DANKSAGUNG

In meinem letzten Buch schrieb ich über das medizinische Wunder einer Herztransplantation, bei der die Empfängerin Wesensmerkmale der Spenderin übernahm.

Diese Geschichte handelt von einem anderen Wunder, von einem, das die Wissenschaft nicht erklären kann. Vergangenes Frühjahr nahm ich an der Seligsprechungszeremonie einer Nonne teil, die sieben Krankenhäuser für Alte und Gebrechliche gegründet hatte und der zugeschrieben wird, durch die Kraft des Gebetes das Leben eines Kindes gerettet zu haben.

Bei der eindrucksvollen Zeremonie fasste ich den Entschluss, dieses Thema für einen Roman zu verwenden. Es war für mich eine sehr aufschlussreiche Reise – und eine, an der Sie hoffentlich Gefallen hatten.

Wie immer stehe ich in der Schuld meiner treuen Unterstützer und Freunde, die mir bei der Arbeit am Computer den Weg geebnet haben.

Es ist mir eine stete Freude, dass Michael Korda nunmehr seit fünfunddreißig Jahren mein Lektor ist. Seine Betreuung, Ermutigung und Leidenschaft sind für mich von der ersten bis zur letzten Seite ein nie nachlassender Quell der Kraft.

Die Cheflektorin Amanda Murray hat uns auf allen unseren Schritten mit ihren klugen Ratschlägen begleitet.

Dank auch, wie immer, an die stellvertretende Leiterin der Satzredaktion Gypsy da Silva, an meine Pressereferentin Lisl Cade und meine Probeleserinnen Irene Clark, Agnes Newton und Nadine Petry. Was habe ich doch für ein großartiges Team!

Vielen Dank an Patricia Handal, Koordinatorin der Cardinal Cooke Guild, für ihre unschätzbare und großzügige Unterstützung bei allen Fragen zum Kanonisierungsverfahren.

Vielen Dank an Detective Marco Conelli, der alle meine Fragen zur Polizeiarbeit beantwortet hat.

Dank auch an den Patentanwalt Gregg A. Paradise, Esq., der mich zu den Patentgesetzen beraten hat, die in diesem Buch eine wichtige Rolle spielen.

Es ist höchste Zeit, meine Verehrung für den wunderbaren Fotografen Bernard Vidal zum Ausdruck zu bringen, der für meine Autorenfotos seit zwanzig Jahren extra aus Paris anreist, sowie für die großartige Haar- und Make-up-Stylistin Karem Alsina.

Das alles hätte keinerlei Bedeutung, wenn es nicht von meinem außergewöhnlichen Mann John Conheeney und unseren Kindern und Enkelkindern geteilt würde. Ihr wisst alle, wie wichtig ihr mir seid.

Und so, meine Leser und Freunde, hoffe ich, dass Sie Freude an diesem jüngsten Werk fanden. Möge Gott Sie alle behüten.

Die Autorin

Mary Higgins Clark, geboren in New York, lebt und arbeitet in Saddle River, New Jersey. Sie zählt zu den erfolgreichsten Thrillerautorinnen weltweit. Mit ihren Büchern führt sie regelmäßig die internationalen Bestsellerlisten an. Sie hat bereits zahlreiche Auszeichnungen erhalten, u.a. den begehrten »Edgar Award«.

1

Schweigend saß Olivia Morrow am Montagmorgen ihrem langjährigen Freund Clay Hadley gegenüber und versuchte das Todesurteil zu verarbeiten, das er ihr soeben verkündet hatte.

Sie wandte den Blick von seiner mitfühlenden Miene zum Fenster der Praxis, die im vierundzwanzigsten Stock an der East Seventy-second Street in Manhattan lag. In der Ferne flog an diesem kühlen Oktobermorgen ein Hubschrauber langsam über den East River.

Meine Reise geht ebenfalls dem Ende zu, dachte sie, bevor ihr bewusst wurde, dass Clay auf eine Reaktion wartete.

»Zwei Wochen noch«, sagte sie. Es war keine Frage. Sie sah zur antiken Uhr im Bücherregal hinter Clays Schreibtisch. Es war zehn nach neun. Das ist also der erste Tag dieser zwei Wochen – der Anfang dieses Tages, dachte sie und war froh, um einen frühen Termin gebeten zu haben.

»Höchstens drei«, antwortete er. »Es tut mir leid, Olivia. Ich habe gehofft ...«

»Es muss Ihnen nicht leidtun«, unterbrach sie ihn brüsk. »Ich bin zweiundachtzig Jahre alt. Meine Generation lebt zwar länger als jede vorherige, trotzdem sind mir meine Freunde in letzter Zeit weggestorben wie die Fliegen. Unsere größte Sorge ist doch, dass wir zu lange leben und in einem Pflegeheim enden oder allen schrecklich zur Last fallen. Jetzt weiß ich, dass mir nur noch wenig Zeit bleibt. Aber ich bin bei klarem Verstand und werde mich bis zum Schluss ohne fremde Hilfe fortbewegen können. Das ist ein unschätzbares Geschenk.« Sie verstummte.

Clay Hadley runzelte die Stirn. Olivias heitere Gelassenheit wich plötzlich einer Besorgnis, auf die er nur gewartet hatte. Er wusste, was sie sagen würde, bevor sie erneut das Wort ergriff. »Clay, nur Sie und ich wissen davon.«

Er nickte.

»Dürfen wir weiterhin die Wahrheit verschweigen?«, fragte sie und sah ihn eindringlich an. »Mutters Meinung nach ja. Sie wollte die Wahrheit mit ins Grab nehmen. Erst ganz zum Schluss, als nur noch Sie und ich bei ihr waren, meinte sie, uns alles erzählen zu müssen. Es war für sie eine Gewissensentscheidung. Catherine hat in ihrem Leben als Nonne so viel Gutes bewirkt, ihr Ruf aber litt immer unter den Gerüchten, dass sie kurz vor ihrem Eintritt ins Kloster eine Affäre mit einem Mann gehabt haben soll.«

Hadley betrachtete Olivia Morrows Gesicht. Selbst die üblichen Anzeichen des Alters, die Falten um Augen und Mund, die schlaffe Haut an ihrem Hals, die Art und Weise, wie sie sich vorbeugte, um zu hören, was er sagte, konnten nicht von ihren feinen Gesichtszügen ablenken. Sein Vater war der Kardiologe ihrer Mutter gewesen, und nach der Pensionierung seines Vaters war er an dessen Stelle getreten. Mittlerweile war er Anfang fünfzig, und solange er sich zurückerinnern konnte, hatte die Familie Morrow eine Rolle in seinem Leben gespielt. Als Kind hatte er Olivia eine geradezu ehrfürchtige Scheu entgegengebracht. Schon damals war ihm aufgefallen, dass sie immer ganz ausgezeichnet gekleidet war. Erst später erfuhr er, dass sie zu dieser Zeit, als sie noch als einfache Verkäuferin bei dem berühmten Kaufhaus B. Altman’s in der Fifth Avenue gearbeitet hatte, ihre stilvolle Kleidung zu Schleuderpreisen im Schlussverkauf erworben hatte. Sie hatte nie geheiratet und war schließlich vor vielen Jahren als Vorstandsmitglied bei Altman’s in Rente gegangen.

