ANGELINE BOULLEY
FIRE
KEEPER’S
DAUGHTER
Aus dem amerikanischen Englisch
von Claudia Max
Die Arbeit der Übersetzerin am vorliegenden Text wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.
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© 2022 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der
Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Copyright: © 2021 by Angeline Boulley
Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »Firekeeper’s Daughter« bei Henry Holt and Company, a registered trademark of Macmillan Publishing Group, LLC, New York
Übersetzung: Claudia Max
Lektorat: Regine Teufel
Historische Einordnung: Dr. Marco Briese & Angeline Boulley
Umschlaggestaltung: Suse Kopp, Hamburg,
unter Verwendung des Originalumschlags
© Jacket Art: Moses Lunham
© Jacket Design: Rich Deas und Kathleen Breitenfeld
sh · Herstellung: AJ
Satz und E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-641-26489-5
V002
www.cbj-verlag.de
Für meine Eltern, Donna und Henry Boulley Sr.,
die Geschichten lieben
Ich stehe als Statue von einem Mädchen erstarrt im Wald. Nur meine Augen bewegen sich, sie huschen von der Waffe zu ihren verblüfften Gesichtern.
Waffe. Schock. Waffe. Ungläubigkeit. Waffe. Angst.
THA-THUM-THA-THUM-THA-THUM.
Der kurze Revolver zittert leicht in der Hand, die auf mein Gesicht zielt.
Ich werde sterben.
In meiner Nase kribbelt eine fettige Süße. Vertraut. Vanille und Mineralöl. WD-40. Jemand hat die Waffe damit gereinigt. Noch mehr Gerüche: Kiefer, feuchtes Moos, ekelhafter Schweiß und Katzenpisse.
THA-THUM-THA-THUM-THA-THUM.
Die zittrige Hand holt mit einer Hackbewegung aus, als schwinge sie eine Machete. Jeder diagonale Hieb mit dem Revolver gibt mir Hoffnung. Lieber ein zufälliges Ziel als ich.
Doch dann greift von Neuem Todesangst nach meinem Herz. Der Revolver. Wieder auf mein Gesicht gerichtet.
Mom. Sie wird meinen Tod nicht überleben. Die Kugel wird uns beide töten.
Eine tapfere Hand streckt sich nach der Waffe aus. Die Finger gespreizt. Fordernd. Her damit. Los.
THA-THUM-THA-
Ich bin in Gedanken bei meiner Mutter, als der Schuss alles verändert.
........
WAABANONG
(OSTEN)
Für Ojibwe beginnt jede Reise gen Osten.
Ich beginne meinen Tag vor Sonnenaufgang, ziehe Joggingsachen an und lege eine Prise semaa an die Ostseite des Baums, dort werden die Sonnenstrahlen zuerst auf den Tabak fallen. Gebete beginnen mit einer semaa-Gabe, anschließend sage ich meinen spirit name – meinen Seelennamen –, meinen Clan und woher ich komme. Außerdem füge ich immer noch einen weiteren Namen hinzu, damit Schöpfer weiß, wer ich bin. Einen Namen, der mich mit meinem Vater verbindet – denn ich begann als Geheimnis, später war ich ein Skandal.
Ich danke Schöpfer und bitte um zoongidewin – was ich nach meinem 5-Meilen-Lauf vorhabe, erfordert Mut. Ich schiebe es schon eine Woche vor mir her.
Während meiner Dehnungsübungen in der Auffahrt reißt der Himmel auf. Wenn mein Bruder mit mir läuft, beschwert er sich jedes Mal über das lange Aufwärmprogramm. Ich erkläre Levi immer wieder, dass meine längeren, größeren und deshalb haushoch überlegenen Muskeln für Spitzenleistungen intensive Vorbereitungen benötigen. In Wahrheit, doch diese Begründung würde er idiotisch finden, zähle ich beim Dehnen die korrekten anatomischen Namen der einzelnen Muskeln auf. Und zwar nicht nur die der oberflächlichen Muskeln, sondern auch die der tiefen. Ich will den anderen Erstsemestern in meinem Anatomie-Kurs diesen Herbst ein Stück voraus sein.
Als ich mit Aufwärmen und der Anatomieaufzählung fertig bin, späht die Sonne durch die Bäume. Ein Strahl fällt auf meine semaa-Gabe. Niishin! Es ist gut.
Die erste Meile ist immer die schwierigste. Ein Teil von mir möchte weiter mit meiner Katze, Herri, im Bett liegen, deren Schnurren das genaue Gegenteil eines Weckers ist. Doch nach einer Weile findet mein Atem, vom Wippen meines schweren Pferdeschwanzes begleitet, seinen Rhythmus. Meine Arme und Beine funktionieren auf Autopilot. Von da an wandert mein Geist ins Dazwischen, in dem ich Teil dieser Welt bin, aber auch woanders, und die Meilen fliegen in einem Zustand halb bewusster Benommenheit an mir vorbei.
Meine Strecke führt mich über das Unigelände. Auf der gegenüberliegenden Seite befindet sich die schönste Aussicht von Sault Ste. Marie, Michigan. Als ich an Fontaine Hall vorbeilaufe, dem neuesten Wohnheim der Lake State University, benannt nach meinem Großvater mütterlicherseits, werfe ich ihr eine Kusshand zu. Als sie letztes Jahr eingeweiht wurde, bestand meine Großmutter Mary – ich nenne sie GrandMary – darauf, dass ich ein Kleid trug. Beim Fototermin war ich versucht, ein böses Gesicht zu ziehen, aber ich wusste, mein Trotz würde eher Mom verletzen als GrandMary auf die Palme bringen.
Ich nehme die Abkürzung über den Parkplatz hinter der Studierendenvereinigung zum Nordende des Unigeländes. Von der Klippe hat man einen fantastischen Blick über den St. Marys River, auf die International Bridge nach Kanada hinüber und auf die Stadt Sault Sainte Marie in Ontario. In die Flusskrümmung im Osten der Stadt schmiegt sich der Ort, den ich im Universum am meisten liebe: Sugar Island.
Am Horizont hinter der Insel versteckt sich die aufgehende Sonne unter einer tief hängenden dunklen Wolke. Ich bleibe von Ehrfurcht ergriffen stehen. Aus der Wolke fächern sich Lichtbündel, als wäre Sugar Island die Quelle der Sonnenstrahlen. Ein kühler Wind bläht mein T-Shirt auf und ich bekomme Mitte August Gänsehaut.
»Ziisabaaka Minising«, flüstere ich auf Anishinaabemowin, es ist der Name der Insel, den mir mein Vater als Kind beigebracht hat. Er klingt wie ein Gebet. Die Familie meines Vaters, die Seite der Firekeepers, ist ebenso Teil von Sugar Island wie die von Quellen gespeisten Flüsse und die Zuckerahornbäume.
Als die Wolke weitertreibt und die Sonne ihre Strahlen zurückfordert, schiebt mich eine Windböe vorwärts. Zurück zum Joggen und der vor mir liegenden Aufgabe.
