Fürsorgliche Eichhörnchen, treu liebende Kolkraben, mitfühlende Waldmäuse und trauernde Hirschkühe – sind das nicht Gefühle, die allein dem Menschen vorbehalten sind? Der passionierte Förster und Bestsellerautor Peter Wohlleben lehrt uns das Staunen über die ungeahnte Gefühlswelt der Tiere. Anhand neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse und anschaulicher Geschichten nimmt er uns mit in eine kaum ergründete Welt: die komplexen Verhaltensweisen der Tiere im Wald und auf dem Hof, ihr emotionales und bewusstes Leben. Und wir begreifen: Tiere sind uns näher, als wir je gedacht hätten. Faszinierend, erhellend, bisweilen unglaublich!

PETER WOHLLEBEN

DAS SEELENLEBEN DER TIERE

Liebe, Trauer, Mitgefühl – Erstaunliche Einblicke in eine verborgene Welt

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in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Angelika Lieke
Umschlaggestaltung: Eisele Grafik-Design, München,
unter Verwendung eines Fotos von Gettyimages/Tizard Images
Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN: 978-3-641-18980-8
V003
www.ludwig-verlag.de
www.penguinrandomhouse.de

Inhalt

Vorwort

Mutterliebe bis zum Umfallen

Instinkte – minderwertige Gefühle?

Von der Liebe zu Menschen

Es brennt Licht im Oberstübchen

Dumme Sau

Dankbarkeit

Lug und Trug

Haltet den Dieb!

Nur Mut!

Schwarz-Weiß

Warme Bienen, kalte Hirsche

Schwarmintelligenz

Hintergedanken

Das kleine Einmaleins

Einfach nur Spaß

Begierde

Über den Tod hinaus

Namensgebung

Trauer

Scham und Reue

Mitgefühl

Altruismus

Erziehung

Wie wird man seine Kinder los?

Wild bleibt wild

Schnepfendreck

Eine besondere Duftnote

Bequemlichkeit

Schlechtes Wetter

Schmerz

Angst

High Society

Gut und böse

Wenn das Sandmännchen kommt

Tierische Orakel

Auch Tiere werden alt

Fremde Welten

Künstliche Lebensräume

Im Dienste der Menschen

Mitteilungen

Wo sitzt die Seele?

Nachwort: Einen Schritt zurück

Dank

Anmerkungen

Vorwort

Hähne, die ihre Hennen belügen? Hirschkühe, die trauern? Pferde, die sich schämen? Bis vor ein paar Jahren klang das alles noch nach Fantasie, nach Wunschdenken von Tierliebhabern, die sich ihren Schützlingen noch näher fühlen wollten. Auch mir erging es nicht anders, denn Tiere begleiten mich schon mein ganzes Leben lang. Egal ob das Küken bei meinen Eltern, welches mich als Mama auserkoren hatte, ob die Ziegen bei uns am Forsthaus, die mit ihrem fröhlichen Meckern unseren Alltag bereichern, oder die Tiere des Waldes, denen ich bei meinen täglichen Reviergängen begegne: Immer wieder fragte ich mich, was wohl in ihren Köpfen vorgehen mag. Ist es tatsächlich so, wie die Wissenschaft lange behauptete, dass nur wir Menschen die Palette der Gefühle in vollem Umfang auskosten? Kann es sein, dass die Schöpfung speziell für uns einen biologischen Sonderweg entwickelt hat, der als einziger ein bewusstes, erfülltes Leben garantiert?

Wenn ja, dann wäre das Buch gleich hier zu Ende. Denn wenn der Mensch etwas Besonderes im Sinne einer biologischen Konstruktion wäre, dann könnte er sich nicht mit anderen Arten vergleichen. Ein Mitgefühl mit Tieren hätte keinen Sinn, weil wir nicht ansatzweise erahnen könnten, was in ihnen vorgeht. Doch zum Glück hat sich die Natur für die Sparvariante entschieden. Die Evolution hat »nur« jeweils Vorhandenes umgebaut und modifiziert, ähnlich einem Computersystem. Und so, wie in Windows 10 auch noch Funktionsweisen der Vorgängerversion wirken, so arbeiten auch genetische Programme unserer Urahnen in uns. Und in allen anderen Arten, deren Stammbaum im Laufe der Jahrmillionen von dieser Linie abzweigte. Daher gibt es für mein Verständnis keine zweierlei Arten von Trauer, Schmerz oder Liebe. Gewiss, es klingt vielleicht vermessen zu sagen, dass ein Schwein so fühlt wie wir. Doch die Wahrscheinlichkeit, dass eine Verletzung weniger schlimme Gefühle in ihm auslöst als in uns, tendiert gegen null. »Oha« rufen nun vielleicht Wissenschaftler aus, das sei ja gar nicht bewiesen. Stimmt, und das wird man auch niemals können. Ob Sie so fühlen wie ich, ist auch nur eine Theorie. Niemand kann in einen anderen Menschen hineinsehen, kann beweisen, dass etwa ein Nadelstich bei allen 7 Milliarden Erdenbürgern ein gleiches Empfinden erzeugt. Immerhin können Menschen ihre Gefühle in Worte fassen, und das Ergebnis dieser Mitteilungen erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass es bei allen Menschen auf der Gefühlsebene ähnlich zugeht.

