mit Claus von Stauffenberg so berauscht, dass er seine Erregung sogleich auf das ihm von George gestellte Thema übertrug, die Literatur der deutschen Klassik männerbündisch umzudeuten. Sein Gedichtzyklus auf Claus von Stauffenberg hebt emphatisch an:

Sieh nach dir begehrt das land

Komm ersehnter mich zu retten

Wo die liebe sich in ketten

Sich in qual die liebe wand.

Die an den Namen Stauffenberg sich anknüpfenden Assoziationsketten hin zu den Staufern (»Tut in dir sich same kund / Den wir längst zur sage zählten?«) wurden von Kommerell ebenso ausbuchstabiert wie die »süsse« Leiblichkeit des »Kriegsgotts über wiegend schlanker hüfte«. Am Ende stilisierte sich der Dichter, »umschwungen vom fittich der heldenbegier«, in den Gedichten an Claus zum Herold eines mächtigen Kriegers, mit dem er in die letzte Schlacht ziehen wollte – Götterdämmerung einbegriffen:

Lenke schlachtwärts unsern lauf

Dass zu deinem sieg ich stürme

Mit dir uns zum feste türme

Grossen todes scheiterhauf.9

Im Herbst 1929 braute sich Unheil zusammen. Kommerell war nicht mehr bereit, seine Lebensführung den Bedürfnissen Georges unterzuordnen, und entzog sich allen Verpflichtungen. Er sei nicht länger in der Lage, Wand an Wand mit George zu schlafen. Während es für einen Jüngling Anfang zwanzig ein unerhörtes Abenteuer sei, durch Umgang mit einem Großen über sich selbst hinaus zu wachsen, schrieb er rückblickend, sei die damit verbundene Preisgabe jeglichen Persönlichkeitsrechts für einen jungen Mann von 28 Jahren nur noch eine Zumutung. George drohte und lockte und scheute auch vor Erpressung nicht zurück: Wenn Kommerell an seiner Freundschaft mit Stauffenberg gelegen sei, müsse er sich zuvor mit ihm, George, aussprechen, andernfalls habe er den Verkehr mit Claus einzustellen. Trotz mehrerer Vermittlungsversuche blieb Kommerell bei seinem Nein: Er wolle sein Tun und Lassen von nun an selbst verantworten.

Wann Stauffenberg von dem sich anbahnenden Konflikt erfuhr und wer ihn einweihte, ist nicht überliefert. Man darf aber davon ausgehen, dass er den Kontakt mit Kommerell auf der Stelle abbrach, ohne dass es dazu einer Anordnung bedurfte. Wer den Meister verließ, verließ das Ganze. Es gibt keinen Hinweis, dass Stauffenberg jemals wieder auf Kommerell zu sprechen kam, seine Person verfiel der Damnatio memoriae.10 So entsprach es den Überzeugungen Georges, der jeden Bruch zum Verrat und Verrat zu einem genetischen Defekt erklärte. Für alle, die ihm einmal den Schwur geleistet hatten, galt als oberstes Gebot die Treue – Treue nicht als Gehorsam verstanden, sondern als Pflicht, an den Idealen, für die man sich entschieden hatte, für immer festzuhalten.

Neuer Favorit Georges wurde Frank Mehnert, der im Frühjahr 1931 Kommerells Stelle als ständiger Begleiter übernahm. Zugleich fühlte Mehnert sich weiterhin eng seinem älteren Freund Berthold von Stauffenberg verbunden, den er durch fast tägliche Berichte über das Leben an der Seite des Meisters auf dem Laufenden hielt. Niemand stand George in dessen letzten Lebensjahren näher als diese beiden. Nach Georges Tod wurde Claus, der schon mit dem 14-jährigen Frank Hölderlins Hyperion gelesen hatte, von Mehnert und Berthold in alle Fragen rund um das George’sche Erbe einbezogen. Folgerichtig bestimmte Berthold von Stauffenberg im April 1943, nach dem Soldatentod Mehnerts, seinen Bruder zum letzten Erben Georges.

