Juliet Marillier

Der Sohn der Schatten

Roman

Aus dem Englischen von
Regina Winter

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Juliet Marillier

Juliet Marillier wurde in Neuseeland geboren und wuchs in Dunedin auf. Bereits seit frühester Kindheit begeistert sie sich für keltische Musik und irische Geschichte. Sie lebt heute mit ihrer Familie in Perth, Australien. Zu ihren großen internationalen Erfolgen gehört der Sevenwaters-Romanzyklus (»Die Tochter der Wälder«, »Der Sohn der Schatten«, »Das Kind der Stürme« und »Die Erben von Sevenwaters«).

Impressum

Die australische Originalausgabe erschien 2000

unter dem Titel »Son of Shadows« bei Pan Macmillan Australia Ltd.

 

© 2015 der eBook Ausgabe by Knaur eBook

© 2002 für die deutschsprachige Ausgabe by Knaur Taschenbuch

Ein Unternehmen der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co.KG, München

© 2000 by Juliet Marillier

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit
Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Karten: Bronya Marillier

Übersetzung: Regina Winter

Redaktion: Ralf Reiter

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: John Jude Palencar, Ohio/USA

ISBN 978-3-426-43518-2

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Für Godric,
Reisender und Mann der Erde,

und für Ben,
einen wahren Sohn von Manannán mac Lir

Vorbemerkung

Am Ende dieses Buches finden Sie eine Liste der in der Geschichte vorkommenden altirischen Namen mit ihrer korrekten Aussprache sowie ein Glossar der wichtigsten Begriffe aus der gälischen Kultur.

Karten

1

Meine Mutter kannte jede Geschichte, die jemals an den Feuerstellen Erins erzählt worden war, und darüber hinaus noch viele andere. Nach einem langen, arbeitsreichen Tag saßen die Leute schweigend rund um das Feuer, um ihr zuzuhören, und staunten über die wunderbaren Bilderteppiche, die sie mit ihren Worten webte. Sie erzählte die zahlreichen Abenteuer von Cú Chulainn dem Helden, und sie berichtete von Fionn MacCumhaill, der ein großer Krieger und ausgesprochen schlau und tückisch war. In einigen Haushalten waren solche Geschichten nur für die Männer da. Aber nicht in unserem; denn meine Mutter webte eine Magie mit ihren Worten, die alle in Bann schlug. Sie konnte Geschichten erzählen, die alle herzlich lachen ließen, und andere, die bewirkten, dass selbst starke Männer schwiegen. Aber es gab eine Geschichte, die sie nie erzählen wollte, und das war ihre eigene. Meine Mutter war das Mädchen, das seine Brüder vor dem Fluch einer Zauberin gerettet und dabei beinahe sein eigenes Leben verloren hatte. Sie war das Mädchen, dessen sechs Brüder drei lange Jahre als wilde Schwäne verbracht hatten und nur durch Mutters eigenes Schweigen und Leiden wieder Menschengestalt erhalten hatten. Es war nicht nötig, diese Geschichte zu erzählen, denn sie hatte längst einen Platz in den Köpfen der Menschen gefunden. Außerdem gab es in jedem Dorf einen oder zwei, die auch den Bruder gesehen hatten, der nur für kurze Zeit zurückgekehrt war, und das mit einer schimmernden Schwanenschwinge an Stelle seines linken Arms. Selbst ohne diesen Beweis wussten alle, dass es sich um eine wahre Geschichte handelte, und wenn meine Mutter, eine schlanke, zierliche Gestalt, mit einem Korb voller Arzneien an ihnen vorbeikam, grüßten sie sie mit großer Hochachtung.

Wenn ich meinen Vater bat, eine Geschichte zu erzählen, lachte er nur und zuckte die Achseln und erklärte, er sei ungeschickt mit Worten, und außerdem kannte er nur eine oder vielleicht zwei Geschichten, die bereits allgemein bekannt waren. Dann warf er meiner Mutter einen Blick zu, und sie schaute ihn an, auf jene Weise, die wie Sprechen ohne Worte war, und dann lenkte mein Vater mich mit irgendetwas ab. Er brachte mir bei, wie man mit einem kleinen Messer schnitzt, und er lehrte mich, Bäume zu pflanzen und zu kämpfen. Mein Onkel hielt das für reichlich seltsam. Es war schon in Ordnung für meinen Bruder Sean, aber wann würden meine Schwester Niamh oder ich uns je mit Fäusten und Füßen, einem Stock oder einem kleinen Dolch verteidigen müssen? Warum sollten wir Zeit darauf verschwenden, wenn wir so viele andere Dinge zu lernen hatten?

»Meine Töchter werden diese Wälder nicht schutzlos verlassen«, sagte Vater einmal zu meinem Onkel Liam. »Man kann den Menschen nicht trauen. Ich möchte keine Krieger aus meinen Mädchen machen, aber ich werde ihnen zumindest die Möglichkeit geben, sich zu verteidigen. Ich bin überrascht, dass du fragen musst, warum. Ist dein Gedächtnis so schlecht?«

Ich fragte ihn nicht, was er damit meinte. Wir hatten alle schon früh erkannt, dass es unklug war, bei solchen Gelegenheiten zwischen ihn und Liam zu geraten.

Ich lernte rasch. Ich folgte meiner Mutter durch die Dörfer, und sie brachte mir bei, wie man Wunden näht, Brüche schient und Husten oder Nesselfieber heilt. Ich beobachtete meinen Vater und erfuhr, wie man eine Eule, einen Hirsch und einen Igel aus einem Stück feinen Eichenholzes schnitzt. Wenn ich meinen Bruder dazu bringen konnte, übte ich den Zweikampf mit ihm, und ich arbeitete an einer Vielzahl von Kunstgriffen, die selbst dann funktionierten, wenn der Gegner größer und stärker war. Und es kam mir häufig so vor, als wäre jeder in Sevenwaters größer als ich. Mein Vater schnitt mir einen Stock zurecht, der genau die richtige Größe hatte, und schenkte mir seinen eigenen kleinen Dolch. Sean war darüber ein oder zwei Tage ziemlich verärgert. Aber er nahm einem nie lange etwas übel. Außerdem war er ein Junge, und er hatte seine eigenen Waffen. Was meine Schwester Niamh anging – bei ihr wusste man nie so recht, was sie dachte.

