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Aktualisierte Neuausgabe 2022
© Piper Verlag GmbH, München 2004, 2008, 2018 und 2022
Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaas-buchgestaltung.de
Covermotiv: Laurent Grandadam/HUBER IMAGES (Schanghai)
Karte: cartomedia, Karlsruhe
Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee
Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)
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…ist in diesem Buch da, wo in chinesischen Büchern traditionell das Ende ist. Seit Tausenden von Jahren lesen Chinesen von rechts nach links, also von hinten nach vorn. Was auch wieder Blödsinn ist, weil: Unser Hinten ist ihr Vorn. Wenn sie lächeln sollen für ein Foto, sagen Chinesen nicht auf Englisch »Käse«, sondern auf Chinesisch »Aubergine«. Sie »essen« ihre Suppe nicht, sondern »trinken« sie, und sie tun das nie vor, sondern stets nach dem Essen. Dafür stellen sie den Nachnamen vor den Vornamen. Im Herzen sitzt bei ihnen die Vernunft, und weiß ist die Farbe ihrer Trauergewänder. Amerika nennen sie das »Land der Schönheit« und Deutschland das »Land der Tugend«.
Höchste Zeit für einen Kompass.
Chinesische Erfindung wie auch Fußball, Buchdruck oder Papier (alles Altertum) und Obstsalat mit rosa Mayonnaise (Peking, Anfang des 21. Jahrhunderts). Wurde wie alle chinesischen Spielereien vom Abendland schamlos geklaut und nachgebaut, bekam jedoch von seinen Erfindern einen genialen Kopierschutz verpasst, den der Westen bis heute nicht knacken konnte – weil er ihn noch nicht einmal bemerkt hat. An dieser Stelle sei das Geheimnis verraten:
Der Kompass zeigt nach Süden.
Zhi nan zhen ist die »Nadel, die nach Süden zeigt«, und seit Jahrhunderten kichern sich Chinesen in den Bart, wenn sie Europäer mit dem Kompass in der Hand nach Norden laufen sehen. Die Nadel mag die gleiche sein, in ihrer Deutung gehen Ost und West diametral auseinander. Ähnliches lässt sich beobachten, wenn die beiden sich unterhalten: Man verwendet die gleichen Begriffe und denkt doch in entgegengesetzte Richtungen. Kommunismus ist eines dieser trügerischen Worte, manchmal auch Liebe.
Können sie also je zusammenkommen, China und der Westen? Warum nicht: Letztlich haben sie das gleiche Ziel, die nach Norden und die nach Süden rennen – solange die Welt nur rund bleibt.
Einmal hatte ich im Zug von München ins Allgäu eine Begegnung mit einem jungen Burschen, der sich besoffen auf seinen Sitz warf, hernach das amerikanische Pärchen auf der anderen Seite des Ganges anpöbelte und ihnen zum Abschied neben den Rucksack kotzte, kurz: jemand, den wir in meiner Heimat ein »Mords-Rindviech« heißen, und es ist mir die Vorstellung doch unangenehm, der Amerikaner wäre zufällig Reiseschriftsteller gewesen und jener Betrunkene tauchte später in einem Buch über die Deutschen als Vertreter der bayerischen Lebensart auf.
Obwohl.
Es begibt sich aufs glatte Eis, wer die Chuzpe besitzt, aus zufälligen Erfahrungen und Begegnungen allgemeine Schlüsse zu ziehen. Gerade darum möchte ich beginnen mit sieben Widerreden gegen hartnäckige China-Gemeinplätze. Völkerverständigung ist ja nicht nur deshalb etwas Schönes, weil man im Zuge derselben viele hübsche fremde Frauen und Männer kennenlernen kann, die in einem solchen Falle stets das Prädikat »exotisch« tragen, sondern vor allem, weil sie hilft, »Vorurteile abzubauen«.
Der Leser leiste mir also Gesellschaft bei diesem löblichen Brauch – und sehe es als eine Art vorbeugenden Ablasshandel gegen all die Sünden, deren ich mich in den folgenden Kapiteln schuldig mache. Folgendes, lieber Leser, sind Klischees und Märchen, die Sie bitte umgehend aus der »Ich sag jetzt einfach mal«-Windung Ihres Gehirnes streichen möchten:
Was herrscht denn dann in China?
Gemach, ein zu widerlegendes Vorurteil habe ich noch: »Chinesisch ist eine schwere Sprache.« Das ist ein gern gepflegter Mythos auch von Chinesisch-Sprechenden, die sich damit der Bewunderung ihrer Zuhörer versichern. Es ist außerdem Blödsinn. In China selbst ist es immerhin 1,4 Milliarden Menschen unterschiedlichster Intelligenz gelungen, das Chinesische zu erlernen, und zwar recht fließend. Ich möchte sogar behaupten: Chinesisch ist eine der einfachsten Sprachen der Erde. Ich rede jetzt vom gesprochenen Chinesisch, dem es auf wundersame und vorbildliche Weise gelingt, praktisch ohne Grammatik auszukommen, zumindest ohne all die stacheligen Konjugationen und garstigen Deklinationen, ohne die Fälle, ja sogar ohne die Tempi, die einen in Europa beim grenzüberschreitenden Flirten, Fluchen und Feilschen so plagen. Geht nicht? Geht doch: Wenn Sie auf Chinesisch ausdrücken wollen, dass etwas gestern passiert ist, dann sagen Sie halt »Gestern«, das arme Verb können Sie getrost in Frieden lassen.