Eine Dreiviertelstunde später beende ich meine Runde bei EverCare, einer Langzeitpflegeeinrichtung ein paar Blocks von zu Hause. Heute fühlte sich beim Laufen alles umgekehrt an, die erste Meile lief am besten, danach wurde es zunehmend schwieriger. Ich jagte dem Dazwischen hinterher, aber es war eine Fata Morgana knapp außerhalb meiner Reichweite.
»Morgen, Daunis«, begrüßt mich Mrs Bonasera, die Pflegeleitung, hinter dem Rezeptionstresen. »Mary hatte eine gute Nacht. Deine Mom ist schon da.«
Noch immer schwer atmend winke ich meinen üblichen Morgengruß.
Der Gang kommt mir mit jedem Schritt länger vor. Ich bereite mich auf die Reaktionen vor, die meine Ankündigung hervorrufen wird. In den Szenarien, die ich mir ausgemalt habe, drückt eine hochgezogene Augenbraue Enttäuschung aus, Verärgerung und die Rücknahme der bisherigen Anerkennung.
Vielleicht sollte ich lieber bis morgen warten, um meine Entscheidung zu verkünden?
Mrs B. hätte nichts zu sagen brauchen; der schwere Rosenduft auf dem Gang kündigt die Anwesenheit meiner Mutter bereits an. Als ich das Einzelzimmer betrete, massiert sie die dünnen Arme meiner Großmutter gerade sanft mit duftender Rosenlotion. Ein frischer Strauß gelber Rosen verstärkt den blumigen Sättigungsgrad.
Mittlerweile ist GrandMary seit anderthalb Monaten bei EverCare, davor lag sie einen Monat im Krankenhaus. Sie hatte bei meiner Abschlussfeier an der Highschool einen Schlaganfall. Mein morgendlicher Besuch bei ihr gehört zu meinem Neuen Normal, so nenne ich den Zustand, wenn das eigene Universum so gnadenlos durchgerüttelt wird, dass man nie wieder dieselbe Achse findet. Trotzdem versucht man es.
Die Augen meiner Großmutter suchen nach meinen. Als sie mich erkennt, hebt sich die linke Augenbraue. Ihre rechte Seite ist nicht mehr in der Lage, irgendetwas auszudrücken.
»Bon matin, GrandMary.« Ich küsse sie auf beide Wangen und trete einen Schritt zurück, damit sie mich inspizieren kann.
Im Vorher ging mir die kritische Überprüfung meiner Kleiderwahl tierisch auf die Nerven. Aber jetzt? Fühlt sich ihr einseitiger missbilligender Blick auf mein Oversize-Shirt wie ein erstklassiger Schlagschuss an.
»Siehst du?« Ich hebe kokett den Saum an und führe die gelben Spandex-Shorts darunter vor. »Nicht halb nackt.«
GrandMary verdreht kaum wahrnehmbar die Augen, doch ungefähr nach der Hälfte driftet ihr Blick ins Leere. Als würde sich eine Glühbirne hinter ihren Augen willkürlich ein- und ausschalten.
»Gib ihr einen Moment Zeit«, sagt Mom und reibt weiter Lotion auf GrandMarys Arme.
Ich nicke und sehe mich im Zimmer um. Das große Panoramafenster mit Blick auf einen Spielplatz. Das Whiteboard mit der Überschrift HALLO! ICH HEISSE MARY FONTAINE, und darunter eine Linie, auf der sich jemand bei MEIN/E PFLEGER/IN eintragen kann. Die Linie hinter MEINE ZIELE ist leer. Um die Vase mit den Rosen sind gerahmte Fotos aufgestellt. GrandMary und Grandpa Lorenzo am Tag ihrer Hochzeit. Ein Doppelrahmen mit Mom und Uncle David als betende Engel in weißen Kommunionskleidern. Mein Jahrgangsfoto der Zwölften in einem Silberrahmen mit der Gravur ABSCHLUSSKLASSE 2004.
Beim letzten Foto von uns vier Fontaines – Mom, Uncle David, GrandMary und ich nach meinem Abschieds-Eishockeyspiel – bildet sich ein walnussgroßer Kloß in meiner Kehle. So viele Nächte ging ich schlafen und hörte Mom und ihren Bruder lachen, Karten spielen oder die Sprache sprechen, die sie als Kinder erfunden haben – eine Mischung aus Französisch, Italienisch, verknapptem Englisch und erfundenen Wörtern, die keinen Sinn ergaben. Doch das war, bevor Uncle David im April starb und GrandMary vor lauter Trauer zwei Monate später einen intrazerebralen hämorrhagischen Schlaganfall erlitt.
Im Neuen Normal lacht meine Mutter nicht.
Sie blickt auf. Ihre jadegrünen Augen sind müde und gerötet. Statt zu schlafen, hat Mom letzte Nacht wie eine Verrückte das Haus geputzt und dabei mit meinem Onkel geredet, als säße er auf dem Sofa und sähe ihr beim Abstauben und Aufwischen zu. Das tut sie oft. Ich wache auf, wenn meine Mutter ihm in diesen dunkelsten Stunden ihre Einsamkeit und ihre Reue gesteht, nicht ahnend, dass ich ihre Geheimsprache fließend beherrsche.
Während ich darauf warte, dass meine Großmutter wieder sie selbst wird, fische ich einen Lippenstift aus dem Körbchen auf dem Nachttisch. GrandMary glaubt daran, dass man den Tag mit einem perfekten roten Lächeln begrüßen soll. Während ich das matte Rubinrot über ihre schmalen Lippen gleiten lasse, fällt mir meine Bitte um Mut wieder ein. Zoongidewin bedeutet, sich seinen Ängsten mit starkem Herzen zu stellen. Meine Hand zuckt; das goldene Lippenstiftröhrchen ist die zitternde Nadel eines Seismografen.
Mom ist fertig mit Eincremen und küsst GrandMary auf die Stirn. Ich war so oft die Empfängerin dieser Küsse, dass einer als Echo meine Stirn wärmt. Hoffentlich spürt GrandMary diese gute Medizin trotz ausgeknipster Glühbirne.
Während ihres Krankenhausaufenthaltes hatte ich mir Notizen gemacht, wie oft sie im täglichen identischen Fünfzehn-Minuten-Fenster blinzelte. Mom störte sich nicht an meinem Protokoll, bis ihr die Trennung der Zählstriche in GLÜHBIRNE AN und GLÜHBIRNE AUS auffiel. Die Gesamtzahl war unverändert, doch der Prozentsatz an bewussten Blinzelbewegungen (GLÜHBIRNE AN geteilt durch Gesamtzahl Blinzeln) hatte abgenommen. Meiner Mutter setzte die Strichliste so zu, dass ich das Blinzel-Notizbuch mittlerweile in GrandMarys Zimmer verstecke und nur heraushole, wenn Mom nicht da ist.
