Arianna Farinelli
Aufbrüche
Roman
Aus dem Italienischen von Luis Ruby
FISCHER E-Books

Die Italienerin Arianna Farinelli lebt seit über 20 Jahren in New York, wo sie Professorin für political science ist. Wissenschaftliches schreibt sie auf Englisch, ihre Herzenssprache, in der sie auch ihren ersten Roman »Aufbrüche« geschrieben hat, ist Italienisch
Luis Ruby übersetzt aus verschiedenen Sprachen, u.a. Clarice Lispector, Hernán Ronsino, Eduardo Halfon und Niccolò Ammaniti. Für seine Arbeit wurde er mehrfach ausgezeichnet.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Wer bin ich? Wo bin ich fremd? Wo zu Hause? Die Italienerin Bruna ist vor Jahren für ihre große Liebe Tom in die USA gegangen. Tom und Bruna haben zwei Kinder, die Ehe ist konfliktreich, und als Bruna, die Uniprofessorin, erneut schwanger ist, weiß sie nicht, ob Tom oder ihr Student Yunus der Vater ist. Über Nationalitäten, geschlechtliche Identitäten und Politik hinweg nähern sich Bruna und Tom wieder an und wagen einen erneuten Aufbruch.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Der Originaltitel erschien 2020 unter dem Titel ›Gotico americano‹ bei Bompiani, Mailand 2020
© 2020 by Arianna Farinelli
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© 2020 Bompiani / Giunti Editore S.p.A., Firenze-Milano
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www.Bompiani.it
Questo libro è stato tradotto grazie a un contributo per la traduzione assegnato dal Ministero degli Affari Esteri e della Cooperazione Internazionale italiano
Dieses Buch wurde dank eines Übersetzungszuschusses des Italienischen Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten und Internationale Kooperation übersetzt.
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2021 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstraße 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Andreas Heilmann und Gundula Hissmann, Hamburg
Coverabbildung: Busà Photography / Getty Images
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-491293-6
»Die schreckliche Wahrheit ist, mein Junge: Du musst sie akzeptieren. Das ist mein voller Ernst. Du musst sie akzeptieren und zwar mit Liebe.«
James Baldwin, Nach der Flut das Feuer
Für meine Kinder
Für A. J., der noch im Bauch des Wals ist
1.
Die Bewohner der Stadt Ninive waren Götzendiener und führten ein zügelloses Leben. Da beschloss Allah, ihnen den Propheten Yunus zu schicken, um sie zu bekehren. Doch die Bewohner von Ninive wollten nicht auf ihn hören. Sosehr Yunus versuchte, sie von der Nutzlosigkeit ihrer Götzendienerei und der Güte von Allahs Geboten zu überzeugen, sie gingen beharrlich über seine Ratschläge hinweg. Yunus warnte sie: Wenn sie weiterhin falsche Götter anbeteten, würde Allah sie bestrafen. Doch anstatt die Strafe Allahs zu fürchten, erwiderten sie, sie hätten vor seinen Drohungen keine Angst. Also beschloss der Prophet erzürnt, sie ihrem Schicksal zu überlassen. Und da er fürchtete, dass die Strafe Allahs kurz bevorstehe, verließ er Ninive. Im Koran heißt es: Denk an Yunus, als der erzürnt von dannen ging und glaubte, Allah werde ihn dafür nicht strafen. Wie viel Unglück musste er dann erdulden!
Yunus war gerade erst aus der Stadt aufgebrochen, als der Himmel die Farbe wechselte, es war, als stünde er in Flammen. Bei diesem Anblick gerieten die Bewohner von Ninive in Angst. Sie wussten nur zu gut, welches Schicksal die ‘Ād und Thamūd und das Volk Noahs ereilt hatte. Nach und nach kam der Glaube über sie und berührte ihre Herzen. Da stiegen sie auf den Berg und begannen, Allah um Erbarmen und Vergebung zu bitten. Der Berg hallte von ihren Klagen wider. Allah, der erkannte, dass ihre Reue aufrichtig war, sah von seiner Bestrafung ab und segnete sie. Der Sturm, der sie bedroht hatte, zog über die Stadt hinweg, und die Bewohner von Ninive beteten um Yunus’ Rückkehr.
Inzwischen hatte Yunus ein Boot bestiegen und war den ganzen Tag lang mit einigen anderen Reisenden durch ruhige Wasser gesegelt. Als die Nacht hereinbrach, veränderte sich das Meer mit einem Mal. Ein schrecklicher Sturm peitschte auf das Boot ein und drohte, es in Stücke zu schlagen. Hinter dem Boot durchpflügte ein großer Walfisch mit offenem Maul das Wasser. Allah hatte ihm befohlen, vom Meeresgrund aufzusteigen und dem Boot zu folgen. Der Sturm tobte weiter, und der Kapitän befahl seiner Besatzung, Ballast abzuwerfen. Die Seeleute warfen die gesamte Ladung über Bord, aber das genügte nicht. Da beschlossen sie, einen der Mitreisenden ins Meer zu werfen, um die Last noch weiter zu verringern. So, dachten sie, würden sie den Zorn der Götter besänftigen. »Lasst uns Lose ziehen und sehen, wer ins Meer geworfen werden soll«, sagte der Kapitän.
Auch Yunus, der keinem derartigen Aberglauben anhing, sah sich gezwungen, ein Los in die Schale zu legen, und beim ersten Mal wurde sein Name gezogen. Aber der Kapitän und seine Besatzung wollten ihn nicht ins Meer werfen. Sie wussten, dass er der Gerechteste unter ihnen war. Da beschlossen sie ein zweites und ein drittes Mal, das Los entscheiden zu lassen, doch immer wurde Yunus’ Name gezogen. Also stand der Entschluss fest. Yunus musste ins Meer geworfen werden. Der Prophet trat auf die Brücke des Bootes und sah, wie um ihn herum der Sturm wütete. Es war stockfinster. Ein schwarzer Nebel verdunkelte die Sterne. In diesem Augenblick wurde ihm klar, dass hinter allem, was da geschah, die Hand Allahs war. Yunus hatte ohne dessen Erlaubnis den ihm zugewiesenen Ort verlassen. So fügte er sich in Allahs Entschluss. Er rief dessen Namen an, warf sich ins sturmgepeitschte Meer und verschwand in den Wellen. In diesem Moment kam der Wal und verschlang ihn. Sein Gebiss schloss sich hinter ihm wie die Riegel eines Gefängnisses, und dann tauchte der Wal in die Tiefe. Nun umfingen Yunus drei Schichten von Dunkelheit, eine nach der anderen. Die Dunkelheit im Magen des Wals, die Dunkelheit des Meeres und das Dunkel der Nacht. Anfangs glaubte Yunus, er sei tot, doch dann bemerkte er, dass er sich bewegen konnte. Da dachte er an Allah und rief dessen Namen an. »La ilah illah anta subhanaka inni kuntu mina’z-zalimin. Es gibt keinen anderen Gott als Dich, Lobpreis sei Dir. Ich war ein Ungerechter.« Yunus fuhr fort, Allah mit diesen Worten anzurufen. Als der Wal seine Gebete hörte, begriff er, dass er den Propheten verschluckt hatte. Auch Allah vernahm Yunus’ Anrufungen und sah seine aufrichtige Reue. Da hieß er den Wal, zurück an die Oberfläche zu kommen.