Mit schuld am Ruf der Unerlernbarkeit ist die Tatsache, dass jedes Wort im Hochchinesischen in vier Tonhöhen ausgesprochen werden kann (im Kantonesischen sind es sogar sechs) – und dass es jedes Mal etwas anderes bedeutet. Vor staunenden Laien werden gerne Zungenbrecher hervorgekramt wie jene viel bemühte Sentenz »Ma ma ma ma ma?«, die, vorausgesetzt man trifft die richtigen Töne, bedeutet: »Schimpft die pockennarbige Mutter das Pferd?« Lassen Sie sich davon nicht einschüchtern: Auch die Sache mit den Tönen ist nur halb so schlimm, und selbst Pferdebesitzer unter den Anfängern können der Verlegenheit leicht aus dem Wege gehen, indem sie ihren Rappen höchstens dann bei der Mutter von nebenan in Pflege geben, wenn sie sich vergewissert haben, dass die Frau noch nicht die Blattern hatte.
Richtig ist allerdings, dass auch unter Chinesen die Vermutung weit verbreitet ist, die Beherrschung ihrer Sprache sei ihnen in die Gene gestrickt und Menschen mit weißer Haut und grünblauen Augen gewissermaßen qua Geburt verwehrt. Vor allem in den Provinzen gerät der Fremde so in Situationen, in denen er in der Landessprache nach dem Weg fragt und vom Angesprochenen lediglich einen verständnislosen Blick erntet, weil es ja unmöglich Chinesisch gewesen sein kann, was da aus dem Mund des Ausländers purzelte. Mir wurden auch schon wiederholte Nachfragen beantwortet mit einem lakonischen »Entschuldigung, wir sprechen kein Englisch«. Das mag aber auch ein höflicher Kommentar zur Qualität meines Mandarin gewesen sein.
Es ist dies psychologisch ein interessanter Vorgang, der auch umgekehrt funktioniert. John Steinbeck erzählt in »Jenseits von Eden« vom chinesischen Farmarbeiter Lee, der sein Leben lang das gebrochene Pidginenglisch der Einwanderer plappert – bis Farmer Samuel eines Tages durch Zufall entdeckt, dass der in Kalifornien geborene Lee des feinsten Englisch mächtig ist. Der verblüffte Samuel stellt Lee zur Rede und fragt ihn, warum in aller Welt er zu den Leuten im Dorf nicht in normalem Englisch spreche, woraufhin Lee ihm erklärt, er habe dies früher wohl versucht, sei dann aber grundsätzlich ignoriert oder nicht verstanden worden: weil die Leute von einem Chinaman wie ihm einfach kein Englisch erwarteten. »Du siehst, was ist«, lobt Lee seinen Boss Samuel. »Die meisten Menschen aber sehen nur, was sie erwarten.«
Um mich dem zu nähern, »was ist«, habe ich die Form des Wörterbuches gewählt. China soll sich in diesem Buch über seine Begriffe und sein Verhältnis zu diesen zu erkennen geben. Ein zweites Motiv war der Zauber der Schriftzeichen selbst: ihre Schönheit, ihre schicksalhafte Bedeutung für das Land. Stärker als bei uns war Schreiben in China Kulturtechnik, die weit mehr vermochte, als bloß Information zu vermitteln: Die Schrift hielt China zusammen. Das galt spätestens, seit der erste Kaiser im Jahr 221 vor Christus alle im Reich umherzigeunernden Zeichen ins Einheitsquadrat pferchte. Die Schrift war Klammer: für all die Provinzen dieses Landes, das eigentlich ein Kontinent ist und in dessen Ecken und Enden noch immer Dutzende von Dialekten gesprochen werden, die miteinander so viel oder so wenig zu tun haben wie das Deutsche mit dem Englischen. Und sie war die Klammer für die Jahrtausende: Die den Chinesen eigene Intimität mit ihrer Geschichte hat auch mit den Schriftzeichen zu tun, die sich über Jahrtausende hinweg kaum geändert haben. Ein durchschnittlich gebildeter Chinese, der vor einer Tempelinschrift aus dem zwölften oder einer Stele aus dem achten Jahrhundert steht, wird die hineingeschnitzten und -gemeißelten Zeichen sofort erkennen und mit etwas Glück den Text lesen können – was eine Vertrautheit mit dem eigenen Altertum ermöglicht, die uns unvorstellbar ist.