Und da ist es. GrandMary blinzelt und ihre Augen leuchten. GLÜHBIRNE AN. Von einem Moment auf den anderen ist sie konzentriert und wieder eine mächtige Naturgewalt, die Matriarchin der Fontaines.
»GrandMary«, sage ich schnell. »Ich verschiebe meine Zulassung für die University of Michigan und schreibe mich stattdessen für Kurse an der Lake State ein. Nur für das erste Semester.« Ich halte die Luft an und warte auf ihre Enttäuschung, dass ich von meinem Plan Dr. Daunis Lorenza Fontaine abweichen will.
Anfangs zog ich mit, weil ich hoffte, sie stolz zu machen. Ich wurde damit groß, dass Leute mit bösartiger Schadenfreude über den »Großen Skandal« in Mary und Lorenzo Fontaines »Perfektem Leben« tuschelten. Ich spielte so gut und so lange mit, dass ihr Plan irgendwann meiner wurde. Unser Plan. Ich liebte diesen Plan. Aber das war im Vorher.
GrandMary mustert mich mit einem Blick, der ebenso zärtlich ist wie die Küsse meiner Mutter. Etwas passiert zwischen meiner Großmutter und mir. Sie begreift, warum ich unseren Plan ändern musste.
In meiner Nase kribbeln die Nadelstiche, die ich immer spüre, bevor ich in Tränen ausbreche – aus Erleichterung, aus Traurigkeit oder beidem. Vielleicht gibt es ein Wort auf Anishinaabemowin dafür, wenn man nach einer Tragödie wieder Halt in den Trümmern findet.
Mom eilt um das Bett und drückt mich so fest an sich, dass die Luft aus meinen Lungen weicht. Ihre freudigen Schluchzer vibrieren durch mich hindurch. Ich habe meine Mutter glücklich gemacht. Das wusste ich vorher, aber ich hatte nicht erwartet, dass auch ich so erleichtert sein würde. Sie hatte mich gedrängt, nicht in eine andere Stadt aufs College zu gehen, und sogar Levi angestachelt, mir damit auf die Nerven zu gehen. Im Januar hat sie mich angefleht, den Zulassungsantrag für die Lake State als Geburtstagsgeschenk für sie auszufüllen. Da ich davon ausging, dass es sowieso nicht mehr klappen würde, hatte ich eingewilligt. Wie sich herausstellen sollte, hat es geklappt.
Ein Vogel knallt mit einem dumpfen Schlag gegen das Fenster. Meine Mutter zuckt zusammen und lässt mich los. Ich gehe drei Schritte auf das Fenster zu, da richtet sich der Vogel auf und schlägt mit den Flügeln, um sein Gleichgewicht wiederzufinden, bevor er seine Reise fortsetzt.
Für Gramma Pearl – meine Anishinaabe nokomis auf der Firekeeper-Seite – bedeutete ein gegen die Scheibe fliegender Vogel ein böses Omen. Sie wäre, eine ledrige braune Hand vor den Mund geschlagen, nach draußen geeilt und hätte über seinem gekrümmten Hals »Oh-oh-oh« gemurmelt, dann hätte sie ihre Schwestern gerufen und mit ihnen beraten, welche Tragödie hinter der nächsten Ecke lauerte.
In GrandMarys Weltbild war es Zufall und Pech. Nichts weiter als das unbeabsichtigte Resultat eines geputzten Fensters. Indianer-Aberglaube hat nichts mit Fakten zu tun, Daunis.
Meine Zhaaganaash- und Anishinaabe-Großmütter hätten nicht unterschiedlicher sein können. Die eine betrachtete die Welt als Oberfläche, die andere erkannte Verbindungen und Lehren, die tiefer reichten als die uns bekannte Welt. Ihre Unterschiedlichkeit war mein ganzes Leben lang ein Tauziehen.
Mit sieben verbrachte ich ein Wochenende in Gramma Pearls Teerpappen-Hütte auf Sugar Island. Ich wachte weinend mit Ohrenschmerzen auf, aber die Fähre zum Festland hatte den Dienst für die Nacht schon eingestellt. Sie ließ mich in eine Tasse pinkeln, legte meinen Kopf in ihren Schoß und goss mir den Inhalt der Tasse ins Ohr. Als ich Sonntag Abend wieder bei GrandMary und Grandpa Lorenzo war, erzählte ich beim Essen, wie klug meine andere Großmutter war. Gramma Pearl hat meine Ohrenschmerzen mit meinem Pipi geheilt! GrandMary zuckte zusammen, aber einen Augenblick später funkelte sie meine Mutter böse an, als wäre es ihre Schuld. Meine Mutter so verlegen zu sehen, spaltete etwas in mir. Ich begriff, dass es Zeiten gab, in denen von mir erwartet wurde, eine Fontaine zu sein, und andere, in denen es in Ordnung war, eine Firekeeper zu sein.
Mom wendet sich wieder GrandMary zu und schlägt die Kaschmirdecke zurück, um Lotion in ein dürres Alabasterbein zu massieren. Sie kümmert sich bis zur Erschöpfung um meine Großmutter. Mom ist überzeugt, dass sie wieder auf die Beine kommen wird. Meine Mutter war noch nie besonders gut darin, unangenehme Wahrheiten zu akzeptieren.
Vor einer Woche wachte ich während einer ihrer Putzanfälle auf.
Ich habe so viel verloren, David. Und jetzt auch noch sie. Wenn Daunis weggeht, j’disparaitrai.
Sie verwendete das französische Wort, das sowohl »verschwinden« als auch »sterben« bedeutet.
Meine Geburt vor achtzehn Jahren veränderte die Welt meiner Mutter. Und zerstörte das Leben, das ihre Eltern für sie vorgezeichnet hatten. Ich bin alles, was sie auf dieser Welt noch hat.
Gramma Pearl erklärte mir immer Aller schlechten Dinge sind drei.
Uncle David starb im April.
Im Juni hatte GrandMary einen Schlaganfall.
Indem ich zu Hause bleibe, kann ich das dritte Unglück verhindern. Selbst wenn es bedeutet, dass ich noch ein wenig warten muss, bis ich den Plan verfolgen kann.
»Ich gehe dann mal.« Ich gebe erst Mom, dann GrandMary einen Abschiedskuss. Sobald ich aus dem Pflegeheim heraus bin, renne ich los. Normalerweise gehe ich die paar Blocks nach Hause, um mich abzukühlen, aber heute lege ich einen Sprint bis zur Auffahrt hin. Keuchend lasse ich mich unter meinen Gebetsbaum fallen. Und warte, dass ich wieder Luft bekomme.
Warte, dass der normale Teil des Neuen Normal beginnt.