So war unsere Hündin Maxi, die in der Küche eine Schüssel voller Knödel verdrückte und danach eine Unschuldsmiene aufsetzte, keine biologische Fressmaschine, sondern ein raffiniertes, liebenswertes Schlitzohr. Je öfter und je genauer ich hinsah, desto mehr vermeintlich ausschließlich menschliche Emotionen entdeckte ich bei unseren Haustieren und ihren wilden Verwandten im Wald. Und damit stehe ich nicht allein. Immer mehr Forscher gelangen zu der Erkenntnis, dass viele Tierarten Gemeinsamkeiten mit uns teilen. Echte Liebe unter Raben? Gilt als sicher. Eichhörnchen, die die Namen ihrer Verwandtschaft kennen? Längst dokumentiert. Wo man auch hinschaut, wird geliebt, mitgefühlt und genussvoll gelebt. Mittlerweile gibt es eine große Menge an wissenschaftlichen Arbeiten zu diesem Themenkreis, die allerdings jeweils nur winzige Teilaspekte abdecken und häufig so trocken geschrieben sind, dass sie sich zur entspannten Lektüre, vor allem aber zum besseren Verständnis kaum eignen. Daher möchte ich an dieser Stelle gerne Ihr Dolmetscher sein, die spannenden Ergebnisse für Sie in Alltagssprache übersetzen, einzelne Puzzleteilchen zu einem Gesamtbild zusammenfügen und das Ganze mit eigenen Beobachtungen würzen. Zusammen ergibt das ein Bild von der uns umgebenden Tierwelt, das die beschriebenen Arten von dumpfen Biorobotern, die von einem fixen genetischen Code getrieben werden, zu treuen Seelen und liebenswerten Kobolden macht. Und genau das sind sie auch, wie Sie auf einem Spaziergang in meinem Revier, bei unseren Ziegen, Pferden und Kaninchen, aber auch in den Parks und Wäldern Ihres eigenen Zuhauses sehen können. Kommen Sie mit?

Mutterliebe bis zum Umfallen

Es war ein heißer Sommertag im Jahr 1996. Zur Abkühlung hatten meine Frau und ich im Garten ein Planschbecken unter einem schattigen Baum aufgestellt. Dort saß ich im Wasser mit meinen beiden Kindern, und wir aßen genüsslich saftige Schiffchen einer Wassermelone. Plötzlich nahm ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr. Ein rostbraunes Etwas hoppelte auf uns zu, verharrte dabei zwischendurch immer wieder für kurze Momente. »Ein Eichhörnchen!«, riefen die Kinder begeistert. Meine Freude wich allerdings schnell einer tiefen Besorgnis, denn das Eichhörnchen kippte nach wenigen Schritten auf die Seite. Es war offensichtlich krank, und nach weiteren Schritten (in unsere Richtung!) erkannte ich eine dicke Geschwulst am Hals. Es handelte sich also allem Anschein nach um ein leidendes, vielleicht sogar hoch infektiöses Tier. Und es hielt langsam, aber sicher auf das Planschbecken zu. Ich war schon im Begriff, mit den Kindern den Rückzug anzutreten, da löste sich die Situation in eine rührende Szene auf: Das Geschwür entpuppte sich als Baby, das sich wie ein Pelzkragen um den Hals der Mutter klammerte. Diese bekam deshalb kaum Luft, und in Verbindung mit der flirrenden Hitze reichte die Puste immer nur für wenige Schritte, bevor das Eichhörnchen erschöpft auf die Seite fiel und nach Atem rang.

Eichhörnchenmütter kümmern sich aufopferungsvoll um ihren Nachwuchs. Bei Gefahr schleppen sie die Jungen in der beschriebenen Art und Weise in Sicherheit. Dabei verausgaben sich die Tiere ordentlich, denn es können je nach Wurf bis zu sechs Knirpse sein, die sich um den Hals geklammert nacheinander transportieren lassen. Trotz dieser Fürsorge ist die Überlebensrate der Kleinen nicht hoch, rund achtzig Prozent erleben ihren ersten Geburtstag nicht. Da wären etwa die Nächte: Während die roten Kobolde tagsüber den meisten Feinden entwischen können, kommt der Tod im Schlaf. Dann schleichen Baummarder durch die Äste der Bäume und überraschen die träumenden Tiere. Bei Sonnenschein sind es Habichte, die in tollkühnem Flug zwischen den Stämmen hindurchsausen und nach einer leckeren Mahlzeit Ausschau halten. Wird ein Eichhörnchen erspäht, so beginnt eine Spirale der Angst. Und das ist wörtlich gemeint. Denn das Eichhörnchen versucht, dem Vogel zu entkommen, indem es auf die andere Seite des Baumstamms verschwindet. Der Habicht fliegt eine enge Kurve und folgt seiner Beute. Das Eichhörnchen weicht in Windeseile weiter um den Stamm herum aus, der Vogel folgt, sodass eine rasend schnelle Spiralbewegung beider Tiere um den Stamm herum entsteht. Der Flinkere von beiden gewinnt, und meist ist dies der kleine Säuger.