Leider verdankt China dies ausgerechnet jener Eigenart seiner Schrift, die ihre Studenten gern zur Verzweiflung treibt: Anders als bei uns hat ein chinesisches Zeichen mit der Aussprache des Wortes, das es darstellt, nichts zu tun. Die autonome Existenz der Schriftzeichen im Reich der Bilder hat wie beschrieben den Vorzug, dass dieselben Zeichen verschiedenen Dialekten zur Verfügung stehen können und dass die Schrift über die Jahrhunderte hinweg nicht dem Wandel des gesprochenen Chinesisch nachhecheln musste: Es haftet ihr also der Hauch des Ewigen an. Gleichzeitig ist es ein Kreuz. Wenn ich aus den mir im Deutschen zur Verfügung stehenden 26 Buchstaben das Ihnen bislang unbekannte Wort »Pflumpf« kreiere, dann wissen Sie sofort, wie Sie es auszusprechen haben; begegnet hingegen ein Chinese einem Zeichen, das er noch nie gesehen hat, steht er erst einmal sprachlos davor. Im Chinesischen muss man jedes Wort doppelt pauken: Aussprache und Schreibweise. Um einigermaßen Zeitung lesen zu können, braucht einer einen Wortschatz von 3000 bis 3500 Zeichen. (Das bekannte Lexikon des Kaisers Kangxi verzeichnet zwar mehr als 47000 Zeichen, aber die kann kein Mensch. Das Erziehungsministerium hat nachgezählt: Presse und Romane des modernen China verwenden 99,48 Prozent ihrer Druckerschwärze auf die 3500 häufigsten Zeichen.) Während das gesprochene Chinesisch also himmlisch unkompliziert ist, sind Schreiben- und Lesenlernen eine üble Büffelei – und nicht wenige Pädagogen in China haben sich gefragt, ob die Tatsache, dass es chinesischen Schülern zwar nicht an Fleiß und Intelligenz gebricht, wohl aber an Phantasie und Kreativität, auf die jahrelange sture Auswendiglernerei zurückzuführen ist, die dem ganzen Schulsystem ihren Stempel aufdrückt.
Diese Schrift, die das Lernen zum Drill macht, erhebt gleichzeitig das Schreiben in den Stand einer Kunst. In die mit Pinsel und Tusche stürmisch hingeworfenen oder beherrscht geführten Zeichen legt der Gelehrte seine Bildung, seine Emotion, sein sittliches Empfinden. Eine Kalligrafie adelt ein Blatt Papier ebenso sehr wie eine Malerei; sie lässt sich lesen als Visitenkarte desjenigen, der den Pinsel führte. Chinas Zeichen erzählen mehr, als das Lexikon ihnen an Wortsinn zugesteht.
Es soll dies keine Enzyklopädie werden, mehr ein Taschenwörterbuch. So ernst und so komisch, so absurd und so traurig, so fröhlich und so hintersinnig, wie China sich dem zeigt, der mehr als einmal hinguckt. Manches drängte sich mir über die Jahre auf, anderes fiel mir eines Morgens vor die Füße, wieder anderes bereitete mir einfach diebische Freude. Es sind Schlaglichter, Mosaiksteinchen, kleine Skizzen, die jeder nach eigenem Gutdünken zu einem größeren Bild zusammensetzen kann.
Und keine Angst: Chinesisch müssen Sie für die Lektüre dieses Buches nicht können.[1]
Wollte man China auf eine Farbe reduzieren, es wäre diese. Mao Zedong mochte die »rote Sonne« sein, sein Volk blieb gelb: Gelb ist seine Haut, die Ufer des Gelben Flusses sind seine Wiege, der Gelbe Kaiser war sein Urahn. Für andere Völker am Beginn der Zeit war Gelb die Farbe der gleißenden Sonne, nicht für die Chinesen: Gelb ist die Farbe ihrer Erde; die Farbe des Staubes aus der Wüste im Norden. Der Wind in Zentralchina trug diesen Staub zu Lössebenen zusammen, aus denen der Gelbe Fluss schließlich sein Ocker spült. So wurde es die Farbe der Fruchtbarkeit. Die später dem Kaiser vorbehalten blieb, dem potentesten aller Chinesen. Seinen Kleidern, den Ziegeln seiner Palastdächer. Eine stolze, eine vornehme Farbe. Daran änderten auch die Intellektuellen nur wenig, die im Vorgriff auf die Demokratiebewegung von 1989 zum selbstkritischen Angriff auf die »Gelbe Kultur« ausholten: Sie stehe für Selbstisolierung und Konservativismus, fanden sie und drängten ihr Volk, die »Blaue Kultur« des Westens willkommen zu heißen – frische, weite Wasser statt staubiger Erde. Thesen, die heute in Chinas Medien keine Chance mehr hätten: Patriotismus ist Pflicht, die – eben noch rote – KP lackiert sich eifrig um. Aber nicht nur Patrioten, auch Pornos tragen in China gelb: Werke der Damen Uhse und Orlowski würde man beim gut sortierten Pekinger Straßenhändler unter dem Stichwort »Gelber Film« wiederfinden. Dem Prestige der Farbe hat bislang weder das eine noch das andere geschadet: Ein Internetportal versuchte, mit der Erfindung einer »Generation Yellow« bei Chinas Yuppies zu punkten; wer in Schanghai cool sein will, färbt sich den rabenschwarzen Schopf kanariengelb. Was unbedingt eine Annäherung an die Moderne ist, aber nicht notwendigerweise eine an den Westen – uns Europäer nannten die alten Chinesen »Rothaar-Barbaren«, nachdem ihnen ein paar sommersprossige Holländer über den Weg gelaufen waren. Wir revanchierten uns dafür später mit der »Gelben Gefahr« – ein schönes Beispiel für frühe → Interkulturelle Kommunikation.
Ein Mann verkaufte Schilder und Speere auf dem Markt. »Meine Schilder sind die stärksten!«, brüstete er sich, »kein Speer kann sie spalten.« Später hielt er einen Speer hoch. »Meine Speere sind so scharf, denen hält kein Hindernis stand«, rief er über den Platz.
»Und was machst du, wenn einer deinen Speer nimmt und damit dein Schild angreift?«, fragte ein Kunde. Da verstummte der Händler. Und das chinesische Wort für Widersprüche heißt seither: »Speer und Schild«, mao dun.
