Britta Sabbag

Love Show

Ist deine Liebe echt?

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Britta Sabbag

In Zeiten von Instagram, Youtube, Snapchat, TikTok und Co. ist die Grenze zwischen Schein und Sein fließend. Aber was passiert, wenn man gar nicht selbst bestimmen kann, wer man sein möchte? Diese Frage hat Bestsellerautorin Britta Sabbag nicht losgelassen, und schon war die Idee für »Love Show« geboren, ihren zweiten großen und mitreißenden All-Age-Roman. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrem kleinen Sohn in der Nähe von Bonn.

 

Weitere Informationen finden Sie unter www.fischerverlage.de

Über dieses Buch

Sie ist der größte Reality-TV-Star der Welt – ohne es zu wissen.

 

»Ich tastete mich weiter voran und klopfte auf etwas, das sich wie eine kleine Holzbox anfühlte. Darin war ein flimmernder Monitor, und darauf zu sehen war: ich. Ich und mein entsetztes Gesicht. Ich, wie ich den Monitor entdeckte. Eins zu eins, in diesem Augenblick. Jetzt. Hier.

Das war der Moment, in dem mein ganzes Leben auseinanderfiel.«

 

Wenn dein ganzes Leben ein Fake ist, wer bist du dann überhaupt?

Impressum

Deutsche Erstausgabe

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

© 2020 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

Covergestaltung: www.buerosued.de

Coverabbildung: Jörn Stollmann, Herne

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-491158-8

+++EILMELDUNG: EIN EINWOHNER DER INSEL AROHA, PIT LOHAN (23), WIRD VERMISST. LAUT MEHRERER ZEUGENAUSSAGEN HATTE ER SICH OHNE ERLAUBNIS IN DAS VERBOTENE GEWÄSSER HINTER DEN WARMEN STRÖMUNGEN BEGEBEN. DIE VERMUTUNG LIEGT NAHE, DASS ER NICHT MEHR LEBEND AUFGEFUNDEN WERDEN KANN. LOHAN WAR EIN ANGESEHENES MITGLIED DER AROHA ISLAND GEMEINDE, IN DER ER NICHT NUR DEN TANZKURS FÜR JUGENDLICHE LEITETE, SONDERN AUCH WICHTIGE FÜHRUNGSAUFGABEN IM MEETING HOUSE DER INSEL INNEHATTE.+++

Ich lief den moosbewachsenen Weg, der vom heiligen Berg zum Strand führte, mit großen Schritten hinunter. Wie immer viel zu schnell, aber der Pfad war an manchen Stellen so steil, dass Laufen die einzige Option war. Die großen Blätter des Riesenfarns, die wie stehende Fächer auf den Weg ragten, peitschten gegen meine nackten Waden. Natürlich hätte ich klettern können, aber das erschien mir albern. Ich liebte es, wenn der warme Südwind mir meine schweren Locken aus dem Gesicht wehte. Wenn ich rannte, fühlte ich mich lebendig. Kurz vor Ende des Weges hatte ich ein solches Tempo erreicht, dass ich nicht mehr in der Lage war zu bremsen. Ich sprang mit voller Wucht in das struppige Gebüsch vor mir, das mich verschlang und dann augenblicklich wieder ausspuckte, und landete im warmen, weichen Sand mit Blick auf den schönsten Strand der ganzen Insel.

»Hona!«, rief ich.

Ich hatte Glück. Die großen Meeresschildkröten gingen

»Kia ora! Wie schön, dich zu sehen!«

Ich beugte mich vornüber, um meine Hand vorsichtig auf ihren sonnenwarmen Panzer zu legen. Ich freute mich jedes Mal, sie wiederzusehen, denn kein Mensch wusste, welche Gefahren in den Untiefen des Ozeans lauerten. Nur eine kannten wir alle.

»Hast du schon gehört, Hona? Pit ist weg, ist das nicht furchtbar?«

Ich spürte, wie sich mein Magen bei dem Gedanken daran zusammenzog.

»Er war einfach zu neugierig und hat ihr Reich betreten. Jeder weiß doch, dass die Taniwha unerbittlich mit solchen Menschen umgeht.«

Hona hatte ihren Kopf weit ausgestreckt, als würde sie dem Rauschen der Wellen lauschen. Aber sie bewegte sich keinen Millimeter. Nur an ihren glänzenden Augen konnte ich erkennen, dass sie mir aufmerksam zuhörte.

»Ich verstehe nicht, warum man ins Wasser gehen will. Ich meine, es ist sicher wunderschön, in den großen Wellen davonzugleiten. Aber dafür habe ich ja dich, damit du mir davon berichten kannst.«

Ich legte meine Wange vorsichtig auf ihren Panzer und sah aufs Meer hinaus.

»Erzähl mir von draußen.«

»Na, lauscht du wieder deinen eigenen Ohrgeräuschen?«

Ich setzte mich ruckartig auf.

Noah schien mal wieder aus dem Nichts aufgetaucht zu sein. Als ich hochsah, stand er in seinen kurzen Shorts vor mir. Lachend kickte er etwas Sand in meine Richtung.

