Zum Inhalt:
Was ist die Unendlichkeit? Gibt es verschiedene Unendlichkeiten? Vielleicht sogar in unterschiedlichen Größen? Wächst die Unendlichkeit immer weiter und ist niemals abgeschlossen? Oder gibt es auch eine Unendlichkeit, die nicht mehr größer wird?
Diese Fragen haben enorme praktische Bedeutung: Erst durch sie konnte geklärt werden, was Zahlen wie 7 oder Pi genau sind und dass elementare Rechentechniken, etwa zum Bestimmen eines Flächeninhalts oder der Steigung einer Kurve, tatsächlich präzise und ohne böse Überraschungen funktionieren. Letztlich beruht die gesamte heutige Mathematik darauf.
In den Jahren 1870 bis 1963 machten es sich fünf geniale Köpfe zur Aufgabe, das Undenkbare zu ergründen und die Grenzen der Mathematik zu sprengen. Als Erster wagte es Georg Cantor die Unendlichkeit mathematisch zu untersuchen – er revolutionierte dabei die gesamte Mathematik. Was er herausfand, beschäftigte Wissenschaftler bis in die 1960er Jahre: Unter ihnen Bertrand Russell, der einen folgenschweren Widerspruch in Cantors Mengenlehre entdeckte, David Hilbert, der mit einer Auflistung der bedeutendsten mathematischen Fragen seiner Zeit weltberühmt wurde, Kurt Gödel, der die Grenzen unseres Wissens auslotete, und Paul Cohen, der endlich die Antwort auf eine Frage fand, die die Wissenschaft seit fast einem Jahrhundert umtrieb. Sie alle verbindet ihre Faszination für die Unendlichkeit, ihre Leidenschaft für abstraktes Denken, ihre Vorstellungskraft – und ihr Verdienst für die moderne Mathematik, die auf ihren Erkenntnissen fußt.
Aeneas Roochs spannend erzählte Entdeckungsreise in die Welt der Unendlichkeit ist nicht nur eine anregende Erkundung eines der größten Rätsel von Mathematik und Philosophie, sondern zugleich eine Liebeserklärung an die präziseste und logisch strengste Wissenschaft, die wir kennen.
Zum Autor:
Aeneas Rooch, geboren 1983, studierte Mathematik und Physik und promovierte in Wahrscheinlichkeitstheorie und Mathematischer Statistik. Der Bestsellerautor und Wissenschaftsjournalist enträtselt in Radio und Podcasts das Mysterium der höheren Mathematik und versteht es meisterlich, die Schönheit dieser Wissenschaft zu vermitteln.
Weitere Informationen auf: https://rooch.de
Aeneas Rooch
Die Entdeckung der Unendlichkeit
Das Jahrhundert, in dem
die Mathematik sich neu erfand
1870–1970
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Originalausgabe 2022
Copyright © 2022 by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Kerstin Lücker
Illustrationen: Inka Hagen
Bildredaktion: Tanja Zielezniak
Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich,
unter Verwendung einer Illustration von © Bridgeman Images /Leonard de Selva
Satz: Satzwerk Huber, Germering
ISBN: 978-3-641-27918-9
V001
www.heyne.de
Für Mari
Inhalt
I
Cantor zerlegt die Unendlichkeit
1870–1900
1 Eine merkwürdige Erkenntnis
2 Geschaffen, um im Denken Genuss zu finden
3 Georg Cantor wagt das Undenkbare
4 Rechenregeln außer Betrieb
5 Ein genialer Trick
6 Mehr als unendlich
7 Liebe und Intensität
8 Zahlen jenseits aller Vernunft
9 Ich sehe es, aber ich glaube es nicht
10 Bitterer Kampf um Anerkennung
11 Das Universum der Unendlichkeiten
12 Das Unheimliche und die Schrecken
II
Hilbert sieht das Gebäude der Mathematik einstürzen und baut es neu auf
1900–1930
13 Die berühmteste Problemliste der Mathematik
14 Das dunkle Geheimnis der Unendlichkeit
15 Brisante Fragen
16 Das ist nicht Mathematik, das ist Theologie
17 Die Mengenlehre am Abgrund
18 Inkonsistente Vielheiten
19 Fataler Leichtsinn
20 Was die Zahlen wirklich sind
21 Die Konstruktion des Kontinuums
22 Angst vor dem Einsturz
23 Physik ist für die Physiker viel zu schwer
24 Dies ist eine Fakultät und keine Badeanstalt
25 Die Welt der Wahrheit
26 Die Grundlagenkrise der Mathematik
27 Hilberts Hotel