Lilys Jeep hält mit quietschenden Bremsen in der Auffahrt. Meine beste Freundin trägt wie üblich Schwarz und steigt aus, damit ich auf den Rücksitz klettern kann. Auf dem Beifahrersitz thront Granny June mit unter dem Kinn geknotetem Kopftuch; die dunkelbraunen Augen können kaum über das Armaturenbrett schauen. Bei der winzigen Lily und ihrer Urgroßmutter grenzt es an ein Wunder, dass die beiden die Straße überhaupt erkennen können.
Lily ist meine beste Freundin, seit sie in der sechsten Klasse herzog, um bei ihrer Granny June zu leben. Optisch sind wir das totale Gegenteil, und zwar nicht nur wegen unseres Größenunterschiedes. Ich bin so blass, dass mich die anderen Nish-Jugendlichen früher Ghost genannt haben, und einmal hörte ich, dass mich jemand als »diese ausgeblichene Schwester von Levi« bezeichnete. Als Lily noch bei ihrem Zhaaganaash-Vater und seiner Frau lebte, ließen sie sie nicht in die Sonne, damit ihre rötlich braune Haut nicht noch dunkler wurde. Wir haben beide von klein auf gelernt, dass es ein »Akzeptables Anishinaabe Hautfarben-Kontinuum« gibt und dass alle, die im jeweils äußeren Spektrum landen, mit unterschiedlichen Versionen desselben Bullshits klarkommen müssen.
Lilys Lächeln ist mit glänzendem schwarzen Lippenstift nachgezogen. Als sie mein Outfit bemerkt – Jeans und eines von Dads Eishockeytrikots, das mir bis zum Oberschenkel reicht –, wird es noch breiter.
»Lady Daunis in ihrer vornehmsten Robe. Es ist mir eine Ehre, Euch zu fahren.« Sie verbeugt sich.
Ich grinse und habe das Gefühl, als würde ich den Rucksack mit meinen Schulbüchern abnehmen.
»Ich sollte hinten sitzen. So umständlich für dich«, sagt Granny June und sieht zu, wie ich den Fahrersitz vorklappe und meine knapp ein Meter achtzig auf die Rückbank falte. »Sieht aus, als würde ein Baby in den Mutterleib zurückkriechen.« Das sagt sie jedes Mal, wenn wir beide bei Lily mitfahren.
»Niemals, Granny June, du bist die beste Co-Pilotin.«
Man nimmt keinen Gefallen von einer Ältesten an. Macht man einfach nicht.
Wir setzen Granny June auf dem Weg zur Arbeit oft beim Sault Senior Center ab, je nachdem, was es dort zum Mittagessen gibt. Sie hat die monatlichen Menüs der beiden Mittagessenprogramme für Senioren mit denselben Argusaugen im Blick wie eine Bingo-Karte während des Coverall. Wenn Granny June der Meinung ist, dass die Zhaaganaash eine bessere Mahlzeit bekommen, lässt sie sich von Lily im Sault Senior Center im Stadtzentrum absetzen. Ansonsten holt sie ein Van des Tribes ab und bringt sie mit der Fähre zum Mittagessen und Nachmittagsprogramm im Nokomis-Mishomis Elder Center auf Sugar Island.
»Hast du’s getan?« Lily wirft mir im Rückspiegel einen wissenden Blick zu.
»Jep.«
»Hast’n Gummi benutzt?«, fragt Granny June. Wir lachen alle, und als Lily zu schwungvoll um eine Ecke biegt, setzen ihre Reifen noch einen Quietscher obendrauf.
»Nicht das, Granny«, sagt Lily. »Daunis hat ihrer Ma und Grandma erzählt, dass sie nicht auf die University of Michigan gehen wird. Nun ist es offiziell … Lake Superior State University, Baby!« Das schrille Lee-Lee, das sie durch das heruntergelassene Fenster trillert, lässt ein paar Touristen auf dem Gehweg zusammenzucken. Lily hat versucht, mir das Trillern beizubringen, mit dem manche Nish-Frauen Erfolge vermelden, aber es war vergeblich.
Granny June dreht sich zu mir und mustert mich missbilligend. Ich warte auf ihre Aufforderung, mich aufrecht hinzusetzen. Das käme jetzt nämlich von GrandMary.
»Mein Mädchen, manche Boote sind für den Fluss gemacht und manche sind fürs Meer.«
Da hat Granny June wahrscheinlich recht. Ich weiß bloß noch nicht, welches davon ich bin.
Lily wirft mir im Rückspiegel einen mitfühlenden Blick zu. In der Wissenschaft besteht ein Gemisch aus zwei oder mehr Komponenten, die sich nicht chemisch miteinander verbinden. Wie Essig und Öl. Lily weiß, wie ich mich fühle: traurig, dass ich nicht in Ann Arbor sein werde, gleichzeitig froh, das erste Semester zusammen mit ihr verbringen zu können. Obwohl beide Gefühle unabhängig existieren, wirbeln sie in mir umher.
Wir fahren an den Souvenirläden vorbei. Auf der anderen Straßenseite liegt die Flusspromenade, dort beobachtet eine Touristengruppe, wie ein dreihundert Meter langes Frachtschiff durch die Soo Locks, die Schleusenanlage auf dem Saint Marys River, manövriert.
Ich weiß noch, wie wir letzten Herbst ins Zentrum von Ann Arbor gefahren sind und die Uni-Führung mitgemacht haben. GrandMarys Enthusiasmus war das krasse Gegenteil von Moms nervenden Fragen zur Kriminalitätsrate. Uncle David – der sich selten gegen meine Mutter stellte – beharrte darauf, dass ich meinen Abschluss weit weg von zu Hause machen musste. Für mich stand die University of Michigan für mehr als nur Bildung. Sie war die Freiheit von dem Gerede, das mich mein ganzes Leben lang umgeben hat.
Daunis Fontaine? War ihr Vater nicht dieser Eishockeyspieler, Levi Firekeeper? Einer der wenigen Indianer von Sugar Island, die was draufhaben.
Ich weiß noch, als er Grace Fontaine geschwängert hat. Das reichste weiße Mädchen in der Stadt.
Hat er sich nicht bei einer Party auf Sugar Island volllaufen lassen und anschließend sein Auto zu Schrott gefahren, in dem sie saß?
Was für ein Jammer, dass er sich bei dem Unfall beide Beine gebrochen hat! Ausgerechnet als die Talentscouts kamen, um sich umzusehen. Es war das Ende seiner Eishockeykarriere.
Mary und Lorenzo haben ihre Tochter zu Verwandten nach Montreal geschickt, doch als sie mit einem drei Monate alten Mädchen zurückkam, war Levi bereits mit einer anderen verheiratet und hatte Levi Jr.
Ich habe gehört, die schüchterne Grace soll ihren Eltern Kontra gegeben haben, als sie das kleine Mädchen von Levi und diesen Indianer-Verwandten fernhalten wollten.
Oh, und dann gab es diese schreckliche Tragödie …
Wir kommen an einer Werbetafel vorbei, die normalerweise für das Superior Shares Casino and Resort wirbt, aber im letzten Monat hat der Sugar Island Ojibwe Tribe seine registrierten Mitglieder ermuntert, bei der heutigen Tribal Council Election den neuen Stammesrat zu wählen.