Ihrer älteren Cousine Catherine war er nur einige Male begegnet. Damals war sie bereits eine Berühmtheit gewesen, die Nonne, die sieben Krankenhäuser für behinderte Kinder gegründet hatte – Forschungseinrichtungen, um neue Heilmethoden zu entwickeln oder zumindest das Leid jener zu mildern, die an körperlichen oder geistigen Behinderungen litten.

»Wissen Sie, dass viele von einem Wunder reden, da durch Catherines Fürsprache ein Kind mit Hirntumor geheilt wurde?«, fragte Olivia. »Man erwägt, sie seligzusprechen.«

Clay Hadley schluckte. »Nein, davon habe ich noch nichts gehört.« Er war kein Katholik, aber ihm war zumindest so viel klar, dass Schwester Catherine in diesem Fall von der Kirche vielleicht einmal heiliggesprochen und von den Gläubigen verehrt werden könnte.

»Das heißt natürlich, man wird sich eingehend mit der Tatsache befassen, dass sie ein Kind zur Welt gebracht hat, und im Zuge dessen könnten die boshaften Gerüchte wieder aufleben. Mit ihrer Seligsprechung wäre es dann wohl vorbei«, kam es aufgebracht von Olivia.

»Olivia, es hatte schon einen Grund, warum weder Schwester Catherine noch Ihre Mutter jemals den Vater des Kindes genannt haben.«

»Catherine hat ihn verschwiegen, ja. Aber meine Mutter nicht.«

Olivia stützte sich mit den Armen auf die Lehnen und gab Clay damit zu verstehen, dass sie sich erheben wollte. Er stand auf und kam trotz seiner stattlichen Leibesfülle flotten Schritts um den Schreibtisch herum. Von einigen seiner Patienten wurde er als der »kugelrunde Kardiologe« bezeichnet. Augenzwinkernd riet er diesen ausnahmslos: »Sie sollten sich an mir kein Beispiel nehmen, sondern abnehmen. Ich muss nur ein Foto von einem Eis sehen, schon habe ich fünf Pfund zugelegt. Damit muss ich leider leben.« Diese kleine Vorstellung hatte er mittlerweile vervollkommnet. Jetzt nahm er Olivias Hand und gab ihr einen sachten Kuss.

Unwillkürlich zog sie den Kopf zurück, als seine allmählich grau werdenden Bartstoppeln über ihre Wange strichen, dann – um sich nichts anmerken zu lassen – erwiderte sie den Kuss. »Clay, es bleibt unter uns, was mir bevorsteht. Den wenigen noch Verbliebenen, die es wissen müssen, werde ich es bald erzählen.« Sie hielt inne, bevor sie lächelnd fortfuhr: »Nun, es ist wohl besser, wenn ich es ihnen sehr bald erzähle. Zum Glück ist aus meiner Familie niemand mehr am Leben.« Abrupt brach sie ab, als ihr bewusst wurde, dass Letzteres nicht der Wahrheit entsprach.

Auf dem Totenbett hatte ihre Mutter ihr offenbart, dass sich Catherine, nachdem sie schwanger geworden war, ein Jahr in Irland aufgehalten habe, wo sie einen Sohn zur Welt brachte. Dieser wurde von den Farrells adoptiert. Die Oberin des Ordens, dem Catherine beigetreten war, hatte das amerikanische Ehepaar aus Boston persönlich ausgewählt. Der Sohn wurde auf den Namen Edward getauft und wuchs in Boston auf.

Seitdem habe ich deren Leben aus der Ferne verfolgt, dachte Olivia. Edward hat erst im Alter von zweiundvierzig Jahren geheiratet. Seine Frau ist schon lange tot, und er selbst ist vor fünf Jahren gestorben. Ihre Tochter Monica ist jetzt einunddreißig und arbeitet als Kinderärztin im Greenwich Village Hospital. Catherine war meine Cousine, ihre Enkeltochter ist meine Urgroßnichte und damit die ganze Familie, die mir geblieben ist. Aber sie weiß von mir nicht das Geringste.

Sie löste sich aus Clays Griff. »Monica ist ganz nach ihrer Großmutter geraten, sie widmet ihr Leben den Säuglingen und Kindern. Ist Ihnen klar, was das viele Geld für sie bedeuten würde?«

»Olivia, glauben Sie nicht an Wiedergutmachung? Schauen Sie sich doch an, was der Vater von Catherines Kind aus seinem Leben gemacht hat. Denken Sie an die vielen Leben, die er gerettet hat. Und was ist mit der Familie seines Bruders? Sie sind allseits geschätzte Wohltäter. Bedenken Sie, was es für sie bedeuten würde, wenn das alles an die Öffentlichkeit gerät.«

»Ich denke daran, keine Sorge, und genau das werde ich abwägen müssen. Monica Farrell ist die rechtmäßige Erbin der Einkünfte aus den Patentrechten. Alexander Gannon, ihr Großvater, hat in seinem Testament sämtliche Vermögenswerte seinen leiblichen Nachkommen vermacht, und nur für den Fall, dass es keine geben sollte, wäre sein Bruder Nutznießer. Ich werde mich bei Ihnen melden, Clay.«

Dr. Clay Hadley wartete, bis die Tür zu seiner Praxis geschlossen war, dann griff er zum Telefon und wählte eine Nummer, die nur sehr wenigen Menschen bekannt war. Er sparte sich jedes Vorgeplänkel, als sich die vertraute Stimme meldete. »Genau wie ich befürchtet habe. Ich kenne Olivia ... sie wird reden.«

»Das können wir nicht zulassen«, erwiderte die Person am anderen Ende der Leitung kühl. »Sorge dafür, dass es nicht so weit kommt. Warum hast du ihr nichts gegeben? Bei ihrem Gesundheitszustand würde ihren Tod niemand hinterfragen.«

»Ob du es glaubst oder nicht, es ist nicht so einfach, jemanden zu töten. Und was, wenn sie die Beweise irgendwo hinterlegt hat, bevor ich sie aufhalten kann?«

»Dann müssen wir auf Nummer sicher gehen. Ich sage es ungern, aber heutzutage kommt es in Manhattan leider nur allzu oft vor, dass auf eine attraktive junge Frau ein tödlicher Überfall verübt wird. Ich werde mich sofort darum kümmern.«

2

Zitternd vor Kälte stellte sich Dr. Monica Farrell mit Tony und Rosalie Garcia auf die Stufen zum Greenwich Village Hospital, um ein Foto machen zu lassen. Tony hatte Carlos auf dem Arm, seinen zweijährigen Sohn, der beinahe an Leukämie gestorben wäre, nun aber als geheilt galt.