Längst haben die Nachfahren jenes Marktschreiers ihre Sprache wiedergefunden. »Ich glaube an Karl Marx«, sagt der junge Schanghaier Unternehmensberater treuherzig: »Deshalb möchte ich meinem Land so viele Privatunternehmer wie möglich schenken.« China fliegt zum Mond, jubelt der Staatspräsident; es hungern hier noch 30 Millionen Menschen, meldet sein Premier. China ist cool, sagt die junge Skandalautorin aus Kanton; China bricht mir das Herz, sagt der Rechtsanwalt aus Shaanxi.
Die einen fahren BMW. Die anderen sind froh, wenn sie einmal im Jahr ein Stück Fleisch in die Schüssel bekommen. Bei der Zahl der Dollar-Milliardäre überholte China im Jahr 2015 dem »Hurun-Report« zufolge erstmals die USA: 568 waren es da. Noch schneller aber wuchs die Zahl der Bauern, die von angeheuerten Schlägern verprügelt wurden, weil sie sich gegen die Enteignung ihrer Ländereien wehrten. Das sich »kommunistisch« nennende China hat mittlerweile ein größeres Wohlstandsgefälle als Indien. Sagt die Chinesische Akademie für Sozialwissenschaften. China ist heute eines der ungleichsten Länder der Erde.
China verwirrt. Darauf sollten Sie sich gefasst machen. Es gibt nicht ein China, es gibt viele Chinas: China ist der Name für ein Universum, das Myriaden von Parallelwelten beherbergt. Manche scheinen nie in Kontakt miteinander zu kommen, andere berühren und überschneiden einander, wieder andere schwirren mit Vollgas aufeinander zu: Schild und Speer. In China kann einer Erste Welt und Dritte Welt finden, gestern und morgen, kommunistische Ödnis und kapitalistischen Glanz, sexuelle Revolution und brutale Diktatur, Bauernarmut und Millionärsvöllerei, genialen Pragmatismus und deprimierendes Dogma, Blüte und Fäulnis, Korruption und Heldentum. Wenn man nur die Augen offen hält. Und wer wollte entscheiden, welches das eigentliche China ist?
Es ist nicht einfach, aus China schlau zu werden. Aber vielleicht ist das wiederum etwas typisch Deutsches: das Schlauwerdenwollen. Während unsere Denker sich mühten, die störrische Welt in ihre Gedankengebäude zu pressen, haben es die alten Chinesen meist so gehalten: huldigten vor dem Frühstück den Ahnen, opferten des Mittags dem Buddha und beteten des Nachts im daoistischen Tempel. Wenn’s hilft. Es scherte sich nicht viel um Jenseits und Metaphysik, um Dogma und Prinzip, dieses Volk, sondern nährte sich lieber vom Mark des Praktischen, gönnte der Welt ihren Lauf und ließ sich darin treiben. Die Daoisten haben solche Naturergebenheit gepredigt, sie waren es, die das Yin und das Yang zum Höchsten Äußeren, zum Taiji, verschmolzen. Sie lehrten ihr Volk, dass das Dunkle nicht ohne das Helle, das Kühle nicht ohne das Warme, das Weibliche nicht ohne das Männliche und auch das Gute nicht ohne das Böse auskäme, dass beide sich vielmehr gegenseitig durchdrängen. Vielleicht rührt daher die Gelassenheit der Chinesen im Umgang mit Widersprüchen: Es wird sich schon aufs Richtige ausbalancieren. Und wenn nicht – China war über große Strecken seiner Geschichte verheerend aus dem Lot –, dann hat man wenigstens seine Energie nicht verschwendet auf Dinge, die ein Einzelner ohnehin nicht beeinflussen könnte.
»Gerade weil China ein Rätsel ist, ist es so liebenswert«, schrieb einmal der Schriftsteller Zhang Xianliang: Die Tatsache, dass er das schrieb, nachdem er 20 Jahre in Maos Arbeitslagern gesessen und darüber fast verreckt wäre; dass er ferner nach seinem Martyrium Mitglied der Kommunistischen Partei wurde und dies bis heute ist; dass ihn weiterhin sein Parteibuch nicht daran hinderte, der erfolgreichste Privatunternehmer der Provinz Ningxia zu werden und in Aufsätzen die »Rehabilitierung des Kapitalismus« zu fordern; und schließlich dass kaum ein Chinese sich über eine solche Karriere wundern wird – all das mag die schier grenzenlose Bereitschaft dieses Volkes zur Versöhnung des Unversöhnlichen illustrieren.
Mein Rat: Misstrauen Sie jedem, ob Ausländer oder Chinese, der eine einfache Erklärung für China hat. Es gibt keine Erklärung für China, es gibt allerdings meist eine für die Erklärung: Denkfaulheit. Aus irgendeinem Grund scheint der Mensch, zumal der im Westen groß gewordene, so beschaffen zu sein, dass er Widersprüche nicht gut aushält: Sperrt man ihn in ein Zimmer, in dem Tohuwabohu herrscht, so wird er bei Verlassen des Zimmers – vorgeblich der Logik halber, in Wirklichkeit aber der Bequemlichkeit oder des eigenen Seelenfriedens zuliebe – den Zwang verspüren, das Gesehene auf einen Nenner zu bringen: China ist die Zukunft der Welt! oder: China ist eine finstere Diktatur! Für beide Aussagen wird man wunderbare Belege finden können, beide aber geben die Wirklichkeit so treffend wieder wie jener Blinde den Elefanten, den er am Schwänzlein zu fassen kriegte. So also sehe ein Elefant aus, rief der Blinde: Rund und lang wie eine Schlange!