Der Prophet wurde aus dem Bauch des Wals gespien und landete auf einer abgelegenen Insel. Er war in Sicherheit, aber er litt Schmerzen. Sein Körper war von der Magensäure des Wals überzogen, und als die Sonne am Himmel emporstieg, begann seine Haut zu brennen. Yunus wiederholte unablässig seine Anrufungen. Da ließ Allah eine Kürbispflanze wachsen, um ihn vor der Sonne zu schützen und seinen Schmerz zu lindern. Allah sagte zu Yunus, dass er ohne seine Gebete bis zum Jüngsten Tag im Bauch des Wals hätte warten müssen. Yunus kehrte nach Ninive zurück und wurde von den Menschen dort freudig aufgenommen, und gemeinsam dankten sie Gott für sein Erbarmen. Der Prophet Muhammad hat gesagt: »Keiner soll sich je besser nennen als Yunus.«
»Die Geschichte ist aus. Zeit zu schlafen.«
Bruna beugt sich über ihren Sohn. Sie küsst ihn wie jeden Abend auf die Augenlider. Fährt ihm über die Stirn. Streichelt seinen Lockenkopf und pustet ihm sanft in die zerzausten Haare. Mario hat sich entschlossen, sie nicht mehr schneiden zu lassen, und so sind sie ihm in den letzten Monaten fast schulterlang gewachsen. Bruna knöpft ihm den Pyjama mit den rosa Einhörnern zu und wickelt ihn sorgfältig in die Decke ein. Dann will sie aufstehen, doch ihr Sohn hält ihre Hand fest.
»Bleib doch noch ein bisschen.«
Bruna ist müde und wäre jetzt gerne allein, aber sie wendet sich um und setzt sich an den Bettrand. Minerva schläft schon, zur Seite gedreht, die schwarzen Haarsträhnen auf dem Kissen wie Schlangen im Korb eines Beschwörers. Das Buch, in dem sie gelesen hat, ist ihr wohl aus den Händen geglitten, es liegt wahllos in der Mitte aufgeklappt.
»Ich warte auf dich«, hat sie gesagt, »dann kannst du mir erzählen, wie es im Fernsehen war.«
Aber Bruna ist zu spät nach Hause gekommen. In der Midtown lag der Verkehr lahm, so ein Andrang herrschte zu den Wahlpartys der zwei Kandidaten, die beide ihre Siegerreden in der Hand hielten. Und so ist Minerva eingeschlafen. Tom, Brunas Mann, sitzt noch mit einigen Kollegen aus dem Krankenhaus im Restaurant. Die Kinder haben allein zu Abend gegessen. Minerva hat Hühnersuppe aufgewärmt und anschließend die Küche aufgeräumt und ihren Bruder zum Zähneputzen genötigt. Dann hat sie sich vor den Fernseher gesetzt, um auf CNN die Wahlergebnisse zu verfolgen. Mario hat in einem Irving-Penn-Bildband geblättert und ist auf dem Teppich eingeschlafen, das Gesicht platt auf dem Porträt von Pablo Picasso, der ihn unter seinem Hut hindurch zu mustern scheint.
Jetzt ist es spät. Auf CNN hat die Farbe für Pennsylvania von weiß auf rosa gewechselt. Ohio ist schon seit einer Stunde rot, wie auch North Carolina. Florida lässt noch auf sich warten. Aber auch dieser dicke Penis, der ruhig daliegt, umschmeichelt von den warmen Wassern des Golfs von Mexiko, dieses riesige Wartezimmer aufs Jenseits für Millionen pensionierter Amerikaner, wird in Kürze so rot werden wie der Großteil des Landes. Auf CNN hat sich Van Jones’ joviales Gesicht immer weiter verdüstert. Vor Ende der Sendung wird der afroamerikanische Kommentator vor laufenden Kameras in Tränen ausbrechen und sich schluchzend fragen, wie er das alles seinen Kindern erklären soll.
So wie sie es ihrer Mutter versprochen hatte, hat Minerva um Punkt elf den Fernseher ausgeschaltet und ihren Bruder ins Bett gebracht. Morgen schreibt sie ihre Geschichtsprüfung über den Amerikanischen Bürgerkrieg. Aber Minerva hat keine Zweifel, dass es in der Schule nur ein Thema geben wird, den Ausgang der Wahlen.
»Komische Geschichte … Ist die wahr?«, fragt Mario seine Mutter.
»Sie steht im Koran und auch in der Bibel, dort ist Yunus der Prophet Jona.«
»Dann hat es Yunus echt gegeben?«
»Kann sein. Oder vielleicht soll das Ganze nur anschaulich machen, wie sich im Leben plötzlich alles ändern kann.«
Bruna senkt den Blick und beginnt, an einem Zipfel ihres schwarzen Seidenrocks zu nesteln.
»Ich hatte mal einen Studenten, der Yunus hieß«, sagt sie und versucht, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken. »Wie der Prophet aus dem Koran reiste auch er nach Ninive, heute heißt die Stadt Mossul.«
»Mossul … Ist das in Amerika?«
»Nein, im Irak.«
»Und ist er auch im Bauch des Wals gelandet, unter drei Schichten von Dunkelheit?«
»Ja.«
»Und wurde er auch von Gott gerettet? Hat Gott dem Wal befohlen, ihn freizulassen, weil er ein Gerechter war?«
Bruna setzt zu einer Antwort an, aber die Worte bleiben ihr im Hals stecken. Ihre Beine haben angefangen zu zittern. Ihre Faust hält noch immer den Zipfel aus schwarzer Seide umschlossen, wie um die Dunkelheit zu vertreiben. Mario umfasst ihr Gesicht mit den Händen und streicht ihr zärtlich über die Wangen, an denen langsam die Tränen hinunterrinnen. Sie hinterlassen helle Furchen in der dick aufgetragenen Fernsehschminke.
Bruna beißt sich auf die Lippen und hasst sich dafür, dass sie vor ihrem Sohn diese Schwäche gezeigt hat. Ich habe alle belogen, sagt sie sich seit Tagen immer wieder. Was werden die Kinder von ihr denken? Und Tom? Und Yunus, wie hat er sie so betrügen können? Sie hat ihm doch vertraut. Dann wischt sich Bruna die Tränen ab und wendet sich Minervas Bett zu, um sicherzugehen, dass ihre Tochter nicht aufgewacht ist. Sie weiß, dass Minerva keine Ruhe geben würde. Aber ihre regelmäßigen Atemzüge sind unverändert. Minerva schläft.