»Vergiss nicht, Kleines«, sagte Vater ernst zu mir, »dass dieser Dolch töten kann. Ich hoffe, dass du ihn nie zu diesem Zweck einsetzen wirst, aber wenn es sein muss, benutze ihn sauber und mutig. Hier in Sevenwaters hast du wenig Böses erlebt, und ich hoffe, du wirst dich niemals gegen einen Mann verteidigen müssen. Aber eines Tages wird es vielleicht doch nötig, und daher solltest du dafür sorgen, dass der Dolch stets scharf und glänzend ist, und viel üben.«

Es kam mir so vor, als fiele ein Schatten über sein Gesicht, und sein Blick wurde leer, wie es manchmal geschah. Ich nickte schweigend und steckte die kleine, tödliche Waffe weg.

Solche Dinge lernte ich von meinem Vater, den die Leute Iubdan nannten, obwohl sein wirklicher Name anders lautete. Wenn man die alten Geschichten kannte, wusste man, dass dieser Name ein Scherz war, den er gut gelaunt akzeptierte. Denn der Iubdan der Geschichten war so winzig, dass er schreckliche Probleme bekam, als er in eine Schale Haferbrei fiel, obwohl er später belohnt wurde. Mein Vater hingegen war sehr groß und kräftig gebaut, und sein Haar hatte die Farbe von Herbstblättern in der Nachmit­tagssonne. Er war ein Brite, aber die Leute neigten dazu, das zu vergessen. Als er seinen neuen Namen erhielt, wurde er ein Teil von Sevenwaters, und jene, die diesen Namen nicht benutzten, riefen ihn einfach Großer.

Ich wäre selbst gerne ein bisschen größer gewesen, aber ich war klein, dünn und dunkelhaarig – die Art Mädchen, die kein Mann zweimal ansah. Nicht, dass mir das etwas ausmachte. Ich hatte genug zu tun, ohne an so etwas denken zu müssen. Es war Niamh, der sie mit Blicken folgten, denn sie war hochgewachsen und breitschultrig, unserem Vater viel ähnlicher, und sie hatte langes, helles Haar und einen Körper, der an den richtigen Stellen über die richtigen Rundungen verfügte. Ohne es auch nur zu wissen, bewegte sie sich auf eine Art, die die Blicke der Männer anzog.

»Die da wird noch viel Ärger machen«, murmelte unsere Köchin Janis über ihren Töpfen und Pfannen. Was Niamh selbst anging, war sie eher kritisch mit sich selbst.

»Ist es nicht schon schlimm genug, halb britisch zu sein«, meinte sie verärgert, »ohne auch noch danach auszusehen? Sieh dir das nur an!« Sie zog an ihrem dicken Zopf, und die rotgoldenen Strähnen lösten sich zu einem schimmernden Vorhang. »Wer würde mich für eine Tochter von Sevenwaters halten? Mit diesem Haar könnte ich eine Sächsin sein! Warum kann ich nicht zierlich und anmutig sein wie Mutter?«

Ich sah sie einen Augenblick lang an, während sie kräftige Striche mit der Haarbürste ausführte. Für eine, die so unzufrieden mit ihrem Aussehen war, verbrachte sie relativ viel Zeit damit, neue Frisuren auszuprobieren und Kleider und Bänder zu wechseln.

»Schämst du dich, die Tochter eines Briten zu sein?«, fragte ich sie.

Sie sah mich wütend an. »Das ist typisch für dich, Liadan. Immer so direkt wie möglich, wie? Für dich ist das alles kein Problem, du bist eine Kopie von Mutter, ihre kleine rechte Hand. Kein Wunder, dass Vater dich so abgöttisch liebt! Für dich ist es einfach.«

Ich ließ ihre Worte über mich hinwegrauschen. Manchmal war es, als hätte sie zu viele Gefühle in sich, die einfach aus ihr herausbrechen mussten. Die Worte selbst bedeuteten nichts. Ich wartete.

Niamh benutzte ihre Haarbürste wie zur Strafe. »Und Sean ebenfalls«, sagte sie und starrte sich wütend in dem Spiegel aus polierter Bronze an. »Hast du gehört, wie Vater ihn genannt hat? Er sagte, er sei der Sohn, den Liam nie hatte. Was hältst du davon? Sean passt hierher, er kennt seinen zukünftigen Weg genau. Er ist der Erbe von Sevenwaters, geliebter Sohn von nicht nur einem, sondern gleich zwei Vätern – und er sieht auch so aus. Er wird genau das Richtige tun: Aisling heiraten, was alle glücklich machen wird, und ein großer Anführer werden, vielleicht sogar derjenige, der uns die Inseln zurückgewinnt. Seine Kinder werden in seine Fußstapfen treten und so weiter und so weiter. Brighid, steh uns bei, es ist so langweilig! Es ist so vorhersehbar.«

»Du kannst nicht beides haben«, sagte ich. »Entweder du passt hierher oder nicht. Außerdem sind wir die Töchter von Sevenwaters, ob es dir nun gefällt oder nicht. Ich bin sicher, dass Eamonn dich gerne heiraten wird, wenn es an der Zeit ist, goldenes Haar oder nicht. Ich habe zumindest noch keinen Widerspruch von ihm gehört.«

»Eamonn? Ach, der!« Sie stellte sich in die Mitte des Zimmers, wo ein goldener Lichtstrahl auf die Eichendielen fiel, und an diesem Fleck begann sie, sich langsam zu drehen, so dass ihr weißes Gewand und ihr schimmerndes Haar sie wie eine Wolke umgaben. »Sehnst du dich nicht auch danach, dass etwas geschieht, etwas so Aufregendes, Neues, dass es dich wie eine große Flut mit sich reißt – etwas, das dein Leben aufflackern und brennen lässt, so dass die ganze Welt es sehen kann? Etwas, das dich mit Freude oder mit Schrecken erfüllt und das dich weit weg von diesem sicheren kleinen Pfad auf eine große, wilde Straße führt, deren Ende niemand kennt? Sehnst du dich nie nach so etwas, Liadan?« Sie drehte und drehte sich und hatte die Arme um den Oberkörper geschlungen, als wäre dies die einzige Möglichkeit, ihre Gefühle in sich zu behalten.

