Inhaltsverzeichnis
Protagoras
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Text
Platon

Protagoras

Sokrates und ein Freund desselben


e-artnow, 2017
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ISBN 978-80-268-7044-9

Protagoras

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Zu den berühmtesten unter denen, welche zu jener Zeit als Lehrer der hellenischen Jugend aufgetreten waren, dem Protagoras zuerst, welcher unter allen Streit- und Redekünstlern, wegen des Grundes den er seiner Kunst gelegt hatte, wohl am meisten verdiente, daß ein Philosoph sich mit ihm beschäftigte, wie er denn auch selbst als Philosoph im Altertum genannt und geehrt wurde; ferner dem gelehrten, Geschichts- und Altertumskundigen, kunst- und gedächtnisreichen Hippias und dem am meisten seiner Sprachbemühungen wegen angeführten Prodikos, der wiewohl minder bedeutend auch hier die Wirkung des Ganzen unterstützt; ferner zu den Freunden und Verehrern dieser weisen Männer, den edelsten Jünglingen Athens, berühmt teils durch ihre Väter, teils in der Folge durch eigene Taten als Feldherrn, Volksführer und Dichter, zu den Söhnen des Perikles nämlich, zu dessen Mündel Alkibiades, dem Kritias, dem Agathon und andern, welche, wenn auch nur als stumme Zeugen, die Pracht und Herrlichkeit des Ganzen erhöhen; zu diesen führt uns nebst dem Sokrates und einem Jünglinge, den er dem Protagoras als Schüler empfehlen sollte, das reich geschmückte Gespräch. Und zwar in das glänzendste und üppigste Haus von Athen, in das Haus des Kallias, welcher der reichste Bürger war, befreundet dem Perikles als zweitem Gatten seiner Mutter nach Trennung ihrer Ehe von dem Hipponikos, verschwägert dem Alkibiades, der seine Schwester Hipparete zur Gattin nahm, bekannt und von den Komikern durchgezogen als eifrigster und freigebigster Beschützer der Sophisten, bis seine grenzenlose Verschwendung dem alten fast von Solons Zeiten herrührenden Glanze seines Hauses ein Ende machte. Dies sind die edlen und die weisen Teilhaber des Gespräches, welches Sokrates hier ganz auf frischer Tat einem Freunde erzählt; und ein mehreres ist von ihnen im voraus historisch zu wissen nicht nötig, da sie sich sämtlich und die letzteren besonders in dem Werke selbst so hell und bestimmt abspiegeln, daß es unter die bedeutenden ersten Quellen zur Kenntnis ihrer Eigentümlichkeiten gehört.