Viel schlimmer als jeder tierische Feind ist jedoch der Winter. Um gut gerüstet in die kalte Jahreszeit zu gehen, bauen Eichhörnchen Kobel. Das sind kugelförmige Nester, die im Geäst von Baumkronen angelegt werden. Um vor unangenehmen Überraschungsgästen flüchten zu können, formen die Tiere mit ihren Pfoten zwei Ausgänge. Die Grundkonstruktion des Kobels besteht aus vielen kleinen Zweigen, innen wird die Wohnung mit weichem Moos ausgepolstert. Das dient der Wärmeisolierung und ist bequem. Bequem? Ja, auch Tiere legen Wert auf Komfort. Zweige, die beim Schlafen in den Rücken drücken, empfinden Eichhörnchen als genauso unangenehm wie wir. Eine weiche Moosmatratze garantiert dagegen einen wohligen Schlaf.

Aus meinem Bürofenster beobachte ich regelmäßig, wie das flauschige Grünzeug aus unserem Rasen gepult und hoch in die Bäume transportiert wird. Und noch etwas anderes kann ich beobachten: Sobald im Herbst die Eicheln und Bucheckern von den Bäumen fallen, sammeln die Tierchen die nahrhaften Samen und vergraben sie einige Meter weiter im Boden. Dort sollen sie im Winter als Reserve dienen. Eichhörnchen machen nämlich keinen richtigen Winterschlaf, sondern verbringen die Tage meist dösend in einer Winterruhe. Der Körper verbraucht dabei weniger Energie, wird aber nicht ganz heruntergedrosselt wie etwa beim Igel. Immer wieder wacht das Hörnchen auf und bekommt Hunger. Dann turnt es flott den Baum hinunter und sucht eines seiner zahlreichen Nahrungsverstecke. Und sucht und sucht und sucht. Im ersten Augenblick sieht es drollig aus, wenn man dabei zusieht, wie sich das Tierchen zu erinnern versucht. Da wird hier ein bisschen gebuddelt, dort ein wenig gegraben, und sich zwischendurch immer mal wieder aufgesetzt, wie um eine Denkpause einzulegen. Es ist aber auch zu schwer: Die Landschaft hat sich ja seit den Herbsttagen optisch ziemlich verändert. Bäume und Büsche haben ihr Laub verloren, das Gras ist verdorrt, und zu allem Überfluss hat der Schnee oft alles in tarnende weiße Watte gepackt. Und während das verzweifelte Eichhörnchen weitersucht, bekomme ich Mitleid. Denn nun siebt die Natur gnadenlos aus, und ein Großteil der vergesslichen Hörnchen, meist der diesjährige Nachwuchs, erlebt das nächste Frühjahr nicht, weil er verhungert. Dann finde ich manchmal in den alten Buchenreservaten kleine Büschel von austreibenden Buchen. Diese Buchenkinder sehen aus wie Schmetterlinge auf kleinen Stielen und sind normalerweise nur einzeln zu finden. Als Büschel treten sie nur da auf, wo das Eichhörnchen sie nicht mehr abgeholt hat – oft genug aus Vergesslichkeit mit den beschriebenen fatalen Folgen für das Tier.

Das Eichhörnchen ist für mich aber auch ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, wie wir die Tierwelt kategorisieren. Es ist mit seinen dunklen Knopfaugen sehr niedlich, hat ein weiches, ansprechend rötlich gefärbtes Fell (es gibt auch braun-schwarze Varianten) und ist für uns Menschen nicht bedrohlich. Aus den vergessenen Eicheldepots sprießen im Frühjahr junge Bäume, sodass es sogar als Begründer neuer Wälder gelten darf. Kurz, das Eichhörnchen ist ein echter Sympathieträger. Seine Lieblingsspeise blenden wir dabei gerne aus: Vogelkinder. Denn auch solche Beutezüge kann ich aus dem Bürofenster des Forsthauses beobachten. Wenn im Frühjahr ein Eichhörnchen stammaufwärts klettert, dann herrscht große Aufregung unter der kleinen Kolonie von Wacholderdrosseln, die in den alten Kiefern an der Einfahrt brütet. Sie schnattern und ratschen im Flatterflug rund um die Bäume und versuchen, den Eindringling zu vertreiben. Eichhörnchen sind ihre Todfeinde, denn sie greifen sich ungerührt einen flaumbedeckten Jungvogel nach dem andern. Selbst Nisthöhlen bieten den Kleinen nur begrenzt Schutz, denn mit ihren schlanken Pfoten, besetzt mit langen, scharfen Krallen, angeln die Eichhörnchen sich die vermeintlich gut geschützten Nestlinge auch aus hohlen Bäumen.