Ich saß auf der Bettkante und beobachtete sie schweigend. Nach einer Weile sagte ich: »Du solltest vorsichtig sein. Solche Worte könnten das Feenvolk in Versuchung führen, sich in dein Leben einzumischen. Es geschieht hier und da. Du kennst Mutters Geschichte. Man hat ihr eine solche Gelegenheit gegeben, und sie hat sie genutzt, und am Ende hat nur ihr eigener und Vaters Mut sie vor dem Tod gerettet. Um die Spiele des Feenvolks zu überleben, muss man sehr stark sein. Für Mutter und für Vater gab es ein gutes Ende. Aber es gab auch Verlierer in dieser Geschichte. Was ist mit ihren sechs Brüdern? Nur zwei oder vielleicht drei sind geblieben. Was geschehen ist, hat ihnen allen Schaden zugefügt. Und es gab andere, die noch schlimmer dran waren. Du solltest dein Leben lieber Tag für Tag genießen. Für mich liegt genug Aufregung darin, bei der Geburt eines Lamms zu helfen oder zu sehen, wie die Eichenschösslinge im Frühlingsregen wachsen. Oder darin, mit einem Pfeil direkt ins Ziel zu treffen oder den Husten eines Kindes zu heilen. Warum sehnst du dich nach mehr, wenn das, was wir haben, so gut ist?«

Niamh fuhr sich mit der Hand durchs Haar und zerstörte damit das Ergebnis des langwierigen Bürstens mit einer einzigen achtlosen Bewegung. Sie seufzte. »Du klingst so sehr wie Vater, dass mir davon schlecht wird«, sagte sie, aber ihr Tonfall war liebevoll. Ich kannte meine Schwester gut. Ich ließ nicht oft zu, dass sie mich durcheinanderbrachte.

»Ich habe nie verstanden, wie er das tun konnte«, fuhr sie fort. »Alles einfach aufgeben. Sein Land, seine Macht, seine Stellung, seine Familie. Er hat es einfach aufgegeben. Er wird niemals Herr von Sevenwaters sein – das ist Liams Platz. Sein Sohn wird zweifellos erben, aber Iubdan wird immer nur der Große sein, der in aller Ruhe seine Bäume pflanzt, sich um seine Herden kümmert und die Welt an sich vorbeiziehen lässt. Wie könnte ein echter Mann ein solches Leben wählen? Er ist kein einziges Mal auch nur nach Harrowfield zurückgekehrt.«

Ich lächelte in mich hinein. War sie denn blind, dass sie nicht erkannte, was zwischen Sorcha und Iubdan war? Wie konnte sie hier jeden Tag leben und sehen, wie sie einander anschauten, und nicht verstehen, warum er getan hatte, was er getan hatte? Außerdem wäre Sevenwaters ohne seine Fürsorge nichts weiter als eine gut bewachte Festung. Unter seiner Führung blühte unser Land. Alle wussten, dass wir das beste Vieh züchteten und die beste Gerste in ganz Ulster anbauten. Es war die Arbeit meines Vaters, die es meinem Onkel Liam ermöglicht hatte, bessere Verbündete zu finden und in den Krieg zu ziehen. Aber es hatte wohl wenig Sinn, das meiner Schwester zu erklären. Wenn sie es immer noch nicht wusste, würde sie es nie begreifen.

»Er liebt sie«, sagte ich. »So einfach ist das. Und dennoch gibt es noch mehr. Sie spricht nicht davon, aber es hat mit dem Feenvolk zu tun. Und sie werden sie nicht aus den Augen verlieren.«

Endlich war Niamh aufmerksam geworden. Sie kniff ihre schönen blauen Augen ein wenig zusammen, als sie mich ansah. »Jetzt klingst du schon genau wie sie«, verkündete sie anklagend. »Als wolltest du eine Geschichte erzählen. Eine Geschichte, aus der ich etwas lernen soll.«

»Nein«, sagte ich. »Du bist ohnehin nicht in der Stimmung dafür. Ich wollte nur sagen, dass wir eben anders sind, du und ich und Sean. Wegen Dingen, die das Feenvolk getan hat, sind unsere Eltern einander begegnet und haben geheiratet. Und deshalb existieren wir drei. Vielleicht dreht sich der nächste Teil der Geschichte ja um uns.«

Niamh schauderte, als sie sich neben mich hockte und die Röcke über die Knie zog.

»Weil wir weder aus Britannien noch aus Erin stammen und gleichzeitig aus beiden Ländern«, sagte sie bedächtig. »Du glaubst, eine von uns sei das Kind der Prophezeiung, das unserem Volk die Inseln zurückgeben wird?«

»Ich habe gehört, dass Leute das sagten.« Man hörte es tatsächlich relativ oft, nun, da Sean beinahe ein Mann war und zu einem ebenso guten Kämpfer und Anführer heranwuchs, wie sein Onkel Liam es war. Außerdem warteten die Menschen nur darauf, dass endlich etwas geschah. Die Fehde um die Inseln bestand schon seit vor den Tagen meiner Mutter, denn es war lange Jahre her, dass die Briten unserem Volk diesen geheimsten aller Orte genommen hatten. Die Menschen waren inzwischen noch verbitterter, denn wir waren so nah daran gewesen, das wiederzuerhalten, was uns gehörte. Als Sean und ich noch Kinder waren, nicht einmal sechs Jahre alt, hatten unser Onkel Liam und zwei seiner Brüder, unterstützt von Seamus Rotbart, ihre Krieger zusammengerufen und direkt ins Herz des umstrittenen Gebiets geführt. Sie hatten es beinahe geschafft. Sie hatten den Boden der Kleinen Insel berührt und dort insgeheim ihr Lager aufgeschlagen. Sie hatten gesehen, wie die großen Vögel um die Nadel herumflatterten, diesen hoch aufragenden Felsen, der von eisigem Wind und Gischt gepeitscht wurde. Schließlich hatten sie das Lager der Briten auf der Größeren Insel angegriffen und waren am Ende zurückgeschlagen worden. In diesem Kampf waren zwei Brüder meiner Mutter umgekommen. Cormack war von einem Schwertstoß direkt ins Herz getroffen worden und in Liams Armen gestorben. Und Diarmid, der versucht hatte, seinen Bruder zu rächen, kämpfte wie ein Besessener und wurde schließlich von den Briten gefangen genommen. Liams Männer fanden seine Leiche später an einer seichten Stelle treibend, als sie erschöpft und geschlagen ihre kleinen Boote zur Flucht rüsteten. Diarmid war ertrunken, aber erst, nachdem der Feind seinen Spaß mit ihm gehabt hatte. Nachdem sie seine Leiche nach Hause gebracht hatten, ließen sie nicht zu, dass meine Mutter sie sah.