28 Gekrümmte Welten
29 Zuversicht
30 Ganz und gar Gewissheit
31 Die fundamentalen Wahrheiten
III
Schmerzhafte Erkenntnisse und eine unerwartete Antwort auf eine hundert Jahre alte Frage
1930–1970
32 Der Traum platzt
33 Ein Genie ersten Ranges
34 Die Mathematik zerbricht an einem Lügner
35 Ein sanfter Mann
36 Scheitern und Hoffnung
37 Die unzugängliche Unendlichkeit
38 Die Welt am Abgrund
39 Die Spaziergänger von Princeton
40 Unendlichkeit unter Zwang
41 Ende in Einsamkeit
42 Das Jahrhundert der Unendlichkeit
Danksagung
Quellen
Bildnachweis
I
Cantor zerlegt
die Unendlichkeit
1870–1900
1
Eine merkwürdige Erkenntnis
Im Sommer 1917 wurde ein alter Mann in die Nervenklinik der Universität Halle eingeliefert. Wörter sprudelten aus ihm heraus, doch man konnte ihnen nicht folgen, er blickte verstört um sich, wütend, ungestüm, voller Qual und Zorn. Er wirkte aufgewühlt und durcheinander. Der Mann war der Mathematikprofessor Georg Cantor.
Er hatte an etwas Brisantem gearbeitet, an das sich jahrhundertelang niemand herangetraut hatte, und war dabei auf etwas Merkwürdiges gestoßen. Als neugieriger Wissenschaftler, der mit Leidenschaft über abstrakte Probleme nachdachte, hatte er begonnen, es zu erforschen. Was er herausfand, sollte sein Fach revolutionieren, es sollte zur Grundlage der modernen Mathematik werden, dem Fundament, auf dem sie mit ihren Zahlen und Rechenoperationen, ihren Punkten, Kurven, Flächen und Räumen, ihren Funktionen und ihren abstrakten Objekten aufbaut. Cantors Erkenntnisse stehen heute in jedem Mathematikstudium auf dem Lehrplan für das erste Semester, doch Ende des 19. Jahrhunderts wurden sie kaum verstanden. Stattdessen wurde Cantor von seinen Fachkollegen angefeindet und attackiert, und bedeutende Mathematiker ließen ihren Einfluss spielen, um zu verhindern, dass er seine Überlegungen veröffentlichen konnte.
Was er im Alleingang und gegen alle Widerstände untersuchte, hatten Wissenschaftler seit Jahrhunderten nicht angetastet, es war fast so etwas wie ein Sakrileg: Georg Cantor erforschte die Unendlichkeit, und er tat es mit der Präzision, Radikalität und Strenge eines Mathematikers. Er löste sich von der Vorstellung, dass Unendlichkeit unseren Geist übersteigt, und ergründete allein durch strukturiertes Nachdenken ihre Eigenschaften, so wie es Mathematiker auch bei anderen abstrakten Objekten tun, seien es Integrale, Primzahlen, Grenzwerte, Krümmungen oder Wahrscheinlichkeiten. Bei dieser logischen Untersuchung erlebte Cantor eine Überraschung: Es gibt, so fand er heraus, nicht die eine unfassbare, unantastbare, unzugängliche Größe, die alles übersteigt und jede Vorstellung sprengt – es gibt nicht die eine Unendlichkeit, sondern mehrere. Cantor stellte fest, dass es verschiedene Sorten von Unendlichkeit gibt, und mehr noch, dass man sogar mit ihnen rechnen kann.
Als der Mathematikprofessor im Sommer des Jahres 1917 in die Klinik in Halle eingeliefert wurde, war er den Ärzten wohlbekannt, denn es handelte sich nicht um seinen ersten Aufenthalt dort. Immer wieder hatten ihn Nervenzusammenbrüche aus seinen Gedanken gerissen, und er musste ganze Monate in der Psychiatrie verbringen. Doch ein ums andere Mal kehrte er an den Schreibtisch zurück, dachte sich tief in die logische Welt der Mathematik hinein und kam so der wundersamen Natur der Unendlichkeit auf die Spur. Hier, im Universum der Unendlichkeiten, stieß aber auch er dann auf Rätsel, die er trotz seiner Scharfsinnigkeit nicht lösen konnte. Vor allem eine Frage stellte sich ihm, die zunächst klein und unscheinbar schien. Es dauerte jedoch rund einhundert Jahre, bis sie geklärt werden konnte. Erst 1963 fand der amerikanische Mathematiker Paul Joseph Cohen eine Antwort – und sie war ausnehmend kurios. Mit Georg Cantor aber fing diese erstaunliche Geschichte an.