Sind Eichhörnchen nun doch eher böse als gut? Weder noch. Eine Laune der Natur hat dazu geführt, dass sie unseren Beschützerinstinkt ansprechen und damit positive Emotionen auslösen. Das hat mit gut oder nützlich nichts zu tun. Die andere Seite der Medaille, die Tötung der von uns ebenfalls geliebten Singvögel, ist aber auch nicht böse. Die Tiere haben Hunger und müssen ebenfalls Junge versorgen, die auf nahrhafte Muttermilch angewiesen sind. Würden Eichhörnchen ihren Proteinbedarf an Kohlweißlingsraupen stillen, so wären wir begeistert. Dann würde unsere emotionale Bilanz zu hundert Prozent positiv ausfallen, denn die Lästlinge stören uns in unseren Gemüsekulturen. Doch Kohlweißlingsraupen sind ebenfalls Jungtiere, in diesem Fall von Schmetterlingen. Und nur weil diese wiederum zufällig die gleichen Pflanzen lieben, die wir für unsere Ernährung vorgesehen haben, ist die Tötung von Schmetterlingsbabys noch lange keine Wohltat für die Natur.

Eichhörnchen interessiert unsere Kategorisierung nicht im Geringsten. Sie haben genug damit zu tun, sich und ihre Art in der Natur zu erhalten und dabei vor allem eins zu haben: Spaß am Leben. Doch zurück zur Mutterliebe des roten Kobolds: Kann er wirklich so etwas empfinden? Eine so starke Liebe, dass er sein eigenes Leben hinter das seines Nachwuchses zurückstellt? Ist es nicht nur ein Hormonschub, der durch seine Adern rauscht und zu vorprogrammierter Fürsorge führt? Die Wissenschaft neigt dazu, solche biologischen Abläufe zu zwangsläufigen Mechanismen zu degradieren. Und bevor wir das Eichhörnchen und andere Arten in eine solche doch etwas nüchterne Kiste packen, lassen Sie uns einen Blick auf menschliche Mutterliebe werfen. Was geht in den Körpern von Müttern vor, wenn sie einen Säugling in den Armen halten? Ist Mutterliebe angeboren? Die Antwort der Wissenschaft lautet: Jein. Angeboren ist diese Liebe nicht, sondern nur die Voraussetzungen, sie zu entwickeln. Kurz vor der Geburt wird ein Hormon, Oxytocin, ausgeschüttet, welches die starken Bindungen ermöglicht. Zusätzlich werden große Mengen an Endorphinen freigesetzt, die schmerzlindernd und angstlösend wirken. Dieser Hormoncocktail befindet sich auch nach der Geburt noch im Blut, und so wird das Baby von einer völlig gelösten, positiv gestimmten Mutter begrüßt. Das Stillen kurbelt die Produktion von Oxytocin weiter an, und die Mutter-Kind-Bindung kann sich verstärken. Ähnlich ergeht es vielen Tierarten, so auch den Ziegen, die meine Familie und ich bei unserem Forsthaus halten (und die übrigens auch Oxytocin produzieren). Bei ihnen beginnt das Kennenlernen der Lämmer mit dem Ablecken des Geburtsschleims. Diese Prozedur festigt die Bindung, zudem meckert die Mutter zärtlich und bekommt eine hohe, dünne Antwort von ihren Kindern zurück, sodass sich die Stimmen einprägen.

Doch wehe, wenn die Schleimprozedur nicht klappt! Zur Geburt kommen die jeweiligen Tiere unserer kleinen Herde in eine separate Box, um in Ruhe gebären zu können. Die Tür dieser Box hat einen kleinen Spalt über dem Boden, und durch diesen Spalt rutschte bei einer Geburt ein besonders kleines Lamm. Bis wir das Malheur bemerkten, verging kostbare Zeit, in der der Schleim bereits trocknete. Die Konsequenz: Die Mutterziege nahm trotz aller Versuche ihr Lämmchen nicht mehr an, Mutterliebe konnte also nicht mehr entstehen. Beim Menschen ist es oft ähnlich: Werden Säuglinge in Krankenhäusern nach der Geburt längere Zeit von ihren Müttern getrennt, so steigt die Wahrscheinlichkeit für ausbleibende Mutterliebe. Allerdings nicht so hoch und so dramatisch wie bei Ziegen, denn Menschen können Mutterliebe lernen und sind nicht nur auf Hormone angewiesen. Ansonsten wären Adoptionen gar nicht möglich, bei denen fremde Mütter und Kinder oft erst Jahre nach der Geburt aufeinandertreffen.

Adoptionen sind daher der beste Ansatz, um zu prüfen, ob Mutterliebe erlernbar ist und nicht nur ein instinktiver Reflex. Doch bevor wir dieser Frage auf den Grund gehen, würde ich gerne die Qualität von Instinkten beleuchten.

Instinkte – minderwertige Gefühle?

