Katja Bohnet

Messertanz

Thriller

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Katja Bohnet

Katja Bohnet, Jahrgang 1971, studierte Filmwissenschaften und Philosophie, bevor sie ihr Geld mit Fahrradkurier-Fahrten, Porträtfotos und Zeitungsartikeln verdiente. Sie lebte im Südwesten der USA, in Berlin und Paris, arbeitete im Kibbuz und bereiste vier Kontinente. Jahrelang moderierte sie eine Livesendung auf der ARD und schrieb als Autorin für den WDR. 2012 verfasste sie ihren ersten Roman. Ihre Erzählungen wurden in Literaturzeitschriften und Anthologien veröffentlicht, u.a. im Rahmen des MDR-Literaturwettbewerbs 2013. Heute lebt sie neben vielen Büchern, Platten und Kindern zwischen Frankfurt und Köln.

Impressum

© 2015 der eBook-Ausgabe Knaur eBook

© 2015 Knaur Verlag

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Anton Tschechow, »In Moskau«, 1891; aus: Christoph Keller (Hrsg.),
Moskau erzählt, Frankfurt/Main, 1993

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit

Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Ilse Wagner

Covergestaltung: total italic, Thierry Wijnberg, Amsterdam/Berlin

Coverabbildung: Thinkstock

ISBN 978-3-426-42765-1

Für Conny

»Did I ask about depression?«

»No. Aren’t things bad enough?«

»Is there any history of depression in the family?«

»The normal.«

»Any suicide?«

»The usual.«

 

Martin Cruz Smith, Stalin’s Ghost

 

 

»Im Zustande des Hasses sind Frauen gefährlicher als Männer.«

 

Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches

 

 

 

»I need a hundred percent

I need a hundred percent

What you give is not enough for me

’Cause you give fifty«

 

The Go Find, »One Hundred Percent«

Prolog

Warum können wir nicht von dem lassen, was verloren ist? Ihre Hände griffen automatisch nach dem, was nicht mehr zu ihr gehörte. Als wolle sie halten, was nicht mehr zu halten war. Direkt unterhalb der ehemals weißen Shorts, die plötzlich die Farbe gewechselt hatten. Was sie fand, war rot. Flüssig. Warm. Jede Menge davon. Es war unbegreiflich, aber von einem Augenblick auf den anderen drängte ihr Blut nach außen, verschwendete sich. Gerade hatte sie noch durch die Windschutzscheibe auf die Straße geschaut. Unbeteiligt, nachdenklich. Fast wie im Traum. Sie kam über rechts, führte den Ball. Weiß auf Grün. Ihre Bewegungen waren flüssig. In vollem Lauf konnte keine der anderen sie aufhalten. Sie kannte den Sog zum Tor.

Doch dann war da die Ampel, die zuerst Orange, dann Rot gezeigt hatte. Bis sie an ihr vorbeigerast waren – das Steuer verrissen – und die Häuserwand in apokalyptischer Geschwindigkeit näher kam. Etwas Normales kippte ins Alptraumhafte, als der Wagen sein Tempo nicht verringerte. Warum hielten sie nicht? Sie wollte etwas sagen. Etwas wie: »Brems doch endlich!« Aber der Gedanke steckte in ihrem Kopf fest. Alles ging zu schnell. Eine Wand. Haushoch. Sie würde nicht weichen.

Der Aufprall war bestialisch. Er zündete den Airbag wie Schwarzpulver ein Fass. Ihr Kopf war nach vorn geschnellt. Die dunklen Haare ein fliegendes Netz, vom Schicksal ausgeworfen, ihre Arme – alles an ihr war gefolgt –, bis der Sicherheitsgurt ihren Körper zurückriss. Sie war ein Crashtest-Dummy. So lautete ein Gesetz der Natur: Auf jede Bewegung musste eine Gegenbewegung folgen. Sie wurde wieder in den Sitz zurückgeschleudert. Nicht alles von ihr. Etwas hatte der Wagen behalten. Wie ein Raubtier das beste Stück Fleisch für sich behielt. Der Schmerz hatte etwas Surreales. Er kam in der Stille nach dem Aufprall mit leichter Verzögerung, so wie man einen Schnitt erst Zehntelsekunden später spürt. O mein Gott!, dachte sie, als sie nach unten sah. Aber falls es einen Gott gab, hatte er gerade einen schlechten Tag. Der Wagen schien sich um sie verdichtet zu haben, das Armaturenbrett war näher gekommen. Überall Metall, bis zur Unkenntlichkeit verbogen. Ein dünnes Stück Stahl hatte sich seitlich durch ihren rechten Oberschenkel geschoben. Die Erkenntnis kam mit Macht: »Hilfe!«, schrie sie. Und: »Mein Bein, mein Bein! Warum hilft mir denn keiner?« Sie betätigte den Türöffner. Nichts. Der Mechanismus klemmte ebenso wie das Schloss. War das wirklich ihr Schreien? War das ihre rote Hand am Fenster? Warum sah sie kein Gesicht? Sie drehte den Kopf, denn sie war nicht allein.

Noch immer saß sie, die andere, da auf dem Fahrersitz, als sei nichts geschehen. Die Frau, die sie hasste, liebte, die sie brauchte, aber nicht wollte, die immer anwesend, aber nie für sie da war. Auch ihr Airbag hatte sich geöffnet, hing jetzt schlaff herab. »Hilf mir! Bitte, bitte! Hilf mir doch!«, rief sie ihr zu. Ihre eigene Stimme gellte in ihren Ohren, schrill, verzerrt. Aber sie, die andere, hockte einfach nur da, zu keiner Handlung fähig. Starrte auf die leere Plastikblase, stumm und taub wie schon seit Jahren, hörte sie nicht. In die Antwortlosigkeit hinein platzte ein bedrohliches Zischen. Vor der Scheibe drängte sich auf einmal weißer Rauch.

Ein quietschendes Geräusch bohrte sich in ihren Kopf. Die Fahrertür klappte auf, und jemand zog sie, die andere, hinaus. »Lasst mich nicht zurück. Holt mich hier raus!«, rief sie ihnen noch nach, plötzlich mit sich allein. »Ich sterbe.« Leise, resigniert. Ihre Worte verklangen. Beißender Qualm drang in den Innenraum. Sie wollte sich erheben und konnte es nicht. Mit der Verzweiflung kam die Scham. An diesem Ort zu sein, einsam und hilflos, gefangen und ausgeliefert, am Ende ihrer Zeit. Als die ersten Flammen aus der verzogenen Motorhaube schlugen, gab sie nach. Ließ los. Ihren Atem, ihr Blut, ihre Tränen. Sie wollte hier nicht verbluten oder verbrennen und konnte doch nicht fliehen. Der Tod hatte sich geteilt: Er näherte sich ihr von zwei Seiten. Ihre Hand rutschte vom Fenster ab, hinterließ eine rote Spur der Kapitulation, sank zurück in das Warme, Nasse, das mit schwächer werdendem Rhythmus in den Fußraum des Wagens gepumpt wurde. Sie schloss ihren Mund, ihr Kopf sackte nach vorn, als auch die Beifahrertür sich öffnete und zwei Männerhände beherzt nach ihrem Körper, ihrem Arm griffen, sie nach draußen zogen.