»Die gesetze des geistigen und des politischen sind gewiss sehr verschieden – wo sie sich treffen und wo geist herabsteigt zum allgemeingut das ist ein äusserst verwickelter vorgang.« So hatte George Anfang Mai 1933 der neuen Regierung mitteilen lassen, die sich gern auch offiziell mit seinem Namen geschmückt hätte. Im Übrigen habe er seinen Teil zum gegenwärtigen Umbruch in Deutschland beigetragen – »die ahnherrschaft der neuen nationalen bewegung leugne ich durchaus nicht ab und schiebe auch meine geistige mitwirkung nicht beiseite«.11 Ernst Morwitz, der langjährige Vertraute Georges, der am Kammergericht in Berlin tätig war und die Rolle des Boten übernahm, sorgte dafür, dass der Brief vom Kultusministerium nicht veröffentlicht wurde. Auch wenn daraus nur schwer ein freudiges Bekenntnis zum neuen Staat abgeleitet werden konnte, so wären doch viele, zumal jüdische Freunde mit Recht entsetzt gewesen. Auf die Brutalität des Regimes angesprochen, meinte George damals, im Politischen gingen die Dinge halt anders, Henkersknechte seien nun einmal keine besonders angenehmen Leute.

Die Gegenposition zu dem, was George »Ahnherrschaft« nannte, vertrat niemand überzeugender als Ernst Kantorowicz, Professor für Mittlere und Neuere Geschichte an der Universität Frankfurt. Er nahm die unheilvollen Drohungen Hitlers gegen die Juden ernst und drängte George wiederholt, sich zu seinen jüdischen Freunden zu bekennen. Anfang November 1933 hielt er unter dem Titel »Das geheime Deutschland« eine Vorlesung, in der er seine Vorstellung von deutscher Geschichte vom neuen offiziellen Deutschlandbild abgrenzte. Unter vielfacher Berufung auf die George’sche Dichtung führte er aus, dass das geheime Deutschland schon immer in einem unüberwindlichen Gegensatz zur politischen Wirklichkeit gestanden habe, ja dass dieser Gegensatz gleichsam das Wesen des geheimen Deutschland ausmache. Dieses sei immer ein »Seelenreich« gewesen, weder an Zeit noch Raum gebunden, schon gar nicht an eine bestimmte Partei oder eine bestimmte Rasse. Viele der mittelalterlichen Kaiser und Könige, die man heute als wahre Deutsche verehre, hätten zu ihrer Zeit als fremd und undeutsch gegolten. Mit der sibyllinischen Formel, die er 1927 ans Ende seiner Biographie des Stauferkaisers Friedrich II. gestellt hatte, endete auch die flammende Rede: Das geheime Deutschland – es lebt und lebt nicht!

Hatte Kantorowicz das Recht, den Dichter öffentlich als Zeugen gegen die neuen Machthaber in Deutschland aufzurufen und damit den gesamten Freundeskreis politisch auf Oppositionskurs zu zwingen, ihn gleichsam in Haftung zu nehmen? Ende November bat er George in einem Brief nach Minusio, seinen Vortrag in Georges Hausverlag veröffentlichen zu dürfen. Der Brief hat den Adressaten nicht mehr erreicht. Die Entscheidung lag jetzt bei den Erben. Kantorowicz hatte ihnen den Staufer-Mythos erschlossen, indem er aus der Sage vom schlafenden Kaiser, der eines Tages erwachen und die Deutschen in eine strahlende Zukunft führen würde, eine Prophezeiung für den Kreis ableitete. Ausgerechnet ihm sollte jetzt die Teilhabe an der nationalen Erhebung verwehrt bleiben – nur weil er Jude war. Das war möglicherweise ungerecht, gleichwohl konnten sich die Erben zu einem Plazet nicht durchringen.

Durch Kantorowiczs Universitätsrede erhielt die Formel vom geheimen Deutschland, die immer im schönen Ungefähren geblieben war, plötzlich eine ungeheure Aktualität. In den Augen Mehnerts und der Stauffenbergs ging es nicht an, dass die jüdischen Freunde, die, von Kantorowicz abgesehen, allesamt zur älteren Generation zählten, das geheime Deutschland für sich reklamierten und die nichtjüdischen ausschließlich nach deren Einstellung zur Rassenfrage beurteilten. In einer Denkschrift, die im Sommer 1933 im Freundeskreis zirkulierte, räumte Edith Landmann, langjährige Gesprächspartnerin und Gastgeberin Georges, zwar ein, dass die Juden kein Recht hätten, »von den Deutschen zu verlangen, dass sie ihre Stellung zu allem, was jetzt in Deutschland geschieht, von dem abhängig machen, was an den deutschen Juden geschieht«. Abstand zu den neuen Machthabern sei aber das Mindeste, was man erwarte. In letzter Konsequenz, so ihr utopischer Aufruf, müssten alle, die zum geheimen Deutschland hielten, nach Übersee auswandern und dort eine Kolonie aus dem Geist Georges stiften.12