Oft höre ich, dass die Vergleiche tierischer Gefühle mit denen der Menschen nicht zielführend seien, schließlich handelten und fühlten Tiere stets instinktiv, wir hingegen bewusst. Bevor wir uns der Frage widmen, ob instinktives Handeln etwas Minderwertiges ist, lassen Sie uns zunächst schauen, was Instinkte überhaupt sind. Unter diesem Begriff fasst die Wissenschaft Aktionen zusammen, die unbewusst ablaufen, also keinen Denkprozessen unterliegen. Sie können genetisch fixiert oder erlernt sein; ihnen allen ist gemein, dass sie sehr schnell ablaufen, weil sie die kognitiven Prozesse im Gehirn umgehen. Oft sind es Hormone, die zu bestimmten Anlässen (etwa Ärger) ausgeschüttet werden und dann körperliche Reaktionen einleiten. Sind Tiere also vollautomatisch gesteuerte Bioroboter? Bevor hier vorschnell ein Urteil gefällt wird, sollten wir auf unsere eigene Spezies schauen. Auch wir sind nicht frei von instinktiven Handlungen, ganz im Gegenteil. Denken Sie etwa an eine heiße Herdplatte. Wenn Sie aus Versehen Ihre Hand darauf legen, so werden Sie sie blitzschnell wieder zurückziehen. Da gibt es vorher keine bewusste Überlegung nach dem Motto: »Hier riecht es irgendwie merkwürdig nach Grillfleisch, und meine Hand tut plötzlich so weh. Ich sollte sie wohl besser zurückziehen.« Nein, all das passiert ganz automatisch und ohne bewusste Entscheidung. Instinkte gibt es also auch beim Menschen; die Frage ist nur, wie sehr sie unseren Alltag bestimmen.

Um etwas Licht ins Dunkel zu bringen, sollten wir uns mit der neueren Hirnforschung beschäftigen. Das Max-Planck-Institut in Leipzig hat in einer Studie aus dem Jahr 2008 Erstaunliches veröffentlicht. Mithilfe von Magnetresonanztomografen, die Gehirnaktivitäten am Computer darstellen können, wurden Testpersonen während einer Entscheidungsaufgabe (dem Drücken eines Knopfes mit der linken oder der rechten Hand) beobachtet. Bis zu sieben Sekunden, bevor die Testkandidaten sich bewusst festlegten, war über Gehirnaktivitäten klar ablesbar, zu welchem Ergebnis sie kommen würden. Die Handlung wurde also bereits eingeleitet, während die Probanden noch überlegten, wie sie sich entscheiden sollten. Es war demnach nicht das Bewusstsein, sondern das Unterbewusstsein, welches den Handlungsimpuls auslöste. Das Bewusstsein lieferte wenige Sekunden später quasi nur noch die Erklärung.

Da die Erforschung derartiger Prozesse erst ganz am Anfang steht, kann man noch nicht sagen, wie viel Prozent und welche Art von Entscheidungen dergestalt funktionieren, und ob wir uns auch gegen die vom Unterbewusstsein festgelegten Abläufe wehren können. Immerhin erstaunlich genug, dass der sogenannte freie Wille der Realität vielfach hinterherhinkt. Er liefert hier eigentlich nur noch eine Entschuldigung für unser leicht kränkbares Ego, das sich, dermaßen bestätigt, jederzeit als uneingeschränkter Herr der Lage fühlt.1

In vielen Fällen regiert also die Opposition, unser Unterbewusstsein. Wie viel unser Verstand bewusst regelt, ist letztendlich egal, denn der möglicherweise überraschend hohe Anteil instinktiver Reaktionen zeigt ja nur: Das Erleben von Angst und Trauer, Freude und Glück wird durch instinktives Auslösen nicht getrübt, sondern lediglich nicht aktiv eingeleitet. Das tut der Intensität der Gefühle keinerlei Abbruch. Denn spätestens jetzt ist klar, dass Emotionen die Sprache des Unterbewusstseins sind, welches uns im Alltag hilft, nicht in einer Informationsflut zu versinken. Der Schmerz der Hand auf der heißen Herdplatte lässt Sie ohne Zeitverzug agieren. Glücksgefühle verstärken positive Handlungen, Angst bewahrt Sie davor, mit Ihrem Verstand eine Entscheidung zu treffen, die gefährlich sein könnte. Nur die wenigen Probleme, die tatsächlich durch Nachdenken gelöst werden können und sollten, dringen in unser Bewusstsein vor und können dort in Ruhe analysiert werden.

Gefühle sind vom Grundsatz her also mit dem Unterbewusstsein, nicht dem Bewusstsein, gekoppelt. Wenn Tiere kein Bewusstsein hätten, dann hieße das nur, dass sie nicht nachdenken können. Über ein Unterbewusstsein hingegen verfügt jede Art, und da dieses steuernd eingreifen muss, hat jedes Tier zwingend auch Gefühle. Instinktive Mutterliebe kann also gar nichts Minderwertiges sein, weil es eine andere Art von Mutterliebe überhaupt nicht gibt. Der einzige Unterschied zwischen Tieren und Menschen ist, dass wir Mutterliebe (und andere Gefühle) bewusst aktivieren können – etwa im Falle einer Adoption. Hier kann es keine aus der Geburtssituation heraus automatisch ausgelöste Bindung zwischen Eltern und Kind geben, da deren Erstkontakt ja oft erst sehr viel später hergestellt wird. Trotzdem stellt sich im Laufe der Zeit eine instinktive Mutterliebe ein, inklusive dem dazugehörigen Hormoncocktail im Blut.