An diesem Tag war Gott ihr junger Körper für den Tod zu schade.

Berlin

1

Man sieht sich immer zwei Mal im Leben. Oder drei Mal oder vier Mal oder so oft, dass man nicht mehr voneinander loskommt. Viktor Saizew hatte Tonja Kusmin das erste Mal am Telefon getroffen. Bei einem ihrer späteren Treffen würde sie ein Messer in der Hand halten. Ein Mal würde sie ihn anspucken. Ein Mal würde sie sich über ihn beugen. Aber jetzt war sie nur eine Stimme.

Er stand vor einer großen Lache dunklen Blutes, schaute auf rote Streifen an der Wand, arterielle Spritzer an der Decke, hatte sein Handy am Ohr und lauschte der Stimme am anderen Ende der Leitung. In dieser apokalyptischen Situation war es zugegeben eine phantastische Stimme. Tief, klangvoll, jung – sie reizte Viktors Phantasie. Oder das, was davon übrig geblieben war.

Sein Job beim LKA, erst organisiertes Verbrechen, jetzt Mordkommission, hatte ihm immer wieder gezeigt, dass die Realität jede Phantasie übertraf. Das galt auch für das sich vor ihm ausbreitende Szenario, für den vielfach verstümmelten Körper hier auf dem hell gefliesten Küchenboden in dieser winzigen, heruntergekommenen Wohnung in Berlin-Marzahn. Er sah in die leeren Augen, sah das zerfetzte Gesicht, den aufgeschlitzten Unterleib. Im Vergleich zu diesem endgültigen Bild kündete die Stimme am anderen Ende der Leitung von einer Welt voller Möglichkeiten.

»Was haben Sie gesagt?« Tief, sonor, etwas abgelenkt, viel versprechend.

»Ich fragte, ob Sie Tonja Kusmin sind?«

Leicht entnervt, aber noch kontrolliert: »Tonja Kusmin. Am Apparat. Was wollen Sie von mir?«

Kusmin, ein russischer Name. So wie Saizew. Kein Akzent. Viktor konnte sich des Gefühls direkter Vertrautheit nicht erwehren. »Sind Sie die Tochter von Alla Kusmin?« Tonja Kusmin. Die Tochter oder die Mutter des Opfers?, das hatte er sich beim Anblick des Telefons gefragt, das in seinen mit Latex überzogenen Fingern lag. Die Stimme gehörte nicht einer alten Frau. Sie klang selbstbewusst und hatte seine Trefferquote plötzlich auf hundert Prozent erhöht. Ihre Nummer war auf der Wiederholungstaste und die erste im Kurzwahlspeicher des Telefons des Mordopfers gewesen. Die uns am nächsten stehen sind die Ersten, die wir speichern, und die Letzten, die wir anrufen, dachte Viktor.

»Wer will das wissen?« Kurz, prägnant, wohlklingend.

»Mein Name ist Viktor Saizew. Ich bin Polizeibeamter.« Das stimmte. Teilweise. Er war tatsächlich Polizeibeamter, allerdings beurlaubt. Gewohnheitsmäßig hatte er seine Kollegin Rosa Lopez begleitet. Wie ein treuer Hund, der nur einen Herrn kannte. Unerlaubt. Es würde Ärger geben. So viel war klar. Sein Verfahrenszustand war schwebend, so nannte man das wohl. Ärger, jede Menge davon. Ärger war ihm lieber als Nichtstun, das Abstellgleis, die Erwerbslosenrente. Oder gar keine Rente. Viktor schloss die Augen. Spürte, wie die Gedanken es auslösten. Wie etwas aus ihm hinausdrängte, an die Oberfläche wollte. Er versuchte zu entspannen, abzuschalten, bemerkte, wie die Muskulatur seinen Kopf zwanghaft zur Seite zog, wie der Anfall abebbte. Dann lauschte er. War sie noch da? Er hatte wieder einmal jegliches Gefühl für Zeit und Raum verloren. Wie lange stand er schon hier: dreißig Sekunden oder dreißig Minuten? »Hallo?«

Am anderen Ende der Leitung blieb es still.

Er konnte förmlich hören, wie es in ihrem Kopf arbeitete. In Tonja Kusmins Kopf. Vielleicht ein Kopf mit blonden Haaren, Locken, einem sinnlichen Mund. Groß, massiv und doch feingliedrig. Eine Wikingerin. Viktor sollte später erfahren, sehen, dass sie all das war: nur dunkel, schwarz.

Jetzt hörte er sie fragen: »Was ist passiert?« Immer noch ruhig, tief, ein Ozean. Vielleicht eine Spur von Unruhe.

Wenn Viktor jemanden anrief, war es meistens das, was passierte. Menschen wurden unruhig, dann fassungslos, irgendwann weinten und schrien sie. Bei seinen Besuchen war es für ihn am angenehmsten, wenn sie einfach bewusstlos umfielen. »Könnten Sie vielleicht zum Haus Ihrer Mutter kommen? Wir bräuchten Ihre Hilfe.« Er würde sie draußen abfangen. Ihr ein Foto zeigen. Sie mit ins Präsidium nehmen. Die ersten Stunden nach einem Mord waren entscheidend.

»Wozu?« Kurz, prägnant, etwas höher.

»Sie müssten uns helfen, eine Leiche zu identifizieren.« Viktor hörte ein Geräusch am anderen Ende der Leitung. Vielleicht das Einsaugen von Luft. Vielleicht ein hektisches Ausatmen. Vielleicht nichts von alledem.

»Ich kann jetzt nicht kommen. Ich habe gleich einen Auftritt.«

Schauspielerin? Tänzerin? Sängerin? Viktors Phantasie lief sich gerade warm. Welche seiner Vermutungen würde sich als richtig herausstellen? »Hören Sie! Es ist wahrscheinlich, und ich sage wahrscheinlich und nicht: sicher, dass Ihre Mutter ermordet wurde. Sie sollten wirklich vorbeikommen. Jetzt. Sofort.« Er war nicht für seine Feinfühligkeit bekannt.