Letzte Nacht hat jemand das L übersprüht, nun steht da VOTE! IT’S YOUR TRIBAL ERECTION.
»Für eine Erektion würde ich glatt wählen gehen«, bemerkt Granny June. Lily und ich fangen wieder an zu kichern.
Danach wettert sie los, dass es keinen Unterschied mache, wer gewählt wird, weil die Gewinner sowieso nur für sich selbst sorgen würden und nicht für die Mitglieder des Tribes.
»Aber wenn ich sterbe, müsst ihr mir versprechen, dass der Tribal Council bei meiner Beerdigung den Sarg trägt« – sie legt eine theatralische Pause ein – »dann können sie mich noch ein letztes Mal herablassend behandeln.«
Ich stimme in Granny Junes Lachen ein. Wie üblich schüttelt meine beste Freundin nur den Kopf.
»Teddie hätte sich aufstellen lassen sollen«, sagt Lily. »Sie hätte da mal richtig aufgeräumt.«
Meine Tante Teddie ist die klügste Person, die wir kennen. Sie ist so krass. Ein paar aufrührerische Mitglieder wollen, dass Sugar Island seine Unabhängigkeit von den USA erklärt. Falls sie Auntie je für ihren unausgegorenen Plan gewinnen können, wird vielleicht sogar was aus der Operation Abspaltung.
»Aber Auntie sagt, sie kann als Tribal Health Director in der Gesundheitsversorgung mehr bewirken«, widerspreche ich.
Granny June mischt sich ein. »Sie würde nie gewinnen, ebenso wenig wie ich. Teddie sagt, was Sache ist. Aber die Wähler hören lieber hübsche Lügen als hässliche Wahrheiten, hey?«
Lily nickt, dabei darf keine von uns beiden an einer Tribal Election teilnehmen, weil wir keine registrierten Mitglieder sind.
»Wisst ihr was«, sagt Granny June. »Starke Ojibwe-Frauen sind wie die Flut und erinnern uns an Naturgewalten, die zu stark sind, um sie zu bändigen. Schwache Menschen fürchten diese Stärke. Sie werden nie eine Nish kwe wählen, vor der sie Angst haben.«
Nun bin ich diejenige, die die Wahrheit meiner Ältesten nickend bestätigt.
Als wir das Sault Senior Center erreichen, wendet Lily ihre einzigartige Methode von Parallelparken an und fährt mit der Nase voran in die Parklücke, bis sie die hintere Stoßstange des Autos vor ihr antippt. Wir steigen beide aus, um Granny June aus dem Jeep zu helfen. Sie bleibt kurz stehen, bevor sie ins Zentrum hineingeht.
»Teddie und ich haben unsere Leichen im Keller. Haben mit zu vielen von ihren Männern geschlafen.« Sie reckt trotzig das Kinn. »Na ja, das und unsere Straftaten.« Lily und ich sehen uns mit großen Augen an, als Granny uns zum Abschied zuwinkt.
Als wir wieder im Jeep sitzen, lachen wir los.
»Heilige Scheiße«, sagt Lily. »Ich weiß ja, dass Granny June eine Vergangenheit hat, aber meinst du, es stimmt, dass Teddie Straftaten auf dem Kerbholz hat?« Sie fährt rückwärts, bis sie die Stoßstange des Autos hinter uns berührt, und fädelt sich wieder in den Innenstadtverkehr ein.
»Auntie behauptet, diese ganzen Geschichten über ihre ›Jugendsünden‹ seien Quatsch.«
»Wenn wir schon bei Sünden sind – bleibt es bei morgen?«, fragt Lily, als wir auf die Satelliten-Reservation des Tribes auf dem Festland zusteuern.
»Klar. Wir müssen schließlich feiern.« Ich konzentriere mich auf den positiven Teil meiner Entscheidung.
»Du hast dich so verrückt gemacht. Wie hat GrandMary es aufgenommen, als du es ihr erzählt hast?«
»Sie, ähm … Sie hat mich wissen lassen, dass es in Ordnung ist.« Als ich an diesen Moment zwischen meiner Großmutter und mir denke, in dem ich gemerkt habe, dass sie die Situation klar erfasste und meine Entscheidung verstand, bin ich wieder ganz gerührt.
»Siehst du? Du machst dich immer unnötig verrückt«, sagt Lily.
Wir erreichen die Chi-Mukwa-Arena. Es gibt zwei Wahllokale für die heutige Tribal Council Election: eines hier im Freizeitzentrum und eines im Elder Center auf Sugar Island. Auf dem Ice Circle Drive bilden sich schon auf beiden Seiten Autoschlangen. Lily fährt über die Bordsteinkante, um auf dem Rasen zu parken.
Sie ertappt mich dabei, dass ich nach Streifenwagen der Tribal Police Ausschau halte. Lilys kreative Parkkünste erregen bei der Polizei immer wieder Aufmerksamkeit.
»Hast du TJ schon gesehen? Müssen wir ihn jetzt ernsthaft mit Officer Kewadin ansprechen?« Sie schaudert. »Du hast ihn nicht zu der Party eingeladen, oder?«
»Nein, ich habe keine Cops zu unserer Party eingeladen«, antworte ich total genervt. »Ich bin ja nicht diejenige, die sich alle zwei Wochen mit ihrem Ex aussöhnt.«
Lily mustert mich kühl. Ihr Mund zuckt, aber sie erwidert nichts. Doch als wir die Autos am Anfang der Schlange erreichen, schlägt sie mir auf den Rücken. Fest.
»Aua! Was soll der Scheiß!« Meine beste Freundin sieht mich mit Unschuldsmiene an.
»Was denn? Du hattest eine Kriebelmücke auf dem Rücken, groß wie ein Kolibri.« Dieses Mal grinst sie.
Wir prusten los. Unser Lachen ist ebenso aufgekratzt wie ich gerade, weil ich weiß, dass nun alles gut wird.
Vor dem Eingang zur Chi Mukwa schwenken Mitglieder des Tribes Schilder für ihre bevorzugten Kandidaten, während die Wahlberechtigten in die Arena strömen, um ihre Stimme abzugeben. Als wir näher kommen, wird eine Frau auf uns aufmerksam und hält uns einen Teller mit selbst gebackenen Cookies entgegen.
»Die sind nicht registriert«, verkündet ihre Mitstreiterin kühl.
Die Cookie-Lady zieht ihre Bestechungssüßigkeiten zurück und ruft uns gleichgültig »Schönen Tag noch« zu.
Wir sind Nachkommen des Ojibwe-Tribes auf Sugar Island – aber keine registrierten Mitglieder. Bei mir ist mein Vater nicht auf der Geburtsurkunde eingetragen und Lily erfüllt den für die Registrierung notwendigen Mindestblutanteil nicht. Aber auch wenn wir bloß die Gesichter gegen die Glasscheibe drücken und alles von außen beobachten, betrachten wir den Tribe als unseren.