»Lass das!«, beschwerte ich mich und hielt mir zur Verteidigung die Hände vors Gesicht. »Du erschreckst Hona!«

»Ach was«, antwortete er und winkte ab. »Hona ist sicher tausend Jahre alt, so schnell erschrickt die nicht. Die hat doch schon alles gesehen.« Dann strich er sich übertrieben langsam über seinen muskulösen Oberkörper, der in der Sonne glänzte. »Außer so einen Prachtkörper vielleicht, den sieht man höchstens alle hundert Jahre. Nicht wahr, Hona?«

»Pfff!«, machte ich und drehte mich wieder zum Meer.

»Warum warst du heute nicht im Meeting House?«, fragte Noah und ließ sich neben mich in den Sand plumpsen. »Sie haben über Pit gesprochen.«

»Genau deswegen«, erwiderte ich. »Ich will nichts darüber wissen.«

Noah sah einige Sekunden mit mir aufs Meer, bevor er sich mir zuwandte und sagte: »Du kannst es nicht ungeschehen machen, indem du wegschaust.«

»Doch, kann ich. Ich liebe es hier. Die Insel hat alles, was wir brauchen. Sieh dir doch unser Leben an! Es ist perfekt! Sonne, Strand, eine gute Schule, nur die nettesten Menschen und immer genug vom frischesten Essen, das man sich vorstellen kann. Es gibt keinen Grund, ins Meer zu gehen. Ich verstehe nicht, was Pit dazu gebracht hat.«

»Ich schon.« Noahs Blick schweifte unscharf in die Ferne. »Ich verstehe es genau.«

»Die Taniwha …«

»Hör auf mit den alten Geschichten«, unterbrach mich Noah. »Du glaubst doch nicht immer noch daran?«

Jetzt war ich sauer. »Bist du nur hergekommen, um mich wütend zu machen? Das hättest du dir sparen können.«

»Ich bin hergekommen, um nach dir zu sehen.«

Noah legte seine Hand neben meine in den Sand, so dass sich unsere kleinen Finger berührten. Ich erhöhte den Druck auf meine Hand, bis sie im Sand verschwand.

»Du musst nicht nach mir sehen«, sagte ich. »Ich kann gut auf mich selbst aufpassen.«

»Ich will es aber«, antwortete Noah. »Wozu bin ich denn sonst überhaupt hier?«

»Hallo, Ray! Noah!«

Unsere Lehrerin Ottilie winkte uns zu.

»Hallo Otti!«, rief ich und winkte zurück. »Wie läuft das Kiwigeschäft?«

Otti hielt im Vorbeifahren durch das geöffnete Fenster den Daumen hoch. »Sehr gut. Du weißt doch, wenn das Leben dir zu weiche Kiwis schenkt, mach einen Smoothie draus!«

Ich musste grinsen. Das war typisch Otti.

»Kommst du am Wochenende zum Saftstand? Ich mache dir einen Superdrink, mit dem kannst du fast fliegen!«

Schwupps, war sie schon an uns vorbeigefahren.

»Ja klar«, rief ich ihr nach.

»Du meinst auf der Welt? Das glaube ich nicht. Otti ist ’ne ganz eigene Marke.«

»Stimmt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass noch irgendjemand so saure Smoothies macht. Ich werde ihr morgen mal eine Handvoll Zucker nahelegen.«

»Otti hat eine Zuckerallergie, das weiß doch jeder«, murmelte Noah und überquerte die Straße, auf der anderen Seite ging der Pfad zum Tiaki weiter.

Ich folgte ihm. »Und deswegen müssen wir alle leiden?«, scherzte ich.

»Deswegen leben wir so gesund«, erklärte er. »Dank ihr werden wir sicher alle so alt wie Hona.«

Bei dem Gedanken an ihre frisch gepressten Säfte schüttelte es mich. Ich trank sie eher aus Höflichkeit und weil ich schlecht Dinge ablehnen konnte, vor allem dann nicht, wenn sie gut gemeint waren. Und dann war Otti ja auch meine Lehrerin. Das war noch etwas, das ich an unserer Insel so mochte: Jeder machte alles, und so war eine Saftstandbesitzerin, die gleichzeitig Lehrerin war, nichts Besonderes. Mein Onkel Jim war ja auch nicht nur Diner-Besitzer, sondern gleichzeitig Hausmeister vom Meeting House. Der einzige Arzt hier, Doc Cooper, versorgte Menschen und Tiere und manchmal sogar Bäume. Das war wahrscheinlich auch der Grund, warum sich alle auf der Insel so gut verstanden: Wir waren wie eine einzige, riesengroße Familie.

»Die beste Zeit des Tages«, sagte Noah, streifte die abgewetzten Leinenschuhe von seinen Füßen und steckte sie dann in das sprudelnde Wasser. Er klopfte auf die feuchtwarme Erde neben sich. »Komm, setz dich zu mir.«

Ich zog meine Füße aus meinen Zehentretern, die ich fast den ganzen Sommer trug. Sie waren aus einem bastähnlichen Material und auf der rechten Seite des Bandes, das über meinen Spann führte, war je ein kleiner türkisfarbener Schmetterling angebracht. Ich hatte mich sofort in sie verliebt, als ich sie im Schaufenster unseres Dorf-Shops gesehen hatte. Jetzt fiel mir auf, dass der eine Schmetterlingsflügel nur noch an einem dünnen Faden hing.