Bruna küsst Mario ein weiteres Mal auf die Augenlider. Er schlingt ihr die Arme um den Hals, zieht sie noch enger an sich. Dann küsst er sie auf die Lippen, wo sie sich gebissen hat, um die Tränen im Zaum zu halten, und wo nun ein Blutstropfen die Wunde schließt.
»Schlaf jetzt«, sagt sie endlich und streicht ihm noch einmal die Decke glatt. »Bald ist schon Morgen.« Sie steht auf und knipst das rote Licht aus, das ihr Sohn neben dem Bett stehen hat. Die Lampe sieht aus wie ein einäugiger kleiner Außerirdischer, der ihr Nacht für Nacht verspricht, über den Schlaf ihrer Lieben zu wachen.
Die Wohnung liegt dunkel und still da. Auch Bruna kommt sich vor wie unter drei Schichten von Dunkelheit. Die Schutzschicht um ihre Wohnung, wo allein die dunklen Holztöne der schlaflosen Helligkeit draußen etwas entgegensetzen. Die Schicht von Gleichgültigkeit in dem Haus, das sie bewohnt. Zweihundert Wohnungen und über fünfhundert Bewohner, von denen Bruna nach all den Jahren fast keinen kennt. Und am Ende die Dunkelheit dort draußen. Jene, die sich dem blendenden Licht der Stadt entzogen hat, in der es auch dann Tag scheint, wenn es Nacht ist. Der Sternenglanz der Wolkenkratzer. Das verführerische Leuchten der Lokale. Die hypnotischen Lichter der Großbildschirme. Unter dem Kaffeebecher von Dunkin’ Donuts laufen triumphierend die Börsenkurse von der Nasdaq. Stark, sehr stark, megastark. Der Dow wird alle Rekorde schlagen. 18000 Punkte vor den Wahlen, 24000 ein Jahr später. Less taxation, less regulation. Was gut für die Wall Street ist, das ist auch gut für die Main Street.
Aber die Dunkelheit will nicht aufgeben, sie widersteht. Verschanzt sich in den engen Gassen zwischen den Wohnsilos. In den leerstehenden Geschäften mit ihren rostigen Rolltüren. Unter den Brücken der Schnellstraßen, zwischen den Kartons der Obdachlosen. In der Schlucht am Belmont Park, zwischen den weggeworfenen Einwegspritzen.
»Die Leute sagen, es ist nicht so, niemand will es zugeben. Aber es gibt tatsächlich eine Stadt im Untergrund.«
In der leeren Einzimmerwohnung, die Yunus zusammen mit seinem Freund Mohammad bewohnt hat, ist es dunkel. Das gelbe Absperrband versperrt den Zugang. Caution, police line.
»Die Jungs machten so einen netten Eindruck«, sagt eine Nachbarin dem Reporter von Channel 7. »Der Große, Yunus, war wirklich sehr freundlich.«
»Und Sie hatten nie einen Verdacht?« Der Reporter hält ihr das Mikrophon näher an den Mund.
»Also, wenn ich so drüber nachdenke, war der junge Mann irgendwie zu freundlich. Wahrscheinlich habe ich ihm deshalb nie so richtig vertraut.«
Der Prophet Muhammad hat gesagt: »Keiner soll sich je besser nennen als Yunus.«
»Sein Vater war wegen irgendeiner üblen Sache in Rikers Island gelandet«, erzählt Yunus’ Vermieter. »Er ist dann im Gefängnis gestorben. Die Angelegenheit wurde nie ganz geklärt. Ich weiß nicht, ob es ein Paradies gibt, aber Rikers ist definitiv die Hölle.«
»Der arme Junge«, fährt seine Frau fort. »Als er zwölf Jahre alt war, kam er in die Obhut des Jugendamts. Ich dachte, er hätte seine schwere Kindheit hinter sich gelassen und ein neues Leben angefangen. Aber da habe ich mich wohl getäuscht. Am Ende bezahlen die Kinder immer für die Fehler ihrer Eltern.«
»Deshalb brauchen wir ein Dekret gegen die Einwanderung aus muslimischen Ländern«, wird der Sprecher des gewählten Präsidenten am nächsten Tag kommentieren. »Wir müssen verhindern, dass radikalisierte Spinner ins Land kommen, um auf amerikanischem Boden Terroranschläge zu verüben oder naive Jugendliche mit psychischen Problemen für den Dschihad zu rekrutieren.«
In Yunus’ Wohnung ist es dunkel. Die antiquarisch erworbenen Lehrbücher für die Uni liegen überall verstreut, zusammen mit Fotos, Briefen, Kleidungsstücken. Seinen Computer hat die Polizei mitgenommen. Der von Mohammad wurde nicht gefunden. Ein einzelner Turnschuh steht ohne Begleiter da. Über dem Bett baumelt das abgerissene Poster von Charlie Parker und Dizzy Gillespie von der Wand. Yunus’ Trompete liegt noch immer auf dem Küchentisch. Auf dem Instrument hat sich Staub abgesetzt. Er bedeckt das Blech des Schalltrichters, verstopft die Zylinderventile. Die rauchige Melodie von My Melancholy Baby ist nun für immer in ihrem Inneren gefangen. Fortan wird Yunus’ Trompete nur noch Il silenzio spielen.
Day is done, gone the sun,
All is well, safely rest, God is nigh.
Unter Yunus’ Kissen liegt weiter das Exemplar von James Baldwins Giovannis Zimmer. Eine der ersten Ausgaben von 1956, die Bruna in einer alten Buchhandlung im Village ausgegraben hat. Einem kleinen Laden in einem Souterrain, wo es nach Moder und Katzenpisse stank. Die großen Ketten haben fast alle unabhängigen Buchhandlungen der Stadt geschluckt, und jetzt schluckt Amazon eine nach der anderen die großen Ketten. Wer weiß, denkt Bruna, vielleicht kommt eines Tages ein noch größerer Fisch als Amazon und schluckt uns alle. In Baldwins Roman steckt ein Lesezeichen, ein Foto der Tänzerin Josephine Baker 1927 bei den Folies Bergère mit nichts als einem Bananenröckchen um die Hüften.
Ihr rebellischer Tanz, eingehüllt in die mächtige Umarmung seiner Worte.
»Dass dies nur ein winziger Aspekt der schrecklichen menschlichen Verstrickungen war, die es überall gab, ohne Ende, für allezeit.«
Yunus’ Zimmer ist eigentlich zu klein für zwei. Yunus hat in den vergangenen Monaten versucht, es behaglicher zu gestalten. Er hat die vergilbten Wände neu gestrichen. Den Linoleumboden mit Teppich ausgelegt. Er und Mohammad haben das Kabuff in einen Betraum umgewandelt. Yunus hat dort einen kleinen afghanischen Teppich ausgebreitet, den er bei einem Trödler in Harlem gefunden hatte. Auf ein winziges Tischchen hat er ein Exemplar des Korans gestellt. An der Wand hängt ein schwarzes Tuch mit dem arabischen Schriftzug: »Es gibt keinen anderen Gott als Dich, Lobpreis sei Dir. Ich war ein Ungerechter.«
Yunus’ Zimmer befindet sich im ersten Stock eines alten Backsteinhauses an der Ecke 138. Straße und Malcolm X. Die Fenster gehen auf einen kleinen Innenhof. Am Nachmittag spielen dort Kinder. »Let’s play suicide!«, rufen sie fröhlich und lassen einen Gummiball gegen die Mauer prallen. Einer der Jungen fängt den Ball auf und trifft damit seinen Nebenmann, während der versucht, die Mauer zu erreichen. Da kommt er zu Fall.