Nur die Frage, wie diese Gesellschaft zusammengebracht worden, kann nicht übergangen werden, da dem Gespräch schon vor Alters der Vorwurf gemacht ist, sein Urheber habe ihm diesen Reichtum bedeutender Personen nur auf dem unerlaubtesten Wege, vermittelst grober Versündigungen gegen die Ordnung und das Recht der Zeiten zuzuwenden gewußt. Es kommen nämlich mehrere Angaben vor, welche zu beweisen scheinen, daß Platon sich das Gespräch nicht eher als in der neunzigsten Olympiade gehalten gedacht habe. So wird Hipponikos der Vater des Kallias nirgends erwähnt, sondern gradezu wohnt Protagoras bei dem letzteren, und dieser erscheint ganz als Herr und Besitzer; Hipponikos aber ist erst in der Delischen Schlacht Anfangs der neun und achtzigsten Olympiade umgekommen. Ja noch bestimmter, es wird eine Komödie des Pherekrates, die Wilden, als im vorigen Jahre aufgeführt erzählt, welche im letzten Jahre der neun und achtzigsten die Lenäen geziert hat. Dieses nun nimmt Athenaios als den festen Punkt an, und beschuldiget daraus den Platon zweier Fehler, daß nämlich der Peloponneser Hippias seit Anfang des Krieges zu keiner anderen Zeit sich habe in Athen aufhalten können, als während des Stillstandes unter dem Isarchos im ersten der neun und achtzigsten, wogegen Dacier in seiner Einleitung zur Übersetzung des Protagoras den Platon zu rechtfertigen sucht; ferner, das Platon im ersten der neunzigsten vom Protagoras nicht habe sagen können, er sei erst vor drei Tagen nach Athen gekommen, indem er bereits in dem Lustspiele des Eupolis, die Schmeichler, im dritten der neun und achtzigsten als anwesend aufgeführt werde. Allein wenn auch Jemand was den ersten Punkt betrifft dem Dacier beipflichten, und in Ansehung des zweiten das Zeugnis eines Komikers verwerfen wollte, der sich ja eben so gut als Platon eine Fiktion kann erlaubt haben, so ist damit die Sache nicht abgetan, denn es finden sich mehrere unbezweifelte gegen jenes Jahr als Zeitbestimmung des Dialogs auf alle Weise streitende und ihn höher hinauf zwingende Angaben, von welchen zu verwundern ist, daß sie in jener feindseligen Stelle des Athenaios gar nicht erwähnt werden, wiewohl er sie anderwärts beibringt. Zuerst nämlich wird Sokrates vom Protagoras als ein noch junger Mann behandelt, nennt auch sich selbst so, welches er nur zwanzig Jahre vor seinem Tode unmöglich tun konnte. Ferner Alkibiades, der nur ein Jahr nach jenem vom Athenaios angenommenen zum Feldherrn ernannt wurde, wird ein Milchbärtiger, und Agathon, den noch dieselbe Olympiade als tragischen Dichter krönte, ein Knabe genannt. Ja was das allerbestimmteste ist, es wird vom Perikles als einem noch lebenden gesprochen, und seine noch vor ihm an der Pest gestorbenen Söhne sind mit in der Versammlung, wodurch dies Gespräch offenbar vor das dritte der sieben und achtzigsten hinaufgerückt wird. Da nun mit dieser letzteren Zeitbestimmung so viele Kleinigkeiten übereinstimmen, die gar nicht zum Wesentlichen des Gespräches gehören, wie Agathon und die Söhne des Perikles, so ist sie offenbar diejenige, welche dem Platon am deutlichsten vorgeschwebt hat, und welche er eigentlich durchführen wollte. Was aber jene späteren Angaben betrifft, so ließe sich fragen, ob nicht die Komödie