Als George in der Nacht des 4. Dezember starb, warf die große Politik ein weiteres Mal ihre Schatten über den Freundeskreis. Am Morgen war nicht nur auf Vorschlag Boehringers die Schwester in Bingen eingeschaltet worden. Berthold von Stauffenberg und Frank Mehnert hatten darauf gedrängt, dass auch das Büro des Reichspräsidenten telegrafisch vom Ableben Georges unterrichtet wurde. Indem man das Staatsoberhaupt in Kenntnis setzte, umging man den eigentlich zuständigen Kultusminister und vor allem den Propagandaminister. Vielleicht erhoffte man sich vom Büro Hindenburg insgeheim einen Hinweis, wie denn nun weiter zu verfahren sei. Aber nichts dergleichen geschah, außer dass der Bürgermeister von Minusio am nächsten Tag einen Anruf des deutschen Konsuls in Lugano erhielt, wann denn die Beerdigung stattfinde.

Am Nachmittag zeichnete sich ab, dass George hier, auf dem Friedhof der kleinen Tessiner Gemeinde, seine letzte Ruhe finden würde. Obwohl Berthold von Stauffenberg und Mehnert das Gefühl hatten, von Boehringer über den Tisch gezogen worden zu sein, gaben sie sich zufrieden. Bewies nicht die Anfrage aus Lugano, wie recht er gehabt hatte, vor der Einbeziehung von Reichsbehörden zu warnen? Boehringer räumte auch dieses Problem aus dem Weg, indem er dem Konsul eine falsche Uhrzeit nennen ließ, anschließend Ernst von Weizsäcker anrief, den deutschen Gesandten in Bern, mit dem er befreundet war, und ihm freimütig erklärte, man wolle bei der Beerdigung niemanden dabeihaben. Die Kühnheit, mit der Boehringer zu Werke ging, nötigte sogar den Stauffenbergs Respekt ab.

Am Montagabend gegen 20 Uhr wurde der Tote, von den Freunden geleitet, von Sant’ Agnese in die Friedhofskapelle überführt, eine halbe Stunde später begannen die Totenwachen. Claus von Stauffenberg hatte Berthold und Mehnert für die erste Wache eingeteilt, zwei Stunden später übernahmen Cajo und Claus selbst, es folgten Thormaehlen und Boehringer, dann Blumenthal mit Anton und so weiter. Am Dienstagmittag wurde der Leichnam in einen Eichensarg umgebettet. Am Abend öffneten die Freunde den Sarg noch einmal, zogen dem Meister seine geliebte weiße Kaschmirweste und die schwarzen Lackschuhe an und legten ihm seine Decke über. Als weitere Grabbeilagen erhielt er den goldenen Armreif, den eine Verehrerin für ihn geschmiedet hatte, sowie zwei Lorbeerzweige rechts und links der Stirn. Wie ein Pharao habe er ausgesehen, erinnerte sich einer der Anwesenden später, als gegen 21.45 Uhr die Zinkeinlage des Sarges geschlossen und unter Aufsicht von Berthold und Boehringer verlötet wurde.

Stauffenberg musste seine Listen immer wieder um Namen erweitern und die Wachen entsprechend neu einteilen. Am Dienstag trafen Ernst Morwitz und Ernst Kantorowicz ein. Obwohl nur engste Freunde benachrichtigt worden waren, tauchten allerhand Personen auf, von denen niemand recht wusste, wie sie eigentlich den Weg nach Minusio gefunden hatten. Woldemar Graf Uxkull zum Beispiel, ein entfernter Tübinger Vetter der Stauffenbergs, dem diese schon seit Längerem aus dem Weg gingen, oder die resolute Schwägerin von Frau Schlayer, die George während der letzten beiden Sommer in Wasserburg am Bodensee beherbergt hatte. Edith Landmann, die aus Basel anreiste, brachte sogar ihren Sohn mit.