2
Geschaffen, um im Denken Genuss zu finden
Fast wäre der Mann, der es gegen alle Widerstände wagte, die Unendlichkeit zu erforschen, und der im Alleingang eine neue Epoche in der Mathematik einleitete, gar kein Mathematiker geworden. Sein Vater hatte andere Pläne für ihn. Dieser Vater, Georg Woldemar Cantor, war als Kind zusammen mit seiner Mutter unter geheimnisvollen Umständen in die russische Metropole Sankt Petersburg gelangt, damals die Hauptstadt Russlands. Georg Woldemar wuchs in der evangelischen Mission auf und wurde Kaufmann. Als er etwa dreißig Jahre alt war, handelte er von und nach Übersee mit Segeltüchern und Seilen und unterhielt ein profitables Unternehmen, die Firma »Cantor & Co.«, später arbeitete er als Börsenmakler. 1842 heiratete er eine empfindsame, musikalische Frau, Marie Böhm, die aus einer berühmten österreichischen Musikerfamilie stammte. Rund drei Jahre später bekamen die beiden ihr erstes Kind: Am 3. März 1845 erblickte Georg Ferdinand Ludwig Philipp Cantor das Licht der Welt, im mondänen, prächtigen Sankt Petersburg. Er wuchs mit drei jüngeren Geschwistern auf, Ludwig, Sophie und Constantin, über die jedoch wenig bekannt ist.
Brieffragmente, die erhalten geblieben sind, zeigen Cantors Vater als einen bodenständigen, klugen Mann, der Bildung zu achten wusste und sich für Wissenschaft und Sprachen interessierte. Er war tief religiös und erzog seine Kinder im lutherischen Glauben. Vermutlich aber konnte er sich niemals auch nur ansatzweise vorstellen, auf welch spektakuläre Weise sein Sohn Georg später dem Göttlichen näher kommen sollte – indem er das Göttliche in Gestalt der Unendlichkeit erforschte, über die Sprache der Mathematik.
»Cantor & Co.« lief bestens, und als Georg Woldemar Cantor durch eine Lungenkrankheit gezwungen war, seine Geschäfte aufzugeben und in ein milderes Klima zu ziehen, reichte sein Vermögen aus, um gut davon leben zu können.
1856 zogen die Cantors in die deutsche Kurstadt Wiesbaden und von dort weiter nach Frankfurt am Main. Der kleine Georg war zu dieser Zeit elf Jahre alt. Später erinnerte er sich gern an seine Kindheit in Russland, sprach in einem Brief von einer wundervollen Zeit, nannte Sankt Petersburg seine Heimat und bedauerte, dass er sie nie wieder besucht hatte.
Als erfolgreicher Kaufmann wünschte der Vater sich für den Sohn einen nützlichen, gut bezahlten und angesehenen Beruf. Er wollte, dass Georg Ingenieur wurde, und schickte ihn auf die »Höhere Gewerbeschule des Großherzogthums Hessen« nach Darmstadt. Was er dort von ihm erwartete, offenbarte er dem Teenager zu Pfingsten 1860 in einem Brief:
Zur Erlangung vielfacher gründlicher wissenschaftlicher und praktischer Kenntnisse, zur vollkommenen Aneignung fremder Sprachen und Literaturen, zur vielseitigen Bildung des Geistes, auch in manchen humanistischen Wissenschaften […] dazu ist die eben angetretene zweite Periode Deines Lebenslaufes, das Jünglingsalter, bestimmt. Was der Mensch aber in dieser Periode versäumt, oder durch vorzeitige Vergeudung seiner besten Kräfte, Gesundheit und Zeit, sozusagen verludert, das ist unwiederbringlich und unersetzlich für ewig verloren.1
Dem erfolgreichen Kaufmann mit der geheimnisvollen Vergangenheit war die Erziehung seiner Kinder wichtig. Ob er ihnen liebevoll Möglichkeiten aufzeigte oder sie mit seinen strengen Vorstellungen einengte, ist im Rückblick schwer zu beurteilen, jedenfalls versuchte Georg Woldemar wohl Zeit seines Lebens, seinem Sohn Georg ein guter Ratgeber zu sein. Wie auch viele heutige Eltern rang er darum, den richtigen Ton zu treffen, um seinen Sohn zu erreichen. Sein Hinweis zu Pfingsten etwa, wozu das Jünglingsalter bestimmt sei und dass man Gesundheit und Zeit nicht vergeuden solle, schien vielleicht zu vorsichtig formuliert gewesen zu sein, jedenfalls beobachtete Georg Woldemar mit wachsender Sorge, dass der junge Georg an der Gewerbeschule in Darmstadt bereits in eine studentische Verbindung eingetreten war, und er sah sich offensichtlich genötigt, deutlicher zu werden. Im Mai 1861 schrieb er ihm:
Möchtest Du doch jetzt soviel eigene Einsicht gewinnen, um selbst die lebhafte Überzeugung daraus zu schöpfen, welche ungeheuren Nachteile Dir das frühzeitige Sichgehenlassen in diesem lässigen Treiben jenes lächerlichen, äffischen Corpswesens bringen muß, umso mehr als letzteres doch bloß im leeren Kneipen seinen Ausdruck sucht […]2
Entweder haben die direkten Worte Gehör gefunden, oder das rituelle Trinkgelage in der Studentenverbindung, das Kneipen, war ohnehin nicht Cantors Sache, jedenfalls schrieb ihm sein Vater bereits zwei Monate später voller Freude:
Du scheinst nun selbst zu dem Bewußtsein des Bedürfnisses gekommen zu sein, wie außerordentlich notwendig Dir noch eine allgemeine Ausbildung in den humanoria ist, jenen Fächern der höheren menschlichen Bildung. Ich gratuliere Dir daher zu Deinem tüchtigen Entschlusse, aus dem Corps auszutreten von ganzer Seele und freue mich umso mehr darüber, gerade weil ich es vollkommen begreife, wie schwer in Deinem Alter ein solcher männlicher freiwilliger Entschluß Dir werden mußte! Und ich habe doppelte Ursache mich darüber zu freuen, weil Dein Entschluß nicht durch ein von mir ausgehendes Verbot oder einen Befehl hervorgerufen ist […] In der Tat: es widerstrebt mir zu sehr, in solchen Sachen etwas zu verbieten, was nur vom eigenen Urteil und Willen eines jungen Menschen abhängen sollte. In reiferen Jahren wirst Du auf diese männliche Überwindung mit wahrer Genugtuung und Freude zurückblicken!3
In seiner Zeit in Darmstadt entdeckte der Teenager Georg nicht nur das Studentenleben, sondern fand auch Freude an abstrakten, mathematischen Überlegungen. Er fasste den Entschluss, Mathematik zu studieren, und sein Vater erlaubte es ihm. Die Einwilligung war eine gute Entscheidung, nicht nur aus der heutigen Perspektive, aus der wir wissen, dass Georg Cantor ein herausragender Mathematiker werden und das Fach mit seinen Gedanken über Mengen und Unendlichkeiten revolutionieren würde, sondern auch aus dem Blickwinkel des Vaters. Mit seiner Zustimmung, Mathematik studieren zu dürfen, hatte er den jungen Georg glücklich gemacht, wie dieser ihm in einem Brief versicherte:
Wie sehr Dein Brief mich freute, kannst Du Dir denken; er bestimmt meine Zukunft. Die letzten Tage vergingen mir im Zweifel und der Unentschiedenheit; ich konnte zu keinem Entschluß kommen. Pflicht und Neigung bewegten sich in stetem Kampfe. Jetzt bin ich glücklich.4
Cantor zog nach Zürich und begann, Mathematik zu studieren. In London hatte der Physiker James Clerk Maxwell gerade das erste Farbfoto der Welt vorgeführt, das, wenn auch blaustichig, ein buntes, schottisches Karomuster zeigte. Seine Erfindung leitete das Zeitalter der Bilder ein. Längst hatte die Industrialisierung der Welt ein neues Gesicht verpasst, und das Leben der Menschen veränderte sich radikal. Neue Eisenbahnstrecken ließen Europa näher zusammenrücken, und die Städte wuchsen rasant, weil immer mehr Arbeiter zu den entstehenden Fabriken zogen. Die moderne Technik, das wurde allmählich deutlich, schuf nicht nur neue Lebensverhältnisse, sondern erwies sich auch als eine Kraft, die Veränderungen immer schneller vorantrieb. Cantor aber folgte unbeirrt seiner Berufung und versank in Zürich in eine abstrakte Welt aus Zahlen, Funktionen und Symbolen. Sein Vater stand ihm, wenngleich kein Ingenieur mehr aus ihm werden würde, weiter mit Ratschlägen zur Seite und zeigte hier, auf dem ihm eher unbekannten Terrain der Naturwissenschaften, eine verblüffend zutreffende Einschätzung der Situation:
Hast du schon ein System und strenge Einteilung Deiner verschiedenen Tagesbeschäftigungen eingerichtet? Dieses ist für einen künftigen Gelehrten, wie mir dünkt – nein ich weiß es! daß es so ist – eigentlich unerlässlich […] Ich habe mich aufrichtig gefreut zu sehen, Du habest ein Colleg über Astronomie belegt. Dies ist jedenfalls ein Fach, welches Du nebenbei pflegen musst und welches man bei näherer Bekanntschaft immer mehr und mehr lieb gewinnt. Besonders scheint mir ein Physiker und Mathematiker, der nicht auch Astronomie kultiviert, etwas Undenkbares!5
In der Tat waren Physik, Astronomie und Mathematik schon damals eng miteinander verwoben. Viele mathematische Fragen ergaben sich seit jeher aus dem Versuch, physikalische Beobachtungen zu beschreiben und die Mechanismen zu verstehen, die sie hervorbrachten. So trieben Astronomie und Physik die Entwicklung der Mathematik wie ein permanenter Motor voran. Auch hier wurden die Folgen der Industrialisierung spürbar: Durch die Anwendung physikalischen Wissens verstärkte sich die Wechselwirkung von Physik und Mathematik und erhielt neue Impulse. Umgekehrt lieferte die Mathematik spätestens mit der Entwicklung der Differenzialrechnung im 17. Jahrhundert der Physik und Astronomie das Handwerkszeug, um eine unübersichtliche Vielzahl an Messungen, Beobachtungen und Erfahrungen zu sortieren und aufzubereiten, Zusammenhänge aufzuspüren und Gesetzmäßigkeiten zu formulieren. So konnten bestimmte Paradoxa über Bewegung, Position und Geschwindigkeit, die die Menschen schon in der Antike beschäftigt hatten, erst mit modernen Methoden wie dem Konzept unendlicher Summen mathematisch aufgelöst werden. Und 1846 wurde sogar der weit entfernte Planet Neptun erst durch mathematische Berechnungen aufgespürt, bevor er dann im Teleskop ausfindig gemacht werden konnte. Die Mathematik gewann zunehmend an Bedeutung, was den Mathematiker David Hilbert einige Jahrzehnte später, 1930, in einer berühmten Radioansprache zu einer äußerst selbstbewussten Äußerung veranlasste:
Wir beherrschen nicht eher eine naturwissenschaftliche Theorie, als bis wir ihren mathematischen Kern herausgeschält und völlig enthüllt haben. Ohne Mathematik ist die heutige Astronomie und Physik unmöglich; diese Wissenschaften lösen sich in ihren theoretischen Teilen geradezu in Mathematik auf.6
Angesichts dieser Einschätzung zeigt der Hinweis, den der Kaufmann Georg Woldemar Cantor seinem Sohn knapp siebzig Jahre zuvor gab, im Oktober 1862, die Expertise eines echten Branchenkenners. Allerdings folgten nicht mehr viele Ratschläge, denn im darauffolgenden Sommer starb der Vater. Cantor setzte sein Studium für ein Semester aus, kehrte im Anschluss aber nicht wieder nach Zürich zurück, sondern zog seiner Mutter hinterher, die sich in Berlin niederließ.
Der Studienort Berlin erwies sich als exzellente Wahl, denn die Stadt war ein Hotspot der mathematischen Forschung. Cantor hörte Vorlesungen bei Weltklasse-Mathematikern wie Karl Weierstraß und Leopold Kronecker, die an den neusten Problemen der Algebra und der Analysis arbeiteten. Fünf Jahre später, im Jahr 1867, als der deutsche Philosoph Karl Marx sein Hauptwerk Das Kapital veröffentlichte und sich der schwedische Erfinder Alfred Nobel den Sprengstoff Dynamit patentieren ließ, reichte Cantor in Berlin seine Dissertation ein, eine exzellente Arbeit über Zahlentheorie.