»Als ob wir ihre moowin Cookies hätten haben wollen«, brummt Lily und klingt exakt wie Granny June.
Ich erspare mir den Kommentar, dass wir uns beide beim Anblick des Tellers die Lippen geleckt haben.
Die Lobby ist voller Menschen. Im Gang zur Volleyballhalle-nun-Wahllokal stehen Wähler an. Eltern geben ihre Kinder beim Niibing-Programm ab. Das Sommerprogramm bietet Kindern den ganzen Tag betreute Aktivitäten, die sie müde machen sollen, allerdings sind sie wesentlich effizienter darin, uns Betreuerinnen und Betreuer müde zu machen.
Bevor wir zu unserer jeweiligen Gruppe gehen, rempelt mich Lily an.
»Later, Alligator.«
»After while, Crocodylus niloticus.«
Wir geben uns unseren Spezialhandschlag: High Five für das große Mädchen, Low Five für die Kurze, Ellbogen aneinander, Fußtippen, als würden wir einen Hacky Sack kicken, ausgestreckte Handfläche, um die Daumen für ein flatterndes Schmetterlingsfinale zu verhaken.
»Hab dich lieb, Nerd!« Lily hat immer das letzte Wort.
Als es Zeit für die letzte Aktivität des Tages ist, bringe ich meine Gruppe von Neun- und Zehnjährigen in die Umkleide, damit sie sich zum Schlittschuhlaufen Sweatshirts, Mützen und Handschuhe anziehen. Ich mache eine Ojibwe-Sprachlektion daraus und sage bei jedem Teil, das ich anziehe, den Namen auf Anishinaabemowin.
»Naabikawaagan.« Als wir aufs Eis gehen, wickle ich mir meinen Schal um den Hals.
»Hey, Bubble!«, brüllt mir Levi quer durch die Eishalle entgegen; es ist der Spitzname, den ich am allerwenigsten ausstehen kann.
Freitagnachmittags laufen die Sault Ste. Marie Superiors mit den Kindern Schlittschuh. Die Supes sind ein Elite-Team der Junior-A-Liga, ein Sprungbrett für alle, die sich Hoffnungen machen, auf College- oder Profi-Niveau zu spielen. GrandMary bezeichnet die Supes als »Mädchenpensionat« für Eishockeyspieler.
Mein jüngerer Bruder, der nach dem Sommer in die Zwölfte kommt, wurde schon in seinem zweiten Jahr zum Captain des Teams gewählt. Auf der Oberen Halbinsel von Michigan gelten die Supes als Eishockeygötter – was Levi sozusagen zu Zeus macht, weil er etwas Besonderes besitzt, das noch über natürliche Begabung und harte Arbeit hinausgeht.
Wir sehen uns überhaupt nicht ähnlich. Ich bin das Ebenbild unseres Vaters. Doch während Dads Gesichtszüge zu seinem kräftigen Körperbau gepasst haben, wirken meine wie eine Karikatur. Levi ähnelt seiner Mom, bis hin zu den Grübchen, der bronzefarbenen Haut und den langen Wimpern. Dad war ein Eishockeygott, auch da hatte Levi Glück. Außerdem kann mein Bruder charmant sein, vor allem, wenn er etwas von einem will.
Levi und einer der neuen Supes laufen gerade mit den Fünf- und Sechsjährigen Eis, meine sechsjährigen Cousinen Perry und Pauline sind auch darunter.
»Auntie Daunis!«
Ich liebe es, wenn meine Zwillingscousinen mich »Auntie« nennen. Ich lasse meine Gruppe stehen und skate zu ihnen.
»Auntie, wusstest du, dass heute Freitag, der Dreizehnte ist?« Pauline klingt wie eine Lehrerin.
»Uncle Levi sagt, Pech ist bloß erfundene Pferdekacke«, mischt sich Perry ein.
Ich ahme Paulines Schullehrerinnenton nach. »Levi, wusstest du, dass verantwortungsvolle Tanten und Onkel vor jungen beeinflussbaren Gemütern keine Kraftausdrücke benutzen?« Der Supe neben Levi kichert. »Siehst du, der Neue versteht, was ich meine.«
»Ich heiße Jamie«, stellt sich der Neue vor. »Jamie Johnson.«
»Aha. Erst mal sehen, wie du dich im Team machst, bevor ich mir deinen Namen merke«, antworte ich.
Als ich meinen überlangen Schal abnehme, dröhnt gerade »Hey Ya!« von OutKast aus den Lautsprechern. Perry und Pauline halten sich an den Schalenden fest und ich ziehe die Zwillinge um die Eisbahn.
Das hat Dad früher mit Levi und mir gemacht – ein Kind an jedem Ende, die Mitte des Schals wie ein Geschirr um seine Hüften. Der Schal meines Vaters war jadegrün wie die Augen meiner Mutter. Perry bettelt, ich soll schneller laufen. Dieses Mädchen ist am glücklichsten, wenn sich ihre langen blauschwarzen Haare bei maximalem Tempo wie die Kondensstreifen eines Jets hinter ihr auffächern. Einem Impuls folgend fahre ich mit vier schnellen Schritten zu Levi zurück und bohre dabei meine Schlittschuhe ins Eis. Es genügt, um Perry zum Quietschen zu bringen, macht Pauline aber keine Angst.
Kurz vor meinem Bruder bremse ich mit einer Vierteldrehung. Meine Schlittschuhkufen schaben die obere Eisschicht ab, die Levi und den Neuen trifft. Ich grinse, als sie eine Sekunde zu spät zurückspringen. Levi findet es lustig, aber die Kinnlade des Neuen klappt mit einer Mischung aus Schreck und Ehrfurcht herunter.
Ich schaue mir die Flugbahn der Zwillinge an. Perry versucht, meine Bremsmethode nachzuahmen. Sie stürzt, rappelt sich aber gleich wieder auf. Pauline schlittert weiter, bis sie gegen die Banden prallt und auf dem Hintern landet. Obwohl ich sicher bin, dass ihr nichts passiert ist, laufe ich zu ihr. Der Neue folgt mir.
Als ich bei ihr ankomme, schaut Pauline zu mir hoch und grinst mich mit einem Halloweenkürbis-Grinsen an. Ihr schönes Gesicht hat einen dunklen Bernsteinton – ein perfektes und wundervolles tiefgoldenes Braun. Sie wedelt mit ihren Handschuhen nach mir.
»Hilf mir hoch!«, bettelt sie.
Ich weiß noch, wie ich als Kind einmal hart gefallen und mit dem Helm aufs Eis geknallt bin. Dad war sofort bei mir und rief mit seiner tiefen Stimme N’Daunis, bazigonjisen! Obwohl ich Sterne sah, habe ich mich aufgerappelt. Tapferes Mädchen!