des Pherekrates schon vor jener im Athenaios erwähnten Aufführung, es sei nun eben so oder in einer unvollkommneren Gestalt, einmal aufgeführt worden, zumal hier von einer Aufführung an den Lenäen die Rede ist; denn als eine Übereilung, indem sich Platon hier in die Zeit wo er wirklich schrieb versetzt hatte, läßt sich die Sache auch nicht denken. Eben so, ob es auch notwendig ist, den Hipponikos als tot zu denken, und ob er sich nicht kann auswärts befunden haben, vielleicht in dem Heere vor Potidaia, wenn man nicht an das zweite Jahr der sieben und achtzigsten Olympiade denken will, in welchem Hipponikos ein Heer gegen die Tanagraier führte. Auf jede Weise aber läßt sich weit eher denken, daß Platon habe diesen Einen für seinen Plan nicht unwichtigen Umstand, als daß er jene kleinen und unbedeutenden in eine falsche Zeit absichtlich verlegt habe, in welchem Falle denn auch die Wilden des Pherekrates hier stehen könnten, um jene Erdichtung nicht ganz vereinzelt zu lassen, und was nicht klar gehalten sein konnte noch um desto zweischeiniger zu stellen. Denn einen besseren Ort konnte Platon nicht wählen für dieses Schauspiel als das Haus des Kallias, und vielleicht waren die Schmeichler des Eupolis die Veranlassung zu diesem Gedanken und die Verführung zu solcher Freiheit gewesen. Eben so notwendig aber war ihm die frühere Zeit, in welcher jene Weisen wirklich in der Blüte ihres Ruhmes standen und so zu Athen versammelt werden konnten, und auch dieses Geschlecht wißbegieriger Jünglinge noch nicht den Geschäften des Staates und des Krieges hingegeben war. Auch mochte es wohl dem Schicklichkeitsgefühl des Platon widersprechen, den Sokrates in Zeiten des herannahenden Alters in einem solchen Wettstreite mit den Sophisten darzustellen, und selbst den Protagoras, gegen den er sich doch einer gewissen Achtung nicht erwehren kann, in seinem wirklich hohen Alter zum Ziel einer solchen Sokratischen Ironie zu machen. Was aber Protagoras auch hier schon vergrößernd von seinem Alter rühmt, und wie Sokrates verkleinernd seiner eigenen Jugend gedenkt, dies mag nicht ohne Absicht geschrieben sein, um den Maßstab derer lächerlich zu machen, die dem Platon selbst vielleicht die Jugend vorrückten. Denn Protagoras ward Anfangs der zwei und neunzigsten Olympiade während der von Antiphon dem Rhamnusier bewirkten Staatsveränderung aus Athen vertrieben, und starb, wie es scheint, auf seiner Flucht nach einigen siebzig nach andern neunzig Jahr alt. Sucht man die Wahrheit sogar in der Mitte, wiewohl Platon im »Menon« sich offenbar für die erste Meinung erklärt, so konnte er fünf Olympiaden früher nur mit einiger Großsprecherei gegen den fast vierzigjährigen Sokrates so von seinem Alter rühmen. Darum würde ich immer, wenn man glaubt, die Widersprüche der Zeit nicht lösen zu können, doch darauf beharren, die frühere Zeit sei die, welche dem Wesen des Gesprächs angehört, und in welche Platon den Leser eigentlich versetzen wolle, und aus der späteren sei nur einiges als Verzierung vielleicht bewußtlos eingemischt. Denn zu ungründlich bleibt es doch, sich einfach dabei zu beruhigen, daß verschiedene Zeiten unter einander gemischt seien, und daß dies nicht aus der Weise und dem Gewissen der Alten hinausgehe.