Anschließend unterrichtete er, frisch promoviert, an einem Gymnasium – allerdings nicht besonders lang, nach rund zwei Monaten Probeunterricht hörte er wieder auf. Seine Qualität als Wissenschaftler war zwar unbestritten, doch als Lehrer stellte er sich wohl nicht sonderlich geschickt an. Ohnehin sah Cantor seine Zukunft nicht an der Schule, sondern in der Forschung. Er dachte leidenschaftlich gern über abstrakte Probleme nach und träumte davon, in der Mathematik, der Welt der theoretischen Objekte, scharfsinnigen Analysen und präzisen Schlussfolgerungen, etwas bewegen zu können. Er wollte sich mit seiner Zeit und Energie ganz der Wissenschaft widmen, in der Hoffnung, dort mit seinen Ideen verstanden und berühmt zu werden. All das konnte er sich in der Schule nicht vorstellen, und sosehr er es auch schätzte, sich in Berlin bei einem Glas Wein mit anderen Denkern über mathematische Theorien austauschen zu können und an einem regelrechten Kondensationspunkt modernster mathematischer Forschung zu leben – er verließ das Gymnasium und nahm erst einmal die nächstbeste Stelle an einer Universität an, die sich ihm bot: an der Universität Halle.
Es war eine kleine, unbedeutende Provinzuniversität, gar kein Vergleich zum mondänen, wegweisenden Berlin, doch Cantor sah hier seine Chance. Hier, glaubte er, würde er sein Glück finden und seiner Bestimmung nachgehen können. Er schrieb im Februar 1869 an seine Schwester Sophie:
Ich sehe doch immer mehr ein, wie sehr mir meine Mathematik ans Herz gewachsen ist oder vielmehr, daß ich eigentlich dazu geschaffen bin, um in dem Denken und Trachten in dieser Sphäre Glück, Befriedigung und wahrhaften Genuß zu finden […] Du wirst Dir denken können, daß sich diese Hoffnung zunächst an Halle knüpfen; dort werde ich eine Wirksamkeit haben, welche sich ganz und gar auf meinen Beruf erstreckt, und ich werde dort vielleicht von selbst Anerkennung und Verständnis meiner Bestrebungen finden.7
Georg Cantor im Alter von etwa 25 Jahren, zu Beginn seiner Zeit an der Universität Halle
Halle war für Georg Cantor die erstbeste Möglichkeit, sich nach der Dissertation weiter mit dem beschäftigen zu können, was ihn antrieb und faszinierte. Hier wollte er über Zahlen und Funktionen und ihre abstrakten Eigenschaften nachdenken, etwa über die moderne und wichtige Frage, wie man eine komplizierte Funktion durch eine Summe von einfachen beschreiben kann – ob es prinzipiell geht, wann es geht, wie es geht und ob es vielleicht sogar verschiedene Möglichkeiten gibt, das zu tun. Cantor sah Halle als Sprungbrett und hatte nicht vor, allzu lange zu bleiben. Doch er sollte die Stadt nie mehr verlassen.
3
Georg Cantor wagt das Undenkbare
Im Alter von fünfundzwanzig Jahren, gerade frisch promoviert und nach einem kurzen, ernüchternden Ausflug in den Schuldienst, war Georg Cantor an die Universität Halle gewechselt. Er sah die Stelle als Zwischenstation und wollte nur ein paar Jahre bleiben, bis er habilitiert war. Es schien nur eine Frage der Zeit zu sein, bis er eine Professur an einer namhaften Universität erhielt, denn er war begabt, hatte kreative Einfälle und arbeitete an modernen Fragen und Problemen.
Unter anderem erforschte er Mengen. Er löste sich von konkreten Vorstellungen, die man von einer Menge haben kann – Vorstellungen wie »fünf Äpfel«, »drei Birnen«, sich überschneidende Kreise oder andere Arten, wie man Mengen eben gemeinhin bildlich darstellt und wie es einigen vielleicht noch aus dem Mathematikunterricht der 1970er-Jahre bekannt ist, als versucht wurde, mithilfe naiver Mengenlehre logisches Denken zu fördern.