»Mist«, schimpfte ich, »ich verliere meinen Flügel!«

»Da ist mir aber was entgangen«, sagte Noah grinsend, »obwohl ich schon immer geahnt habe, dass du ein Engel bist.«

»Spinner«, antwortete ich, ließ mich neben ihn auf den Boden plumpsen und knuffte ihn in die Seite. »Den Flügel von meinem Schuh. Der hält sicher nur noch ein oder zwei Tage.«

»Ach so«, machte Noah, »Mädchenkram.«

Noah ärgerte mich gerne und viel, und es war fast wie

Das heiße Wasser an den Füßen tat gut, und ich genoss die Auszeit. Ich stützte meine Arme hinter den Rücken in den warmen Boden und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Während unsere Füße im heißen Wasser auf und ab brodelten, dachte ich an das, was ich vorhin zu Noah gesagt hatte: Das Inselleben hier war wie ein riesiger Dauerurlaub, von dem man aber keinen Urlaub brauchte. Ein anderes Leben konnte ich mir einfach nicht vorstellen.

»Sorry«, sagte Noah und riss mich aus meinen Gedanken. Ich öffnete die Augen und schaute zu ihm. Er grinste mich halb verschmitzt, halb betreten an. Sein Fuß hatte unter Wasser meinen berührt. »Oder eigentlich auch nicht.«

Ein kurzes »Pass doch auf« entfuhr mir.

»Was hast du eigentlich mit dieser Schildkröte?«, fragte Noah, während er seine Augen zusammenkniff, um in die Ferne zu sehen. Das tat er immer, wenn er ein Ziel weiter als bis zur nächsten Ecke fixieren wollte. Eine Brille würde nie in Frage kommen, dafür war er viel zu eitel. Wobei eitel nicht das richtige Wort war – er war es nicht im Sinne von glattfrisierten Haaren oder manikürten Fingern. Im Gegenteil, Noah sah meistens aus, als wäre er wie ein Kiwi frisch aus einem der Erdlöcher gesprungen. Er hatte etwas Wildes an sich, etwas Unzähmbares und so Natürliches, dass es immer einnehmend war. Sein Körper schien mit der Natur

»Ich liebe Hona. Sie ist meine Freundin.«

»Ich weiß«, seufzte Noah. »Aber ist es nicht anstrengend, nie eine Antwort zu bekommen?«

»Oh, ich bekomme welche«, entgegnete ich und spritzte etwas Wasser mit dem Fuß auf. »Sie flüstert mir weise Dinge zu.«

»Ach ja, und was denn so?«, fragte Noah grinsend.

»Dass ich mich zum Beispiel nicht von dir ärgern lassen soll«, feixte ich. »Sie findet dich nämlich eine Spur zu nervig.«

Jetzt lachte Noah laut.

»Für so eine alte Dame ist sie aber ganz schön frech«, sagte er. »Nein, im Ernst: Was hast du davon, dich mit einer über 200 Millionen Jahre alten Saurierart auszutauschen, die nie auch nur einen Mucks oder eine Reaktion von sich gibt?«

»Ganz einfach«, antwortete ich. »Sie kann etwas, was sonst keiner kann.«

»Und was?«

»Sie macht meine Welt ein Stück größer.«

Onkel Jim sah mich mit seinen immer besorgten, von Falten umkränzten Augen an. Es waren fast nur noch längliche Schlitze übrig, und wenn er lachte, verschwanden sie ganz.

»An den Quellen, Onkelchen, wie immer.«

Ich nahm mir einen Apfel aus der Schale auf dem langen, schmalen Diner-Tresen und setzte mich auf einen der roten Lederbarhocker. Mein Onkel wischte die hölzerne, ausgeblichene Arbeitsplatte, auf der angeschnittene Zitronen, Gurken und allerlei Obst verteilt waren, mit einem feuchten Tuch ab. Das tat er sicher hundertmal am Tag.

»Sag doch bitte vorher Bescheid, wenn du nach der Schule wegbleibst«, rügte er mich kopfschüttelnd. »Ich habe dir das schon so oft gesagt.«

»Und ich habe dir schon so oft gesagt, dass ich immer nach der Schule Hona suche und danach mit Noah rumstreunere. Das weißt du doch.«

»Das ändert aber nichts daran, dass ich mir Sorgen um dich mache. Außerdem warst du nicht im Meeting House. Ich hoffe, du bleibst bei deinen Streunereien immer diesseits des heiligen Berges?«

Ich verdrehte die Augen. »Ja-ha. Ich bleibe immer auf unserer Seite, ich mache nichts Dummes, und am besten bleibe ich sowieso den ganzen Tag im Bett. Ich verstehe wirklich nicht, warum ihr alle so tut, als wäre ich drei Jahre alt. Wieso wollen alle hier immer auf mich aufpassen?«

»Weil wir dich lieben«, sagte Jim. Und dann, ohne aufzusehen: »Wer denn noch?«

»Na ja, man weiß es nicht«, scherzte Jim, »was alles hier so kreucht und fleucht.«

»Ich will doch nur meine Ruhe«, sagte ich und biss in den Apfel. Das knackende Geräusch hallte im leeren Diner wider.