Haben wir es also geschafft und endlich eine emotionale menschliche Enklave gefunden, in die hinein es Tiere nicht schaffen? Schauen wir dazu noch einmal auf unser Eichhörnchen. Kanadische Forscher haben seine Verwandten am Yukon über zwanzig Jahre hinweg beobachtet. Rund siebentausend Tiere waren Teil der Studie, und obwohl Eichhörnchen Einzelgänger sind, kam es zu fünf Adoptionsfällen. Allerdings waren es immer verwandte Hörnchenkinder, die von einer fremden Mutter aufgezogen wurden. Nur Nichten, Neffen oder Enkelkinder wurden adoptiert, womit der Eichhörnchen-Altruismus klare Grenzen hat. Rein evolutionär gesehen bringt das Vorteile, weil dann ein sehr ähnliches Erbgut erhalten und weitergegeben werden kann.2 Zudem sind fünf Fälle in zwanzig Jahren nicht gerade ein schlagender Beweis für eine grundsätzlich adoptionsfreundliche Einstellung. Schauen wir uns also bei anderen Arten um.

Wie wäre es mit Hunden? Im Jahr 2012 machte die Französische Bulldogge Baby Schlagzeilen. Sie lebte auf einem Gnadenhof in Brandenburg, zu dem eines Tages sechs Frischlinge gebracht wurden. Die Bache war vermutlich von Jägern geschossen worden, und allein hätten die gestreiften Winzlinge keine Überlebenschance gehabt. Auf dem Hof bekamen die Tiere fette Milch – und Liebe. Die Milch kam aus den Fläschchen der Betreuer, während Liebe und Wärme von Baby kamen. Die Bulldogge adoptierte kurzerhand die ganze Bande und ließ sie angekuschelt bei sich schlafen. Auch tagsüber hatte sie ein wachsames Auge auf die Rasselbande.3 Ist das eine echte Adoption? Schließlich wurden die Frischlinge nicht gestillt, doch das ist bei menschlichen Adoptivkindern auch nicht der Fall. Davon abgesehen gibt es Berichte von Hunden wie der kubanischen Hündin Yeti, die selbst das getan hat. Ihre Welpen wurden bis auf eines weggegeben, sodass das Tier viel Milch übrig hatte. Da auf dem Hof gleichzeitig einige Schweine Nachwuchs hatten, adoptierte Yeti kurzerhand 14 Ferkel, obwohl deren Mütter noch lebten. Sie folgten ihrer neuen Mama über den Hof, und vor allem: Sie wurden gesäugt.4

War das eine bewusste Form der Adoption? Oder hatte Yeti nur überschüssige mütterliche Gefühle, die sie nun einfach auf die Ferkel projizierte? Diese Fragen könnten wir auch bei menschlichen Adoptionen stellen, bei denen eigene starke Gefühle ein Ziel suchen und finden. Selbst die Haltung von Hunden und anderen Haustieren kann man mit den Adoptionen zwischen verschiedenen Tierarten vergleichen – schließlich werden etliche Vierbeiner als fast vollwertige Familienmitglieder in menschliche Gemeinschaften aufgenommen.

Es gibt aber auch noch andere Fälle, bei denen überschießende Hormone oder überflüssige Milch nicht die Triebfeder sein können. Die Krähe Moses ist dafür ein rührendes Beispiel, doch dazu gleich. Wenn Vögel ihre Brut verlieren, haben sie von Natur aus eine weitere Gelegenheit, ihre angestauten Triebe abzureagieren: Sie können einfach noch einmal von vorn anfangen und erneut brüten. Speziell eine einzelne Krähe wie Moses hat also keine Veranlassung, andere Tiere zu bemuttern. Doch Moses suchte sich dazu ausgerechnet eine potenzielle Feindin aus – eine Hauskatze. Zugegeben, das Kätzchen war noch recht klein und außerdem ziemlich hilflos, denn offenbar hatte es seine Mutter verloren und seit Längerem kaum Nahrung erhalten. Das streunende Tier tauchte im Garten von Ann und Wally Collito auf. Die beiden lebten in einem Häuschen in North Attleboro, Massachusetts, und konnten fortan erstaunliche Beobachtungen machen. Denn zu dem Kätzchen gesellte sich eine Krähe, die das Katzenkind offensichtlich beschützte. Der Vogel fütterte die kleine Waise mit Regenwürmern und Käfern, und natürlich sahen auch die Collitos nicht tatenlos zu und unterstützten die Katze mit Futter. Selbst im Erwachsenenalter hielt sich die Freundschaft zwischen Krähe und Stubentiger, bis der Vogel nach fünf Jahren verschwand.5

Doch noch einmal zurück zu den Instinkten. Ob Muttergefühle durch solche Befehle des Unterbewusstseins ausgelöst werden oder durch bewusste Überlegungen, macht meiner Meinung nach keinen qualitativen Unterschied. Schließlich fühlen (!) sie sich in beiden Fällen gleich an. Fest steht, dass beim Menschen beides auftritt, wobei hormonell ausgelöste Instinkte wohl die häufigere Variante darstellen. Selbst wenn Tiere Mutterliebe nicht bewusst auslösen können (und die Adoption artfremder Tierkinder sollte uns da ins Grübeln kommen lassen), so bleibt die unterbewusste Art, und die ist mindestens ebenso schön und intensiv. Das Eichhörnchen, das sein Baby um den Hals gewickelt über den flirrend heißen Rasen trug, tat dies aus einer tiefen Liebe heraus – das macht das Erlebnis für mich im Nachhinein umso schöner.