Sollten Sie Chinas Schwänzlein zu fassen bekommen, so zögern Sie nicht, sich noch weiter vorzutasten. Sie werden sich wundern, wie viel es zu entdecken gibt. Das ist überhaupt das Schöne an diesem Land: Egal, ob man seine Geografie durchstreift, sich in seiner Geschichte verliert oder aber von seinem turbulenten Jetzt umherschleudern lässt: Einmal um die Ecke geblinzelt, schon versinkt man in neuen Märchenlandschaften. Und hier glänzt Gold, und dort tropft Blut.
China. Ein Kontinent: von der Tundra im Norden zur Tropeninsel im Süden, von der Wüste Taklamakan im Westen bis zur Wirtschaftswunderküste im Osten. Sie können den Himalaja besteigen, mit Kamelen wandern, an tropischen Stränden baden und sich in Wolkenkratzern spiegeln. Und alles nennt sich China. Sie werden smarte Schanghaier von zierlichem Körperbau treffen und hochgewachsene, erdige Pekinger. Die einen werden Ihnen erzählen, die Pekinger seien Bauerntrottel und Bürokratenhintern, die in einem staubigen Wüstenkaff hockten; die anderen werden sich mokieren über verzärtelte Schanghaier Männer und raffinierte, stets ihren Vorteil errechnende Schanghaier Frauen. Beide zusammen werden sie alsdann den Wagemut des Wenzhouer Unternehmerhirns preisen, die Standfestigkeit der Harbiner Leber sowie das Feingefühl des kantonesischen Gaumens – und Sie anschließend warnen vor den Menschen der Provinz Henan, welche nichts als Schwindler und Diebe hervorbringe, und die Henaner werden zu Recht beleidigt aufheulen. Und alle nennen sich Chinesen.
Sowenig es die eine Chinaformel gibt, so sehr ist das Geraune Quatsch, welches das Land zum undurchdringlichen, exotischen Mysterium erklärt, an welchem alle abendländische Wissbegier abperle wie Sommerregen an der Wasserbüffelhaut. Wie für jede Kultur, so gilt auch für die chinesische, dass der aufmerksame Beobachter von außen manche Dinge schärfer sieht als der in sie Verstrickte. Selten habe ich herzlichere, gastfreundlichere und gesprächigere Menschen getroffen als in China, und wenn etwas dem Erkenntnisgewinn im Wege steht, dann vor allem der Wirbelwind des Umbruchs, der in China wütet: Niemand ist im Moment verwirrter als die Chinesen selbst.
Sich an andere Völker heranzumachen lohnt sich selten so sehr wie im Falle Chinas. Schon deshalb, weil zur Belohnung kulinarische Erweckungserlebnisse winken, die dem Sucher der Glückseligkeit den Umweg über Buddhas achtfachen Pfad ersparen.
Und es ist gar nicht so schwer. Könnten die Deutschen so gut Chinesisch wie Autos bauen, dann würden sie bald feststellen, dass unsere Völker außer der Freude am Pkw und der Teilnahme am Boxerkrieg noch weitere Gemeinsamkeiten haben. Zum Beispiel die Liebe zu Schweinshaxen, Bier und »Sissi« beziehungsweise »Xixi«, so heißt die junge Romy Schneider nämlich auf Chinesisch. Tatsächlich findet man unter all den raubkopierten Filmen in Pekings Gaunertaschen auch allerlei deutsche. Immer dabei: die »Sissi«-Trilogie. Wie das kommt, müsste mal einer untersuchen. Wahrscheinlich, weil die meisten Chinesen auch kein Deutsch können.
Die Chinesen sind im Übrigen mindestens so fußballverrückt wie die Deutschen, nein, eigentlich sind sie noch verrückter, denn bei ihnen ist es eine Leidenschaft von bitterer und tragischer Größe. Sie steht nämlich in keiner Relation zum Spiel ihrer Nationalmannschaft, welche seit vielen Jahrzehnten ein masochistisches Verhältnis zum Erfolg pflegt (der Chinese und das Tor: Man geht sich aus dem Weg). Fußball teilt sich in China mit dem Buddhismus die höchste aller Wahrheiten, wonach alles Leben Leiden sei.
Manchmal glaubt man, Begegnungen der dritten Art zu haben, etwa wenn man auf junge Chinesen trifft, die einem Heintjes »Kleine Kinder, kleine Sorgen« vorträllern. Heintjes Einfall in die chinesischen Gehörgänge war nicht die einzige unglückliche Nebenwirkung einer den Pfennig dreimal umdrehenden Filmimportpolitik des chinesischen Fernsehens – sie sorgte dafür, dass über lange Jahre das Deutschlandbild der Chinesen um durchschnittlich zwei Jahrzehnte hinter der Aktualität herhinkte. Man brauchte sich vor noch gar nicht langer Zeit nicht zu wundern, wenn einem ein am »Tatort« geschulter chinesischer Krimifan mit misstrauisch hochgezogenen Augenbrauen begegnete: Aha, du willst also Deutscher sein? Und wo sind deine Koteletten? Und deine Schlaghosen? Spätestens aber, wenn sie ungläubig beobachten, wie nach einem gemeinsamen Abendessen ein jeder von uns sein Portemonnaie herauszieht, um für sich selbst zu zahlen, glauben sie einem, dass man aus Deutschland kommt.