»Treffer, du bist draußen!«
»Nein, ich hatte schon die Mauer berührt. Ich bin frei!« Aber es ist klar, dass das gelogen ist.
Ein Spieler nach dem anderen wird eliminiert, bis nur noch der Sieger übrig bleibt.
Der junge Ahornbaum im Hof scheint ihnen von oben zuzusehen. Noch ein paar Jahre, und die Kinder werden auch außerhalb des Spiels zu Fall kommen. Yunus’ Ahorn hat schon fast alle Blätter verloren. Wenn man ihn so nackt sieht, wirkt er noch jünger und hagerer. Die schwarzen Äste vom Wind geschüttelt.
»Weißt du, warum sich das Laub der Bäume im Herbst rot färbt?«, hatte Yunus sie vor seiner Abreise gefragt. »Bevor sie sich fallen lassen, geben sie sämtliche Nährstoffe an den Baum ab.«
Bruna geht in ihr Zimmer und streckt sich auf dem Bett aus, in voller Montur. Noch nicht einmal den Mantel hat sie abgelegt, als sie nach Hause kam. Sie ist direkt ins Kinderzimmer gegangen, weil Mario, der sie hereinkommen hörte, nach ihr rief. Nun dreht sie sich auf die Seite und schließt in der Hoffnung einzuschlafen die Augen, aber sie ist zu aufgewühlt. In ihrem Kopf herrscht ein andauerndes Geräusch. Dasselbe Schrillen von Sirenen, das zu jeder Tages- und Nachtzeit in der Stadt zu hören ist. Dasselbe Dröhnen von Bohrern, die Fundamente ausheben, und Betonmischern, aus denen Zement quillt. Bruna dreht sich auf den Rücken und macht die Augen wieder auf. Sie betrachtet die Risse, die sich unweigerlich an der Decke zeigen, wenn der Winter näherrückt und das Haus sich von der einsetzenden Kälte zusammenzieht. Bruna wartet auf Tom. Sie hat beschlossen, ihm die Wahrheit zu sagen.
Der Herbst ist weit fortgeschritten. Die warme, feuchte Luft des Indian Summer, der in diesem Jahr besonders prächtig war, ist einer Front kühlerer Luft gewichen, die aus Kanada herüberzieht. Die Kälte hat den großen Eriesee überquert und schließlich über die relativ niedrigen Gipfel der Adirondack Mountains und das schöne Hudson Valley, das inzwischen fast völlig kahl ist, die Stadt erreicht. Jetzt weht es kühl auf die sanften, gebändigten Wasser des Hudson und die turbulenten und salzigen des East River. Und dringt durch die Fensterritzen, so dass Staub von den Büchern gewirbelt wird, von denen es in Brunas Zimmer viele gibt.
Bruna lauscht dem nervösen Stampfen des Flusses, der unter ihrem Haus dahinfließt. Über seinen gesamten Verlauf ist der East River ein Spielball der Gezeiten. Wassermassen, die sich auftürmen und wieder zurückziehen und den Fluss dabei in entgegengesetzte Richtungen bewegen. Deshalb fließt er mal von Norden nach Süden, vom Long Island Sound in Richtung New York Bay und offenes Meer. Und mal in die umgekehrte Richtung. Der East River ist kein Fluss im engeren Sinne, sondern eine Meerenge zwischen zwei Meeresarmen, die in ewigem Widerstreit stehen. Zwischen einem Gezeitenwechsel und dem nächsten tritt ein Waffenstillstand ein. Wenige Minuten lang slack waters, die Kräfte der Natur gönnen dem Wasser endlich eine Atempause. Dann liegt der Fluss ruhig in seinem Bett. Bruna sieht ihn gerne so, langsam und müde. Das scheint ihr der einzige innere Friede, der noch möglich ist.
Als einziger Bewohner dieser Stadt erlaubt sich der Fluss gelegentlich zu verschnaufen. Während alle rennen, schwitzen, sich abstrampeln, wetteifern, einander hinterherrennen, die Ellbogen einsetzen, sich in Schlägereien verwickeln, zu Fall kommen und sich wieder aufrappeln, hält er inne, atmet durch, denkt nach. Aber die Ruhe hält nie lange an. Bald schon kommen die mächtigen Strömungen aus dem Long Island Sound zurück und wühlen ein weiteres Mal die Wasser auf. Ein Fluss im Fluss. Ein paar Meilen von ihrer Wohnung entfernt, an dem Punkt, der Hell Gate genannt wird, stoßen sie mit dem Harlem River zusammen. Dort ist es, als kämen sich die Wellen selbst in die Quere, unfähig, die Richtung zu halten, in die sie von der Strömung geschoben werden. Tom hat ihr einmal erzählt, im 17. Jahrhundert habe ein holländischer Forschungsreisender die Stelle entdeckt, an der Schiffe die ruhigeren Wasser der Bay durchsegeln können, bis hinüber nach Boston. Eine Route, die für Jahrhunderte, bevor der Transport auf dem Schienenweg aufkam, eine der wichtigsten Handelsstraßen Nordamerikas war. Der Entdeckungsreisende hatte diesen Teil des Flusses Hellegat getauft, das lichte Tor. Und tatsächlich verwandelt sich dieser Abschnitt zu einer gewissen Tageszeit in einen riesigen, gleißend hellen Spiegel.
City of hurried and sparkling waters.
Doch in der englischen Übersetzung war Hellegat zu Hell Gate geworden, dem Höllentor. Das war nicht einfach nur ein Übersetzungsfehler. Die Durchfahrt barg tatsächlich Gefahren. Gerade um das Hell Gate wurde die Navigation außerordentlich erschwert, durch das Aufeinanderprallen der Strömungen, die unverhoffte Strudel verursachten, und durch spitze Felsen, die aus dem Wasser ragten und den trächtigen Bauch der Schiffe zu durchbohren drohten.
City of spires and masts.
Über die Jahrhunderte hatten die Seefahrer jenen Felsen phantasievolle Namen verliehen. Zum Teil unerklärlich heitere wie Hen and Chickens oder Bread and Cheese. Andere klangen bedrohlicher, etwa The Negro Heads. In diesem Flussabschnitt waren über all die Zeit Hunderte von Schiffen untergegangen. Während des Unabhängigkeitskriegs hatte die Hussar, eine englische Fregatte, die angeblich Gold und Silber führte, um die in Manhattan stationierten Truppen zu entlohnen, just am Hell Gate Schiffbruch erlitten. Nun tauchen die Schatzsucher seit Jahrhunderten nach dem Wrack.