Cantor untersuchte, welche Eigenschaften eine Menge besitzt, ganz allgemein und unabhängig von konkreten Einzelfällen. Eine solche abstrakte Herangehensweise ist für den Alltag nicht von Belang, für die Mathematik jedoch umso mehr. Zum einen benötigen Mathematiker für ihre logischen Schlussfolgerungen handfeste Definitionen, denn nur wenn sie das Objekt, um das es geht, präzise und unmissverständlich benennen können, ist es ihnen möglich, sinnvoll und verlässlich zu argumentieren und sich bei ihren Schlussfolgerungen sicher zu sein. Zum anderen sind Mengen in der Mathematik besonders wichtige Objekte. Die gesamte Wissenschaft – etwa was Zahlen und Rechenoperationen sind, Punkte, Linien, Kreise, Räume, Mannigfaltigkeiten und Funktionen, wie sie miteinander in Beziehung stehen und wie man mit ihnen arbeitet – wird heute logisch mithilfe der Mengenlehre beschrieben. Die abstrakte Mengenlehre ist einer der Grundbausteine, auf denen die gesamte Mathematik aufbaut, und Cantor hat sie als Erster systematisch erforscht.
Mit Mengendiagrammen wie diesen, auch Venn-Diagrammen genannt, lassen sich manche Mengen und ihre Beziehungen veranschaulichen. Die Mengenlehre, auf der die moderne Mathematik aufbaut, ist allerdings anspruchsvoller, als es solche Diagramme vermuten lassen.
Das war ihm nicht einfach so in den Sinn gekommen, sondern hatte sich ergeben, als er an Problemen arbeitete, die im Mainstream der damaligen Forschung lagen. Cantor untersuchte Punktmengen, wie sie etwa auftreten, wenn man die Lösungen einer Gleichung sucht. Es kann zum Beispiel nur eine einzige Zahl geben, die eine Gleichung löst, es können zwei Zahlen sein oder auch mehr, es können sogar unendlich viele Punkte sein – und schon hat man es mit unterschiedlich mächtigen Punktmengen zu tun.
Beispielsweise besitzt bereits die simple Gleichung
y = x
unendlich viele Lösungspunkte (x, y), nämlich alle Pärchen (x, y) aus zwei Zahlen x und y, bei denen beide Einträge x und y identisch sind. Lösungen sind etwa (1, 1) und (192, 192) und (,
) und ebenso jedes weitere Pärchen (x, y), bei dem x = y ist. Um der Gleichung diese Lösungsmenge anzusehen, muss man nun wirklich kein Experte sein, denn so, wie die Gleichung dasteht, verrät sie bereits in aller Deutlichkeit, welche Zahlen sie lösen. Eine unendliche Punktmenge mag als Begriff einschüchternd wirken, aber wie dieses Beispiel zeigt, muss sie nichts Kompliziertes sein. Punktmengen sind nichts weiter als Sammelbehälter für Einzelobjekte, zum Beispiel eben für alle Zahlen, die eine bestimmte Gleichung erfüllen. Doch ehe man sich’s versieht, hat man einen Sack mit unendlich vielen Objekten. Denken Sie nur an die Menge aller natürlichen Zahlen 1, 2, 3, 4, … Es ist eine sehr einfache Punktmenge, deren erste Mitglieder sogar Kindergartenkinder aufzählen können, und vielleicht sehen Sie mit einem Blick, dass die Menge kein Ende besitzt (falls nicht, werde ich Ihnen in Kürze einen überzeugenden Beweis liefern), und schon haben Sie es abermals mit einer unendlichen Punktmenge zu tun.
Als Cantor über unendliche Punktmengen nachdachte, stieß er auf etwas Unglaubliches. Er war es als Mathematiker gewohnt, über abstrakte Dinge nachzudenken und dabei auch verblüffende Zusammenhänge aufzuspüren, aber das, was er nun erkannte, lag jenseits aller Anschaulichkeit und traf ihn überraschend. Er fand heraus, dass unendliche Punktmengen zwar unendlich groß sind, sie jedoch auf eine bestimmte Art verschieden groß sein können – Cantor entdeckte, dass es verschiedene Größenordnungen von Unendlichkeit gibt.
Die Idee der Unendlichkeit hat Menschen schon früh beschäftigt. Der griechische Philosoph und Naturforscher Aristoteles sah um 350 v. Chr. zwei verschiedene Arten, wie man etwas Unendliches auffassen kann.
Zum einen gab es für ihn das potenziell Unendliche. Eine potenziell unendliche Menge war in seinen Augen eine Menge, der man immer wieder ein neues Element hinzufügen kann und die dennoch niemals fertig ist; es war eine Menge, die durch das fortwährende Hinzufügen einzelner Elemente ohne Ende wachsen kann, eine Menge also, die – eben potenziell – unendlich ist. Aristoteles dachte dabei etwa an die Menge der natürlichen Zahlen, die man sich genau so vorstellen kann:
1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, …
Man kann dieser Folge immer noch eine weitere Zahl hinzufügen, ohne dass einem die Zahlen ausgehen, die Menge wird also nie abgeschlossen: Indem man zu der aktuell letzten Zahl einfach eine 1 addiert, erhält man eine neue Zahl, die man der Menge hinzufügen kann; auf diese Weise versammelt man – theoretisch – unendlich viele Zahlen in der Menge.