Monica erinnerte sich noch gut an den Tag, an dem sie bereits ihre Praxis verlassen wollte und plötzlich eine völlig aufgelöste Rosalie in der Leitung hatte. »Frau Doktor, das Baby hat Flecken auf dem Bauch.« Carlos war damals sechs Wochen alt gewesen. Noch bevor Monica ihn untersuchte, fürchtete sie, dass es sich um Kinderleukämie handeln könnte. Der schreckliche Verdacht wurde nach verschiedenen Tests bestätigt, und Carlos’ Überlebenschancen wurden im besten Fall auf fünfzig Prozent beziffert. Monica hatte den verzweifelten jungen Eltern versprochen, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, außerdem war Carlos bereits ein zäher kleiner Kerl, der sich so schnell nicht unterkriegen lassen würde.

»Und jetzt eines, auf dem Sie Carlos halten, Dr. Farrell«, befahl Tony und ließ sich von dem Passanten, der sich bereitwillig als Fotograf zur Verfügung gestellt hatte, die Kamera geben.

Monica nahm den Zweijährigen entgegen, der sich aus Leibeskräften wehrte und beschlossen zu haben schien, dass er lange genug gelächelt hatte. Na, das wird ein tolles Foto werden, dachte sie sich, winkte in die Kamera und hoffte, Carlos würde ihrem Beispiel folgen. Stattdessen zog er an der Haarspange in ihrem Nacken, worauf sich ihre langen dunkelblonden Haare lösten und ihr über die Schultern fielen.

Nach der Verabschiedung und einem »Gott segne Sie, Dr. Farrell, ohne Sie hätten wir es nie geschafft! Wir sehen uns bei der Nachuntersuchung« winkten ihr die Garcias aus dem Fenster des Taxis noch einmal zu und fuhren davon. Monica kehrte ins Krankenhaus zurück, ordnete auf dem Weg zu den Fahrstühlen die losen Strähnen und befestigte die Haarspange.

»Lassen Sie es doch so. Es sieht gut aus.« Dr. Ryan Jenner, ein Neurochirurg, der einige Jahre vor Monica ebenfalls an der Georgetown University in Washington seine Ausbildung absolviert hatte, kam auf sie zu. Er gehörte erst seit kurzem zum Personal am Greenwich Village, und bislang hatten sie immer nur ein paar Worte gewechselt, wenn sie sich zufällig begegnet waren. Jenner trug Handschuhe sowie OP-Haube und kam offensichtlich von einer Operation oder war auf dem Weg dorthin.

Monica lachte und drückte auf den Knopf für den Aufzug nach oben. »Ja, klar. Und so sollte ich dann vielleicht auch in Ihrem OP-Saal auftauchen.«

Die Tür zu einem Aufzug nach unten ging auf.

»Vielleicht hätte ich nichts dagegen«, erwiderte Jenner und trat ein.

Vielleicht hätte er durchaus etwas dagegen. Wahrscheinlich würde ihn sogar der Schlag treffen, dachte sich Monica, als sie in den schon fast vollen Fahrstuhl trat. Trotz seines jugendlichen Gesichts und seines breiten Lächelns galt Ryan Jenner als Perfektionist, der nicht den kleinsten Fehler verzieh. Es war undenkbar, dass man in seinem OP-Saal ohne Kopfbedeckung erschien.

Das Erste, was Monica hörte, als sie auf der Kinderstation ausstieg, war das Schreien eines Kleinkinds. Sie wusste sofort, um wen es sich handelte: um die neunzehn Monate alte Sally Carter. Deren alleinstehende Mutter kam nur selten zu Besuch, was Monica zur Weißglut trieb. Bevor sie das Kind zu beruhigen versuchte, blieb sie an der Schwesternstation stehen. »Hat sich die werte Mami mal blicken lassen?«, fragte sie und bedauerte sofort ihren spöttischen Tonfall.

»War seit gestern Morgen nicht mehr da«, antwortete Rita Greenberg, die langjährige Oberschwester der Station, die ebenso verärgert war wie Monica. »Aber sie hat es tatsächlich geschafft, vor einer Stunde anzurufen und uns mitzuteilen, dass sie von der Arbeit nicht weg kann. Sie hat nachgefragt, ob Sally eine gute Nacht hinter sich hat. Frau Doktor, ich sage Ihnen eines, irgendetwas stimmt da nicht. Jedes Stofftier im Spielzimmer hat mehr mütterliche Gefühle als diese Frau. Wollen Sie Sally heute wirklich entlassen?«

»Nicht, solange ich nicht weiß, wer sich um sie kümmern wird, wenn die Mutter immer so beschäftigt ist. Sally ist mit schlimmen Asthmaanfällen in die Notaufnahme eingeliefert worden. Ich weiß nicht, was sich die Mutter oder die Babysitterin dabei gedacht haben, als sie so lange gewartet haben, bis sie medizinische Hilfe in Anspruch nahmen.«

Zusammen mit der Schwester trat Monica in das kleine Zimmer, in dem nur ein Kinderbettchen stand. Sally war hierher verlegt worden, nachdem durch ihr Weinen die anderen Babys ständig geweckt wurden. Sally hatte sich aufgerichtet und hielt sich an den Stäben fest, die hellbraunen Locken klebten ihr am tränennassen Gesicht.

»Sie steigert sich noch in einen weiteren Asthmaanfall hinein«, sagte Monica und zog das Kleinkind sanft aus dem Gitterbett. Sally klammerte sich an ihr fest, ihr Schreien ließ augenblicklich nach, wurde zu einem unterdrückten Schluchzen und hörte schließlich ganz auf.

»Mein Gott, wie sehr sie an Ihnen hängt, Frau Doktor, aber Sie haben ja auch ein Händchen für die Kleinen«, sagte Rita Greenberg. »Keiner kann mit ihnen so gut umgehen wie Sie.«

»Sally weiß, dass sie und ich gute Freundinnen sind«, sagte Monica. »Geben wir ihr etwas warme Milch, und ich wette, sie beruhigt sich wieder.«

Monica wiegte das kleine Kind in den Armen, während sie auf die Rückkehr der Schwester wartete. Das, dachte sie, wäre eigentlich die Aufgabe deiner Mutter. Wie viel Aufmerksamkeit bekommst du zu Hause von ihr? Sally, deren winzige Händchen an Monicas Hals lagen, fielen die Augen zu.

Monica legte das schläfrige Kind ins Bett, wechselte ihr die nasse Windel, drehte sie auf die Seite und deckte sie zu. Greenberg kam mit einer warmen Milchflasche zurück, aber bevor Monica sie dem Kind gab, strich sie mit einem Wattestäbchen über die Innenseite von Sallys Wange.

In der vergangenen Woche war ihr aufgefallen, dass sich Sallys Mutter bei ihren seltenen Besuchen immer einen Becher Kaffee aus dem Foyer mitbrachte und ihn jedes Mal noch halbvoll auf dem Nachttisch neben dem Kinderbettchen stehen ließ.

Nur so eine Ahnung, redete sich Monica ein, und natürlich weiß ich, dass ich kein Recht dazu habe. Aber ich werde Miss Carter darüber in Kenntnis setzen, dass ich sie unbedingt sprechen muss, bevor ich Sally entlasse. Und nur allzu gern würde ich die DNS des Babys mit der DNS an der Kaffeetasse abgleichen. Angeblich ist sie die leibliche Mutter. Warum sollte sie lügen, wenn sie es nicht wäre?