Diese Briten waren das Volk meines Vaters. Aber Iubdan hatte keinen Anteil an diesem Krieg. Er hatte einmal geschworen, dass er nicht gegen sein eigenes Volk kämpfen würde, und er hielt sich an sein Wort. Mit Sean war es etwas anderes. Mein Onkel Liam hatte nie geheiratet, und meine Mutter sagte, er würde es auch niemals tun. Es hatte einmal ein Mädchen gegeben, das er geliebt hatte. Aber dann waren er und seine Brüder verzaubert worden. Drei Jahre sind eine lange Zeit, wenn man erst sechzehn ist. Als er schließlich wieder die Gestalt eines Menschen annahm, war seine Liebste verheiratet und bereits Mutter eines Sohnes. Sie hatte Liam für tot gehalten und getan, was ihr Vater von ihr verlangte. Also würde Liam nicht heiraten. Und er brauchte auch keinen eigenen Sohn, denn er liebte seinen Neffen so leidenschaftlich wie ein Vater und erzog ihn, ohne es zu wissen, zu seinem eigenen Abbild. Sean und ich waren Zwillinge, er ein winziges bisschen älter. Aber mit sechzehn war er bereits mehr als einen Kopf größer als ich, beinahe ein erwachsener Mann, mit breiten Schultern, schlank und muskulös. Liam hatte dafür gesorgt, dass er ein meisterhafter Kämpfer wurde. Sean lernte auch, wie man Kriege plante, wie man zu Gericht saß und wie man sowohl das Denken eines Verbündeten als auch das eines Feindes verstand. Liam machte hier und da eine tadelnde Bemerkung über das jugendliche Ungestüm seines Neffen, aber Sean würde einmal ein großer Anführer sein, daran zweifelte niemand.

Was unseren Vater anging … er lächelte und ließ es zu. Er erkannte die Last des Erbes, die Sean eines Tages aufgebürdet würde, aber er beanspruchte seinen Sohn auch selbst. Es gab Zeiten, in denen die beiden über die Felder ritten oder sich die Hütten und Scheunen der Bauernhöfe ansahen, denn Iubdan brachte seinem Sohn bei, sich um sein Volk und sein Land zu kümmern und sie nicht nur vor Feinden zu schützen. Sie unterhielten sich lange und häufig und hatten große Hochachtung voreinander. Nur ich bemerkte manchmal, dass Mutter erst Niamh ansah, dann Sean und dann mich, und ich wusste, was sie beunruhigte. Früher oder später würde das Feenvolk der Ansicht sein, dass der richtige Zeitpunkt gekommen war – der Zeitpunkt, sich wieder in unser Leben einzumischen, den halb vollendeten Wandteppich aufzuheben und ein paar weitere komplizierte Muster zu weben. Wen würden sie wählen? War einer von uns das Kind der Prophezeiung und würde schließlich Frieden zwischen unserem Volk und den Briten von Northwoods schließen und uns die Inseln mit ihren geheimnisvollen Höhlen und heiligen Bäumen zurückgewinnen? Ich glaubte das eigentlich nicht. Wenn man das Feenvolk kannte, dann wusste man, wie heimtückisch und hinterhältig sie sein konnten. Ihre Spiele waren von komplizierter Art, ihre Wahl nie offensichtlich. Und was war mit dem anderen Teil der Prophezeiung, den die Leute passenderweise immer vergaßen? Ging es da nicht darum, dass dieses Kind beider Länder das Zeichen des Raben trug? Niemand wusste genau, was das bedeutete, aber es wollte so recht zu keinem von uns passen. Außerdem musste es wohl noch ein paar mehr Verbindungen zwischen umherziehenden Briten und irischen Frauen gegeben haben. Wir konnten kaum die einzigen Kinder sein, in deren Adern das Blut beider Völker floss. Das sagte ich mir immer wieder, und dann sah ich, wie der Blick meiner Mutter auf uns ruhte, wie sie uns aus grünen, wachsamen Augen betrachtete, und ein Schauder überlief mich. Ich spürte, dass die Zeit nah war. Eine Zeit der Veränderung.

 

In diesem Frühling hatten wir Besuch. Hier, tief im Herzen des großen Waldes, folgten die meisten noch dem alten Weg, obwohl sich viele Gemeinschaften von Männern oder Frauen in unserem Land ausgebreitet hatten, für die das christliche Kreuz ein strenges Symbol ihres neuen Glaubens darstellte. Von Zeit zu Zeit berichteten Reisende, die über das Meer kamen, von großem Unrecht, das Menschen, die sich an die alten Traditionen hielten, dort angetan wurde. Es gab grausame Strafen bis hin zum Tod für jene, die vielleicht den Erntegöttern ein Opfer brachten oder einen einfachen Glückszauber versuchten oder einen Trank brauten, um einen treulosen Liebsten zurückzubringen. Die Druiden wurden dort drüben alle getötet oder verbannt. Die Macht des neuen Glaubens war groß. Wie hätte er mit der Unterstützung großzügiger Geldbeu­tel und tödlicher Armeen denn auch scheitern können?