Potenziell unendliche Mengen wachsen ohne Ende, aktual unendliche Mengen sind bereits fertig.
Nicht nur das Zählen, auch das Teilen sah Aristoteles als einen potenziell unendlichen Vorgang an: Wird eine Zahl zum Beispiel durch 2 geteilt, das Ergebnis wieder, dieses Ergebnis wieder und so weiter, kommt man niemals an ein Ende, sondern kann immer weitermachen. Beginnt man beispielsweise mit der Zahl 1, erhält man eine Folge von Zwischenergebnissen:
1, ,
,
,
, …
Auch diese Folge endet niemals, schließlich kann man jede Zahl, die man beim Teilen erhält, wiederum durch 2 teilen und landet so bei einem neuen Ergebnis, das man der Folge hinzufügen und dann erneut durch 2 teilen kann – und so weiter. Das potenziell Unendliche, wie es etwa durch fortwährendes Addieren oder fortwährendes Teilen entsteht, war für Aristoteles gewissermaßen der Weg zur Unendlichkeit: Es war ein Vorgang, sich der Unendlichkeit in Gedanken schrittweise anzunähern.
Neben diesem potenziell Unendlichen gab es für Aristoteles das aktual Unendliche. Eine aktual unendliche Menge war in seinen Augen eine Menge, die aus unendlich vielen Objekten besteht und bereits fertig ist. Sie war sozusagen das Ende des Weges. Aristoteles fand, dass man sich zwar vorstellen kann, wie eine Menge wächst und potenziell unendlich groß wird, dass eine aktual unendliche Menge jedoch, also das Unendliche als fertiges Objekt, weder möglich noch vorstellbar ist.
In der Spätantike, kurz vor Beginn des Frühmittelalters, deutete der Kirchenlehrer Augustinus von Hippo gar: Das aktual Unendliche, das fertige Unendliche, ist Gott.
Für Jahrhunderte blieb diese Deutung unangetastet. Theologen und Philosophen glaubten, dass der menschliche Verstand in seiner Endlichkeit und Beschränktheit das aktual Unendliche nicht erfassen kann, und beließen es dabei. Es gab auch keinen Anlass, diese Ansicht zu hinterfragen, denn Mathematiker und Physiker arbeiteten guter Dinge und ohne Probleme mit dem potenziell Unendlichen, dem Vorgang des Immer-neu-Hinzufügens, und wurden dabei von beeindruckenden Erfolgen bestätigt. So konnten sie zum Beispiel die Fläche eines Kreises bestimmen, indem sie den Kreis durch Vielecke annäherten, und zwar nicht durch eine bestimmte Anzahl von Vielecken, sondern durch immer mehr und mehr, durch potenziell unendlich viele. So kamen sie zu brauchbaren Ergebnissen. Die Mathematik funktionierte bestens ohne das aktual Unendliche, und die Theologen rührten es nicht an. Das fertige Unendliche, Gott, kann man einfach nicht erforschen oder begreifen, da waren sich Theologen und Mathematiker einig.
Doch nun, um 1870, tat Georg Cantor das Undenkbare. Er wollte erforschen, was jahrhundertelang niemand gewagt hatte: die Unendlichkeit als fertiges Objekt. Cantor sah keinen Grund, sie nicht anzutasten, im Gegenteil, er war der Ansicht, das Wesen der Mathematik liege gerade in ihrer Freiheit, und so nahm er sich, frei und radikal, fertige unendliche Mengen vor und untersuchte sie mathematisch. Nachdem Wissenschaftler zuvor über Jahrhunderte der Ansicht gewesen waren, Unendlichkeit übersteige unseren endlichen Verstand, war dies eine revolutionäre Kühnheit. Es war geradezu ein Urknall zu Beginn der modernen Mathematik.
Die Fläche eines Kreises kann man berechnen, indem man sie durch eckige Flächen annähert. Keine eckige Fläche trifft die Kreisfläche perfekt, man erhält sie aber als Grenzwert des potenziell unendlichen Prozesses, wenn man immer filigranere Vielecke in den Kreis legt und ihn dadurch immer mehr ausfüllt.