Nach vollzogener Völkerverständigung werden Sie vielleicht feststellen – Sissi hin, Heintje her –, dass chinesische und deutsche Psyche höfliche Distanz halten. Verwunderlicher jedoch ist etwas anderes: die bisher noch wenig beschriebene Seelenverwandtschaft der Chinesen mit den Italienern. Sie springt einem mitunter so ins Gesicht, dass man gerne Gerhard Polt sein möchte, um einmal ungestraft ausrufen zu können: Sie! Der Chines’ is’ ja praktisch der Italiener Asiens! Das geht los beim erotischen Verhältnis zu Nahrungsaufnahme und Mobiltelefonen und hört bei der Vergötterung der eigenen Familie, namentlich der Kinder, noch längst nicht auf. Und was den Chinesen an Leidenschaft und Spontaneität fehlt, das machen sie mit ihrer Hingabe an Spektakel jeder Art wieder wett. Ich hatte eine Bekannte aus Rom, die während zweier Jahre im doch nicht unschönen Hamburg beinahe eingegangen wäre vor Heimweh und Depression – und die im chaotischen, schmutzigen, aufregenden Peking aufblühte wie eine Lotusblüte im Moor.
Lässige Herangehensweise an die Dinge, die hierzulande am ehesten im Bayerischen ihr Pendant findet. Wörtlich heißt cha bu duo »fehlt nicht viel« – eine Feststellung, die in Deutschland für gewöhnlich als Ansporn zum Endspurt empfunden wird und ein letztes In-die-Hände-Spucken zur Folge hat. In China hingegen erfolgt sie meist als Ausruf von Zufriedenheit, als Schlusspunkt hinter aller Anstrengung. Philosophisch bereiteten dem Hang der Chinesen zum Fünfe-grade-sein-Lassen die entspannt im Weltenstrom treibenden Daoisten den Boden. Sie vermieden tunlichst alles, was der Natur ihren Stempel hätte aufdrücken können, und zeichneten sich durch eine Abneigung gegen Perfektionismus wie überhaupt gegen Extreme aller Art aus. »Was zum Äußersten getrieben wird, kehrt sich in sein Gegenteil um; was zur höchsten Blüte kommt, muss verfallen«, lehrt ein alter Spruch. Das Leben nach dem Chabuduo-Prinzip ist zum einen ein sympathischer Zug. Zum andern trägt es eine Mitschuld daran, dass in China auch Wände in neuen Häusern Risse haben und sich mancher Ausländer den Gang zum Zahnarzt hier zweimal überlegt. Aber wenn wir den Daoisten glauben, dann werkelt der deutsche Perfektionismus ja fleißig an seinem Niedergang. Während das chinesische Volk weiter blinzelnd durch die Weltgeschichte treiben wird wie seit Jahrtausenden und seine Blüte erst noch vor sich hat. Das bayerische natürlich auch.
In der Chinesischen Akademie für Wissenschaften haben sie ausgerechnet, dass China ungefähr 700 Millionen Menschen ausreichend Platz und Ressourcen bietet. Weder Chinas Führer noch seine Menschen jedoch haben sich je groß um ihre Wissenschaftler geschert, und so gibt es heute mehr als 1,4 Milliarden Chinesen. Sollte Ihnen einmal der Sinn nach Gesellschaft stehen, dann stellen Sie sich auf den Bahnhofsvorplatz einer beliebigen chinesischen Stadt und rufen Sie laut: »Herr Wang!« Sie werden sich wundern. 95 Millionen Menschen in China heißen Wang – soviel Einwohner haben Deutschland, Österreich und die Schweiz zusammen. Mehr als 270 Millionen Chinesen teilen sich im Moment ganze drei Familiennamen: Li, Wang und Zhang. Und wer die hundert häufigsten Namen kennt, der kann immerhin 1,1 Milliarden Chinesen korrekt ansprechen: 87 Prozent der Bevölkerung. Nicht umsonst ist die Bezeichnung für das einfache Volk in China auch heute noch lao bai xing: die »einhundert alten Namen«.
Dass die Gefahr der Verwechslung größer geworden ist, liegt nicht nur am beständigen Anschwellen dieses Volkes und damit der Sippen Li, Wang und Zhang, sondern auch an der Vornamenmode. Früher war es Sitte, einen aus zwei Zeichen bestehenden Vornamen zu wählen, sodass einem noch heute manch glückliche Fügung die Bekanntschaft von Frauen beschert, die »Intelligent und wohlriechend«, »Glücklich und fröhlich« oder aber »Sommerfrühling« heißen, was schon den Akt der Vorstellung in ein poetisches Unternehmen verwandelt. Seit einiger Zeit aber gelten Vornamen als modern, die nunmehr aus einem Zeichen bestehen, was die Möglichkeiten der Variation stark einschränkt. Die Polizei der Stadt Nanning klagte öffentlich, dass in ihrer Stadt mittlerweile fast 400 Männer den Namen Li Jun (Soldat Li) trügen, sodass sich keiner zu wundern brauche, wenn es bei der Verbrecherjagd den Falschen treffe. Da sich die Eltern des Dilemmas sehr wohl bewusst sind, greifen sie oft tief in Chinas Schatzkiste und ziehen daraus die obskursten Schriftzeichen hervor, die zwar in vergessenen Werken der Literatur und Historie zu finden sein mögen, aber in keiner modernen Computerdatenbank. Wie, bitte schön, soll man sie da korrekt auf einen Pass oder Führerschein bringen?