»Heute keine Gäste?«, fragte ich kauend.

»Heute nicht«, antwortete Onkel Jim pfeifend. Es schien ihm nichts auszumachen. »Entweder es kommt keiner oder direkt eine ganze Busladung. So ist es immer.«

»Stimmt«, nickte ich, »sag Bescheid, wenn ich dir helfen soll.«

Mit diesen Worten stand ich auf und ging nach oben in mein Zimmer unterm Dach. Ich ließ mich rücklings auf mein Bett fallen, das wie von Zauberhand gemacht zu sein schien. Onkel Jim war eine echte Hausfee – sobald ich in unserer Sea School war, wischte, putzte und wienerte er, was das Zeug hielt, und machte sogar mein Bett so akkurat, als ob er ein Zentimetermaß dafür benutzt hätte. Zumindest nahm ich das an – ich selbst hatte ihn noch nie im Haus putzen sehen, denn er machte das immer nur, wenn ich weg war. Aber der Tresen war seine liebste Putzbeschäftigung – er hatte vor lauter Wischerei sicher schon einen Zentimeter von dem weichen Mangoholz abgetragen.

Ich drehte mich auf die Seite und sah aus dem Fenster. Der Platz vor dem Diner war trotz des schönen Wetters leer, selbst die Marktstände fehlten heute. Sicher war ein Sturm oder Ähnliches vorausgesagt, da waren die Einwohner unserer kleinen Insel immer sehr vorsichtig. Überhaupt fiel hier keiner aus der Reihe. Und gerade das war so angenehm. Es war ruhig und beschaulich hier, und auch wenn Noah das zu langweilen schien – ich mochte es. Es gab mir das Gefühl von Sicherheit und Frieden, der durch fast nichts gestört werden konnte. Die Sache mit Pit war schrecklich, aber ich kam nicht umhin, ihm die Schuld zu geben. Er wusste, was sein Wunsch, die Insel zu verlassen, bedeuten

Ein schrilles Geräusch erschreckte mich. Ich sprang auf und rannte zur Tür.

»Jim?«

»Ray! Runter, sofort!«

Ohne zu überlegen folgte ich dem Ruf meines Onkels. Mit jeder Stufe, die ich weiter runtersprang, wurde das Atmen schwerer. Ein stechender Rauch kam mir entgegen.

»Es brennt, Ray, raus, raus hier!«

Grauschwarze Wolken füllten den gesamten Diner aus und umhüllten mich, und ich konnte Onkel Jim fast nicht sehen. Plötzlich packte er mich am Arm und schleuderte mich fast zur Tür. Aber sie öffnete sich nicht. »Verdammt, sie klemmt!«

Mein Onkel trat wie wild auf die Tür ein.

»Warte!«, schrie ich.

Ich kannte die Tür, sie klemmte, wann immer es ihr beliebte, und Onkel Jim war mit dem Einölen nicht mehr nachgekommen. Man musste sie auf eine bestimmte Art und Weise wenige Millimeter aus den Angeln heben, um sie an ihren zickigen Tagen zu öffnen.

»Ich hab’s gleich!«, keuchte ich, denn das Atmen fiel mir immer schwerer. Der Rausch stach in den Augen, die zu tränen begonnen hatten.

»Verdammte Scheiße«, fluchte Jim, der sonst nie fluchte, »wir müssen hier raus!«

»Los!«

Hustend wurden wir von den Rauchwolken ausgespien.

»Das war in letzter Sekunde!«

»Ja«, bestätigte ich schwer atmend und beugte mich vornüber.

Jim legte seine Hand auf meinen Rücken. »Alles in Ordnung mit dir?«

Ich nickte. »Ja, alles okay.«

Als ich mich aufrichtete, sah ich, dass bereits unsere Nachbarn angelaufen kamen. Einer von ihnen verständigte Doc Cooper. Der Löschwagen, der einzige, den wir hier auf der Insel hatten, kam wenig später mit lauter Sirene angefahren. Es waren Ben und Jerry, die bei der freiwilligen Feuerwehr nur aushalfen. Im echten Leben hatten sie einen Eisladen gegenüber vom Diner. Sie winkten uns zur Seite.

»Weg da, wir machen das. Geht aus der Gefahrenzone!«

Jim und ich und die Nachbarn, die wie wir alle besorgt auf das brennende Gebäude starrten, traten beiseite.

»Weiter!«, rief Ben. »Wenn das Löschwasser kommt, schwellen die Flammen noch mal kurz an!«

Ich zog den widerwilligen Jim ein Stück zurück. »Komm, wir können nichts tun, du hast doch gehört.«

Onkel Jim fiel es sichtlich schwer mitanzusehen, was gerade passierte.

»Wie kann das nur sein?«, murmelte ich, während mein

Onkel Jim sah verzweifelt aus. »Ich kann es mir nicht erklären. Es war alles so ruhig, und ich habe gerade die Abrechnung gemacht. Ich hatte nichts auf dem Herd, und auch sonst nichts …«

Er verstummte. Es war, als würde eine Idee in ihm aufleuchten.

»Was ist denn?

»Nichts, nichts.«

Das Licht schien erloschen.