»Dort unten liegt ein Schatz von unermesslichem Wert«, hatte ihr einmal ein alter Fischer gesagt, der jeden Tag am Fluss saß, die Angel auf das Eisengeländer gestützt. Bruna hatte sich gefragt, ob der Mann damit das Gold der gesunkenen Schiffe meinte oder die Seebarsche, die es in diesem Flussabschnitt einst reichlich gegeben hatte.
Besonders erschütternd fand sie die Geschichte der General Slocum, eines mit deutschen Einwanderern voll besetzten Schiffs, die zur lutheranischen Kirchengemeinde Saint Mark’s gehörten. Sie waren aus Little Germany an der Lower East Side zu einem Sonntagspicknick auf Long Island aufgebrochen. An Bord befanden sich Hunderte von Frauen und Kindern. Genau auf Höhe des Hell Gate brach an Bord ein Feuer aus, so dass das Schiff wenige Meilen weiter nördlich sank und dabei mehr als tausend Menschen in den Abgrund riss. Verkohlte Leichen wie Überlebende wurden meilenweit von den wilden Strömungen des Flusses mitgezogen. Nur die wenigsten kamen mit dem Leben davon.
Im späten 19. Jahrhundert beschloss die Stadt New York, einige der spitzkantigen Felsen, die die Durchfahrt durch das Hell Gate noch gefährlicher machten, mit Dynamit zu sprengen, ein Vorhaben, das sich über siebzig Jahre lang hinzog. Mit als Erste traf es die Negro Heads, was die kleine Menge, die sich am Flussufer versammelt hatte, um dem Schauspiel beizuwohnen, mit einer gewissen Genugtuung registrierte.
Bruna fröstelt und steckt die Hände in die Manteltaschen. Eine der Taschen hat seit einigen Tagen ein Loch, inzwischen passt ihre ganze Hand hindurch. Einmal mehr nimmt Bruna sich vor, sie am nächsten Tag zu reparieren, aber sie hat nie nähen gelernt.
Wo steckt Tom? Warum kommt er nicht nach Hause?
Bruna stellt sich ihre Ehe oft wie ein Paar Beine vor, die jahrelang nebeneinanderher einen gemeinsamen Weg gegangen sind. Aber nur eines der zwei Beine hat sich durchgehend bemüht und verhindert, dass die beiden stehen bleiben oder gar zurückfallen. Das andere hat sich einfach nur mitziehen lassen, teils aus Trägheit, teils aus einem Zweifel, ob Gehen überhaupt sein muss. Bruna fragt sich inzwischen, ob neuerdings vielleicht sie dieses zweite Bein ist. Ob sie und Tom nicht letztlich die Rollen getauscht haben und er sie mitzieht, während sie sich ziehen lässt.
Anfangs war sie mit Tom glücklich. Um mit ihm zusammen zu sein, war sie in die USA übergesiedelt. Seinetwegen hatte sie ihre Doktorarbeit in Boston begonnen und in New York abgeschlossen, wo Tom seine Facharztausbildung zum Endokrinologen machen wollte. Seinetwegen hatte sie gelernt, die verschneiten Winter und den Smalltalk der Amerikaner zu überstehen. Seinetwegen hatte sie sich angewöhnt, Unbekannte mit einem so höflichen wie sterilen How are you? zu begrüßen.
Bald jedoch waren die ersten Schwierigkeiten aufgetreten. Immer öfter bekam Bruna Streit mit Toms Familie. Die Schwiegereltern planten gemeinsame Wochenenden und Urlaube, ohne sie auch nur zu fragen. Standen plötzlich vor der Tür, unter tausenderlei Vorwänden. Bestanden darauf, dass Bruna und Tom ihrer Tochter Laura, die immer allein war, einen Freund suchten. Trafen Entscheidungen, stellten Regeln auf und erwarteten, dass Bruna sich daran hielt.
Für Tom war das alles normal. Es war ja seine Familie. Er kannte es nicht anders. Und er hatte sich nie gegen seine Eltern aufgelehnt, nicht einmal in der Jugend, die ohne Konfrontation keine ist. Er war nie laut geworden. Hatte nie damit gedroht, von zu Hause wegzugehen. Hatte nie ein gesundes und befreiendes Fuck you, mom and dad! an seine Eltern gerichtet.
Doch Bruna war da anders. Sie sprach aus, was sie dachte. Sie sparte nicht mit Kritik, wog ihre Worte nicht ab. Sie hatte in ihrem Leben immer getan, was sie wollte. Hatte auf niemanden gehört, auch nicht auf ihre Eltern. Sie war von klein auf unabhängig gewesen und hatte eine gewisse polemische Neigung, über Prinzipien zu streiten.
Als Tom Bruna seinen Eltern vorgestellt hatte, war sie von Sal und Amanda herzlich aufgenommen worden. Sie hatten schon seit einiger Zeit darauf gedrängt, sie kennenzulernen, aber Tom hatte den Termin immer wieder hinausgeschoben. Jahre später sollte Bruna in einer Schublade einen alten Brief finden, in dem Amanda dem Sohn vorhielt, ihr die junge Italienerin noch nicht vorgeführt zu haben, mit der er seit über zwei Monaten zusammenlebte. Bruna war die einzige junge Frau, die Tom seinen Eltern am liebsten gar nie vorgestellt hätte. An allen anderen hatte ihm nicht viel gelegen, deshalb brachte er sie auch gerne mit nach Hause. Aber bei Bruna lag die Sache anders. In Bruna hatte er sich wirklich verliebt, und er wusste, dass sie mit ihrer widerborstigen Art schwerlich den starren Vorstellungen entsprechen würde, die sich die Benes von seiner künftigen Verlobten machten. Doch an dem Tag, an dem Tom Bruna mit zu seinen Eltern nahm, lief alles scheinbar problemlos, als wäre sie die junge Frau, auf die sie immer gewartet hatten.
Amanda hatte ein köstliches Abendessen zubereitet: Es gab Wellhornschnecken und Jakobsmuscheln. Bruna trug ein schwarzes Kleid, das sich eng an ihren Körper schmiegte und den Rücken frei ließ. Während sie auf der Terrasse beim Essen saßen, hörten sie die Geräusche des Waldes und sahen auf der anderen Seite des Flusses die fernen Lichter der Stadt blinken. Die Zwillingstürme schimmerten in der Nacht wie silberne Kerzenhalter auf einer Tafel, der reichsten Tafel der Welt. Bruna erzählte Toms Eltern von ihren Besuchen bei der EU-Kommission, den Artikeln, die sie über Frauen und die Arbeitswelt geschrieben hatte, ihre Doktorarbeit in Boston. Amanda sprach über ihre akademische Karriere und den Erfolg, den sie bereits mit ihrem ersten Buch eingeheimst hatte, das Ende der siebziger Jahre erschienen war. Toms Vater schwieg die meiste Zeit. Während Amanda Konversation machte, behielt Sal die Freundin seines Sohnes im Blick. Er war fest entschlossen, ihre Schwächen zu entdecken, alles, was es an ihr auszusetzen gab, denn nur danach würde ihn seine Frau am Ende des Abends fragen, wenn sie wieder allein und im Schlafzimmer wären. Bruna spürte Sals Blick. Sie verstand nicht, warum er sie so beharrlich anstarrte. Anscheinend passte ihm etwas nicht. Vielleicht war es das Kleid, dachte sie, sie hätte ein weniger eng anliegendes nehmen sollen.