Dann warf sie das Wattestäbchen aber doch in den Mülleimer. Nein, sie hatte kein Recht, einen heimlichen DNS-Abgleich vornehmen zu lassen.

Nachdem sie noch bei ihren anderen Patienten vorbeigeschaut hatte, machte sie sich auf den Weg in ihre Privatpraxis in der East Fourteenth Street, wo die Nachmittagssprechstunde auf sie wartete. Es war schließlich halb sieben, als sie sich, bemüht, sich ihre Müdigkeit nicht anmerken zu lassen, von ihrem letzten Patienten verabschiedete, einem achtjährigen Jungen mit einer Ohrenentzündung.

Nan Rhodes, ihre Sprechstundenhilfe und Sekretärin, räumte ihren Schreibtisch auf. Sie war bereits über sechzig, mollig und mit unendlicher Geduld gesegnet, egal, wie hektisch es im Wartezimmer zuging. Jetzt stellte sie die Frage, von der Monica gehofft hatte, sie könnte sie noch einen weiteren Tag aufschieben.

»Frau Doktor, was ist nun mit der Anfrage des bischöflichen Ordinariats in New Jersey, das Sie gebeten hat, als Zeugin bei der Seligsprechung dieser Nonne auszusagen?«

»Nan, ich glaube nicht an Wunder. Das wissen Sie. Ich habe ihnen die Kopien der CT und MRT geschickt. Die sprechen für sich selbst.«

»Aber Sie waren doch auch der Meinung, dass Michael O’Keefe mit einem Hirntumor in einem so fortgeschrittenen Stadium seinen fünften Geburtstag nicht mehr erleben würde, oder?«

»Richtig.«

»Sie haben seinen Eltern vorgeschlagen, ihn in die Knowles Clinic in Cincinnati zu bringen, weil diese Klinik als die beste Forschungseinrichtung auf diesem Gebiet gilt. Dabei haben Sie gewusst, dass man Ihre Diagnose dort vollauf bestätigen wird.«

»Nan, wir wissen beide, was ich gesagt und geglaubt habe«, erwiderte Monica. »Was soll dieses Frage-und-Antwort-Spiel?«

»Frau Doktor, Sie haben mir erzählt, Michaels Vater war so aufgewühlt, dass er beinahe zusammengebrochen wäre, als Sie den Eltern die Diagnose mitgeteilt haben. Seine Mutter aber soll gesagt haben, dass ihr Sohn nicht sterben wird. Sie wollte sich nämlich auf einen Gebetskreuzzug zu Schwester Catherine begeben, der Nonne, die die Krankenhäuser für die behinderten Kinder gegründet hat.«

»Nan, wie viele Menschen wollen sich partout nicht damit abfinden, dass manche Krankheiten tödlich sind? Wir sehen es doch jeden Tag im Krankenhaus. Diese Patienten wollen dann eine zweite und dritte Meinung einholen, sie wollen noch mehr Untersuchungen und erklären sich bereit, riskante Behandlungsmethoden über sich ergehen zu lassen. Manchmal kann man das Unvermeidliche ein wenig hinauszögern, letzten Endes aber läuft es immer auf dasselbe hinaus.«

Nans Miene wurde sanfter, während sie die schlanke junge Frau betrachtete, die ihre Müdigkeit nun nicht mehr verbergen konnte. Sie wusste, Monica hatte die Nacht im Krankenhaus verbracht, nachdem einer ihrer kleinen Patienten einen Rückfall erlitten hatte. »Frau Doktor, ich weiß, es steht mir nicht zu, Ihnen so zuzusetzen, aber ein paar der Ärzte in Cincinnati werden bezeugen, dass Michael O’Keefe eigentlich nicht hätte überleben dürfen. Und heute ist er völlig krebsfrei. Meiner Meinung nach ist es Ihre heilige Pflicht, zu bestätigen, dass Sie seiner Mutter damals gesagt haben, er werde seine Krankheit nicht überleben. Denn das war der Zeitpunkt, als sie Schwester Catherine um Hilfe angerufen hat.«

»Nan, ich habe heute Morgen Carlos Garcia gesehen. Auch er ist krebsfrei.«

»Das ist nicht das Gleiche, das wissen Sie. Kinderleukämie lässt sich behandeln. Ein Hirntumor in diesem fortgeschrittenen Stadium nicht.«

Monica musste zwei Dinge einsehen. Zum einen war es zwecklos, sich mit Nan zu streiten, zum anderen wusste sie insgeheim selbst, dass ihre Sprechstundenhilfe Recht hatte. »Einverstanden, ich werde es tun«, sagte sie, »aber das wird dieser Möchtegern-Heiligen keinen Deut helfen. Wo soll ich meine Aussage abgeben?«

»Ein Monsignore der Diözese Metuchen in New Jersey möchte sich mit Ihnen treffen. Er hat nächsten Mittwochnachmittag vorgeschlagen. Zufällig habe ich an diesem Tag nach elf Uhr noch keinen Termin für Sie angenommen.«

»Dann soll es so sein«, gab sich Monica geschlagen. »Rufen Sie ihn an, und bestätigen Sie den Termin. Sind Sie mit allem fertig? Ich hole dann schon mal den Aufzug.«

»Der Aufzug ist schon da. Aber es gefällt mir, was Sie gerade gesagt haben.«

»Dass ich den Aufzug hole?«

»Nein, natürlich nicht. Ich meine dieses ›so soll es sein‹.«

»Was ist damit?«

»Nun, dieses ›so soll es sein‹ ist nichts anderes als die Übersetzung von ›Amen‹. Das passt doch in diesem Fall, meinen Sie nicht auch, Frau Doktor?«

3

Der Auftrag behagte ihm nicht unbedingt. Wenn in New York eine junge Ärztin verschwand, würde sich sofort die Klatschpresse darauf stürzen, und dann konnte man davon ausgehen, dass der Fall für jede Menge Schlagzeilen sorgen würde. Die Bezahlung war gut, seine Intuition aber riet ihm, abzulehnen. Sammy Barber war bislang nur einmal verhaftet, vor Gericht aber anschließend freigesprochen worden, weil er immer sehr vorsichtig vorging und seinen Opfern nie nah genug kam, um DNS-Spuren zu hinterlassen.

Seine haselnussbraunen Augen und sein scharfer Blick waren die hervorstechenden Merkmale in seinem schmalen Gesicht, das nicht ganz zu seinem kurzen, stämmigen Hals passen wollte. Er war zweiundvierzig Jahre alt, hatte muskelbepackte Arme, über die sich seine Sportjacke spannte, und arbeitete offiziell als Rausschmeißer in einem Nachtclub in Greenwich Village.