Wieder Schweigen. Dann ihre Stimme, klar, ungerührt, fest: »Ich habe jetzt einen Auftritt.« Und damit legte sie auf.

2

Was macht uns an? Lew Petrow hatte einen komplexen Charakter, aber er war auch einfach nur ein Mann, mochte Frauen, besonders Blondinen. Hätte jemand, irgendjemand, es gewagt, ihm etwas zu unterstellen, hätte dieser Jemand festgestellt, dass Lew Petrow hübsche, aber leicht primitive Frauen bevorzugte. Lew Petrow selbst hätte gelächelt. Er konnte es nicht leiden, wenn ihm jemand etwas unterstellte. Im Übrigen »mochte« er Frauen nicht. Er bediente sich ihrer Körper. Das machte für ihn einen entscheidenden Unterschied. Und es war ihm sehr daran gelegen, das so und nicht anders zu handhaben. Noch lächelnd hätte Lew Petrow sein Messer gezogen und diesem Jemand eine Hauptschlagader durchtrennt, vorzugsweise die im Bauchraum. Langsames Verbluten gewährleistet. Lew Petrow wusste nicht viel über Anatomie, aber sein Wissen reichte aus, um Leben zu nehmen. Darauf bezog sich all sein Sinnen und Trachten.

Es war schon einige Jahre her. Mehr als sieben, weniger als neun. Er kam aus St. Petersburg nach Berlin. Fuhr durch Friedrichshain. Er nahm keine Route zweimal hintereinander. Routine war eine Schwäche in seinem Geschäft. Und Schwächen galt es zu vermeiden. Aber er war ein aufmerksamer Mensch. Als er sie zum zweiten Mal dort sah, hatte er das Fenster heruntergekurbelt und war langsam vorbeigefahren. Beim dritten Mal kam er aus der anderen Richtung. Sie war wieder da. Und Lew Petrow fand heraus, dass sie fast täglich auf dieser Bank saß. Im Vergleich zu allen anderen Frauen und den wenigen Männern, die selten dort erschienen, sah sie nicht müde, nur traurig aus. Dennoch wartete sie da. Schaute dem bunten Treiben zu.

Lew Petrow begriff in diesem Moment, dass sie war wie er: eine vom Schicksal Geschlagene. Das löste in ihm keineswegs das Gefühl von Mitleid aus. Aber es war die Geburtsstunde einer Geschäftsidee.

Also nahm er eines Tages Platz. Neben ihr. Sie war blond, schlank, hübsch, mit einem leicht primitiven Zug um den Mund. Sie trug etwas enges Schwarzes, einen Ehering. Und in dem Moment, als Lew Petrow ihr schweres Parfum roch, nahm er die Fährte auf, die ihm zu phantastischem Reichtum verhelfen sollte. Ganz nebenbei würde er das tun, worauf er sein Leben lang gewartet hatte: Er würde sich Genugtuung verschaffen.

Er half einem kleinen Mädchen auf die Schaukel, gab ihr einen Schubs. Ihrem Wunsch nach »mehr, noch mehr Schwung!« kam er nach, dann setzte er sich wieder neben die Frau. Er zeigte auf einen Jungen, willkürlich. »Ist das Ihrer?«

Wie aus einem Tiefschlaf aufgeschreckt, blickte sie ihn an.

Lew Petrow wusste, was sie sah: einen jungen, dynamischen Mann. Er galt als attraktiv. Graue Kleidung unterstrich die Tatsache, dass er Geschäftsmann war. Mit einem Hang zu Kreativität. Zumindest, wenn man die unendlich vielen Arten, auf kriminelle Weise Geld zu verdienen oder einen Menschen umzubringen, als kreativ bezeichnen wollte.

Immer noch schaute sie ihn an. Unsicher.

Da bemerkte Lew Petrow, dass ihr rechtes Auge blau unterlaufen war. Er war ein bekennender Freund offener Gewalt. Häusliche Gewalt verurteilte er nicht prinzipiell. Aber der Gedanke befremdete ihn dennoch. Was gehörte schon dazu, eine Frau zu schlagen? Er hatte jahrelang zugesehen, wie in seiner Familie geprügelt wurde, damals. Es war leicht, Kinder, Angehörige zu schlagen. Es sagte Lew Petrow, dass der Schläger über wenig Selbstkontrolle verfügte. Ein Zug, den er offen verachtete. Es zeigte ihm weiterhin, dass der Schläger, wahrscheinlich ihr Mann, nicht den Mut zu endgültigeren Lösungen hatte. Schläger waren gelangweilte Spieler. Und Spieler waren in Lew Petrows Augen Verlierer.

Lew Petrow zeigte auf den Jungen, der jetzt im Sandkasten buddelte. »Ist das Ihrer?« Seine Schulter berührte ihre Schulter.

»Nein.« Leicht schüttelte sie den Kopf.

Lew Petrow entdeckte in ihrem Gesicht etwas Vertrautes: Leid und Enttäuschung. Es gefiel ihm. »Er sieht Ihnen ähnlich«, log er charmant.

»Nein. Bestimmt nicht.« Sie hatte den Blick gesenkt, aber Lew Petrow erkannte, dass der Gedanke ihr zusagte.

»Welches Kind gehört zu Ihnen?«

Jetzt sah die Frau ihn offen an. Sie öffnete den Mund, nur leicht, um ihn sofort wieder zu schließen.

Lew Petrow blickte fragend zurück.

Dann traf sie eine Entscheidung.

Es war das, womit Lew Petrow gerechnet hatte. Und es befriedigte ihn über die Maßen, dass Menschen so vorhersehbar waren.

»Ich kann keine Kinder bekommen.« Sie sagte es leise, so wie man von einem geheimen Laster berichtet. Von etwas, das einem peinlich ist, gegen das es nicht mehr lohnt, sich aufzulehnen.

»Heute kann jeder Kinder bekommen.« Lew Petrow meinte es ernst.

»Ich nicht.« Ihre Lippen zitterten.

»Wie heißt du?«

Dass er sie plötzlich duzte, akzeptierte sie wie ein Hund seinen Herrn. Sie antwortete prompt, ohne jegliches Zögern. Als wolle sie, dass er sie kennenlernte. »Diana.«

»Du bist sehr schön.«

Hatte sie vorher schon das Persönlichste preisgegeben, war es diese Bemerkung, die sie ganz auf seine Seite zog. In ihrem Blick lag eine Dankbarkeit, die über devotes Verhalten hinausging. Lew Petrow überlegte für einen Moment, ob er angesichts solch offensichtlicher Schwäche nicht doch den Rückzug antreten sollte. Schwäche erfüllte ihn mit Abscheu. Aber er besaß einen untrüglichen Instinkt. Das hier war seine Chance. Er wusste, was sie hören wollte. »Diese Menschen hier haben keine Kinder verdient.« Er meinte es ernst.