Nach dem Abendessen zog sich Bruna ins Gästezimmer zurück, und Amanda beglückwünschte Tom zu dessen großem Erstaunen, endlich eine junge Frau nach Hause gebracht zu haben, die, wie sie sagte, anders sei als die anderen. Bruna hatte Toms Mutter sofort sympathisch gefunden. Sie war eine gebildete, kultivierte und selbstsichere Frau. Nur die Komplimente, die ihr Signora Bene im Laufe des Abendessens ausgesprochen hatte – für ihr Englisch, das Bruna selbst eher wackelig fand, für ihre fast männliche Kurzhaarfrisur und die aufrechte, stolze Haltung, die ihrer Tochter Laura leider immer gefehlt habe –, waren ihr vielleicht etwas übertrieben vorgekommen. Auch Amandas Gutenachtkuss und ihre lange, innige Umarmung hatte sie übertrieben gefunden. Aber das, dachte Bruna, war wohl kulturell bedingt. Wahrscheinlich verabschiedeten sich Italoamerikaner immer so, womöglich ganz ähnlich wie die Menschen in Süditalien.
Bruna war nach diesem Wochenende erleichtert gewesen. Auf ihrer Rückreise nach Boston hatte sich Tom vielmals bei ihr bedankt. Seinen Eltern zu gefallen schien ein Verdienst zu sein, das sich vor ihr nur wenige erworben hatten. Die Nervosität, die ihn tagelang nachts wach gehalten und dazu geführt hatte, dass er grundlose Streitigkeiten mit Bruna vom Zaun brach, war verschwunden, und in ihr gemeinsames Leben kehrte wieder Ruhe ein.
In den darauffolgenden Tagen erhielt Bruna per Post zahlreiche Geschenke von Amanda. Einen Scheck in Höhe von zweihundert Dollar zum Kauf von Büchern für ihre Studien. Ein neues Kleid für die Geburtstagsfeier, die die Benes zu Ehren ihres Sohnes organisieren wollten. Eintrittskarten für das Konzert von Maurizio Pollini in der Boston Symphony Hall und das Spiel der Yankees gegen die Red Sox im Fenway Park. Zudem schenkte ihr Amanda eine Jahreskarte für das Isabella Stewart Gardner Museum. Bruna hatte ihr nämlich erzählt, sie liebe es, dort hinzugehen, und sei es nur, um sich im Winter in den Garten zu setzen und die Schönheit der japanischen Chrysanthemen zu bewundern. Im Frühling würde die Kapuzinerkresse sprießen. Bruna würde betrachten, wie sie sich durch die von Säulen unterteilten venezianischen Fenster schlängelte – ockerfarbene und tiefrote Punkte auf einem Wasserfall aus Grün –, und begierig ihren vagen Honigduft einsaugen. Amanda hatte sich daran erinnert, und das war für Bruna das schönste Geschenk von allen. Sie hatte sofort zum Telefon gegriffen, um sich bei ihr zu bedanken, und die beiden hatten sich lange über Bücher und über Tom unterhalten. Die Benes schienen sie tatsächlich wie eine Tochter aufgenommen zu haben, was sie sich schlicht mit ihrer gemeinsamen Liebe zu Tom erklärte.
Als sie im Monat darauf erneut nach New York fuhren, dachte Bruna zu ihrer eigenen Überraschung, dass das auch für sie so etwas wie ein Nachhausekommen sei. Bei dieser Gelegenheit lernte sie Laura, Toms Schwester, kennen. Auf Amandas Wunsch hatten sich Tom und Bruna in den family room gesetzt, um sich die kleinen Super-8-Filme anzuschauen, die Sal 1982 gedreht hatte, als die Kinder noch in der Grundschule waren. Er hatte die Bilder mit einer alten US-Kamera eingefangen: Von den Japanern, die damals überaus konkurrenzfähige Modelle herstellten, wollte er nichts wissen. »Wenn wir nicht aufpassen«, sagte er, »überschwemmen japanische Produkte bei uns den Markt, und dann müssen unsere Fabriken schließen, und die Leute stehen ohne Arbeit da. Deshalb ist alles, was ich kaufe, made in USA. Ich bin überzeugt: Der einzige Weg, uns zu verteidigen, besteht darin, auf japanische Waren einhundert Prozent Zoll zu erheben. Wer braucht schon Freihandel, wenn es ein ungerechter Handel ist, zu unseren Ungunsten?«, wiederholte er so manches Mal. Zu der Zeit hörte man ihn ständig von Japanern und Sowjets reden, und oft mit der gleichen Geringschätzung. Aber seine Kamera stellte nicht richtig scharf, oder sie machte matte oder zu dunkle Bilder oder hinterließ darauf große, tentakelartige rote Flecken.