Von der Liebe zu Menschen

Können uns Tiere wirklich lieben? Wie schwierig dieses Gefühl allein schon unter Tieren einer Art zu verifizieren ist, haben wir bereits beim Thema Eichhörnchen gesehen. Aber Liebe nun auch noch über Artgrenzen hinweg – und dann ausgerechnet zu uns Menschen? Da drängt sich der Gedanke auf, es handele sich um reines Wunschdenken, damit wir die Tatsache besser ertragen können, dass wir unsere Haustiere in Gefangenschaft halten.

Betrachten wir zunächst noch einmal die Mutterliebe, denn diese besonders starke Variante können wir tatsächlich provozieren, wie ich schon als Jugendlicher erfahren durfte.

Schon damals waren Natur und Umwelt meine Interessenschwerpunkte, und ich verbrachte jede freie Minute draußen im Wald oder an den Baggerseen am Rhein. Ich imitierte das Quaken von Fröschen, um sie zur Antwort zu provozieren, hielt zeitweise Spinnen in Einmachgläsern, um sie zu beobachten, und zog Mehlwürmer in Mehl auf, um ihre Wandlung zu schwarzen Käfern mitzuerleben. Dazu schmökerte ich abends in Büchern über Verhaltensforschung (keine Sorge, auch Karl May und Jack London lagen auf meinem Nachttisch). In einem dieser Werke las ich, dass man Küken auch auf Menschen prägen könne. Dazu müsse man nur ein Ei ausbrüten und kurz vor dem Schlupf mit ihm »sprechen«, sodass das kleine Wesen darin auf die Person und nicht mehr auf die Henne fixiert werde. Diese Bindung solle zeitlebens erhalten bleiben. Spannend! Mein Vater hielt zu dieser Zeit einige Hühner und einen Hahn im Garten, sodass ich an befruchtete Eier herankam. Einen Brutapparat besaß ich allerdings nicht, und so musste ein altes Heizkissen herhalten. Das Problem: Hühnereier brauchen 38 Grad Bruttemperatur, müssen täglich mehrmals gewendet werden und dabei ein wenig herunterkühlen. Was eine Glucke von Natur aus bestens beherrscht, musste ich nun mit Schal und Thermometer mühsam austüfteln. Über 21 Tage hinweg maß ich die Temperatur, drapierte mal mehr, mal weniger Lagen des Schals um das Ei, wendete akribisch und fing wenige Tage vor dem errechneten Schlupf mit meinen Selbstgesprächen an. Und tatsächlich: Pünktlich am 21. Tag pickte sich ein kleines Flaumpaket den Weg in die Freiheit und wurde von mir sogleich auf den Namen Robin Hood getauft.

Unglaublich, wie süß das Küken war! Seine gelben Federn waren mit Pünktchen übersät, seine schwarzen Knopfaugen auf mich gerichtet. Nie wollte es von meiner Seite weichen, und geriet ich einmal außer Sicht, so setzte gleich ein ängstliches Piepen ein. Egal ob auf der Toilette, vor dem Fernseher oder neben dem Bett, Robin war immer bei mir. Lediglich während der Schule musste ich das Kleine schweren Herzens alleine lassen und wurde bei der Rückkehr jedes Mal umso heftiger begrüßt. Doch diese innige Bindung wurde mir zu anstrengend. Mein Bruder erbarmte sich und übernahm zeitweise die Versorgung, damit ich einmal etwas ohne Robin unternehmen konnte, doch schließlich wurde es auch ihm zu viel. Robin, inzwischen ein Junghuhn, kam zu einem ehemaligen Englischlehrer, der sehr tierlieb war. Mann und Huhn freundeten sich schnell an, und noch lange Zeit sah man die beiden im Nachbardorf spazieren gehen: der Lehrer zu Fuß und Robin auf seiner Schulter.

Dass Robin eine echte Beziehung aufgebaut hatte, darf als bewiesen gelten. Ähnliches kann jeder Tierhalter berichten, der für Jungtiere an die Stelle der Mutter tritt. So bleiben Flaschenlämmer, die von meiner Frau per Hand aufgezogen wurden, zeitlebens sehr anhänglich. Der Mensch spielt hier die Rolle der Adoptivmutter, und das ist in jedem Fall rührend. Doch so ganz freiwillig ist diese Bindung zumindest für das jeweilige Tier nicht, auch wenn es ihr sein Leben verdankt. Schöner wäre es doch, ein Wesen würde sich uns aus freien Stücken anschließen und bei uns bleiben. Doch gibt es das überhaupt?