Jerry und Ben hatten die Flammen im Griff, die sich nun in kleine, züngelnde Dampfschwaden verwandelt hatten. Schließlich hielt Jerry den Daumen hoch und rief zu uns herüber: »Nicht weiter schlimm, aber erst mal betritt keiner das Gebäude. Wir sichern alles ab und checken morgen früh, ob etwas baufällig ist.«

»Aber wo sollen wir denn so lange wohnen?«, fragte ich und machte mich von Jim los.

»Was ist denn hier passiert?« Noahs Stimme klang außer Atem und aufgeregt.

»Es hat einfach angefangen zu brennen«, erklärte ich, immer noch hustend. »Jim weiß auch nicht, woher das kommen konnte.«

»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Noah.

»Ich kann das nicht verstehen … wie kann so was einfach passieren?«

Ben und Jerry stellten den Wasserwerfer ab. »Das war’s, Leute! Ihr könnt jetzt nach Hause gehen. Alles halb so schlimm!«

Dann sah Jerry mich und Onkel Jim an. »Ihr beide werdet allerdings einige Tage nicht reinkönnen. Wir haben ein Gästezimmer bei uns, aber nur ein Einzelbett.«

»Du kannst zu mir!«, rief Noah, ohne eine Sekunde abzuwarten.

»Aber Jim … ich weiß nicht …«

»Schon in Ordnung«, bestätigte mein Onkel. »Das ist doch ein wunderbares Angebot von Noah. Wenn ich so lange bei Jerry bin, sind wir immerhin schon mal versorgt. Und ich bin sicher, dass wir in ein paar Tagen wieder ins Haus können.«

Noahs Familie war wie eine Erweiterung meiner eigenen, ich hatte mein halbes Leben mit ihm und seiner Mutter Thea verbracht. Und trotzdem zögerte etwas in mir.

»Das ist ganz lieb von dir«, sagte Jim jetzt an meiner Stelle, »danke, Noah.«

»Es tut mir so leid wegen des Diners«, sagte er und klopfte Jim auf die Schulter. Jetzt erst begriff ich, dass mein Onkel schwere Einbußen haben würde, bis er den Laden wieder öffnen könnte. Doch er schüttelte den Kopf. »Das kriegen wir schon irgendwie hin.«

Mir entging nicht, dass seine Augen leicht feucht waren.

»Mir tut es auch leid.«

»Geht schon, ich kläre den Rest mit Ben und Jerry. Du musst dir hier nicht die Füße in den Bauch stehen, Kleines.«

»Ich habe aber doch gar nichts anzuziehen«, warf ich ein, doch Noah reagierte sofort:

»Klamotten kriegst du von mir. Das alte Lakers-Shirt magst du doch so.«

Ich erinnerte mich, dass ich es manchmal getragen hatte, wenn Noah und ich an den Quellen gewesen waren. Ich legte meine Sachen oft zu nah an den Rand – eine schlechte Angewohnheit von mir –, so dass die sprudelnden Fontänen meine Kleidung einweichten. Noah lieh mir dann sein Shirt zum Nachhausegehen. Und da er ein riesiger Lakers-Fan war, war es eben oft dieses Shirt gewesen. Die Spiele der Lakers hatten wir alle hier oft zusammen im Meeting House angesehen, und jedes Mal danach hatte Noah seufzend davon geschwärmt, endlich mal eines live zu sehen. Tatsächlich stellte ich mir die überbordende Energie in so einer riesigen Halle auch phantastisch vor, in der alle ihre Stars anfeuerten. So etwas mal mitzuerleben musste umwerfend sein. In solchen Momenten ergriff mich manchmal eine kleine seltsame Sehnsucht nach mehr – mehr Leben, mehr Aufregung und mehr von allem. Das Gefühl war wie ein Samenkorn, das aufkeimte. Und ich weigerte mich, es zu gießen.

»Wir können jetzt sowieso nichts mehr machen«, sagte Jim und presste seine schmalen Lippen aufeinander. »Das Beste ist, wenn wir den Laden den Profis überlassen und unsere Energien für den Aufbau aufsparen.«

»Du hast recht«, antwortete ich und drückte meinen Onkel fest. Er gab mir wie immer einen Kuss auf die Stirn.

»Wir sehen uns morgen.«

Dann folgte ich Noah.

Noahs Zimmer war noch immer dasselbe, seit wir Kinder waren. Überall lagen Wäscheberge herum, Bücherstapel reichten vom Boden bis zur Hälfte der Zimmerwand, und neben der alten Spielekonsole entdeckte ich sogar noch einige Uralt-CDs, die in falschen Hüllen steckten.

»Wie hältst du eigentlich die frische und die schmutzige Wäsche auseinander?«, fragte ich. Doch Noah ließ sich nicht auf meinen kleinen Seitenhieb ein.

»Ich rieche einfach dran.«

Er nahm sich ein Shirt vom obersten Stapel und hielt es erst sich, dann mir unter die Nase. »Geht noch!«

»Ihh!«, machte ich und sprang zur Seite.

Erst jetzt fiel mir auf, dass die Poster an der Wand sich seit meinem letzten Besuch bei ihm verändert hatten.

»Seit wann sammelst du Weltkarten?«, fragte ich.