Sie nickte. »Es ist so ungerecht.«

Lew Petrow nahm ihre Hand, und sie ließ es zu. »Ich werde dir helfen, dieses Unrecht wiedergutzumachen.« Dann küsste er sie. Hart auf den Mund. Drängte seine Zunge zwischen ihre Zähne.

Und sie ließ es zu. Sie wusste nicht, dass sie ihm dabei helfen würde, sein Unrecht wiedergutzumachen. Auf seine ganz persönliche, grausame Art und Weise.

3

Sie sah auf den Boden. Und stellte sich vor, es sei ihr Körper, der da läge. Ihr Blut an der Wand. Ihr Inneres nach außen gekehrt. Es war ein Bild. Eine Möglichkeit. Eine Hoffnung. Dennoch stand sie hier. Zum Atmen verdammt. Wie in einer Zeitblase verlagerte sie ihr Gewicht auf das andere Bein. Standbein, Spielbein, spürte die Zeit, die verging, schon vergangen war, seitdem er nicht mehr da war. Acht Jahre. Ihr analytischer Verstand reagierte prompt: zweitausendneunhunderzwanzig Tage. Circa siebzigtausend Stunden. Mehr als vier Millionen Minuten. Eine unmögliche Rechenaufgabe. Keine Zahl wurde dieser Zeitspanne gerecht. Das Ergebnis war offen. Die Zwischensumme eine Negativzahl und doch mehr als die Summe der einzelnen Teile. Acht Jahre. Etwas in ihr dehnte sich aus. Beanspruchte ihr Inneres wie ein bösartiger Tumor, dessen Wachstum nicht aufzuhalten war. Traurigkeit, Wut, Hilflosigkeit. Schwarze Depression. Früher hatte die Trauer Tränen produziert, unzählige, Fluten von Salzwasser, in denen sie bis zum Hals gestanden hatte und doch nie darin ertrinken konnte. Irgendwann war der Fluss in ihr ausgetrocknet. Jetzt produzierten ihre Augen nur noch kleine, harte Steine, die wie ihre Erinnerung schmerzten.

Geblieben waren auch die Vorwürfe. Sie kamen im Konjunktiv. Hätte ich mich nicht umgedreht. Hätte ich nicht nach etwas gesucht. Hätte ich den Mann nicht betrachtet. Das Vielleicht war das Schrecklichste an ihrer Situation. Und gleichzeitig das, was sie am Leben hielt. Wider bessere Vernunft. Wider jeden Reflex, das zu tun, was ihr einmal missglückt war. Vielleicht würde dann Viktor vor ihrem Körper stehen, so wie sie sich jetzt hier befand. Auch das bestärkte sie, es nicht zu tun. Das Leben hatte sich gegen ihren Willen durchgesetzt. Seitdem sie der Mut zu leben verlassen hatte, stand sie tiefer in Viktors Schuld, als sie es jemals wiedergutmachen konnte.

Immer hatte sie damit gerechnet, dass irgendwann nach Luis’ Verschwinden eine Art Betäubung einsetzen würde. Ein narkotischer Effekt, eine Gefühllosigkeit. Nichts von alledem war passiert. Die Verzweiflung war zu einem inneren Organ geworden. Es erschien ihr, als benötigte es nach all den Jahren immer mehr Raum. Presste ihr Herz, ihre Lunge mehr und mehr zusammen. Je weniger sie Luft holen, sich bewegen konnte, desto mehr wurde ihr Körper am Boden zu seinem. Sein winziger Leib. Die dunklen Haare. Immer noch trug er die grüne Jacke. Ihre Erinnerung schien erschreckend akkurat in diesen Dingen. Mutter und Sohn: eins. Ihr Blut an der Wand wurde zu seinem Blut. Aber das hier war eine Küche und kein Spielplatz. Und die Leiche am Boden war eine fremde Frau und nicht ihr Sohn. Würde es sie erleichtern zu wissen, dass er tot war? Sie hatte sich diese Frage so oft gestellt, dass sie nicht mehr wusste, ob eine Antwort, irgendeine Antwort, ihr noch helfen konnte. Sie ballte ihre Fäuste. Acht Jahre war es jetzt her. Wo war er? Und was tat er gerade? LUIS, WO BIST DU? Es war die einzig zulässige Frage. Sie zu stellen war unerträglich, und die Antwort auf sie nicht zu kennen, das war quälender als ein langsamer Erstickungstod.

Rosa Lopez bemerkte, wie mit einem Wimpernschlag das Leben wieder in Echtzeit ablief. Wie der süßliche Geruch des Todes in ihre Nase drang, wie auf ihrer Netzhaut der Körper Alla Kusmins wieder in den Fokus kam. Verstümmelt, misshandelt. All diese Wut. Alla Kusmin hatte eine Tochter. Hatte sie als Mutter genauso versagt wie sie? Es gab so unzählig viele Möglichkeiten, als Mutter zu versagen. Das war der Grund, warum sie sich lieber mit den Toten abgab. Die Lebenden waren eine Verantwortung, die sie nicht mehr tragen konnte. Ihr Mann Bernhard, ihre Tochter Tessa. Sie waren die Überlebenden aus ihrem früheren Dasein. Dem Leben vor Luis’ Verschwinden. Ihre Tochter und ihr Mann erinnerten sie täglich an ihr Scheitern. Sie bemühte sich, diese Quelle steter, stiller Anklage so selten wie möglich aufzusuchen. Ihre Familie, oder das, was davon übrig geblieben war, war eine Halbwelt geworden, in der sie sich wie eine Untote bewegte.

Viktor nahm neben ihr eine seltsame Haltung an. Etwas an ihm zuckte. Als Lopez zu ihm aufsah, schien der Ausdruck in seinen Augen merkwürdig entrückt. Seine riesige Hand, die das Handy an seinem Ohr festhielt, war schneeweiß. Lopez erwartete jeden Moment, das Gerät in tausend Stücke zersplittern zu sehen. Aber dann sagte er nochmals »hallo« und »Sie müssen kommen«, etwas in dieser Art, das Blut floss zurück in seine Hand, und sein Blick wirkte so präsent und entspannt, wie Lopez es von ihm kannte.