Sammy saß in einem Diner in Queens, vor ihm auf dem Tisch stand eine Tasse Kaffee, ihm gegenüber saß der Vertreter seines potenziellen Auftraggebers. Sammy, dem auch die kleinsten Dinge nicht entgingen, hatte sich bereits eine Meinung über ihn gebildet. Gut gekleidet, ungefähr Mitte fünfzig, vornehm, sehr gut aussehend. Silberne Manschettenknöpfe mit den Initialen D. L. Man hatte ihm gesagt, er müsse den Namen des Mannes nicht erfahren, die Telefonnummer sei völlig ausreichend, um mit ihm in Kontakt zu treten.

»Sammy, Sie sind kaum in der Position, um abzulehnen«, sagte Douglas Langdon höflich und leise. »Soweit ich weiß, können Sie mit Ihrem lausigen Job keine großen Sprünge machen. Außerdem muss ich Sie wohl nicht daran erinnern, dass Sie jetzt im Gefängnis wären, hätte nicht mein Cousin mehreren Geschworenen gut zugeredet.«

»Sie hätten sowieso nichts beweisen können«, erwiderte Sammy.

»Sie wissen nicht, was man hätte beweisen können, und zum anderen weiß man nie, wie die Geschworenen sich entscheiden.« Mit dem höflichen Ton war es nun vorbei. Langdon schob ihm ein Foto über den Tisch. »Das wurde heute Vormittag vor dem Krankenhaus im Village aufgenommen. Die Frau mit dem Kind ist Dr. Monica Farrell. Die Adressen ihrer Wohnung und ihrer Praxis stehen auf der Rückseite.«

Bevor Sammy irgendetwas anfasste, griff er zu der zerknüllten Papierserviette und nahm mit ihr das Foto in die Hand. Er hielt es unter die trübe Lampe am Tisch. »Hübsches Ding«, kommentierte er. Er drehte das Foto um und betrachtete die Adressen, dann gab er es, ohne dazu aufgefordert worden zu sein, Langdon zurück.

»Okay. Ich will das Bild nicht bei mir haben, falls ich von der Polizei angehalten werde. Aber ich werde mich darum kümmern.«

»Tun Sie das. Und schnell.« Langdon schob das Foto in die Gesäßtasche. Als er und Sammy aufstanden, fasste er erneut in die Tasche, zog seine Brieftasche heraus, entnahm ihr einen Zwanzig-Dollar-Schein und warf ihn auf den Tisch. Weder er noch Sammy bemerkten, dass sich der Schnappschuss mit der Brieftasche verhakt hatte und nun zu Boden flatterte.

»Vielen Dank, Mister«, rief Hank Moss, der junge Kellner, Langdon und Sammy noch hinterher, als sie durch die Drehtür nach draußen gingen. Erst beim Abräumen der Kaffeetassen fiel ihm das Foto auf. Sofort setzte er die Tassen ab und rannte zur Tür, doch keiner der Männer war zu sehen.

Wahrscheinlich brauchten sie es nicht mehr, dachte sich Hank, andererseits hatte der Typ wirklich ein ziemlich großes Trinkgeld gegeben. Er drehte das Bild um und entdeckte die beiden Adressen, eine in der East Fourteenth Street, die andere in der East Thirty-sixth Street. Bei der Adresse in der East Fourteenth war eine Suite-Nummer mit angegeben, bei der in der East Thirty-sixth eine Apartmentnummer. Hank musste an die Werbesendungen denken, die seine Eltern zu Hause in Brooklyn manchmal per Post bekamen. Okay, sagte er sich. Falls es irgendwie wichtig sein sollte, steck ich es in einen Umschlag, adressiere ihn einfach an den »Mieter« der Suite und schick es an die Adresse in der Fourteenth Street. Das ist wahrscheinlich das Büro des Typen, der das Foto verloren hat. Wenn es ihm wichtig ist, dann bekommt er es zurück.

Um neun Uhr, als seine Schicht zu Ende war, trat er in den kleinen Bürobereich neben der Küche. »Was dagegen, wenn ich mir einen Umschlag und eine Briefmarke nehme, Lou?«, fragte er den Besitzer des Diners, der gerade die Kassenquittungen abrechnete. »Jemand hat was liegenlassen.«

»Klar. Nur zu. Ich zieh dir die Briefmarke dann vom nächsten Lohn ab«, grummelte er und verzog das Gesicht zu einem Lächeln. Eigentlich war er ein eher mürrischer Mensch, aber er mochte Hank. Der Junge war fleißig und konnte mit den Kunden. »Hier, nimm einen von denen.« Er reichte ihm einen weißen Umschlag. Hank kritzelte die Adresse darauf und nahm die Briefmarke, die Lou ihm hinhielt.

Zehn Minuten später, auf dem Heimweg zu seinem Studentenheim in der St. John’s University, warf er den Umschlag in einen Briefkasten.

4

Olivia gehörte zu den ersten Mietern des Schwab House an der Westside von Manhattan. Fünfzig Jahre später wohnte sie immer noch dort. Das Apartmentgebäude war auf einem Grundstück errichtet, auf dem früher das Herrenhaus eines reichen Industriellen gestanden hatte. Der Bauherr hatte dessen Namen übernommen und gehofft, dass einiges vom Glanz des herrschaftlichen Gebäudes auf seinen lang gestreckten Neubau abstrahlen würde.

Olivias erste Wohnung war ein Studio mit Blick auf die West End Avenue gewesen. Während ihres steten Aufstiegs im Aufsichtsrat von B. Altman’s begann sie sich nach einer größeren Wohnung umzusehen. Ursprünglich hatte sie vorgehabt, an die Eastside zu ziehen, als jedoch im Schwab House ein Apartment mit zwei Schlafzimmern und einem herrlichen Blick auf den Hudson frei wurde, zog sie nur allzu gern dort ein. Später wurde das Gebäude in Eigentumswohnungen umgewandelt, und sie erwarb das Apartment, weil es ihr das Gefühl gab, ein richtiges Zuhause zu haben. Bevor sie und ihre Mutter Regina nach Manhattan gekommen waren, hatten sie in einem kleinen Cottage hinter dem Haus der Gannon-Familie auf Long Island gewohnt. Ihre Mutter hatte dort als Haushälterin gearbeitet.

Ihre Secondhandmöbel ersetzte sie im Lauf der Jahre nach und nach durch ausgewählte neue Stücke. Ihr natürliches Stilempfinden trug dazu bei, dass sie einen Blick für Kunst und Design entwickelte. Die cremefarbenen Wände waren der passende Hintergrund für die Gemälde, die sie bei Wohnungsauflösungen erstand. Die Läufer und Teppiche in Wohn- und Schlafzimmer sowie der Bibliothek gaben die Farbpalette vor, nach der sie die Sofa- und Sesselbezüge und Vorhänge auswählte.

Jedem Besucher drängte sich unweigerlich immer der gleiche Eindruck auf: Die Wohnung war eine Oase der Wärme und Geborgenheit und vermittelte das Gefühl von Ruhe und Frieden.

Olivia liebte die Wohnung. In all den aufreibenden Jahren bei Altman’s war es ihr immer ein großer Trost gewesen, wenn sie sich am Ende des Tages in ihrem breiten Clubsessel niederlassen und mit einem Glas Wein in der Hand den Sonnenuntergang betrachten konnte.