Ich hob die Schultern. »Für mich ist es genau die richtige Seite.«

»Weil du nichts anderes kennst.«

»Oder weil ich unsere Insel einfach liebe.«

Ich ließ mich auf sein unordentliches Bett fallen. Darunter befand sich eine Matratze, die wir immer herausgeholt hatten, wenn wir stundenlang auf dem Rücken liegend in unseren Dinosaurier- und Blümchenschlafanzügen irgendwelchen neuen Bands gelauscht hatten. Es kam mir alles auf einmal sehr lange her vor. Der Noah, der nun vor mir stand, hatte seit einiger Zeit Muskeln am ganzen Körper und einen Bartansatz. Beides kam mir auf einmal fremd vor, aber auf eine gute Weise.

»Aua!«

Ich lag auf etwas Hartem, das mir genau in die Wirbelsäule stach.

»Sorry, das ist mein Kompass.«

Er zog ein kleines silbernes Ding unter mir hervor.

»Wofür brauchst du einen Kompass?«

Noah kniete sich vor mich hin und hielt das zierliche Gerät zwischen uns. Sein glänzender Zeiger pendelte sich Richtung Norden ein, genau auf das Bild der Pazifik-Route neben mir.

»Wenn wir eines Tages …«

Doch ich bremste ihn. »Hör auf damit, Noah. Ich will

»Und ich werde noch weitere tausend Male damit anfangen, bis du mir endlich zuhörst«, entgegnete er.

»Du weißt, wie ich dazu stehe. Du hast von Pit gehört.«

»Ich bin nicht Pit«, sagte Noah und setzte sich neben mich. »Und du auch nicht.«

»Ganz genau«, antwortete ich, »ich bin Ray, und ich liebe Aroha Island. Nichts und niemand kriegt mich hier weg.«

»Bist du dir da so sicher?«

Ich nickte entschlossen. »So sicher wie das Atmen der Taniwha.«

Die letzten Sonnenstrahlen hatten das Zimmer soeben in ein goldenes Licht getaucht. Der leichte Wind wehte durch das geöffnete Fenster hinein und brachte eine wunderbare Abkühlung. Noah hatte sich neben mich auf die Matratze gelegt, er war nicht davon abzubringen, mir sein Bett zu überlassen. Vollgefuttert von Noahs weltbesten Käse-Nacho-Sandwiches ließ ich meinen Arm zu ihm runterbaumeln. Noah strich mir sanft über die Hand.

»Ray, jetzt, wo du hier bist …« Er stockte.

»Ich bin müde. Das war ein schwieriger Tag. Der Diner wird nicht mehr wie vorher sein.«

»Ich wüsste da was, das dich auf andere Gedanken bringt.«

»Ich muss wirklich schlafen«, sagte ich, zog meine Hand zurück und drehte mich auf die Seite. Sein Bett roch trotz frisch bezogener Bettwäsche nach ihm, und ich merkte, dass ich es mochte. Es war eine Mischung aus Salz, Meeresluft und süßem Duft, der so roch, wie man sich Babyhaut vorstellte. Ja, ich mochte alles an ihm. Dennoch – es schien für ihn einfacher zu sein als für mich, den Sprung von unseren Kindertagen zu heute zu machen. Ich brachte es einfach nicht fertig.

»Es ist doch noch früh …« Noah klang enttäuscht.

»Es war anstrengend heute.«

»Na dann, gute Nacht«, seufzte Noah, und ich hörte, wie er sich ins Kissen sinken ließ.

»Schlaf gut«, murmelte ich in mein eigenes Kissen und sog noch einmal tief seinen vertrauten Geruch ein.

LOVE-SHOW-STUDIO

»Blöde Kuh! Warum macht sie nicht mit? Es ist alles perfekt! Perfekt sag ich! So eine Scheiße! Was will sie denn noch? Ein Himmelbett am Meer? Bauen wir ihr! Verdammt nochmal!«

Xavier regte sich gerne und schnell auf. Aber heute war er wirklich richtig sauer, das war nicht schwer zu erraten.

»So geht das nicht. Unsere Show heißt LOVE Show. Love! Liebe! Und wo bleibt die? Ich will was sehen! SE-HEN

Er strich sich hektisch mehrmals über seinen fein säuberlich zurechtgeschnittenen pechschwarzen Bart, an dem Millimeterarbeit vollzogen worden war. Er war so perfekt gestutzt, dass kein einziges Haar aus der Reihe tanzte. Es sah fast aus, als wäre er mit einer Schablone aufgemalt.

»Das Skript sagt, dass sie sich jetzt küssen sollten«, erklärte die zierliche Aufnahmeleiterin Shila, die ihre Brille nun wie

»Das tun sie aber nicht!«, regte sich Xavier weiter auf. »Wofür haben wir den Diner brennen lassen? Die neue Ausstattung kostet mich locker hunderttausend. Kein Preis für eine romantische Nacht mit ersten Küssen in der Love Show! Aber rausgeschmissen für ein bisschen Teenie-Gelaber! Ich habe gierige Sponsoren, die was erwarten! Das ist doch keine lahme Scheiß-Show hier! Das ist meine Love Show, hört ihr? Mei-ne Show!«

»Sie ist vielleicht noch nicht so weit«, versuchte Shila, vorsichtig einzulenken.