Die erste Aufnahme zeigte Tom, der aus der Ferne seinem Vater zuwinkte, um dann vom Sprungturm ins Schwimmbecken des Clubs zu springen, in dem die Benes seit vielen Jahren Mitglied waren. Wenn er sich nach all den Jahren dabei zusah, fühlte sich Tom fast ebenso stolz wie damals. Er hatte Jahre dazu gebraucht, diesen Sprung zu perfektionieren. Gleichzeitig jedoch fand er die Bilder, die ständig ihre Farbe wechselten, beunruhigend. Dann erschien Laura in dem Filmchen, sonnengebräunt und in einem knallengen gelben Lycra-Badeanzug, aus dem das Fett ihrer Hüften und Schenkel hervorquoll. »Schalt das sofort ab!«, schrie sie ihren Bruder an, als sie nun unvermittelt ins Zimmer stürmte. Sie hatte gerade zwei Stunden Jogging hinter sich. »Ich kann diesen Anblick nicht aushalten. Da sehe ich ja aus wie ein Riesen-Hot-Dog mit Senf.« Bruna musste lachen. Gewiss machte Laura Witze. Sie stand vom Sofa auf und ging ihr entgegen, um ihr die Hand zu geben. Doch bevor sie sich vorstellen konnte, fuhr Tom seine Schwester an – in einem Ton, den Bruna noch nie von ihm gehört hatte –, wenn sie sich nicht so sehen wolle, könne sie sich gerne für den Rest des Wochenendes in ihrem Zimmer einschließen. Laura warf den Plastikbecher mit Zitronengranita nach ihm, den sie in der Hand hielt. Aber sie verfehlte ihr Ziel, der Becher fiel auf den Boden, und das Eis verteilte sich über den maigrünen Teppich. Bruna erinnerte das Bild an den Raureif, der im Winter den Rasen der Vorortgärten in Rom bedeckte, wo sie aufgewachsen war. Sie hatte damals dasselbe Gefühl von trostloser Verlassenheit verspürt, von gefrorener Wut. Erst als Amanda eingriff, kam der Streit zwischen Laura und Tom zum Erliegen. Ein paar Minuten später tauchte Sal mit einem Glas Wasser und einer Tablette Lorazepam für Laura auf. Bruna verbrachte den Rest des Nachmittags auf ihrem Zimmer und las Sheridan Allens The Nazi Seizure of Power: Tom hatte ihr gesagt, seine Mutter und sein Vater wollten mit ihm unter sechs Augen reden. Sie sagte sich, dass es wohl um Familienangelegenheiten gehen müsse, doch aus irgendeinem unerklärlichen Grund beruhigte sie dieser Gedanke kein bisschen. Am Abend jedoch waren alle unbeschwert und gut gelaunt, bis auf Laura, die wegen starker Kopfschmerzen schlafen ging, ohne etwas zu sich zu nehmen. Bruna bedauerte das, sie hatte neugierig darauf gewartet, Toms Schwester kennenzulernen, und bekam nun das Gefühl, Laura gehe ihr aus dem Weg.
Am nächsten Tag wurde Sal von seiner Frau vorgeschickt, um mit Bruna zu sprechen. Ein paar Minuten lang redete er um den heißen Brei herum. Dann nahm er seinen Mut zusammen und sagte zu Bruna, sie und Tom müssten fortan versuchen, mehr Zeit mit Laura zu verbringen, sie mitnehmen, wenn sie eine Reise planten oder übers Wochenende nach New York kämen. »Ich will, dass ihr, du und Laura, beste Freundinnen werdet«, schloss er. »Wenn ihr nach New York zieht, wird sie wie deine Schwester sein.« Bruna antwortete, sie freue sich darauf, Laura näher kennenzulernen, aber die sei ja eine erwachsene Frau und habe es gewiss nicht nötig, dass sie und Tom den Babysitter für sie spielten. Sal klappte der Mund auf, und den restlichen Sonntag sagte er kein Wort mehr und harkte stattdessen im Garten das Laub zusammen. Sooft sie Laura in den folgenden Monaten wiedertrafen, in New York oder in Boston, wohin Amanda die Tochter häufig für ein Wochenende schickte, überschüttete Tom sie mit pflichtbewussten Komplimenten für ihre Figur und die verlorenen Kilos. Nach den ersten Malen fand Bruna diese Schmeicheleien allmählich nervtötend. Sie fragte Tom, warum er gegenüber seiner Schwester nicht aufrichtiger sein könne und warum es in deren Anwesenheit kein anderes Thema gebe als Diäten und wie man sein Gewicht in den Griff bekomme.
An einem jener Wochenenden nahm Bruna Laura mit ins Isabella Stewart Gardner Museum. Das war ihre eigene Idee gewesen. Tom hatte den ganzen Tag im Krankenhaus zu tun, und Bruna wollte ein wenig Zeit allein mit Laura verbringen, um sie besser kennenzulernen. Nachdem die beiden den Wintergarten besucht hatten, gingen sie ins Obergeschoss. Bruna wollte Laura Tizians Raub der Europa zeigen, das Prunkstück in Isabella Stewarts Kunstsammlung. »Zeus hatte eine sehr eifersüchtige Frau, die Göttin Hera. Deshalb musste er sich jedes Mal, wenn er mit einer Sterblichen schlafen wollte, in ein Tier verwandeln. Im Mythos von Europa war es erst ein weißer Stier und dann ein Adler, in dem von Leda ein Schwan. Kannst du dir vorstellen, was das heißt, der Mächtigste zu sein und nicht die lieben zu können, die du willst? Das ist wie ein Fluch!«, scherzte Bruna. Laura blieb still und sah sich nur lange das Bild an. Sie achtete nicht darauf, wie sich Europa auf dem Boden rekelte, sondern auf die unerklärlich zahmen und schreckgeweiteten Augen des Stiers: ein zerbrechlicher Gott, tierisch und menschlich, auf seiner Flucht mit Europa von Meeresungeheuern verfolgt. Ein Gott, der die eigene Allmacht vergessen hatte. Dann sagte Laura, als kehrte sie aus einem fernen Winkel ihres Geistes wieder: »Mein Fluch ist, dass ich die Tochter meiner Mutter bin. Ich wollte, ich könnte mich ebenfalls in ein anderes Tier verwandeln, um immer wieder vor ihr davonzulaufen.« Bruna rührte diese Aussage. Sie trat zu ihr, um sie in den Arm zu nehmen, aber Laura wich sofort einen Schritt zurück. Und als Bruna auf dem Heimweg versuchte, das Thema noch einmal aufzugreifen, bog Laura das Gespräch ab. »Ich merke oft gar nicht, was ich rede. Meine Mutter weist mich häufig darauf hin.«
An dem Nachmittag, an dem Tom und Bruna sich die Videos der Familie Bene angesehen hatten, hatte Amanda ihren Sohn beiseitegenommen und ihm gesagt, Laura leide außerordentlich unter seiner Beziehung mit Bruna, auch wenn sie das niemals zugeben würde. »Das ist für deine Schwester ein schwieriger Moment. Sie hat Angst, dich zu verlieren, Angst davor, dass Bruna dich uns entfremden könnte. Ich kann ihr das nicht verdenken. Und dann ist es, als ob eure Beziehung sie jedes Mal daran erinnern würde, dass alle gemeinsame Zukunftspläne schmieden, während sie allein ist. Deine Cousine Jessica heiratet nächsten Monat, vielleicht hast du das vergessen? Sie ist genauso alt wie Laura.«
Bereits in den ersten Wochen nach dem Gespräch mit Sal merkte Bruna, dass ihr Verhältnis zu den Benes belastet war. Während des darauffolgenden Wochenendbesuchs zeigte sich Amanda ihr gegenüber ausgesprochen kühl. Sie verbrachte lange Stunden in ihrem Arbeitszimmer und redete dort auf ihren Sohn ein. Beim Abendessen flüsterte sie weiter mit ihm, während Sal versuchte, Bruna die Militärstrategie der US-Army im Koreakrieg zu erklären. Und beim Kaffee, der auf der Terrasse eingenommen wurde, strich Amanda ihrem Sohn unablässig über den Kopf, über den Rücken. Irgendwann erreichte ihre Hand seine Hüfte, fuhr an der Außenseite des Schenkels entlang und kam auf dem Knie zu liegen. Dort blieb sie für den Rest des Abends, selbstherrlich und sinnlich, und Bruna konnte den Blick nicht davon wenden.