Noch immer höre ich – wie das Donnern, das auf einen Blitz folgt – bei jedem Sturz die Stimme meines Vaters, die mir sagt, ich solle wieder aufstehen.
»Eh, nichts passiert«, sage ich.
Als der Neue ihr aufhilft, quiekt sie vergnügt.
»Du hättest die lahme Schnecke liegen lassen sollen, bis sie anfriert«, erkläre ich ihm. Ich versuche, ein Lächeln zu unterdrücken, als er Pauline auf dem Eis dreht und mit ihr lacht. Wir werden beobachtet und ich werde den Klatschmäulern keinen Anlass zu Kommentaren liefern.
Ich halte Ausschau nach Lily. Sie ist von Vorschulkindern umringt, die sich Zentimeter für Zentimeter mit ihren bunten Plastikhilfen vorwärtsbewegen. Als sich unsere Blicke treffen, macht sie eine anzügliche Geste mit Hand und Zunge. Lily geht es wie allen anderen, die sich, seit letzte Woche das Team für 2004–2005 verkündet wurde, gar nicht mehr einkriegen über den neuen Supe.
Jamie Johnson ist so was von heiß.
Jamie Johnsons Narbe verleiht ihm was Geheimnisvolles.
Ist es nicht superschade, dass Jamie Johnson zu Hause eine Freundin hat? Ach, das wird nicht halten.
Und am allerschlimmsten …
Hey, Daunis, kannst du Levi mal fragen, ob ich Jamie Johnsons Supe-Betreuerin werden kann?
Ich mustere ihn verstohlen. Empirisch betrachtet, ist Jamie vermutlich gut aussehend. Er hat große dunkle Augen und ziemlich lange dunkelbraune Haare, die sich in alle Richtungen locken. Mich interessiert allerdings eher die Narbe, die vom Ende seiner rechten Augenbraue bis zu seinem Kiefer hinunter verläuft. Bei genauerem Hinsehen hat sie nicht die wulstige Wucherung eines Keloids, also einer hypertrophischen Narbe.
»Levi hat mir von dir erzählt. Du wirst auf die University of Michigan gehen«, sagt Jamie und schaut den Zwillingen hinterher, die zu ihrem Betreuer zurücklaufen.
»Oh, ich … äh … da gab es eine Planänderung.« Ich sehe Levi an, der sich zu uns stellt. »Ich habe mich für die Lake State entschieden. Meine Mom braucht mich.« Ich räuspere mich. »Du weißt schon … Ist gerade alles ziemlich viel für sie.«
Gramma Pearls Warnung, dass aller schlimmen Dinge drei sind, erwähne ich nicht.
»Du bleibst hier?«, ruft Levi. »Woo-hooooo!« Mein Bruder hebt mich hoch und wirbelt mich herum, bis mir schwindlig ist. Ich schlage ihm lachend auf den Rücken. Seine Freude ist irgendwie ansteckend.
Levi stellt mich wieder aufs Eis. »Jetzt haben wir was, das wir am Wochenende feiern können. Die Party morgen um acht im großen Haus geht klar? Wir organisieren das eiskalte Bier.«
»Lily und ich sind dabei.«
Noch immer jubelnd skatet Levi davon und führt wie der Rattenfänger von Hameln eine Reihe von Kids an.
»Dann bleibst du also hier.« Jamies Lächeln erreicht seine Augen, die letzten Anzeichen von Schwindel schlagen Purzelbäume in meinem Magen.
Nicht empirisch betrachtet, ist Jamie Johnson heiß, wenn seine Augen so funkeln.
Er redet weiter. »Schade, dass du nicht auch in die Zwölfte kommst. Aber, hey, so bleibt dir wenigstens mein Onkel Ron als Chemielehrer erspart.«
Ich nicke, obwohl meine Nase vertraut kribbelt, was ich aber mit angespanntem Kiefer verdränge.
»Hab ich was Falsches gesagt?« Jamies Stimme ist jetzt etwas tiefer, seine Frage klingt besorgt.
»Nein. Es ist bloß … Dein Onkel übernimmt an der Sault High den Job meines Onkels.« Das Bild von Uncle David, wie er die Gasflamme eines Bunsenbrenners einstellt, löst eine Flutwelle von Traurigkeit aus. Und Wut.
Jamie wartet auf weitere Erklärungen von mir.
»Er ist vor einigen Monaten gestorben. Es war schrecklich.« Ich verbessere mich. »Es ist immer noch schrecklich.«
Wenn jemand stirbt, wechselt alles, was denjenigen betrifft, ins Präteritum. Außer die Trauer. Trauer bleibt im Präsens.
Noch schlimmer ist es, wenn man wütend auf den Betreffenden ist. Nicht nur, weil er gestorben ist. Sondern wie.
Meine Mutter wurde ohnmächtig, als man es ihr mitteilte. Später, als die Polizei Einzelheiten lieferte, beharrte sie darauf, dass er seit dreizehn Jahren trocken war. Kein Tropfen Alkohol seit dem Tag, an dem Mom aus der Schulbibliothek zurückkam und mich als Fünfjährige mit meinem bewusstlosen Onkel auf dem Sofa fand, wo ich ihm Bücher vorlas. Sie bestand darauf, dass ihr Bruder nie andere Drogen genommen hatte. Niemals.
»Es tut mir sehr leid, Daunis.«
Mein Name klingt ganz anders, wenn er ihn mit seiner fast heiseren besorgten Stimme sagt. Er dehnt meinen Namen, sodass er wie Doo-ness klingt, nicht wie bei meinen Firekeeper-Verwandten, die ihn Dah-niss aussprechen.
Lily ruft nach mir und deutet mit den Lippen zu den Banden, wo Teddie wartet. Meine Tante winkt mich zu sich. Als ich zu ihr skate, bin ich ein bisschen überrascht, dass Jamie mir folgt.
»Hey, ich wollte wählen gehen und die Mädchen abholen, aber jetzt gibt es ein Problem auf der Arbeit.« Auntie bemerkt Jamie. »Hi, ich bin Teddie Firekeeper. Du bist bestimmt der neue Supe, über den alle reden. Sorgt immer noch für Aufregung, wenn es ein indigener Spieler ins Team schafft. Wo kommst du her?«
»Jamie Johnson, Ma’am.« Er streckt ihr die Hand entgegen. »Von überall. Wir sind oft umgezogen.«
Mit dem Hosenanzug und dem wunderschönen Perlen-Blumenmedaillon sieht Auntie wie eine Respektsperson aus. Aber da ist auch immer noch ein Echo des Mädchens, das dir an die Kehle gegangen wäre, wenn du sie Theodora genannt hättest.
»Ich meinte von welchem Tribe«, präzisiert sie.
»Cherokee, Ma’am. Aber ich bin nicht bei meiner Familie aufgewachsen.«
Ich spähe zu Jamie hinüber. Ohne Verwandte groß zu werden, ist unvorstellbar für mich. Auch wenn ich nicht mit allen blutsverwandt bin, habe ich mein ganzes Leben lang viele Familienmitglieder um mich herum gehabt. Außerdem viele Matriarchinnen und Mini-Matriarchinnen in Ausbildung.