Hatte sie sich gerade noch in einem Zustand der Versteinerung befunden, fühlte sie jetzt plötzlich eine Haltlosigkeit. Für einen Moment wankte sie, hatte das Bedürfnis, sich an Viktor festzuklammern. Viktor, der Gigant, der Fels in der Brandung, ihr Mentor, ihr Ruhepol. Aber Viktor stand selbst nicht mehr fest. Was war geschehen? Das, dessen Zeuge sie gerade geworden war, war unerhört. Es passte nicht zu Viktor. Es verwirrte Lopez, stellte ihre Weltsicht in Frage. Und es hatte sie binnen Sekunden zutiefst beunruhigt. Was war los mit Viktor? Sie musste ihn danach fragen.

Lopez erkannte nicht erst in diesem Moment, dass das Leben eine Strafe war. Und dass es immer noch schlimmer kommen konnte.

4

Lew Petrow stand am polnisch-russischen Grenzübergang Grzechotki-Mamonowo II, der erst Anfang Dezember neu eröffnet worden war. Ungefähr zweieinhalbtausend Personenkraftwagen und etwa halb so viele Lkw konnten den Grenzübergang täglich passieren. Er stellte die neue Verbindung zwischen dem polnischen Elblag und dem russischen Kaliningrad dar. Eine bürokratisierte Technik-Fata-Morgana in einer Gegend, für die der Name Hinterland noch die schmeichelhafteste Bezeichnung war. Im Vergleich zu dem alten Grenzübergang Mamonowo waren hier vier Spuren für die Pkw-Abfertigung vorgesehen. Viel schneller als früher, weshalb Lew Petrow sich wie die meisten nächtlichen Autofahrer für diesen Übergang entschieden hatte. In seinem Geschäft waren einige Eigenschaften unverzichtbar: Gerissenheit, Skrupellosigkeit, Gewaltbereitschaft. Schnelligkeit war eine weitere. Er fuhr die Strecke nicht mehr häufig. Dafür hatte er willige Helfer. Aber gelegentlich übernahm er gern selbst Touren. Um wach zu bleiben, um nicht auf der Höhe seines Erfolges einzuschlafen. Nachts waren die Grenzer müde, weniger wachsam. Das half ebenfalls. Bisher war er noch nie bei einer Zufallsstichprobe ausgewählt worden. Und wenn, hätte es ihn kaltgelassen. Er bereitete sich alles vor, plante immer das Vorhersehbare und das Unvorhersehbare ein. Er war ein Chamäleon, weshalb er es seiner Umwelt nicht übelnahm, wenn sie sich wandelte.

Er zog den Reisepass, der auf den Namen Lew Petrow ausgestellt war, aus der Jacketttasche. Er besaß noch drei andere Pässe, drei andere Identitäten. Sollte eine davon auffliegen, würde er sich einfach eine vierte zulegen, zusätzlich zu seinem eigentlichen Namen. Wenn er ehrlich war, konnte er sich kaum noch an seinen eigenen Namen erinnern. Er mochte ihn nicht. Hasste die Tatsache, dass jemand anderes ihm diesen gegeben hatte. Einfach so. Er mochte es nicht, wenn andere über ihn verfügten. Lew Petrow hingegen war ein guter Name. Griffig. Es war sein absoluter Lieblingsdeckname. Er konnte sich sogar vorstellen, diesen Namen irgendwann einfach zu übernehmen. Dann wäre es sein Name. Nicht Schöpfung einer alkoholkranken Irren und eines perversen Alten. Ein Zufallsprodukt, eine konstante Beleidigung, dreiste Anmaßung. Er bemerkte, wie sich die Wut in ihm aufstaute, Hass, so alt wie er selbst, ein Geysir der Gewalt, heiß und jederzeit bereit auszubrechen.

Lew Petrow hielt nicht viel von Psychologie. Genauso wenig wie von einem Blick zurück. Die Zeiten der Hilflosigkeit lagen hinter ihm. Aber in seltenen ruhigen Momenten überfiel ihn die Erinnerung wie eine Schlechtwetterfront in den Bergen. Ehe man es sich versah, hatte der Himmel sich plötzlich zugezogen, und das, was sich da zusammenbraute, wurde zur Bedrohung. Es waren genau drei Erinnerungen, die Lew Petrow nicht mehr zurück in die Kiste zaubern konnte. Drei Erinnerungen, die ihn mit ihrer emotionalen Präzision derart aus der Fassung brachten, dass sie seinen Hass und seinen Ehrgeiz immer wieder anfachen würden. Diese drei Erinnerungen waren sein Motor, und das damit einhergehende Gefühl der Demütigung das Benzin für seine Handlungen. Diese drei Erinnerungen hatten einen luftleeren Raum und einen lautlosen Ton: Seine Mutter, die im Zimmer nebenan gemurmelt hatte: »Njet, njet.« Ganz leise. Der Moment, als er in einen leeren Raum gekommen war. Es war still, ganz still. Sein Gesicht auf kalten Kacheln. Nur das gedämpfte Plätschern des Wassers.

Das Lenkrad. Seine Finger hielten es umklammert. Er hätte es gern ausgerissen. Seine Knöchel weiß. In seiner Brust eine Versteinerung, hart wie Granit, wie Diamant, nur dunkel, ohne Glanz. Er ermahnte sich zur Ruhe. Er konnte Gefühlsregungen nicht gebrauchen. Und Gedanken an die Vergangenheit vergifteten ihn schon viel zu lange. Er liebte die Offensive, den Angriff nach vorn. Und der kam unvermeidlich. Der Blick zurück gehörte dem Gestern an. Fuck off, Erinnerung! Lew Petrow. Er selbst und doch nicht er. Er atmete tief aus. Irgendwann. Irgendwann, wenn er noch ein paar Millionen verdient und noch ein paar Leben zerstört hatte. Ein fleißiger Mann wie er verdiente einen Lebensabend mit einem ihm gefälligen Namen.

Vor ihm warteten fünf Wagen. Nur zwei Spuren waren geöffnet. Er hatte die längere gewählt. Lass sie sich an den anderen verausgaben! Das war sein Motto. Langsam krochen die Fahrzeuge vorwärts. Weiße Abgasrauchschwaden in eiskalter Luft. Er machte das Radio aus, voll konzentriert. Nur noch ein Wagen. Dann rollte er nach vorn. Der rot-weiße Schlagbaum, ein Relikt aus alten Zeiten, war schon sichtbar. Russland: verhasstes Vaterland. Ich bringe dir neue Ware.

Der Grenzer mit der obligatorischen Fellmütze, der tannengrünen Uniformjacke mit den zweifarbigen Streifen-Abzeichen klopfte an seine Scheibe. Lew Petrow ließ sie herunter – die Kälte drang in das Wageninnere ein wie ein ungeladener Gast – und hielt seinen russischen Pass zwischen Zeigefinger und Daumen dem Beamten entgegen.