Aber hier in Sevenwaters, in dieser abgelegenen Ecke von Erin, waren wir von anderer Art. Wenn heilige Väter herkamen, waren es überwiegend stille, gelehrte Männer, die ruhig debattierten und ebenso viel zuhörten, wie sie sprachen. Von ihnen konnte ein Junge lernen, Latein und Irisch zu lesen, mit klarer Handschrift zu schreiben, Farben zu mischen und kunstvolle Muster auf Pergament zu zeichnen. Bei den Schwestern lernte ein Mädchen vielleicht die Heilkunst oder wie man engelsgleich sang. In ihren Häusern war immer Platz für die Armen und Ausgestoßenen. Sie waren gute Menschen. Aber niemand aus unserem Haushalt schloss sich ihnen an. Als mein Großvater davonging und Liam Herr von Sevenwaters wurde und all die Verantwortung übernahm, die dazu gehörte, wurden viele Fäden miteinander verwoben, um den Stoff unseres Haushalts zu stärken. Liam rief die Familien, die in der Nähe wohnten, zusammen, baute eine starke Streitmacht auf und wurde der Anführer, den unser Volk so dringend gebraucht hatte. Mein Vater half dabei, den Bauern Wohlstand zu bringen, indem er dafür sorgte, dass der Ertrag unserer Felder besser war als je zuvor. Er pflanzte Eichen, wo das Land einmal brachgelegen hatte. Er gab Menschen neuen Mut, die der Verzweiflung nahe gewesen waren. Meine Mutter war ein Zeichen dessen, was durch Glauben und Kraft erreicht werden konnte, eine lebendige Erinnerung an jene andere Welt unter der Erdoberfläche. Durch sie spürten die Menschen von Sevenwaters jeden Tag die Wahrheit darüber, was sie wirklich waren und woher sie kamen, die heilende Botschaft des Geisterreiches.

Und dann war da noch ihr Bruder Conor. Die Geschichte berichtet von sechs Brüdern. Liam habe ich bereits erwähnt, und die beiden, die ihm im Alter am nächsten standen und bei der ersten Schlacht um die Inseln umkamen. Der Jüngste, Padraic, war ein Seefahrer, der nur selten nach Sevenwaters zurückkehrte. Conor war der vierte Bruder, und er war Druide. Während anderswo der alte Glaube verging, wurden wir Zeugen, wie sein Licht in unserem Wald immer stärker leuchtete. Es war, als gäbe jeder Festtag, der mit Liedern und Ritualen den Wechsel der Jahreszeiten kennzeichnete, unserem Volk ein wenig mehr von der Einheit zurück, die es beinahe verloren hätte. Jedes Mal kamen wir einen Schritt näher daran, bereit zu sein. Bereit, wieder zu beanspruchen, was uns die Briten vor vielen Generationen genommen hatten. Die Inseln waren das Herz und die Wiege unseres Glaubens. Prophezeiung oder nicht, die Menschen begannen zu glauben, dass Liam die Inseln zurückerobern würde, und wenn nicht er, dann doch zumindest Sean, der nach ihm Herr von Sevenwaters sein sollte. Der Tag kam näher, und die Menschen waren sich dessen immer besonders bewusst, wenn die Weisen aus dem Wald kamen, um den Beginn der neuen Jahreszeit zu verkünden. So war es auch an Imbolc in dem Jahr, als Sean und ich sechzehn waren – einem Jahr, das sich tief in meine Erinnerung eingebrannt hat. Conor kam, und mit ihm eine Gruppe von Männern und Frauen, einige in Weiß, einige in den schlichten selbst gewebten Gewändern jener, die noch in der Ausbildung sind, und sie führten tief in den Wäldern von Sevenwaters die Zeremonie zu Ehren von Brighid durch.

Sie kamen am Nachmittag, so still wie immer. Zwei sehr alte Männer und eine alte Frau, die mit einfachen Sandalen über den Waldweg gingen. Ihr Haar war in viele kleine Zöpfe geflochten und mit bunten Fäden durchzogen. Es gab jüngere Leute in den grob gewebten Gewändern, Jungen und Mädchen, und Männer in mittleren Jahren, zu denen auch mein Onkel Conor gehörte. Er hatte erst spät Gelegenheit gehabt, sich den großen Mysterien zu widmen, und war nun der Erzdruide, ein bleicher, ernster Mann von mittlerer Größe mit grauen Strähnen im langen rötlich braunen Haar. Er grüßte uns alle mit ruhiger Höflichkeit, meine Mutter, Iubdan, Liam und uns drei. Und unsere Gäste, denn mehrere Haushalte hatten sich hier zum Fest versammelt. So war Seamus Rotbart zu Besuch gekommen, ein kräftiger alter Mann, dessen schneeweißes Haar nicht mehr so recht zu seinem Namen passen wollte, und er hatte seine neue Frau mitgebracht, ein liebenswertes Mädchen, das nicht viel älter war als ich. Niamh war über diese Ehe entsetzt gewesen.

»Wie kann sie nur?«, flüsterte sie hinter vorgehaltener Hand. »Wie kann sie sich zu ihm legen? Er ist so alt! Und fett. Und er hat eine rote Nase. Sieh nur, jetzt lächelt sie ihn auch noch an! Ich würde lieber sterben!«

Ich warf ihr einen etwas säuerlichen Blick zu. »Dann solltest du also lieber Eamonn nehmen, wenn du einen hübschen jungen Mann willst«, flüsterte ich zurück. »Einen besseren wirst du wohl nicht finden. Außerdem hat er große Ländereien.«

»Eamonn? Ha!«

Das war ihre übliche Antwort, wann immer ich diesen Vorschlag machte. Ich fragte mich nicht zum ersten Mal, was Niamh wirklich wollte. Es gab keine Möglichkeit, das herauszufinden. Sie war anders als Sean und ich. Vielleicht lag es daran, dass er und ich Zwillinge waren, vielleicht an etwas anderem, aber wir beide hatten nie Probleme damit gehabt, uns ohne Worte zu verständigen. Es wurde sogar notwendig, den eigenen Geist mitunter gut zu bewachen, damit der andere nicht alles sofort erkennen konnte. Es war gleichzeitig eine nützliche Fähigkeit und eine Last.