Für werdende chinesische Eltern ist die Wahl des richtigen Namens eine Operation von kaum zu unterschätzender Bedeutung. Sie wälzen Bibliotheken, konsultieren Wahrsager und blättern durch alte Kalender, um einen zu finden, der so viel Glück wie nur irgend möglich bringt (es gibt auch Agenturen, die nichts anderes im Angebot haben als Erfolg und Reichtum versprechende Firmennamen: das Stück für bis zu 80000 Yuan2[2]). In einigen Familien war einst beim Anblick eines frisch geborenen Mädchens die Enttäuschung der Eltern oft so groß, dass sie ihm einen Namen verpassten wie zhao di, »Wink den kleinen Bruder herbei«, oder lai di, »Komm, kleiner Bruder«: auf dass es beim nächsten Mal klappen möge.
Wenn Sie Chinesen treffen, die sich Ihnen vorstellen als Wang Jiefang, Zhang Jianguo oder Li Aijun, dann sind Ihre Gegenüber wahrscheinlich nicht lange nach der Revolution von 1949 geboren, übersetzt heißen sie nämlich Herr »Befreiung Wang», Herr »Baut-den-Staat-auf Zhang« und Herr »Liebt-die-Armee Li« – Namen dieser Art sind nichts Besonderes, sie entsprangen dem revolutionären Überschwang der Fünfziger- und Sechzigerjahre. Die Geburt eines »Widersteht-den-Amerikanern Wu« (Wu Kangmei) kann man mit einiger Sicherheit auf die Zeit des Koreakrieges (1950–1953) datieren; während der Kulturrevolution (1966–1976) wurden Namen populär, die sich direkt auf den neuen Messias, den Vorsitzenden Mao Zedong, bezogen. Eine Bekannte von mir ist das jüngste von drei Kindern, die alle in den Sechzigerjahren geboren wurden: Hintereinandergestellt ergeben ihre Vornamen Hong, Wei und Bing das Wort »Rote Garden«. Ob ihre Eltern vorher wussten, dass ihnen genau die zur Bildung dieses Wortes nötige Anzahl von Nachkommen geschenkt werden würde? Unter jüngeren Chinesen ist es heute schick, sich in der Schule oder bei Antritt einer Stelle in einem ausländischen Unternehmen zusätzlich einen englischen Vornamen geben zu lassen und diese Namen auch untereinander zu benutzen, sodass es in Peking wimmelt von Johns und Tims, von Cindys, Peggys und Sunshines. Sunshines? Viele haben die chinesische Vorliebe für sprechende Namen in die neue Sprache hinübergerettet. Nicht alle haben dabei ein glückliches Händchen bewiesen, vielleicht war es bei manchen auch ein junger Austauschlehrer aus den Staaten, der sich einen Spaß erlaubte, jedenfalls wurde in einem Hongkonger McDonald’s schon ein »Chloroform Wong« gesichtet, habe ich im Café in Suzhou die Bestellung bei einem Fräulein »Taifun Li« aufgegeben und kaufen wir unsere Flugscheine bei »Apple Liu«. Eine befreundete Pekinger Wirtin erzählte mir von ihrem Freund »Douchebag Li« (in der harmlosen Übersetzung: Volltrottel Li) und wie sie einmal eine Bewerbung erhielt von einem Studenten, dem es gefallen hatte, sich auf »Bill Gates« zu taufen.
Chinesen stellen den Familiennamen grundsätzlich vor den Vornamen und tun es damit den Bayern gleich, wo grundsätzlich der Huber Anton dem Bierbichler Xaver die Meinung sagt, wenn der sich beim Wislsperger Resl zu viel herausgenommen hat. So wie Mao Zedong der Genosse Mao war und nicht der Genosse Zedong, so ist zum Beispiel der Künstler Ai Weiwei korrekt als Herr Ai zu begrüßen und nicht als Herr Weiwei, was sich noch nicht in allen Redaktionen herumgesprochen hat. Es ist ganz einfach: Die Familie geht vor. Deshalb auch die Gepflogenheit, auf die Frage, wo man denn her sei, nicht den eigenen Geburtsort und Lebensmittelpunkt anzugeben, sondern den Stammort seines Clans. Ein junger Schanghaier, der in Schanghai geboren und aufgewachsen ist, wird sagen, seine Heimat sei die Stadt Shaoxing, wenn dort seine Ahnen zu Hause waren – auch dann, wenn er selbst noch nie im Leben in Shaoxing war. »Heimat« und »Familie« teilen sich im Chinesischen dasselbe Wort: jia.