Die Wohnung war ihr Zufluchtsort, war es immer schon gewesen, so auch in der größten Krise ihres Lebens vor nun beinahe vierzig Jahren, als sie sich mit gebrochenem Herzen eingestehen musste, dass Alex Gannon, der von ihr so sehr geliebte brillante Arzt und Wissenschaftler, in ihrer gemeinsamen Beziehung nie mehr gesehen hatte als eine enge Freundschaft ... Er hatte immer nur Catherine gewollt.

Nach ihrem Termin bei Clay ging sie sofort nach Hause. Die Müdigkeit, derentwegen sie ihn zwei Wochen zuvor konsultiert hatte, hatte sie fest im Griff. Obwohl es ihr schwerfiel, zwang sie sich dazu, ihre Oberbekleidung abzulegen und einen warmen Bademantel in einem blauen Farbton anzuziehen, der – wie sie eitel genug war zu bemerken  – exakt zur Farbe ihrer Augen passte.

Als kleine und unangebrachte Auflehnung gegen ihr Schicksal beschloss sie, sich nicht ins Bett zu legen, sondern auf die Couch im Wohnzimmer. Clay hatte sie davor gewarnt, dass mit dieser erschreckenden Müdigkeit zu rechnen sei. »Bis Sie eines Tages das Gefühl haben, Sie kommen gar nicht mehr hoch.«

Aber so weit war sie noch nicht, dachte Olivia und griff nach der Afghandecke, die immer auf der Ottomane am Fuß ihres Clubsessels lag. Sie setzte sich auf die Couch, rückte sich eines der Zierkissen zurecht, legte sich hin und zog die Decke über sich. Sie seufzte erleichtert.

Zwei Wochen, dachte sie. Zwei Wochen. Vierzehn Tage. Wie viele Stunden sind das? Es spielt keine Rolle, dachte sie, während sie in den Schlaf dämmerte.

Als sie aufwachte, war es nach den Schatten im Zimmer zu schließen später Nachmittag. Vor dem Termin bei Clay habe ich nur eine Tasse Tee zu mir genommen, dachte sie. Ich habe keinen Hunger, aber ich muss etwas essen. Als sie jedoch die Decke abstreifte und sich mühsam erhob, überkam sie plötzlich das starke Bedürfnis, erneut Catherines Dokumente in Augenschein zu nehmen. Irgendwie fürchtete sie, sie könnten aus dem Safe im Arbeitszimmer verschwunden sein.

Aber dort lagen sie noch in dem Ordner, den ihr ihre Mutter nur Stunden vor ihrem Tod gegeben hatte. Catherines Briefe an Mutter, dachte Olivia mit zitternden Lippen; die Briefe der Mutter Oberin an Catherine; eine Kopie von Edwards Geburtsurkunde; der leidenschaftliche Brief, den er ihrer Mutter gegeben hatte, damit sie ihn an Catherine weiterleitete.

»Olivia.«

Jemand hielt sich in der Wohnung auf und kam im Flur in ihre Richtung. Clay. Sie machte sich nicht mehr die Mühe, die Briefe und die Geburtsurkunde in den Ordner zu stecken, sondern warf sie einfach in den Safe, schloss die Tür und drückte auf den Knopf, der sie automatisch verriegelte.

Sie trat aus dem Arbeitszimmer. »Ich bin hier, Clay.« Sie versuchte gar nicht, das Missfallen in ihrer Stimme zu verbergen.

»Olivia, ich habe mir Sorgen um Sie gemacht. Sie haben versprochen, sich am Nachmittag zu melden.«

»Ich kann mich nicht erinnern, so etwas versprochen zu haben.«

»Doch, das haben Sie«, erwiderte Clay freundlich.

»Sie haben mir zwei Wochen gegeben. Ich gehe doch davon aus, dass seitdem nicht mehr als sieben Stunden vergangen sind. Warum haben Sie sich nicht beim Portier unten angemeldet?«

»Weil ich gehofft habe, Sie würden schlafen. Dann hätte ich wieder gehen können, ohne Sie zu stören. Nein, warum soll ich Ihnen nicht die Wahrheit sagen? Hätte ich mich ankündigen lassen, hätten Sie mich wahrscheinlich nicht empfangen. Aber ich wollte Sie sehen. Was ich Ihnen heute Morgen gesagt habe, muss ein schwerer Schlag für Sie gewesen sein.«

Als Olivia nichts darauf erwiderte, fügte Clay Hadley einfühlsam hinzu: »Olivia, es hat einen Grund, warum Sie mir den Schlüssel und die Erlaubnis gegeben haben, Ihre Wohnung zu betreten, falls ich befürchte, Sie könnten sich in einer Notlage befinden.«

Olivias Unmut über sein Eindringen ebbte langsam ab. Clay hatte völlig Recht. Hätte er vorher angerufen, hätte ich ihm gesagt, dass ich mich ausruhen möchte, dachte sie. Dann erst bemerkte sie, worauf er die ganze Zeit schon starrte.

Sein Blick war auf den Ordner in ihrer Hand gerichtet.

Und von seinem Standort aus konnte er deutlich das Wort erkennen, das ihre Mutter darauf geschrieben hatte.

Catherine.

5

Monica wohnte im Erdgeschoss eines renovierten Stadthauses an der East Thirty-sixth Street. In der von Bäumen gesäumten Straße hatte sie oft das Gefühl, sie befände sich im neunzehnten Jahrhundert, als die Sandsteinhäuser noch allesamt private Wohnhäuser gewesen waren. Ihr Apartment lag an der Rückseite des Gebäudes, so dass sie exklusiv in den Genuss der kleinen Terrasse und des Gartens kam. Bei warmem Wetter saß sie gern im Morgenmantel auf der Terrasse und nahm dort ihren Kaffee zu sich oder trank am Abend noch ein Glas Wein.

Nach dem Gespräch mit der Sprechstundenhilfe über Michael O’Keefe, das Kind mit dem Hirntumor, beschloss sie, zu Fuß nach Hause zu gehen, wie sie es so oft tat. Die eine Meile von ihrer Praxis zur Wohnung tat ihr gut, sie hatte ein wenig Bewegung und bekam den Kopf frei.

Ebenso entspannend war es, sich am Ende des Tages noch etwas zu kochen. Ihre kulinarischen Künste, die sie sich zum größten Teil selbst beigebracht hatte, wurden unter ihren Freunden gerühmt. Doch weder der Spaziergang noch die köstliche Pasta und der Salat, die sie sich zubereitet hatte, konnten das beunruhigende Gefühl vertreiben, dass eine dunkle Wolke über ihr schwebte.