Ich schaute zu Eamonn hin, der nun neben seiner Schwester Aisling stand und Conor und den Rest der Druiden begrüßte. Ich begriff nicht, was Niamh an ihm so störte. Eamonn hatte das richtige Alter – ein oder zwei Jahre älter als meine Schwester. Er sah recht gut aus, war vielleicht ein wenig ernst, aber dagegen konnte man vermutlich etwas tun. Er war gut gebaut, hatte glänzendes braunes Haar und schöne dunkle Augen. Er hatte gute Zähne. Bei ihm zu liegen wäre – nun, ich wusste wenig von solchen Dingen, aber ich stellte mir vor, dass es zumindest nicht abstoßend wäre. Und beide Familien würden diese Verbindung sehr begrüßen. ­Eamonn hatte sein Erbe sehr jung angetreten und besaß gewaltige Ländereien, umgeben von gefährlichem Marschland, im Osten des Landes von Seamus Rotbart und bis zum Pass im Norden hin. Eamonns Vater, der denselben Namen getragen hatte, war vor ein paar Jahren unter recht geheimnisvollen Umständen ums Leben gekommen. Mein Onkel Liam und mein Vater waren nicht immer derselben Ansicht, aber in ihrer Weigerung, über dieses Thema zu sprechen, waren sie sich vollkommen einig. Eamonns Mutter war bei Aislings Geburt gestorben. Also war Eamonn mit gewaltigem Wohlstand und großer Macht aufgewachsen, und mit einem Überfluss an einflussreichen Beratern: Seamus, der sein Großvater war, Liam, einstmals der Verlobte seiner Mutter, mein Vater, der auch irgendwie mit der ganzen Sache zu tun hatte. Es war beinahe überraschend, dass Eamonn trotzdem er selbst war und schon so jung über seine Ländereien und eine beträchtliche eigene Armee herrschte. Das erklärte vielleicht auch seinen Ernst. Ich bemerkte, dass ich ihn zu lange angesehen hatte, denn als er sein Gespräch mit einem der jüngeren Druiden beendete, schaute er mich an. Er lächelte, als wollte er meiner Einschätzung trotzen, und ich wandte den Blick ab und spürte, dass ich errötete. Niamh war wirklich albern, dachte ich. Sie würde kaum einen Besseren finden, und mit siebzehn würde sie sich rasch entscheiden müssen, bevor jemand anders diese Entscheidung für sie traf. Es würde eine sehr starke Verbindung sein, noch stärker durch die Verwandtschaft zu Seamus, dem das Land gehörte, das zwischen den Ländereien Eamonns und Sevenwaters lag. Wer auch immer all dies beherrschte, würde, wenn die Zeit gekommen war, den Briten einen gewaltigen Schlag versetzen können.

Die Druiden waren inzwischen am Ende der Reihe angekommen und fertig mit ihrer Begrüßung. Die Sonne stand niedrig am Himmel. Auf dem Feld hinter der Scheune waren in ordentlichen Reihen die Pflüge und Mistgabeln und andere Werkzeuge, die für die Arbeit der kommenden Jahreszeit gebraucht werden würden, bereitgelegt. Wir gingen über Wege, die vom Frühlingsregen immer noch ein wenig rutschig waren, und stellten uns in einem großen Kreis um dieses Feld herum auf. Im schwindenden Nachmittagslicht waren die Schatten schon sehr lang. Ich sah, wie Aisling ihrem Bruder davonschlüpfte und kurz darauf wie durch Zufall wieder an Seans Seite auftauchte. Sie irrte sich, wenn sie glaubte, dass niemand sie bemerkt hätte, denn ihr schimmerndes rötlich braunes Haar zog alle Blicke auf sich, ganz gleich, wie sehr sie versuchte, die wilden Locken mit Bändern zu zähmen. Als sie neben meinem Bruder stand, wehte der aufkommende Wind eine lange, lockige Strähne über ihr Gesicht, und Sean streckte die Hand aus und strich ihr das Haar sanft zurück. Ich brauchte sie nicht länger zu beobachten, um zu spüren, wie sie ihre Hand in seine gleiten ließ und sich die Finger meines Bruders schützend um sie schlossen. Nun, dachte ich, hier ist jemand, der weiß, was er will. Vielleicht war es gleich, wie Niamh sich entschied, denn es sah so aus, als würde dieses Bündnis ohnehin zustande kommen.

Die Druiden bildeten einen Halbkreis um die Reihen von Werkzeugen, und in der Mitte stand Conor, dessen weißes Gewand mit Goldlitze gesäumt war. Er hatte die Kapuze zurückgestrichen und entblößte damit den goldenen Reif, den er um den Hals trug – ein weiteres Zeichen, dass er der Anführer dieser mystischen ­Bruderschaft war. Nach ihren Maßstäben war er noch jung, aber sein Gesicht war ein uraltes Gesicht, und in seinem ernsten Blick stand das Wissen mehr als eines einzigen Lebens. Diese achtzehn Jahre, die er im Wald verbracht hatte, waren eine lange Reise gewesen.

Nun trat Liam als Herr des Haushalts vor und reichte seinem Bruder einen Silberkelch mit unserem besten Met, hergestellt aus dem feinsten Honig und gebraut mit Wasser aus einer ganz bestimmten Quelle, die sich an einem geheimen Ort befand. Conor nickte. Dann begann er, langsam an den Pflügen und Sicheln, den Mistgabeln, Spaten, Baumscheren und Schaufeln entlangzugehen, und sprühte ein paar Tropfen des kräftigen Getränks auf jedes Werkzeug.

»Ein gutes Kalb im Bauch der Kuh. Ein Strom süßer Milch aus ihrem Euter. Ein warmes Fell auf dem Rücken der Schafe. Eine üppige Ernte nach dem Frühlingsregen.«

Conor ging gleichmäßigen Schritts, und sein weißes Gewand bewegte sich, als hätte es ein eigenes Leben. Er hielt den silbernen Kelch in einer Hand, einen Birkenstab in der anderen. Alle Anwesenden schwiegen. Selbst die Vögel in den Bäumen hatten aufgehört zu zwitschern. Hinter mir lehnten sich ein paar Pferde über den Zaun und richteten ihren feierlichen Blick auf den Mann mit der leisen Stimme.