Der schlug den Pass auf, musterte ihn, verglich Bild und Mann vor ihm, fokussierte kurz die blauen Augen, die dunklen Augenbrauen, die scharf gezeichneten Züge. Lew Petrow war ohne Zweifel ein gutaussehender Mann. Passfoto und Gesicht stimmten überein. Dann warf der Uniformierte einen prüfenden Rundumblick in den Wagen, als würde sich allein dadurch Schmuggelware vor seinen Augen materialisieren, aus den Polstern erheben wie entdeckte, entlaufene Sträflinge.

Du siehst an der falschen Stelle nach, dachte Lew Petrow und lächelte. Der junge Beamte lächelte zurück, reichte ihm seinen Pass und winkte ihn durch.

Lew Petrow legte den ersten Gang ein und steuerte den Mercedes C-Klasse auf den Schlagbaum zu. Ein dumpfes Geräusch ließ ihn kurz zusammenfahren. Im Rückspiegel sah er, wie der Grenzer zum zweiten Mal versuchte, mit der Hand auf den Kofferraum zu schlagen. In seinem Kopf spielten sich in Sekundenbruchteilen mehrere Szenarien gleichzeitig ab: Der Beamte hatte das Nummernschild überprüft und festgestellt, dass der Wagen gestohlen war. Wie hatte er das in der Kürze der Zeit bewerkstelligt? Oder ihm war etwas anderes verdächtig vorgekommen, das er überprüfen wollte. Ebenfalls keine gute Option. Noch zwanzig Meter bis zur Schranke. Oder etwas anderes … oder etwas anderes, aber was?! Sollte er jetzt das Gaspedal durchtreten, mit zweihundertzweiundsiebzig PS beschleunigen und losrasen? Der Schaden am Wagen würde den Wiederverkaufswert entscheidend mindern. Und er hätte jede Menge Grenzpolizisten am Hals, die ihn wahrscheinlich bis St. Petersburg verfolgen würden. Er war ein guter Fahrer, einer der besten, kannte alle Schleichwege. Noch zehn Meter. Der zweite Schlag auf den Kofferraum. Er sah im Rückspiegel, wie der Grenzer stehen blieb und winkte. Keine gute Option. Er bremste ab. Kam zum Stehen. Griff nach dem Messer in seiner Jacketttasche, überlegte, wie lange er brauchen würde, um es zu ziehen und zuzustoßen. Er fühlte sich vollkommen ruhig.

Schwer atmend blieb der junge Beamte neben seinem Fenster stehen. In seiner Hand hatte er einen Zettel. Lew Petrow betätigte den elektrischen Fensterheber. »Pashalussta – bitte«, sagte der Mann, indem er ihm das Blatt reichte. Sein Visumsnachweis. Er musste aus seinem Pass gefallen sein.

»Spasiba – danke.« Lew Petrow lächelte. »Vielen Dank.«

Dreißig Sekunden später hatte er die Grenze passiert. Ließ die Musik aus den Lautsprechern pulsieren. Russland: verhasstes Vaterland. Ich bringe dir neue Ware.

5

Jemand hatte ihm einen Flyer in den Briefkasten gesteckt. Das war das erste Mal. Er hatte ihn gewohnheitsmäßig mit der restlichen Werbung im Papiermüll entsorgt. Natürlich nicht, ohne vorher die Großbuchstaben gezählt zu haben. Den Text des Flyers hatte er nicht gelesen, den Inhalt des Textes nicht erfasst. Doch dann war der Flyer zum zweiten Mal in seinem Briefkasten aufgetaucht. Und ein drittes Mal am Tag danach. Foma Lassarev hatte nicht widerstehen können, diese Regelmäßigkeit wahrzunehmen. Drei Mal, das war ein Muster. Also hatte er festgestellt, dass der Flyer dreifarbig gedruckt war, rot und weiß auf schwarzem Grund. Er hatte weiterhin bemerkt, dass er eine absolut glatte Oberfläche besaß, auf der Rückseite rein weiß und vorn mit drei verschiedenen Schriftgrößen versehen war. Erst dann hatte er die Zeilen gelesen – es waren insgesamt zwölf – und sich gefreut, dass sich dieses aufdringliche Blatt Papier als so zahlensymmetrisch herausgestellt hatte. Auf dem schwarzen Blatt stand die Ankündigung einer Performance. Gesang. Schubert-Lieder. Eine Frau, die am Samstagabend um zwanzig Uhr in einem Club auftreten würde.

Foma Lassarev hatte seit vielen Jahren keine gesellschaftliche Veranstaltung mehr frequentiert. Er hatte seine Ex-Frau auf der einzigen Party kennengelernt, die er je besucht hatte. Danach waren sie gemeinsam noch ein paarmal ins Kino und ein Mal in ein sinfonisches Konzert gegangen. Foma hatte seine Frau begleitet, auch wenn sich ihm der Sinn solcher Veranstaltungen nie erschloss. Er verbrachte die Abende damit, Pixel zu zählen, die Kinosessel zu befühlen und die Anzahl der Musikinstrumente durch ungerade Zahlen zu teilen. Seine Frau fand das damals ungewöhnlich. Vielleicht sogar unterhaltsam. Jetzt hasste sie ihn mehr als alles andere auf der Welt.

Es musste eine ihm sonst fremde Anwandlung von Nostalgie gewesen sein, als Foma Lassarev kurz entschlossen seine Jacke anzog, um gegen neunzehn Uhr zum »Fern und Weh« aufzubrechen, dem Club, dessen Adresse auf dem Flyer vermerkt war und zu dessen Attraktion des Abends er sich seit dem mysteriösen dreifachen Erscheinen in seinem Briefkasten magisch hingezogen fühlte. Die Attraktion hieß »Sista Marx« und würde Schubert-Lieder singen. Er hatte den Eintritt bei einem dunklen Kerl entrichtet, nicht ohne wahrzunehmen, dass im Eingangsbereich vier Lampen hingen, die spärliches Licht verbreiteten. Im Saal, der fast acht Meter Deckenhöhe vorzuweisen hatte, verbrachte er bis zum Beginn des Konzerts die Zeit damit, die dreihundertvierundsechzig goldenen Lilien auf der türkisfarben gestrichenen Wand konzentriert zu zählen.