Als Bruna und Tom nach New York zogen, verschlimmerte sich die Lage nur noch weiter.
Eines Abends erkundigte sich Toms Vater beim Essen, ob Bruna sich mit der Vorstellung anfreunden könne, für immer in den USA zu leben. Offenbar keine Smalltalk-Frage, sondern ein wichtiges Thema, das ihn seit geraumer Zeit beschäftigte, seine Frau Amanda hatte ihn gebeten, in diesem Punkt möglichst bald Klarheit zu schaffen. Bruna antwortete aufrichtig, sobald sie ihr Studium abgeschlossen hätte, wolle sie mit Tom nach Europa ziehen. Untereinander hatten sie über diese Möglichkeit häufig gesprochen, wobei Tom sie nie so richtig ernst genommen hatte.
Bruna war sich, als sie so offen antwortete, durchaus bewusst, dass sie die Benes damit verärgern würde. Dennoch hätte sie sich nicht ausmalen können, welche Wut ihre Worte auslösen sollten. Es war, als ob ein winziger Riss in einem baufälligen Damm genügt hätte, um einen Fluss über die Ufer treten zu lassen, der schon seit längerem Hochwasser führte.
Sal lief puterrot an. Seine Nasenlöcher weiteten sich, weil er kaum noch Luft bekam, und er umklammerte mit den Händen beide Seiten des Tischs und zog ihn mit Gewalt zu sich her.
»Himmelherrgott!«, donnerte er. »Die Familie muss zusammenbleiben! Und außerdem habe ich … haben wir«, korrigierte er sich, als er einen Blick von Amanda auffing – »nicht eine knappe Million Dollar in Privatschulen investiert, ins College, in den Master …« – er holte erst mal tief Luft – »… und in vier Jahre Medizin an einer der angesehensten Universitäten des Landes, um hinterher zuzusehen, wie unser Sohn die USA verlässt. Wo sollte er überhaupt leben? Etwa in Italien? Einem Land, das am Ende ist, in Auflösung, und dem Jahr für Jahr Tausende von jungen Leuten den Rücken kehren?«
Worte, herausgebrüllt mit all der Wut, zu der Sal im Kreis seiner Familie nur fähig war. Und dennoch alles andere als zufällige Worte: Wie immer hatte Amanda den gesamten Gedankengang ausgearbeitet, bevor sie ihren Mann vorschickte, um die schmutzige Arbeit für beide zu erledigen. Eine Dynamik, die Bruna erst einige Zeit später erkennen lernen sollte.
»Nur wenn Tom in Amerika bleibt, wird er eine glänzende Zukunft haben«, fuhr Amanda fort, in einem ruhigen Ton, der eine gewisse Genugtuung kaum verbarg. Sie hatte sich wie üblich im richtigen Moment ins Gespräch eingeschaltet, um Sal Zeit zum Atemholen zu geben, aber auch um dem eingeschüchterten Gesprächspartner – sei es eines der Kinder, ein Verwandter, der Nachbar oder der Direktor des Krankenhauses, der Sal vor seiner Pensionierung die Beförderung verweigert und stattdessen einen Kollegen zum Nachfolger erkoren hatte, der ebenfalls Jude war –, um jedem dieser Gesprächspartner zu signalisieren, dass sie die Argumente ihres Mannes teile, wenn auch nicht seine Umgangsformen, und man mit ihr und ihr allein zivilisiert diskutieren könne. »Er wird gut verdienen und dir die Möglichkeit zu einem komfortablen Leben eröffnen. Wenn du an der Universität bleibst, wirst du nie angemessen entlohnt werden. Glaub mir, ich habe das selbst erfahren müssen.«
Bei diesen Worten hatte Tom, dem die Unvermeidlichkeit dieser Auseinandersetzung zwischen seinen Eltern und seiner künftigen Frau durchaus bewusst war, traurig genickt. Schon zu oft war die Diskussion aufgeschoben worden, aus reinen Zufallsgründen.
Bruna hingegen packte die Gelegenheit beim Schopf, die monatelange Frustration gegenüber ihren künftigen Schwiegereltern loszuwerden. Sie sagte Sätze, von denen Tom sich nie vorzustellen vermocht hätte, dass sie an seine Eltern gerichtet werden könnten – geschweige denn seitens der Frau, die er beschlossen hatte zu heiraten. Nach Jahren aufopferungsvoller Mühen waren Dr. und Frau Prof. Bene in der Familie zwei Autoritäten. Sie hatten ein Maß an Bildung und Wohlstand erreicht, das unter Verwandten und Freunden seinesgleichen suchte. Keiner in der Familie hatte mehr den Mut, ihnen zu widersprechen. Sie waren der fleischgewordene amerikanische Traum.
»Wo wir leben wollen, ist allein unsere Entscheidung, ihr haltet euch da besser raus. Außerdem ist Italien nicht mehr das Land, aus dem eure Großeltern aufgebrochen sind, um dem Elend zu entfliehen. Und ich bin nicht in Ellis Island von Bord gegangen, in der Hand einen Koffer aus Karton, zusammengebunden mit einer Schnur!« Den letzten Satz jedoch hatte sie fast sofort bereut.
Bei jedem Wort Brunas, bei jedem Ansteigen ihrer Stimme, war Tom immer kleiner geworden. Er war in sich zusammengefallen. Hatte das Kinn auf die Brust sinken lassen. Die Arme kraftlos in den Schoß gelegt. Diese Haltung nahm er jedes Mal ein, wenn er fürchtete, sich vor dem Zorn der anderen schützen zu müssen, wie eine Schildkröte, die sich unter ihren Panzer zurückzieht. Und der Ausbruch ließ auch diesmal nicht auf sich warten. Von einem blinden Zorn gepackt, den Tom nur allzu gut kannte, ging der Vater gar nicht erst auf Bruna ein, sondern wandte sich direkt an ihn.
»Der Tag deiner Hochzeit wird der Tag deiner Beerdigung«, fauchte er. Dann ließ er die Fäuste so heftig auf den Tisch niedersausen, dass die Wasserkaraffe umkippte. »Wenn du diese Frau heiratest, dann bist du nicht mehr unser Sohn!«
Amanda war inzwischen vom Tisch aufgestanden, war zum Sofa gegangen und hatte sich hingelegt. Ihre Hände zitterten unübersehbar. Sie könne sich kaum auf den Beinen halten, sagte sie. Ihr sei ganz schwummrig. Tom hatte diese Szene schon oft mit angesehen. Und doch ließ ihn der jammervolle Anblick seiner Mutter, so wiederholt und offenkundig übertrieben er auch sein mochte, niemals kalt, wie Amanda nur zu gut wusste. Auch er stand auf und trat zu ihr ans Sofa. Sie nahm seine Hände und erinnerte ihn schluchzend daran, dass er ihr einziger Sohn sei und sie nicht verlassen dürfe. Und dann gewann ihre Stimme für einen