Dazu müssen wir das Feld der Mutterliebe verlassen und allgemein nach solchen Beziehungen suchen. Denn schließlich sollte das jeweilige Tier erwachsen und damit in der Lage sein, seine Entscheidung frei zu treffen, ob es sich uns anschließt oder doch lieber unabhängig bleiben möchte. Nicht umsonst kommen viele Katzen und Hunde bereits als Babys zu uns – da soll kein Raum für eine Entscheidung der kleinen Knilche bleiben. Das ist durchaus positiv zu verstehen: Nach einigen Tagen Eingewöhnung, womöglich einem kleinen Trennungsschmerz von der Mutter, schließen sich wenige Wochen alte Tierkinder schnell ihrer neuen Bezugsperson an, und genau wie bei Flaschenlämmern bleiben solche Bindungen zeitlebens besonders intensiv. Alle fühlen sich wohl, und trotzdem bleibt da noch die Frage: Gibt es einen freiwilligen Anschluss auch erwachsener Tiere?

Für Haustiere lässt sich die Frage eindeutig mit Ja beantworten; es gibt unzählige Beispiele streunender Katzen und Hunde, die sich fürsorglichen Zweibeinern geradezu aufdrängen. Doch ich würde zur Beantwortung der Frage lieber einen Blick auf Wildtiere werfen, denn diese wurden nicht züchterisch zur Zahmheit und damit zur Anschlussbereitschaft an den Menschen verändert. Und noch eines würde ich gerne ausschließen: die Zähmung über Futter. Denn angefütterte Wildtiere möchten einfach nur fressen und tolerieren daher ab einem gewissen Grad der Gewöhnung unsere Anwesenheit. Wie lästig das werden kann, erfuhren unsere ehemaligen Nachbarn mit einem Eichhörnchen. Sie hatten das Tier wochenlang mit Erdnüssen geködert, sodass es schließlich bis an die geöffnete Terrassentür herankam. Sie freuten sich an dem kleinen Kobold, der fast schon zu einem Familienmitglied wurde. Aber wehe, wenn die menschlichen Futterspender einmal nicht rasch genug zur Stelle waren: Dann kratzte das Hörnchen ungeduldig am Fensterrahmen und demolierte diesen innerhalb weniger Wochen – die Krallen sind messerscharf.

Freundschaften wilder Tiere zu Menschen finden wir häufiger in den Meeren – bei Delfinen. Ein besonderer Star ist Fungie, der in der Bucht von Dingle in Irland lebt. Er lässt sich häufig blicken, begleitet kleine Ausflugsboote und schlägt vor Besuchern Kapriolen, sodass er zu einem regelrechten Touristenmagneten geworden ist, der in offiziellen Broschüren beworben wird. Selbst wer zu ihm ins Wasser steigt, braucht keine Sorge zu haben: Der große Tümmler begleitet Schwimmer und verhilft ihnen damit zu einem Glückserlebnis der besonderen Art. Diese Zahmheit beruht nicht auf Futter – der Delfin lehnt dieses sogar ab.

Fungie ist nun schon seit über dreißig Jahren nicht mehr aus dem Leben der Stadt wegzudenken. Ist das nicht rührend? Offenbar nicht für alle, denn die Tageszeitung Die Welt sprach mit Wissenschaftlern und stellte dabei die Frage, ob dieses Tier nicht einfach nur wahnsinnig sei. Vielleicht schließe sich der Eigenbrötler den Menschen nur an, weil ihn kein anderer Delfin möge?6

Abgesehen davon, dass Freundschaften von Menschen zu Tieren manchmal aus ähnlichen Gründen – also etwa aus einer durch den Verlust des Partners entstandenen Einsamkeit heraus – geschlossen werden, würde ich gerne bei heimischen Landtieren weitersuchen. Und das ist gar nicht so einfach. Denn das gemeinsame Kennzeichen von Wildtieren ist, dass sie eben wild sind und dadurch normalerweise nicht den Anschluss an Menschen suchen. Hinzu kommen Zehntausende von Jahren, in denen der Mensch Jagd auf seine Mitgeschöpfe gemacht hat. Sie entwickelten dadurch evolutionär eine Scheu vor uns – wer nicht rechtzeitig wegläuft, gerät in Todesgefahr. Und für sehr viele Tierarten ist das bis heute so, wie ein Blick in die Listen der jagdbaren Tiere zeigt. Egal ob große Säugetiere wie Hirsch, Reh und Wildschwein, egal ob kleinere Vierbeiner wie Fuchs und Hase oder auch Vögel, von den Rabenvögeln über Gänse und Enten bis hin zu Schnepfen – sie alle enden jährlich zu Abertausenden im Kugelhagel. Ein gewisses Misstrauen allen Zweibeinern gegenüber ist da nur allzu verständlich. Umso schöner, wenn sich so ein argwöhnisches Geschöpf überwindet und trotzdem den Kontakt zu uns sucht.