Er hatte sich eineinhalb Stunden von einer riesigen dunklen Frau in einem langen, roten, wallenden Kleid anschreien lassen. Er kannte diesen Schubert nicht, aber die Wucht der Präsentation hatte ihn fasziniert. Die große, dunkle Frau hatte gelegentlich einen Computer bedient, der elektronische Rhythmen produzierte. Foma Lassarev erstaunte es, dass die Frau im roten Kleid sich kaum bewegte. Sie stand, sie saß. Im Raum, auf einem Hocker. Das war alles. Es war Foma wie ein erstaunlicher Gegensatz zu dem animalischen Schreien der Schubert-Lieder erschienen. Foma kannte nur einen Text: den des »Erlkönigs«. Die Geschichte von dem Vater und dem Kind, von Nacht und Wind. Es hatte ihn in all dem Lärm traurig gemacht. Nach zehn Stücken verbeugte sich »Sista Marx« und verschwand unter dem frenetischen Beifall der meisten Zuhörer hölzern von der Bühne. Andere Gäste hatten das Spektakel vorzeitig und empört verlassen oder sahen sich jetzt verständnislos an. Foma Lassarev hatte sich im Hintergrund des riesigen ansteigenden Konzertsaals aufgehalten, der gut bis zur Hälfte mit Besuchern gefüllt war. Das Licht war angegangen, und bevor Foma in Versuchung kam, die übrig gebliebenen Besucher zu zählen, verließ er als Erster den Raum.

Foma streifte seine Winterjacke über, passierte die vier Lampen, deren Licht ihm jetzt heller als bei seinem Eintreffen erschien. Die zwei bulligen Typen, die hinter einem schwarzen Tresen saßen, beäugten ihn misstrauisch, was Foma jedoch nicht bemerkte, da er dabei war, die sechs Knöpfe seiner Jacke systematisch zu schließen. Er öffnete die Tür und atmete die eiskalte Winterluft ein. Die Sackgasse vor dem Club war menschenleer und glitzerte. Eine feine Decke Neuschnee hatte sich über den schwarzen Asphalt gelegt. An den Seiten türmten sich alte Schneehaufen auf. Dicke weiße Flocken fielen schwerelos vom Himmel. Am Ende der Straße zuckte die Glühbirne einer Straßenlampe unrhythmisch: gelb – nichts – gelb – nichts. Foma beschloss in diesem Augenblick, häufiger Konzerte zu besuchen. Die Erfahrung hatte ihn merkwürdig angeregt. Er hatte für einen Moment lang nicht das Bedürfnis, irgendetwas zählen zu müssen.

Drei Schritte weiter, die Straßenlampe zuckte noch hinter ihm, tippte ihm jemand auf die Schulter. Bevor Foma Lassarev sich ganz umdrehen konnte, hatte ihn bereits ein Schlag im Gesicht getroffen. Foma torkelte nach hinten, die Welt bekam Schieflage. Orientierungslos wankte er wieder nach vorn, eine Hand auf seine Schläfe gepresst. Sein Blick wollte ihm nicht mehr gehorchen. Schemenhaft erkannte er eine menschliche Gestalt vor sich. Wenn sie ein Gesicht hatte, war es unter einer schwarzen Skimaske verborgen. Es war ein heißes Eisen, das in sein Inneres vordrang. Foma spürte das Reißen seiner Haut und das Nachgeben seines Fleisches, als der Gegenstand ihn wieder verließ. Das unerträgliche Brennen zwang ihn die Knie. Ungläubig starrte er auf seine Seite hinab. Ein roter Fleck hatte sich bereits auf seiner Jacke ausgebreitet. War das sein Blut? Sein Körper, der ihn quälte? Wie durch eine Schaumstoffwand hörte er eine tiefe Stimme, die laut durch die Straße hallte. Foma blickte auf und sah, wie eine Person ging und eine andere kam. Sein letzter Eindruck, bevor er dem überwältigenden Gefühl der Erdanziehung nachgab, war das Blitzen der Messerklinge, die sich im Licht der Straßenlampe von ihm entfernte. Dann fiel er mit dem Gesicht voran ins schwarze Nichts.

Einige Zeit musste vergangen sein, aber für Foma war es nur eine Sekunde später, als er sich wieder im Hier und Jetzt begriff. Eine große dunkle Frau hatte ihn auf den Rücken gedreht und presste ihm die Hand auf seine Seite. Das Feuer zwischen seinen Rippen erinnerte ihn an den Ausbruch des Krakatau. Er hatte erst im vergangenen Jahr eine Abhandlung darüber geschrieben. Sie war in einer Fachzeitschrift veröffentlicht worden. Jetzt war sein Körper ein Vulkan. Jemand hatte ihn geöffnet, und nun brach er aus. Rote Lava musste austreten, um sich einen Weg zu bahnen. Alles Leben vernichtend. Foma kannte die Frau, die neben ihm kniete. Ihre dunklen Haare. Eben noch hatte sie ihn angeschrien. Schubert. In ihrem Kleid schien sie nicht zu frieren. Sie hatte rote Farbe im Gesicht, vielleicht sein Blut, weiße Flocken lagen auf ihrem schwarzen Haar. Als sei der Flyer in seinem Briefkasten lebendig geworden. Irgendetwas an ihr war ihm seltsam vertraut. Sie sprach auf ihn ein. Ihre Stimme klang tief, wohlklingend, sonor. Sie wirkte absolut ruhig. Als hätte sie solche Situationen schon hundertmal erlebt. Menschen, die blutend auf der Straße im Schnee lagen. Irgendwann machten die Worte, die sie zu ihm sagte, einen Sinn. »Hey! Hörst du mich?«

Sein »Ja« klang wie ein »Nein«, aber so etwas wie ein zufriedener Ausdruck erschien auf ihrem düsteren Gesicht. Er fühlte, wie er sich selbst entglitt. Wie Verzweiflung und Angst ihn ummantelten. Seine Rippen loderten, aber arktische Kälte griff nach seinem Herzen, nach seinem Unterleib. Foma sah zum Himmel und wollte sich wegziehen lassen. An einen anderen Ort. Bis das passierte, würde er das tun, was er am besten konnte.

Und wieder holte ihre Stimme ihn zurück. Sie war unwiderstehlich. Ein akustischer Magnet. »Was machst du da?« Sie klang ehrlich interessiert.

»Ich …« Foma wusste nicht, wie er die Kraft aufbringen sollte, ihr zu antworten. Dennoch erschien es ihm wichtig. »Ich zähle die Flocken.« Hatte sie ihn verstanden? Mit einer letzten Anstrengung wandte er ihr sein Gesicht zu. Warum hielt sie ihn vom Zählen ab?

Sie hatte ein Handy zwischen Schulter und Ohr geklemmt. Sie lächelte. Dann hörte er wieder ihre tiefe, schöne Stimme. »Hilfe ist unterwegs, Flockenzähler. Alles okay. Alles klar. Komm, schau mich an!«

Und das tat Foma. Er starrte weiter in ihre grünen Augen, bis die Sanitäter eintrafen. Er starrte weiter in ihre grünen Augen, bis sie sich unbeholfen erhob. Er starrte weiter in ihre grünen Augen, bis die Tür des Krankenwagens sich schloss.