Doch es ist Zeit die minder wichtige Untersuchung der äußeren Bedingungen zu vertauschen mit der Betrachtung des Inneren dieses ziemlich verwickelten und vielleicht nicht eben so gründlich verstandenen als vielfachgepriesenen Gesprächs. Sehr leicht ist es freilich die verschiedenen Abschnitte zu sondern und den Inhalt jedes einzelen der Ordnung nach auszuziehen; wer aber damit den Sinn des Ganzen gefunden zu haben glaubt, Entwurf und Anordnung als leicht und einfach rühmend, der kann schwerlich etwas anderes voraussetzen als sehr mit Unrecht das schlechteste, daß nämlich gar keine anordnende Idee dem Ganzen zum Grunde liege, sondern ohne Einheit wie ohne Kunst und Absicht jedes wie es sich trifft sich aus dem früheren herausspinne. Vielmehr wer den Zweck und die Idee des Ganzen nicht verfehlen will, in welchem gar vieles mannigfaltig durcheinander geht, der muß dem Zusammenhange alles Einzelen genauer nachspüren, in welchen der Leser jetzt vorläufig soll eingeführt werden. 1) Zuförderst sucht Sokrates den Jüngling, welcher dem Protagoras will zugeführt sein, über sein Vorhaben zur Besinnung zu bringen durch eine skeptische Untersuchung über das Wesen und die eigentliche Kunst der Sophisten. Diese wird von dem Protagoras selbst eben so indirekt wiewohl von einem andern Punkte aus gleichsam fortgesetzt in einer nach vorgetragenem Gesuch gehaltenen kurzen Rede über den Umfang und das Alter der Sophistik, worin er teils die Kühnheit seines offenen Bekenntnisses zu diesem Gewerbe zur Schau trägt, teils die Sache selbst als etwas altes, nicht etwa von den ältesten Weisen, sondern von Dichtern und Künstlern ableitet. Etwas unumwundenes und bestimmtes aber über diese Kunst kommt doch nicht eher ans Licht bis Sokrates ihm in einem kurzen dialogischen Abschnitt soviel abfragt, daß die bürgerliche Tugend eigentlich dasjenige ist, was den Gegenstand seines Unterrichtes ausmacht. 2) Hierauf stellt Sokrates in fortlaufender Rede, nur hingeworfen, durch Beispiele und Äußerungen der herrschenden Denkungsart unterstützt, den Satz auf, daß hierüber sich kein Unterricht erteilen lasse; wozu Protagoras teils in einem Mythos vom Ursprung der Menschen und des geselligen Lebens den Gegenbeweis führt, teils auch indem er in einigen weiteren Erörterungen dieselbe gewöhnliche Handlungsweise, welche Sokrates für sich angeführt hatte, zu Gunsten seiner Behauptung umzudeuten sucht. 3) Auf Veranlassung des von dem Protagoras vorgetragenen knüpft nun Sokrates, nach einigen vorerinnernden Winken über den Unterschied zwischen einer epideiktischen Rede und einem Gespräch, ein solches an über die Frage von der Einheit oder Mehrheit der Tugenden, worin er zuerst den die Mehrheit behauptenden Gegner nötigt Gerechtigkeit und Frömmigkeit einander entgegenzusetzen, dann als dieser sich sehr schlecht herauswickelt, höflich abbrechend, ihm in einem zweiten Gange das Geständnis abdringt, auch Besonnenheit und Einsicht müßten einerlei sein, und zuletzt im Begriff ist dasselbe von der Gerechtigkeit zu erweisen, als Protagoras absichtlich um den Faden abzureißen gewaltsam abspringend eine lange jedoch ganz empirische Erörterung über die Natur des Guten vorträgt. 4) Hieraus entstehen natürlich neue Erklärungen über das Wesen des Gespräches, und indem ein neuer Kampfvertrag soll abgeschlossen werden, da sich je länger je mehr zur großen Freude der edlen Jünglinge die Sache zu einem förmlichen philosophischen Wettstreit gestaltet hat, finden auch Prodikos und Hippias Gelegenheit mit kleinen Reden nach ihrer Weise aufzutreten. Wie denn auch Sokrates über den Vorschlag einen Kampfrichter zu wählen seine Stimme abgibt in einem Vortrage, der bei aller Kürze sich doch vor allen andern durch ein streng dialektisches Verfahren auszeichnet. 5) Den von ihm vorgeschlagenen Bedingungen gemäß ist nun Protagoras der Fragende geworden, und setzt nach Anleitung eines Simonideischen Gedichtes das Gespräch über die Tugend fort, ohne daß jedoch ein bestimmtes Ziel sichtbar wäre, zu welchem er auf diese Art hinführen wollte, sondern nur das Bestreben den Sokrates in Widersprüche zu verwickeln, welcher jedoch zuerst als Antwortender nicht nur den Protagoras zurückschlägt, sondern auch noch einen lustigen Nebenkrieg mit dem Prodikos führt, hernach aber selbst dieses Gedicht in einem fortlaufenden Vortrage erläutert, wobei der Satz, daß alles Böse nur aus Irrtum gewollt werde, als eine allgemeine Behauptung aller Weisen vorausgesetzt, auch eine Ableitung der Philosophie aus der Lebensweisheit der Lakedaimonier und Kreter eingeschaltet, zuletzt aber ernsthaft genommen nur mit der Folgerung geschlossen wird, daß durch solche Argumentationen aus Dichtern für die Feststellung der Begriffe nichts könne gewonnen werden. 6) Hierauf endlich wird der Dialog wieder aufgenommen, in welchem Sokrates nun seinerseits Fragender ist, und als solcher fortfährt zu zeigen, daß die Tugend nur Eine sei, Erkenntnis, Wissenschaft, dessen nämlich was zu tun ist. Zuerst zeigt er dieses von der Tapferkeit, und nachdem er einen nur scheinbar treffenden Verweis des Protagoras hingenommen, läßt er ihn halb gutwillig eingestehen, daß es kein Gutes gebe als die Lust und außer der Unlust kein Übel, woraus denn sehr leicht gefolgert wird, daß alle Tugend nichts sei als Wissenschaft des Berechnens und vergleichenden Messens. Und so wird vom Sokrates selbst der Widerspruch ans Licht gezogen, daß auf der einen Seite Protagoras, welcher doch die Tugend lehren zu können behauptet, sich geweigert habe zuzugeben, sie sei Wissenschaft, auf der andern Seite hingegen er selbst sich bemüht habe dieses zu beweisen, da doch seine Absicht dahin gegangen, jede Möglichkeit, als ob die Tugend könne gelehrt werden, zu bestreiten.