»Möge Brighid eure Felder segnen. Möge sie ihre schützende Hand über die sprossenden Pflanzen halten. Möge die Erde Leben hervorbringen, möge eure Saat sprießen. Herz der Erde, Leben des Herzens, alles ist eins.«

So ging er weiter und streckte über jedes Werkzeug die Hand aus und vergoss ein wenig von dem kostbaren Met. Das Licht färbte sich golden, als die Sonne hinter die Wipfel der Eichen sank. Als Letztes kam ein Achtochsenpflug, den die Männer vor vielen Jahren nach Iubdans Anweisung hergestellt hatten. Mit diesem Pflug waren auch die steinigsten Felder weich und fruchtbar gemacht worden. Wir hatten ihn mit Girlanden aus Gänsefingerkraut und duftendem Heidekraut geschmückt, und Conor blieb davor stehen und hob seinen Stock.

»Möge nichts Böses unsere Arbeit befallen«, sagte er. »Mögen unsere Ernte und unsere Herden von Krankheit verschont bleiben. Lasst die Arbeit dieses Pfluges und unserer Hände zu einer guten Ernte und einer fruchtbaren Jahreszeit führen. Wir danken der Erde, die unsere Mutter ist, für den Regen, der Leben bringt. Wir ehren den Wind, der die Samen aus den großen Eichen schüttelt, wir ehren die Sonne, die die neuen Pflanzen wärmt. In all dem ehren wir dich, Brighid, die du die Frühlingsfeuer entzündest.«

Der Kreis der Druiden wiederholte seinen letzten Satz mit tiefen, wohlklingenden Stimmen. Dann kehrte Conor zu seinem Bruder zurück und reichte ihm den Kelch, und Liam sagte etwas darüber, den Rest dessen, was noch in der Flasche war, nach dem Essen zu teilen. Die Zeremonie war beinahe vorüber.

Conor drehte sich um und ging einen, zwei, drei Schritte vorwärts. Er streckte die rechte Hand aus. Ein hochgewachsener junger Schüler mit Locken vom tiefsten Rot, das ich je gesehen hatte, kam rasch vorwärts und nahm den Stock seines Meisters. Er trat beiseite und betrachtete Conor mit einem Blick, dessen Intensität mich schaudern ließ. Conor hob die Hände.

»Neues Leben! Neues Licht! Neues Feuer!«, sagte er, und nun war seine Stimme nicht mehr leise, sondern mächtig und klar und schallte durch den Wald wie eine feierliche Glocke. »Neues Feuer!«

Er hob die Hände über den Kopf, griff zum Himmel hinauf. Ein Schimmern war zu sehen, ein seltsames Summen erklang, und plötzlich wurde es über seinen Händen hell, ein Strahlen, das ­die Augen blendete und die Sinne erschreckte. Der Druide senkte langsam die Arme, und in seinen zu einer Schale gebogenen Händen flackerte ein Feuer, ein so echtes Feuer, dass ich entsetzt erwartete, dass Conors Hände von der Hitze verbrennen würden. Der junge Schüler ging zu ihm, eine Fackel in der Hand. Unter unseren gebannten Blicken berührte Conor diese Fackel mit den Fingern, und goldenes Licht flackerte auf, und als Conor die Hände wegzog, waren es einfach die Hände eines Menschen, und das geheimnisvolle Feuer war aus ihnen verschwunden. Das Gesicht des jungen Mannes strahlte vor Stolz und Ehrfurcht, als er seine kostbare Fackel zum Haus trug, wo nun die Herdfeuer neu entzündet würden. Die Zeremonie war vollendet. Morgen würde die Arbeit der neuen Jahreszeit beginnen. Auf dem Rückweg zum Haus, wo es nach Sonnenuntergang ein Festessen geben würde, schnappte ich Gesprächsfetzen auf.

»… wirklich klug? Es gab doch sicher auch andere, die man für diese Aufgabe hätte auswählen können?«

»Es war Zeit. Er kann nicht immer im Verborgenen leben.«

Das waren Liam und sein Bruder. Dann sah ich meine Mutter und meinen Vater, die gemeinsam den Weg entlang kamen. Sie stolperte im Schlamm; er stützte sie sofort, beinahe noch bevor es geschehen war, so schnell war er. Er legte ihr den Arm um die Schultern, und sie blickte zu ihm auf. Ich spürte einen Schatten über den beiden und wurde plötzlich unruhig. Sean lief grinsend an mir vorbei, dicht gefolgt von Aisling. Sie folgten dem hochgewachsenen jungen Mann, der die Fackel trug. Mein Bruder sagte nichts, aber ich fing in meinem Geist auf, wie glücklich er war. Heute Abend war er einfach nur sechzehn Jahre alt und verliebt, und alles in seiner Welt war in Ordnung. Und wieder spürte ich diese plötzliche Kälte. Was war nur los mit mir? Es war, als wünschte ich meiner Familie an diesem schönen Frühlingstag, an dem alles hell und stark war, Böses. Ich mahnte mich, nicht so dumm zu sein. Aber der Schatten wollte nicht weichen und lauerte weiterhin am Rand meiner Gedanken.

Du spürst es also auch.

Ich erstarrte. Es gab nur einen einzigen Menschen, der auf diese Weise – ohne Worte – zu mir sprechen konnte, und das war Sean. Aber es war nicht die innere Stimme meines Bruders, die jetzt meinen Geist berührte.

Hab keine Angst, Liadan. Ich werde nicht in deine Gedanken eindringen. Wenn ich in all den langen Jahren eines gelernt habe, dann ist es, diese Fähigkeit zu beherrschen. Du bist unglücklich. Unruhig. Was geschieht, wird nicht dein Werk sein. Das darfst du nicht ver­gessen. Wir wählen alle unseren Weg selbst.

Immer noch ging ich weiter auf das Haus zu, umgeben von einer lachenden, schwatzenden Menschenmenge, jungen Männern, die ihre Sensen über den Schultern trugen, jungen Frauen mit Spaten oder Sicheln. Hier und da fanden sich zwei, und das eine oder andere Paar verschwand unauffällig im Wald, um dort eigenen Angelegenheiten nachzugehen. Vor mir auf dem Weg ging mein Onkel, und der goldene Saum seines Gewandes blitzte in den letzten Strahlen der untergehenden Sonne.