»Soll ich solange auf die Mädchen aufpassen, Auntie?«
»Könntest du das?« Sie klingt erleichtert. »Ich muss wieder zur Arbeit. Wir haben die T-Shirts für die Impfkampagne nächste Woche bekommen und darauf sagt eine Eule: ›Die Klugen lassen sich impfen!‹« Auntie schüttelt den Kopf. »Ist keinem aufgefallen, als sie dreihundert T-Shirts bestellt haben!«
»Oje«, bringt es Lily, die gerade angeskatet kommt, auf den Punkt.
»Was ist das Problem?« Jamie richtet die Frage an mich, er ist verwirrt. Entweder verbinden die Cherokee mit Eulen etwas anderes oder aber Jamie hat keine Ahnung von seiner Kultur.
»Bei den Ojibwe begleitet dich die Eule in die andere Welt, wenn du stirbst«, erkläre ich. »Nicht unbedingt die wünschenswerteste Botschafterin, um den Nish-Eltern zu erklären, dass sie ihre Babys impfen lassen sollen.«
Auntie fügt hinzu: »Nicht jeder kennt die Lehren. Deshalb treffe ich mich mit einer Mitarbeiterin des Gesundheitsdienstes und ihrer Vorgesetzten im Büro, um schnellstmöglich neue Shirts zu ordern.«
»An einem Freitagabend?« Lily ist sowohl entsetzt als beeindruckt.
»Tja, da sie das Problem mitverursacht haben, müssen sie auch bei der Lösung mithelfen.« Auntie ruft den Zwillingen auf Anishinaabemowin zu: »Aambe, jiimshin.« Sie kommen herbeigelaufen, um sich küssen und umarmen zu lassen.
Nachdem ihre Mutter fort ist, fragt Pauline Jamie, ob er sie hochheben kann. Als er sie auf dem Arm hat, wirft sie sich in Pose, als wären sie bei einem Olympiaturnier. Voller Bewunderung beobachte ich seine perfekte Technik, sie zu halten. Ich kenne sie noch aus den Jahren, in denen ich Eiskunstlauflektionen über mich ergehen lassen musste, damit mir GrandMary auch Eishockey erlaubte. Wie lange Jamie wohl Paarlauf trainiert hat, bevor er zu Eishockey wechselte?
Lily ertappt mich dabei, wie ich ihn beobachte.
»Ich würde ja sagen, echt blöd, dass der neue Supe eine Freundin hat. Aber du fängst wegen deiner moowin Eishockey-Welt-Regeln ja sowieso nichts mit Eishockeyspielern an.« Sie klingt fast genervt deswegen.
»Jep. Eishockey-Welt und Alltags-Welt muss man auseinanderhalten.« Auf dem Eis kenne ich die Regeln. Überall sonst ändern sich die Regeln laufend. Mein Leben verläuft ruhiger, wenn sich Eishockey-Welt und Alltags-Welt nicht überlappen. Dasselbe gilt für meine Fontaine- und Firekeeper-Welten.
»Die guten Dinge passieren aber, wenn Welten kollidieren … Osmose-Kombustion«, erklärt Lily.
Ich grinse. »Du meinst die Kollisionstheorie. Wenn zwei Dinge kollidieren und Energie austauschen, vorausgesetzt, die reagierenden Partikel besitzen genügend kinetische Energie.«
»Ach, stimmt. Wie konnte ich die bloß durcheinanderbringen?« Sie lacht. »Aber ernsthaft, deine Regeln sind so schwarz-weiß. Warum kannst du nicht einfach …«
»Lily?«, ruft eine Stimme. Wir drehen uns beide um. Als ich Lilys Ex ein paar Meter weiter an der Bandentür sehe, bleibe ich wie angewurzelt stehen. Sein vertrautes, hoffnungsvolles Lächeln sorgt dafür, dass sich alles in mir anspannt; ich werfe Lily einen Blick zu und warte auf einen Wink, wie ich mich verhalten soll.
Es war in der Sechsten in der Cafeteria, als Lily den lieben verrückten Travis Flint zum ersten Mal das Alphabet rülpsen hörte. Sie musste so sehr lachen, dass ihr die Milch aus der Nase schoss. Es war die beste Reaktion, die er je erlebt hatte; Travis war sofort hin und weg von Lily. Später an der Highschool, als er markante Wangenknochen und ein kantiges Kinn bekam, fiel den Mädchen plötzlich auf, dass der Klassenclown mehr als attraktiv war. Travis leuchtete, vor allem, wenn er Lily zum Lachen brachte.
Doch im Dezember, nach der Hälfte der Zwölften, änderte sich alles.
Ich beobachte Lily genau. Wenn sie mit Travis redet, muss ich mich auf die nächste Folge der Lily-und-Travis-Saga gefasst machen. Obwohl die Handlung immer dieselbe bleibt, wird die Show ständig neu aufgelegt.
Zum Glück skatet sie davon, offenbar hat sie keine Lust, mit ihm zu reden. Travis trägt keine Schlittschuhe, aber ich blockiere trotzdem die halbe Türöffnung zum Eis und konzentriere mich darauf, mit jedem Zentimeter und Pfund meines Körpers eine undurchdringliche Wand zu bilden. Jedes Eishockeyteam braucht seinen Pitbull, jemanden, der Stunk anfängt oder Fehler ahndet. Ich bin Lilys Pitbull.
»Hey, Dauny, sei doch nicht so.« Seine eingefallenen Wangen sind konkav an der Grenze zu krank. Alles Weiche ist verschwunden. Er wirkt nur noch wie die Hülle des lustigen Jungen, der mich früher einmal so sehr zum Lachen brachte, dass ich mich eingepinkelt habe. »Ich schwöre, ich bin clean. Will bloß mit ihr reden.«
»Wird aber nicht passieren, Trav.« Ich stemme die Hände in die Hüften, um mich noch breiter zu machen.
»Ich bin clean«, wiederholt er. »Ich bleibe clean für sie.«
»Ich weiß«, sage ich. Ich nehme ihm ab, dass er das ehrlich meint, aber deshalb ist es noch lange keine gute Idee, dass er sich in Lilys Nähe aufhält. Normalerweise lasse ich Typen keinen Schwachsinn durchgehen, aber die Ernsthaftigkeit in seiner Stimme weckt fast den Wunsch in mir, ihn zu umarmen. Das hier ist anders als die typischen Jungs-Lügen.
Jungs-Lügen sind die Dinge, die Typen im Eifer des Gefechts verkünden und die mit der Zeit und der Entfernung verblassen. Dank TJ Kewadin, dem neuesten Cop von Sugar Island, habe ich eine ganze Menge Jungs-Lügen gehört. Ich muss ständig an dich denken. Oder . Und mein persönlicher Favorit? .