Es war noch dunkel, als sich am Mittwochmorgen die Trauernden nach und nach in der Friedhofskapelle einfanden. Berthold von Stauffenberg und Mehnert, die um sieben Uhr die letzte Totenwache angetreten hatten, standen rechts und links am Kopfende des Sarges. Der schlichte große Lorbeerkranz, den Blumenthal in der oberhalb von Locarno gelegenen Gärtnerei in Auftrag gegeben hatte und der jetzt am Fuß des Sarges lehnte, war nach römischem Vorbild fest und dick, die Blätter nach innen gedreht; er trug keine Schleife, jede Aufschrift wäre den Freunden als unangemessen erschienen. Um 8.15 Uhr wurde die Tür der Kapelle geschlossen, vier Freunde lasen die ersten zwölf Gedichte des »Maximin«-Zyklus aus dem Siebenten Ring. Dann wurde der Sarg hinausgetragen. Sargträger waren die drei Brüder Stauffenberg auf der einen, Robert Boehringer, Ludwig Thormaehlen und Roberts jüngerer Bruder Erich auf der anderen Seite. Mehnert und der Jüngste, Cajo Partsch, schritten mit dem Lorbeer voran.

Von Erich Boehringer, mit dem Claus von Stauffenberg jetzt den Gleichschritt suchte, wurde im Freundeskreis erzählt, dass er als junger Artillerieoffizier beim Zusammenbruch der Front 1918 sich ein Pferd verschafft und nach Bingen geritten sei, um den Meister zu fragen, was man jetzt tun müsse, jetzt, wo sich der Krieg als eine große Lüge herausgestellt habe. Als Antwort habe der Meister für ihn das Gedicht »Einem jungen Führer im Ersten Weltkrieg« geschrieben, in dem er den Freunden den Sinn des Krieges deutete. Nicht für irgendwelche falschen Ideale seien sie hinausgezogen, sondern einzig für sich selbst: Jeder, der sich auf seinem Platz bewährt habe, habe dies auch für ihn getan.

Bei der großen Lesung, zu der George zehn Jahre später, im Herbst 1928, alle Freunde nach Berlin rief, um mit ihnen das Erscheinen seines letzten Bandes Das neue Reich zu feiern, durfte Boehringer das Gedicht selber sprechen. Jeder in der Runde wusste, dass der Vortragende zugleich der Angesprochene war, und die Wirkung muss eine ungeheure gewesen sein. Nicht der Lesende, der die Uniform längst abgelegt hatte, stand da und sprach die Verse, vielmehr sprachen die Verse selbst – von der Not des Krieges und der Ratlosigkeit einer ganzen Generation. Claus von Stauffenberg, der drei Monate zuvor an der Infanterieschule Dresden zum Fähnrich ernannt worden war, dürfte an diesem Abend die letzte Bestätigung für seine Entscheidung zur Offizierslaufbahn gefunden haben. Eines Tages würde er genauso strahlend vor den anderen stehen wie jetzt dieser junge Führer aus dem letzten Krieg, den, wie die Schlusszeile lautete, »erst von strahlen ein ring / Dann eine krone« umgab.13

Nachdem der Sarg im Schacht an der Friedhofsmauer versenkt worden war und alle ihre Zweige und Blumen nachgeworfen hatten, wurde das Grab mit einer Granitplatte geschlossen. Drei traten vor und sprachen gemeinsam den »Schlusschor« – »Gottes pfad ist uns geweitet / Gottes land ist uns bestimmt«.14 Danach suchte jeder mit sich allein zu sein und bereitete seine Abreise vor.

Mehnert und Boehringer blieben in Minusio, außerdem Cajo Partsch, der mit jugendlicher Unbekümmertheit scherzte, im zweiten Semester Jura könne er ruhig ein paar Vorlesungen schwänzen; nächstes Jahr gäbe es ohnehin eine andere Regierung, da müsse er den Stoff nicht zweimal lernen. Berthold von Stauffenberg, dessen Vertrag als Mitarbeiter des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag zum Jahresende auslief, musste noch einmal zurück nach Holland. An Weihnachten wollte er wieder in Minusio sein, bis dahin würde Mehnert die wichtigsten Punkte auflisten, die es vorrangig zu regeln galt.

Claus von Stauffenberg blieb nach der Beerdigung nur wenig Zeit, hatte er doch am nächsten Morgen wieder beim Regiment anzutreten. Er verabschiedete sich von denen, die ihm nah standen, holte sein Gepäck in der Pension ab und fuhr über Zürich und München zurück nach Bamberg.