Ich … ich weiß nicht, was ich spüre, Onkel. Dunkelheit … irgendetwas ist schrecklich falsch. Und dennoch, es ist, als würde ich es auf uns herabbeschwören, indem ich daran denke. Wie ist das möglich, gerade jetzt, wenn alles so gut ist und alle so glücklich sind?

Die Zeit ist gekommen. Mein Onkel ließ nicht auch nur durch die geringste Geste erkennen, dass er mit mir sprach. Wunderst du dich, dass ich mit dir reden kann? Du solltest mit Sorcha sprechen, wenn du sie dazu bringen kannst zu antworten. Sie und Finbar waren es, die diese Fähigkeit einmal wunderbar beherrschten. Doch es tut ihr vielleicht weh, sich daran zu erinnern.

Du sagtest, es sei Zeit. Zeit wozu?

Wenn es möglich war, lautlos zu seufzen, dann war es dies, was Conor mir jetzt übermittelte. Zeit, dass ihre Hände im Topf rühren. Zeit, dass ihre Finger ein Stück weiter am Muster weben. Zeit, dass ihre Stimmen mit dem Lied beginnen. Du brauchst dich nicht schuldig zu fühlen, Liadan. Sie benutzen uns alle, und wir können nicht viel dagegen tun. Ich habe das auf sehr schlimme Weise entdecken müssen. Und ich fürchte, es wird dir nicht anders gehen.

Wie meinst du das?

Das wirst du schon bald herausfinden. Warum freust du dich nicht und bist jung, solange du noch Gelegenheit dazu hast?

Das war alles. Er schloss seine Gedanken so plötzlich vor mir ab, als würde eine Falltür zugeworfen. Dann sah ich, wie er stehen blieb und wartete, dass meine Mutter und Iubdan ihn einholten, und dann gingen die drei zusammen ins Haus. Ich wusste immer noch nicht, was ich mit diesem seltsamen Gespräch anfangen sollte.

Meine Schwester war an diesem Abend sehr schön. Man hatte die Feuer im Haus wieder entzündet, und draußen gab es ein Freudenfeuer und Apfelwein und Tanz. Es war recht kühl. Ich hatte einen Schal um die Schultern gelegt und schauderte immer noch. Aber Niamhs Schultern über ihrem dunkelblauen Gewand waren nackt, und sie hatte sich Seidenbänder und kleine Frühveilchen ins Haar geflochten. Als sie tanzte, schimmerte ihre Haut im Feuerlicht, und in ihren Augen stand eine Herausforderung. Die jungen Männer konnten die Blicke kaum von ihr wenden, als sie erst mit einem, dann mit dem anderen davontanzte. Selbst die jungen Druiden hatten, wie ich dachte, Schwierigkeiten, nicht mit den Füßen zu zucken und weiter angemessen ernst dreinzuschauen. Seamus hatte Musiker mitgebracht. Sie waren gut – ein Mann mit einer Flöte, ein Geiger und einer, der alles spielen konnte, was er anfasste, ob Bodhran oder Flöte. Auf dem Hof standen Tische und Bänke, und die älteren Druiden saßen dort neben den Leuten, die zum Haushalt gehörten, unterhielten sich und tauschten Geschichten aus und sahen zu, wie die jungen Leute Spaß hatten.

Es gab nur einen, der weitab von ihnen stand, und das war der junge Druide, der mit dem dunkelroten Haar, der die Feuer des Haushalts mit seiner geheimnisvollen Fackel wieder entzündet hatte. Er allein hatte nichts gegessen und nichts getrunken. Während der ganze Haushalt um ihn herum fröhlich war, legte er kein Zeichen von Freude an den Tag. Sein Fuß bewegte sich zu keinem der alten Lieder. Er hob die Stimme nicht, um mitzusingen. Stattdessen stand er aufrecht und schweigend und wachsam hinter der Hauptgruppe von Menschen. Ich hielt das nur für vernünftig. Es war klug, dass einige nichts von dem starken Bier tranken, dass einige nach unerwünschten Gästen lauschten und schon die ersten Anzeichen von Gefahr wahrnehmen würden. Ich wusste, dass Liam zusätzlich zu den üblichen Wachen und Spähern Männer aufgestellt hatte, die das Haus an strategischen Punkten bewachten. Ein Angriff auf Sevenwaters heute Nacht würde nicht nur die Oberhäupter der mächtigsten Familien im Nordosten, sondern auch ihre geistlichen Führer treffen. Also ging er kein Risiko ein.

Aber dieser junge Mann stand nicht Wache, oder falls das seine Aufgabe war, gab er einen jämmerlichen Wächter ab. Denn der Blick seiner dunklen Augen richtete sich nur auf eines, und das war meine reizende, lachende Schwester Niamh, wie sie da im Feuerlicht tanzte, umweht von ihrem Vorhang rotgoldenen Haars. Ich sah, dass der junge Mann sich kaum regte, dass er sie mit Blicken verschlang, und dann wandte ich mich ab und ermahnte mich, nicht dumm zu sein. Das hier war immerhin ein Druide; ich nahm an, sie hatten Bedürfnisse wie alle anderen Menschen, also war sein Interesse ganz natürlich. Mit solchen Dingen umzugehen, war zweifellos Teil der Disziplin, die sie lernten. Und es ging mich nichts an. Dann schaute ich wieder meine Schwester an, und ich bemerkte den Blick, mit dem sie ihn unter ihren langen, wunderschönen Wimpern her bedachte. Tanz mit Eamonn, du dumme Gans, sagte ich ihr, aber sie war nie imstande gewesen, meine innere Stimme zu hören.

Die Musik wechselte von einem Kreistanz zu einer langen, an­mutig klagenden Melodie. Es gab Worte dazu, und die Menge hatte inzwischen genug getrunken, um mit dem Flötenspieler zu singen.

»Würdest du mit mir tanzen, Liadan?«