Wer die wunderbaren alten Charlie-Chan-Krimis kennt, der weiß, dass chinesische Eltern ihre Kinder gerne herbeizitieren mit Rufen wie »Sohn Nummer zwei!«. Die praktische Durchnummerierung des Nachwuchses hat sich über die Zeit des Schwarz-Weiß-Films hinausgerettet, und so verzichten heute noch in vielköpfigen Familien auch die Geschwister untereinander auf den Gebrauch des Vornamens und rufen einander stattdessen »Kleine Schwester Nummer vier!«, »Großer Bruder Nummer drei!« oder einfach »Alter Großer!«. Letzterer ist Bruder Nummer eins und steht der ganzen Schar vor. Mit der Geburt landet jeder auf seinem Platz in der Familienhierarchie und findet diesen Rang in seiner Anrede wieder. Im Laufe der Zeit entstand so ein ausgetüfteltes System der gegenseitigen Titulierungen, das den Platz eines jeden Einzelnen genau definiert, eingeheiratete Ausländer bei Familienfesten jedoch regelmäßig in tiefe Verwirrung stürzt. Ein Vetter ist eben nicht nur ein Vetter, sondern der Sohn vom Bruder des Vaters, der älter ist als du (tang xiong) – oder aber der Sohn vom Bruder des Vaters, der jünger ist als du (tang di). Wenn es ein Sohn vom Bruder der Mutter ist, heißt er natürlich wieder anders. Ein jeder Titel macht klar, zu welcher Generation der Betreffende gehört, ob er zur väterlichen Linie zählt, ob er angeheiratet ist oder dem eigenen Stamm entsprungen und wo er in der Altersrangfolge steht. Noch die Frau des älteren Bruders vom Großvater väterlicherseits (bo zu mu) kann unterschieden werden von der Frau des jüngeren Bruders vom selben Großvater (shu zu mu).
Hinter dem komplizierten Namensgebäude steht der Gedanke, dass schon bei der Anrede klar sein möge, wer wem wie viel Respekt zu erweisen hat. Darüber haben sich die Konfuzianer, die die Familie ins Zentrum des chinesischen Lebens stellten, ohnehin gerne den Kopf zerbrochen: wer wen herumkommandieren darf und wer wem folgen muss, damit die Familie, der Staat und schließlich die Welt geordnet bleibe – die Frau gehorche dem Mann, der jüngere Bruder dem älteren, das Kind den Eltern.
Vor allem um die letztere Beziehung entstand im Laufe der Zeit eine reichhaltige Literatur, Anekdoten, die schließlich im »Klassiker der kindlichen Pietät« zusammengefasst und den Kleinen über viele hundert Jahre hinweg als Schullektüre eingeträufelt wurden. Kindliche Pietät (xiao) wird manchmal auch als »Kindesliebe« übersetzt, heißt jedoch treffender »Kindespflicht«: Da wird erzählt vom mustergültigen Sohn, der sich in der heißen Sommernacht nackt vor die Bettstatt seiner schlafenden Eltern legt, damit die Mücken sich an seinem Blute laben und die Alten verschonen. Oder vom anderen Sohn, der im Winter mit der Wärme seines nackten Körpers ein Loch in die Eisdecke des zugefrorenen Flusses schmilzt, um seiner Stiefmutter, einem giftigen, lieblosen Hausdrachen, ihre Leibspeise – frischen Fisch – fangen zu können. Als ebenso vorbildlich wird jener selbst schon ergraute Mann dargestellt, der sich mit Zöpfchen und Rassel zurechtmacht wie das Kleinkind, das er einmal war, allein um der greisen Mutter eine Freude zu machen. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein wurde Schülern in China und auf Taiwan solches Verhalten zur Nachahmung empfohlen.
Zumindest in Chinas Normenwelt hat es immer die Vorstellung gegeben, das eigene Leben sei in den Dienst anderer zu stellen: manchmal in den des Staates, meist in den der Familie, immer aber in den der Eltern. Lu Xun, Chinas größter Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, hat den fatalen Teufelskreis schon vor fast 100 Jahren beklagt: »Unsere Eltern, ihren Eltern geopfert und unfähig, selbstständig zu leben, fordern unnachgiebig, dass ihre Kinder sich nun ebenfalls opfern.« So war das in China: Eine jede Generation schenkte ihr Leben der vorhergehenden und erwartete das Gleiche von der nachfolgenden – und am Schluss hat keiner je richtig gelebt. Spuren dieses Musters finden sich noch heute, doch ist die Strenge der alten Werte in Auflösung begriffen: Die wirtschaftliche Modernisierung zersetzt die alten Familienstrukturen und führt im Huckepack Konsumlust und Individualismus westlicher Prägung ein, die vor allem Städter und Jugend infizieren. In den Städten war zudem die Ein-Kind-Politik erfolgreich, die mittlerweile in vielen Familien die Tradition auf den Kopf gestellt hat: Heute steht oft die ganze Familie dem einen verwöhnten Fratz zu Diensten.
Das neue China. Einst gab es in diesem Land nichts Wichtigeres als die Familie und nichts Geringeres als die Frau. Später gab es den allmächtigen Staat, der den Frauen zwar die Hälfte des Himmels versprach, seinen Bürgern aber noch in ihren Himmelbetten das proletarisch korrekte Treiben vorschrieb. Heute gibt es in der Provinz Jilin in Chinas Nordosten ein Gesetz, das Unerhörtes erlaubt: uneheliche Kinder. »Frauen, die es vorziehen, ihr Leben allein zu führen«, heißt es in dem Gesetz, dürften ein Kind zur Welt bringen mithilfe »gesetzlich erlaubter medizinischer Methoden« – künstlicher Befruchtung also. Das Gesetz löste in ganz China eine stürmische Debatte aus. Über die Rolle der Familie, über die Rechte der Einzelnen. Mag da in Peking auch eine mächtige »Familienplanungs-Kommission« sitzen – die Bürger planen ihr Privatleben mittlerweile selbst.