Es geht um Sally, dachte sie sich. Morgen muss ich sie entlassen. Und was beweist es schon, wenn ich die DNS abgleiche und wirklich herausfinden sollte, dass Miss Carter nicht die leibliche Mutter ist? Mein Vater war auch ein Adoptivkind. An seine Eltern kann ich mich kaum erinnern, aber er hat immer gesagt, dass er sich nicht vorstellen kann, von irgendjemand anderem aufgezogen worden zu sein. Er hat dabei immer Teddy Roosevelts Tochter Alice zitiert, die zwei Jahre alt gewesen war, als der verwitwete Roosevelt erneut geheiratet hatte. Auf ihre Stiefmutter angesprochen, hatte Alice entschieden erwidert: »Sie war die einzige Mutter, die ich kannte oder überhaupt kennen wollte.«

Dennoch und trotz der Liebe, die er seinen Adoptiveltern entgegenbrachte, hat Dad sich immer Gedanken über seine leiblichen Eltern gemacht und sich danach gesehnt, sie kennenzulernen. In seinen letzten Jahren war er ganz besessen davon, erinnerte sich Monica.

Sally war bei ihrer Einlieferung in die Notaufnahme schrecklich krank gewesen, es gab allerdings keinerlei Anzeichen von Misshandlung oder Vernachlässigung. Und Renée Carter war sicherlich nicht die einzige Mutter, die ihr Kind der Obhut eines Babysitters oder eines Kindermädchens anvertraute.

Ebenfalls Anlass zur Sorge gab die bevorstehende Zeugenaussage zur Heilung von Michael O’Keefes Hirntumor. Ich glaube nicht an Wunder, dachte Monica trotzig und musste sich gleichzeitig eingestehen, dass Michael todkrank gewesen war, als sie ihn untersucht hatte.

Sie sah sich um. Sie hatte ein Tässchen Mokka und eine frisch aufgeschnittene Ananas vor sich und fand wie immer Trost in ihrer Umgebung.

Wegen des kühlen Abends hatte sie den Gaskamin angemacht. Davor stand der kleine runde Esstisch und der Polsterstuhl, auf dem sie saß. Das Licht der flackernden Flammen fiel auf den alten Aubusson-Teppich, der der ganze Stolz ihrer Mutter gewesen war.

Als das Telefon klingelte, empfand sie es als unwillkommene Störung. Obwohl sie todmüde war, sprang sie auf und eilte durchs Zimmer, es konnte sich schließlich um einen Anruf aus dem Krankenhaus handeln, bei dem es um einen ihrer Patienten ging. Sie hatte bereits den Hörer in der Hand und sich als »Dr. Farrell« gemeldet, bevor sie bemerkte, dass ihre Privatnummer gewählt worden war.

»Dr. Farrell geht es gut, hoffe ich«, war eine spöttische Männerstimme zu hören.

»Es geht mir sehr gut, Scott«, antwortete Monica kühl und verkrampfte sich beim Klang von Scott Altermans Stimme.

Der spöttische Ton verschwand. »Monica, Joy und ich haben uns getrennt. Es war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Das sehen wir jetzt beide ein.«

»Das tut mir leid«, sagte Monica. »Aber du verstehst hoffentlich, dass das absolut nichts mit mir zu tun hat.«

»Es hat ausschließlich mit dir zu tun, Monica. Ich habe mich bei einer Personalagentur gemeldet. Eine erstklassige Kanzlei in der Wall Street hat mir das Angebot gemacht, als Partner einzusteigen. Ich habe zugesagt.«

»In dem Fall ist dir hoffentlich bewusst, dass in New York City acht oder neun Millionen Menschen leben. Freunde dich mit allen an, aber lass mich in Ruhe.« Sie legte auf. Kurz darauf war sie immer noch viel zu aufgewühlt, um sich wieder hinzusetzen, und so räumte sie den Tisch ab und trank die Tasse Mokka im Stehen an der Spüle.

6

Nachdem sich Nan Rhodes am Montagabend vor der Praxis von Monica verabschiedet hatte, nahm sie den First-Avenue-Bus, um sich mit vier ihrer Schwestern zu ihrem monatlichen gemeinsamen Essen in Neary’s Pub in der Fifty-seventh Street zu treffen.

Nan war seit sechs Jahren verwitwet, ihre Familie lebte in Kalifornien, und ihre Arbeitsstelle in der Praxis hielt sie für ein Geschenk des Himmels. Sie mochte Monica Farrell und sprach bei den Treffen mit ihren Schwestern oft über sie. Sie selbst war eines von acht Kindern und klagte daher regelmäßig darüber, dass Dr. Farrell keine Geschwister hatte und ihr Vater und ihre Mutter, ebenfalls Einzelkinder, bereits Anfang vierzig gewesen waren, als sie geboren wurde, und mittlerweile nicht mehr lebten.

Auch heute Abend, an ihrem üblichen Ecktisch im Neary’s, kam Nan bei den Cocktails, die sie sich als Aperitif genehmigten, auf das Thema zu sprechen. »Ich habe Dr. Farrell hinterhergesehen, als ich auf den Bus gewartet habe. Die Ärmste, dachte ich mir, hat so einen langen Tag hinter sich, und keine Mutter und keinen Dad, die anrufen könnten, damit sie sich mit ihnen austauschen kann. Und was für eine Schande, dass in der Geburtsurkunde ihres Vaters nur die Namen von dessen Adoptiveltern eingetragen sind, Anne und Matthew Farrell. Die richtigen Eltern haben schon dafür gesorgt, dass sie nicht mehr ausfindig zu machen sind.«

Die Schwestern nickten. »Dr. Farrell sieht so kultiviert und vornehm aus. Wahrscheinlich stammt ihre Großmutter aus einer guten Familie, vielleicht sogar aus einer amerikanischen«, schlug Peggy, Nans jüngste Schwester, vor. »Wenn damals eine unverheiratete Frau schwanger geworden ist, hat man sie fortgeschickt, bis sie das Kind zur Welt gebracht hat. Das Baby ist dann zur Adoption freigegeben worden, und niemand hat je etwas daraus gelernt. Heutzutage posaunt jedes unverheiratete Mädchen es auf Twitter oder Facebook heraus, wenn es schwanger ist.«

»Ich weiß, dass Dr. Farrell viele Freunde hat.« Nan seufzte, als sie die Speisekarte aufschlug. »Die Menschen mögen sie, aber das ist wohl nicht das Gleiche, oder? Egal, was ihr sagt, Blut ist eben dicker als Wasser.«

Ihre Schwestern nickten allesamt ernst. Peggy bemerkte daraufhin, dass Monica Farrell eine hübsche junge Frau sei und es wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit sein dürfte, bis sie einen Mann kennenlernte.

Nachdem sie dieses Thema erschöpfend behandelt hatten, brachte Nan den nächsten Punkt zur Sprache. »Erinnert ihr euch noch, als ich von dieser Nonne erzählt habe, von Schwester Catherine, die seliggesprochen werden soll, weil ein unheilbar an Krebs erkrankter Junge wieder gesund wurde, nachdem dessen Mutter zu Catherine gebetet hat?«

Sie erinnerten sich alle. »Er war Dr. Farrells Patient, oder?«, fragte Rosemary, die älteste Schwester.