»Sie hat es verdammt nochmal zu sein! Wir warten alle seit Ewigkeiten drauf! Die Zuschauer haben langsam keine Geduld mehr! Es heißt Love Show und nicht Lahm-Show

»Das letzte Paar war schneller, das stimmt«, lenkte Shila ein, »aber die waren ja auch voll gecastet. Ray und Noah sind aber trotzdem echte Naturtalente! Wer hätte gedacht, dass man so etwas in einem Waisenhaus findet?«

»Ich will Gefühle sehen! Erste Liebe! Große Gefühle! Diese Show ist bigger als big, liver als live! Da muss mehr passieren als zufälliges Händchenberühren! Wer ist für das Skript verantwortlich?«

Xavier sah wie ein Raubtier in die Runde. Seine Augen leuchteten inmitten des verdunkelten Raumes, der rundum mit Flachbildschirmen ausgestattet war. Shila und alle anderen, die eben noch emsig wie Bienen an ihren Apparaten und PCs gesessen und getippt hatten, erstarrten.

Stille.

Ein junger blonder Mann erhob sich von seinem Stuhle und trat vor. »Ich.«

Er trug ein weißes Polohemd, was in dem voll klimatisierten Raum fast zu kühl war.

Xavier liebte es kalt. »Liam, richtig? Du warst das also.«

»Ja, die Idee mit der Übernachtung bei Noah war von mir. Dass es nicht klappt, damit konnte keiner rechnen. Das Skript bietet alles, was sie brauchten.«

»Bullshit«, erwiderte Xavier. »Oder siehst du hier gerade eine heiße Kussszene über die Bildschirme flattern? Ich nämlich nicht. Und das heißt, das Skript war scheiße!«

Liam presste seine Zähne aufeinander, und seine Wangenmuskeln arbeiteten. Das gesamte Team wartete auf eine Antwort, die Mr. X, wie ihn alle nannten, davon abhalten würde, Liam oder irgendeinem beliebigen anderen im Raum den Kopf abzureißen. Shila trat sicherheitshalber einen Schritt zur Seite.

Liam sprengte die angespannte Stille erneut. »Noah ist ein Idiot. Er ist schuld.«

»Ah«, machte Mr. X und riss die Augen auf. »Ein Liebesexperte also, ja?«

»Ist doch wahr. Er kriegt’s nicht hin.«

»Da kommt mir doch glatt eine Idee in mein schlaues Köpfchen«, sagte Xavier und strich sich wieder mit der frisch manikürten Hand, an dem der goldene Siegelring mit den Initialen LS unübersehbar auf dem Mittelfinger steckte, über den ohnehin glattgebügelten Bart.

Liam sah Mr. X an. »Sie meinen …?«

Er nickte. »Du gehst da rein.«

Ein heller Sonnenstrahl weckte mich. Meine Nase juckte, und ich kniff die Augen zusammen. Nur durch starkes Reiben konnte ich morgens richtig wach werden und den Schlafschleier aus meinen Augen vertreiben. Ich liebte es, mit der Sonne aufzustehen und mit ihr schlafen zu gehen. Die Natur gab uns unseren Rhythmus vor, und ich folgte ihm unaufgefordert und gerne. Erst als ich meine Hände von meinem Gesicht nahm und mich zur Seite drehte, fiel mir wieder ein, dass ich gar nicht zu Hause war. Noahs Körper lag bäuchlings und fast unbedeckt auf der Matratze neben mir. Nur ein dünnes Laken lag wie für ein Gemälde drapiert auf ihm, so dass seine Grübchen oberhalb seines Pos zu sehen waren. Der goldbraune Körper war ein Abbild vollkommener Schönheit, und zusammen mit dem warmen Sonnenlicht ein Bild für die Götter. Ich erwischte mich dabei, ihn ein wenig zu lange anzusehen.

»Ich spüre deinen Blick auf mir.«

Ich erschrak.

Noah drehte sich zu mir. Seine Bewegungen waren

Ich fühlte mich ertappt. »Ich bin gerade erst wach geworden.«

»Du hast mich angesehen.«

»Na und?«, verteidigte ich mich vielleicht ein wenig zu schnippisch. »Ich hab im Zimmer herumgeguckt.«

»Dir hat gefallen, was du gesehen hast.«

Mangelndes Selbstbewusstsein war nie Noahs Problem gewesen, das zeigte er in letzter Zeit ein wenig zu häufig.

»Mag sein, dass du nett anzusehen bist«, spottete ich und musste nun doch grinsen.

»Nett?«

»Nett.«

»Das ist alles?«

»Und mäßig intelligent. Ab und an witzig. Aber meistens eine Spur zu selbstverliebt.«

»Das ist also deine Beschreibung von mir? Mäßig intelligent?«

Ich lachte. Ich hatte seine Achillesferse gefunden.

»Deine Witze sind meistens flach oder selbstbezogen. Oder beides«, erklärte ich.

Noah zog sich am Bett hoch und kam mit seinem Gesicht ganz nah an meines. »Du lachst aber doch, oder?«

»Manchmal«, gab ich zu.

»Dann lohnt es sich.«

Ich setzte mich auf, so dass sein Gesicht jetzt in der Höhe meiner Knie war.