6

Was war das?« Rosa Lopez sah Viktor fragend an.

Viktor wusste natürlich, was Lopez meinte, aber er war nicht gewillt, ihre Frage zu beantworten. Sie wusste von seiner Beurlaubung, kannte jedoch nicht den Grund dafür. Seine Aussetzer. Also antwortete er, allerdings auf eine Frage, die sie ihm nicht gestellt hatte. »Nichts. Sie hat einen Auftritt.«

»Wie bitte?«

»Tonja Kusmin. Die Tochter. Sie kommt nicht.« Genauso wie die Rechtsmedizin. Wo war Matitsch? Er hätte längst hier sein müssen.

Lopez schüttelte den Kopf, tadelnd, als hätte gerade jemand eine sexistische Bemerkung gemacht. »Sie muss kommen.«

Viktor zuckte mit den Schultern. Sie wussten noch nicht, wo Tonja Kusmin wohnte. Und sie wussten garantiert nicht, wo sie gerade auftrat. Eine Handy-Ortung würde schnell Gewissheit bringen. Das musste warten. Sie konnten hier nicht weg. Noch nicht. »Finde raus, wo sie wohnt!« Er war nicht mehr im Dienst. Eigentlich. »Ich werde ihr nachher einen Besuch abstatten.« Er war nicht mehr im Dienst. Eigentlich.

Rosa nickte. Für einen Moment starrten sie sich schweigend an. Dann drehte sich Viktor um.

»Warte!«

Viktor blickte seine Kollegin über die Schulter hinweg an.

»Was siehst du, Viktor?«

Er lächelte dünn. »Blut, viel Blut.«

Lopez wischte seine Worte mit einer kurzen Handbewegung weg, als hätte er sie nicht gesagt. Als hätte er mit dem Aussprechen des Offensichtlichen nur ihre Konzentration gestört.

Viktor blickte nochmals auf den Frauenkörper, der hier vor ihnen lag. Auf den geöffneten Unterleib. Die unzähligen Messerstiche. Das entstellte Gesicht. Das dunkle Blut in Pfützen, Spritzern und Striemen. »Jemand war sehr wütend.«

Lopez nickte.

»Das hier ist etwas Persönliches.«

Lopez nickte.

Viktor betrachtete die Eingangstür, den winzigen, düsteren Flur. Das Türschloss vergrößerte sich, kam näher. Es war intakt. Daran hing ein Schlüsselbund an einem Plastikanhänger. Irgendein Werbepiktogramm, das er kennen musste. Wieder eine Vergrößerung auf seiner Netzhaut. Sein Gehirn war eine Wundermaschine. Oder lief es still und leise Amok? Vier Schlüssel, einer davon im Schloss, ein Autoschlüssel, zwei unbekannt. »Keine Einbruchsspuren. Wahrscheinlich kannte Alla Kusmin ihren Mörder. Öffnete ihm bereitwillig die Tür.«

Lopez nickte. »Ja«, sagte sie und wandte sich ab. Das Gespräch war beendet.

Viktor mochte nicht viele Menschen. Aber er mochte Rosa Lopez. Genauer gesagt fand er sie phantastisch, aber das hätte er ihr nie verraten. Weil er es nicht musste und weil er es nicht konnte. Niemand wollte mit Viktor zusammenarbeiten, da er den meisten Menschen Angst einflößte. Und niemand wollte mit Lopez zusammenarbeiten, denn sie verströmte das Unglück aus allen Poren wie Tote einen Verwesungsgeruch. Sie beide waren Paria. Viktor und Lopez waren wie die Einzelteile eines zerbrochenen Krugs. Nur zusammen ergaben sie einen Sinn.

Lopez war verheiratet. Aber Viktors Gefühle für sie gingen über amouröse Ambitionen hinaus. Er bewunderte sie. Viktor bestaunte, wie sie jeden Tag wieder von neuem aufstehen konnte. Wie sie es fertigbrachte, ihr Leben überhaupt zu leben. Obwohl sie dazu schon lange keinen Grund mehr sah. Sie war so unspektakulär, dass sie Viktor auf der Polizeischule zunächst nicht aufgefallen war. Braune glatte Haare, ein nettes, fröhliches Durchschnittsgesicht. Sie trug Uniform, immer. Wenn er Rosa Lopez in Zivilkleidung erlebt hatte, erstaunte ihn ihr schlechter Geschmack immer wieder. Sie war zutiefst bieder gekleidet, als läge ihr daran, dass niemand sie als Frau wahrnahm. Viktor wusste, dass sie sich nicht für Kleidung interessierte, weil sie sich andauernd auf andere Dinge konzentrierte. Auf einen Fall, auf ihr Kind, ihren Mann, auf den Straßenverkehr, das Kochen oder das Schießen.

Viktor war einmal Lopez’ Ausbilder gewesen. Bevor er wieder in den aktiven Dienst gewechselt hatte. Damals nannte er sie noch Rosa. Bis sie plötzlich eine andere geworden war. So anders, dass sie auf ihn schoss. Seitdem hatte Viktor für sie einen anderen Namen. Lopez. Rosa war an diesem Tag verschwunden, genauso wie das Wichtigste in ihrem Leben.

 

Sie hatte zwischen den anderen Polizeianwärtern wie eine Kindergärtnerin gewirkt, die sich verlaufen hatte. Schweigend und konzentriert hörte sie im Klassenraum Viktors Ausführungen zu, während die anderen herumgeblödelt und leise gequatscht hatten. Während ihre Mitschüler nachts tranken und wild durcheinander vögelten, hatte Rosa brav geschlafen, um am Morgen pünktlich vor allen anderen im Klassenraum zu sitzen. Hoffnungsvoll, als hätte sie ihr Leben lang auf nichts anderes gewartet. Rosa Lopez war die einzige Person, der Viktor keine Angst einflößte. Sie lauschte ihm aufmerksam und vertrauensvoll wie eine Enkelin ihrem Großvater. Lachte an Stellen, die nicht lustig waren. Als meinte sie es besonders gut mit Viktor. Sie hatte, als sie auf der Polizeischule war, bereits kleine Kinder, war verheiratet. Als hätte sie vor, das Leben im Schnelldurchlauf zu absolvieren. Sie war unglaublich schlau und wissbegierig und wie von einem geheimen inneren Motor getrieben. Ihre Energie schien unerschöpflich. Sie wirkte inmitten dieser unreifen Polizeianwärter sonderbarer als ein fremder Planet. Und sie war für ihre Mitschüler so langweilig, dass diese sie nicht einmal bemerkten. Bis sie Rosa das erste Mal am Schießstand erlebten.