»Ja. Er heißt Michael O’Keefe. Die Kirche glaubt mittlerweile, genügend Beweise dafür zusammengetragen zu haben, dass es sich wirklich um ein Wunder handelt. Und erst heute Nachmittag habe ich Dr. Farrell dazu überreden können, eine Aussage darüber abzugeben, was die Mutter des Jungen gemacht hat. Als sie nämlich erfahren hat, dass er unheilbar krank sei, hat sie nur gesagt, nein, er wird nicht sterben, weil ich mich auf einen Gebetskreuzzug zu Schwester Catherine begeben will.«

»Wenn die Mutter das wirklich gesagt hat, warum will Dr. Farrell es dann nicht bezeugen?«, fragte Ellen, die mittlere Schwester.

»Weil sie Ärztin und Wissenschaftlerin ist und am liebsten immer noch beweisen möchte, dass es medizinische Gründe für Michaels vollständige Heilung gibt.«

Liz, ihre Bedienung, die bereits seit dreißig Jahren im Neary’s arbeitete, kam zu ihrem Tisch. »Na, Mädels«, fragte sie fröhlich, »schon was ausgesucht?«

 

Nan fing gern bereits um sieben Uhr früh mit der Arbeit an. Sie brauchte wenig Schlaf, wohnte nur wenige Minuten von der Praxis entfernt in einem Apartmentgebäude, in das sie nach dem Tod ihres Mannes gezogen war. Wenn sie so früh kam, hatte sie genügend Zeit, um in aller Ruhe die Post durchzugehen und die endlosen Formulare der Krankenversicherungen zu bearbeiten.

Alma Donaldson, die Arzthelferin, erschien um Viertel vor neun, als Nan gerade die eingetroffene Post öffnete. Die attraktive schwarze Frau Ende dreißig mit dem warmherzigen Lächeln, der kaum etwas entging, arbeitete mit Monica zusammen, seitdem diese vier Jahre zuvor ihre Praxis eröffnet hatte. Beide zusammen ergaben ein unschlagbares Team, und die beiden Frauen hatten sich bald darauf angefreundet.

Noch während Alma ihre Jacke ablegte, bemerkte sie Nans sorgenvolles Gesicht. Nan saß an ihrem Schreibtisch, in der einen Hand hielt sie einen Umschlag, in der anderen ein Foto. Alma verkniff sich ihre sonst so herzliche Begrüßung und fragte stattdessen nur: »Stimmt etwas nicht, Nan?«

»Schau dir das mal an«, sagte Nan.

Alma kam hinter den Schreibtisch und blickte Nan über die Schulter. »Jemand hat ein Foto von der Frau Doktor gemacht, als sie den kleinen Carlos Garcia auf dem Arm hatte«, sagte Alma. »Ist es nicht süß?«

»Ja, aber es kam in einem ansonsten leeren Umschlag«, erwiderte Nan. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Eltern so etwas schicken, ohne eine Notiz beizulegen. Und schau dir das an.« Sie drehte das Foto um. »Jemand hat die Privatadresse und die der Praxis darauf geschrieben. Das kommt mir ziemlich seltsam vor.«

»Vielleicht hat der Absender nicht gewusst, an welche Adresse er es schicken soll«, kam es zögernd von Alma. »Ruf doch die Garcias an und frag nach, ob das Foto von ihnen stammt.«

»Ich gehe jede Wette ein, dass sie es nicht waren«, murmelte Nan, während sie zum Hörer griff.

Rosalie Garcia meldete sich beim ersten Klingeln. Nein, sie hatten das Foto nicht geschickt, und sie wisse auch nicht, wer dafür infrage käme. Sie habe vor, das Bild von der Frau Doktor mit Carlos zu rahmen und es ihr zukommen zu lassen, bislang aber habe sie noch nicht die Zeit gefunden. Nein, sie kenne auch nicht die Privatadresse der Ärztin.

Nan berichtete Alma von dem Telefonat, als Monica hereinkam. Die Arzthelferin und die Sprechstundenhilfe tauschten nur einen Blick aus, und auf Almas Nicken hin schob Nan das Foto in den Umschlag und ließ ihn in ihre Schreibtischschublade gleiten.

Später vertraute Nan Alma an: »Auf meinem Stockwerk wohnt ein pensionierter Polizist, der hat früher für die Staatsanwaltschaft gearbeitet. Ich werde ihm das Foto mal zeigen. Du wirst dich noch an meine Worte erinnern, Alma, aber das Bild hat irgendetwas Unheimliches an sich.«

»Steht es dir überhaupt zu, Dr. Farrell das Bild nicht zu zeigen?«, fragte Alma.

»Es ist an den ›Mieter‹ adressiert, nicht direkt an sie. Irgendwann werde ich es ihr zeigen, zuerst aber will ich hören, was John Hartman dazu zu sagen hat.«

 

Noch am selben Abend, nachdem Nan ihren Nachbarn angerufen hatte, ging sie zu dessen Wohnung. Hartman, ein siebzigjähriger Witwer mit eisengrauem Haar und dem wettergegerbten Gesicht des lebenslangen Golfers, bat sie herein, hörte sich ihre Entschuldigung an und nahm ihr Bedauern, dass sie ihn damit belästige, sehr gelassen auf. »Setzen Sie sich, Nan. Sie belästigen mich nicht.«

diese

Er streckte ihr die Hand hin. »Nan«, sagte er. »Überlassen Sie mir das Foto. Hat es außer Ihnen noch irgendjemand angefasst?«

»Nein.«

»Ich habe morgen nichts Besonderes vor. Ich werde es ins Präsidium bringen, mal sehen, ob sich irgendwelche Fingerabdrücke finden. Wahrscheinlich ist es reine Zeitverschwendung, aber man weiß ja nie. Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich von Ihnen Fingerabdrücke nehme, oder? Nur zum Abgleich. Dauert auch nur eine Minute. Ich habe in meinem Schreibtisch noch die nötigen Utensilien dafür.«

»Natürlich habe ich nichts dagegen.« Sie versuchte ihre wachsende Besorgnis zu verdrängen.

Keine zehn Minuten später war Nan wieder in ihrer Wohnung. John Hartman hatte versprochen, das Foto am darauffolgenden Abend zurückzubringen. »Und geben Sie es Dr. Farrell«, sagte er. »Es liegt an Ihnen, ob Sie ihr sagen wollen, dass Sie es mir gezeigt haben.«

»Ich weiß nicht recht, was ich tun soll«, hatte sie erwidert. Jetzt aber, als sie die Tür absperrte und verriegelte, musste sie daran denken, wie ungeschützt Monica Farrell in ihrem Apartment war. Die Küchentür zur Terrasse hatte ein großes Glasfenster, ging Nan durch den Kopf. Es war ganz einfach, das Glas herauszuschneiden, durchzugreifen und das Schloss zu öffnen. Ich habe ihr immer gesagt, dass sie dieses Fenster durch ein stärkeres Gitter sichern soll.

Nan schlief nicht gut in dieser Nacht. In ihren Träumen sah sie eine abscheulich verzerrte Monica vor sich, die mit Carlos auf dem Arm auf den Stufen zum Krankenhaus stand, während ihr die langen blonden Haare über die Schultern fielen und sich wie Tentakel um ihren Hals schlangen.