»Ich weiß nicht, was du meinst.«

»Weißt du doch.«

Ich spürte, dass Noah enttäuscht war. Ich kannte jede Schwingung seiner Stimme, und diese Tonlage hatte er in letzter Zeit öfter. Bestimmt hatte er sich von dieser Nacht etwas anderes erhofft, als auf dem Boden zu schlafen. Aber ich wollte einfach nicht riskieren, den wichtigsten Menschen, den ich hier – neben Onkel Jim – hatte, zu verlieren. Meinen besten Freund zu verlieren. Das war es doch, was passierte, wenn die Liebe aufhörte, oder? Man verlor sich. Und was wäre dann? Ein Leben ohne Noah konnte ich mir nicht vorstellen. Der Preis war einfach zu hoch.

»Du verstehst mich nicht.«

Noah sah mich herausfordernd an. »Dann rede endlich! Du redest einfach nicht, du weichst mir aus. Das ist … ja, einfach feige!«

»Ach«, schnaufte ich und stand auf.

Ich musste über Noah hinwegsteigen, was sich als etwas unvorteilhaft herausstellte, denn ich trug nur sein Lakers-Shirt, und sonst nichts. Aber Noah war ein Gentleman und drehte sich weg.

»Danke.«

»Außerdem haben wir es schon mal getan.«

Ich wusste, worauf Noah anspielte. Ein Kuss am Strand, als wir ungefähr sechs Jahre alt waren. Es war sogar richtig romantisch gewesen, mit Sonnenuntergang und allem

»Das ist lächerlich«, murmelte ich. »Es ist hundert Jahre her.«

»Elf Jahre«, sagte Noah. »Und ich denke oft dran.«

»Du bist bescheuert«, grinste ich. »Ehrlich. So was kann man doch nicht ernst nehmen.«

»Du bedeutest mir viel«, sagte er ernst, während er die Kommode vor ihm anstarrte. »Schon immer.«

»Du mir auch«, sagte ich und lächelte. »Deswegen ja.«

Der Tag begann anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Durch den Brand im Diner gab es dort viel zu tun, allerlei Aufräumarbeiten waren bereits im Gange, als ich dort ankam.

»Sea School fällt aus«, rief Onkel Jim mir zu. »Guten Morgen!«

»Guten Morgen«, antwortete ich. »Wegen des Brands?«

»Ja«, erwiderte er und stützte sich auf seine Schaufel. »Ben und Jerry haben gleich heute Morgen alles untersucht und gesagt, dass das Gebäude bis auf das Dach nicht einsturzgefährdet sei. Und nun helfen alle mit. Ist das nicht großartig? Bei allen Schwierigkeiten, die das Leben uns bringt, zählt doch immer die Gemeinschaft.«

»Stimmt«, sagte ich und schnappte mir eine der

Ich begann, den Schutt in den schon herangeschafften Container zu schippen und sah aus dem Augenwinkel, wie Noah an der Seite des Gebäudes über eine Leiter auf das Dach kletterte. Ich lief zu ihm.

»Noah«, rief ich hoch, »komm da sofort wieder runter! Das Dach ist einsturzgefährdet!«

Niemand der anderen Helfer schien ihn aufhalten zu wollen, was mich verwirrte und ängstigte. »Los, runter!«

»Du kennst mich doch, ich kann klettern wie ein Kusu!«

Ich kannte die kleinen Kletterbeutler natürlich, die hier auf der Insel überall vorkamen, und denen wir als Kinder immer hinterhergejagt waren. Allerdings wogen die sicher nicht an die siebzig Kilo, so wie Noah.

»Haben Ben und Jerry das erlaubt?«, rief ich wieder. Doch Noah war nicht mehr zu sehen.

Ich lief nach vorne zu meinem Onkel. »Jim, sag ihm, er soll da runterkommen!«, bat ich ihn eindringlich.

Doch er schüttelte nur den Kopf. »Lass ihn doch helfen, wenn er will. Er ist alt genug, die Gefahr einschätzen zu können.«

Diese Worte aus Onkel Jims Mund wunderten mich. Mich behandelte er doch auch immer wie ein rohes Ei. Wieso sollte das bei Noah anders sein?

»Er ist aber kein Feuerwehrmann und erst recht kein Kusu!«, wandte ich ein. »Er darf da nicht einfach so rauf!«

Ich folgte Onkel Jims Blick auf das Dach, auf dessen Sims Noah nun mit festem Schritt balancierte – wie immer barfuß. Zuerst hielt er sich noch mit den Händen fest wie ein Pavian, dann ging er aufrecht.

»Soll ich die beschädigten Balkenstücke direkt in den Container werfen?«, rief er Jim zu.

Der nickte. »Ja, wirf sie einfach an die Seite zum Container, da steht niemand. Nur nicht hier nach vorne, das ist zu gefährlich.«

»Aye, aye, Captain!«

Ich schüttelte den Kopf. »Männer. Ihr überschätzt euch immer selbst und gegenseitig.«

»Wieso?«, sagte Jim und nahm sich wieder seine Schaufel, während das erste verbrannte Holzscheit vom Dach in den Container flog. »Klappt doch.«

»Wie lange werden wir brauchen?«, fragte ich, begann ebenfalls wieder zu schaufeln und wischte mir aufgewirbelten Staub und Asche vom Gesicht.