Erster Teil

Inhalt

Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel

Erstes Kapitel

Inhalt

Im vorigen Jahre, am Abend des zweiundzwanzigsten März, erlebte ich etwas sehr Seltsames. Ich war den ganzen Tag über in der Stadt umhergelaufen, um mir eine Wohnung zu suchen. Meine bisherige Wohnung war sehr feucht, und ich begann schon damals häßlich zu husten. Ich hatte bereits im Herbst umziehen wollen, aber die Sache hatte sich dann bis zum Frühling hingezögert. Den ganzen Tag über hatte ich nichts mir Zusagendes finden können. Erstens wollte ich eine eigene Wohnung haben, nicht eine in Aftermiete; und zweitens wollte ich mich zwar nötigenfalls mit einem einzigen Zimmer begnügen, dieses sollte aber unbedingt groß sein, selbstverständlich gleichzeitig auch möglichst billig. Ich hatte die Beobachtung gemacht, daß in einem engen Zimmer sich sogar die Gedanken beengt fühlen. Ich für meine Person habe, wenn ich meine künftigen Novellen durchdachte, es immer geliebt, im Zimmer auf und ab zu gehen. Beiläufig bemerkt: das vorherige Durchdenken meiner literarischen Produktionen und die Überlegung, wie ich sie niederschreiben wollte, machte mir von jeher mehr Vergnügen als das wirkliche Niederschreiben, und das rührte wirklich nicht etwa von Trägheit her. Woher es eigentlich kam, vermag ich nicht zu sagen.

Schon am Morgen hatte ich mich nicht wohl gefühlt, und gegen Abend wurde mir sogar recht schlecht; es bildete sich eine Art Fieber heraus. Zudem war ich den ganzen Tag auf den Beinen gewesen und müde geworden. Am Abend, unmittelbar vor Eintritt der Dämmerung, ging ich gerade den Wosnessenskiprospekt entlang. Ich liebe die Märzsonne in Petersburg, besonders den Sonnenuntergang; selbstverständlich muß es ein klarer, kalter Abend sein. Die ganze Straße glänzt auf einmal, von hellem Licht übergossen. Alle Häuser fangen plötzlich an zu leuchten. Ihre grauen, gelblichen, schmutzig-grünen Farben verlieren für einen Augenblick all ihr Düsteres, Unfreundliches; es ist, als werde es in der Seele hell, als schrecke man zusammen oder als stoße einen jemand mit dem Ellbogen an. Und der neue Anblick erweckt neue Gedanken … Es ist erstaunlich, welch eine Wirkung ein einziger Sonnenstrahl in der Seele eines Menschen hervorzubringen vermag!

Aber das Licht der Sonne war erloschen; die Kälte nahm zu und kniff einem in die Nase; die Dunkelheit wurde stärker; in den Schaufenstern und Läden blitzten die Gasflammen auf. Als ich der Müllerschen Konditorei gegenüber war, blieb ich plötzlich wie angenagelt stehen und sah nach der anderen Seite der Straße hinüber, als ob ich ahnte, daß ich da alsbald etwas Ungewöhnliches erleben würde, und gerade in diesem Moment erblickte ich dort einen alten Mann mit einem Hund. Ich erinnere mich noch ganz genau, daß sich mir das Herz infolge einer unangenehmen Empfindung krampfhaft zusammenzog, ohne daß ich mir selbst hätte darüber klarwerden können, was das für eine Empfindung war.

Ich neige nicht zum Mystizismus, und an Ahnungen und Wahrsagerei glaube ich so gut wie gar nicht, obwohl mir, wie vielleicht allen Menschen, im Leben einige ziemlich unerklärliche Begebnisse vorgekommen sind. So zum Beispiel gleich dieser alte Mann: woher hatte ich bei meiner damaligen Begegnung mit ihm sofort das Gefühl, daß ich gleich an diesem Abend etwas recht Ungewöhnliches erleben würde? Übrigens war ich krank, und krankhafte Gefühle sind fast immer trügerisch.

Der Alte näherte sich der Konditorei mit langsamem, müdem Gang; er setzte ein Bein vor das andere, als ob er sie nicht biegen könne, als ob es Stöcke wären; seine Haltung war gebeugt, und er stieß leicht mit dem Stock auf die Trottoirplatten. In meinem ganzen Leben bin ich keiner so seltsamen, wunderlichen Gestalt begegnet. Auch früher schon, vor dieser Begegnung, hatte er jedesmal, wenn ich mit ihm bei Müller zusammentraf, eine peinliche Empfindung bei mir erweckt. Sein hoher Wuchs, sein gebeugter Rücken, sein totenbleiches, achtzigjähriges Gesicht, sein alter, in den Nähten aufgerissener Mantel, der verbeulte, wohl zwanzig Jahre alte Zylinderhut, der seinen kahlen Kopf bedeckte, auf welchem nur ganz im Nacken ein Büschel nicht mehr grauer, sondern gelblich-weißer Haare übrig war, alle seine Bewegungen, die gewissermaßen unbewußt, wie durch einen leblosen Mechanismus zu erfolgen schienen: alles dies machte unwillkürlich einen starken Eindruck auf jeden, der ihm zum ersten Male begegnete. In der Tat, es war ein seltsamer Anblick, dieser völlig abgelebte Greis, so ganz allein, ohne jeden Begleiter, um so mehr, da er einem Irrsinnigen glich, der seinen Aufsehern davongelaufen war. Es überraschte mich auch seine außerordentliche Magerkeit: es war, als hätte er fast gar kein Fleisch mehr auf dem Leib, als wäre über die Knochen einfach nur die Haut gespannt. Seine großen, trüben, in blauen Ringen liegenden Augen blickten immer gerade vor sich hin, nie zur Seite, und sahen überhaupt nie etwas; davon bin ich überzeugt. Wenn er einen auch ansah, so ging er doch auf den Betreffenden gerade los, wie wenn er leeren Raum vor sich hätte. Das habe ich mehrmals beobachtet. Zu Müller zu kommen hatte er erst vor kurzem angefangen, und immer mit seinem Hund. Keiner der Besucher der Konditorei wußte, woher er kam; keiner hatte Lust, mit ihm zu reden, und er selbst knüpfte mit keinem von ihnen ein Gespräch an.

›Warum schleppt er sich nur zu Müller, und was hat er da zu suchen?‹ dachte ich, während ich auf der anderen Seite der Straße stand und mich von seinem Anblick nicht losreißen konnte. Eine Art von Ärger, die Folge meiner Krankheit und Müdigkeit, stieg in mir auf. ›Woran mag er nur denken?‹ fuhr ich in meinem Selbstgespräch fort; ›was mag er im Kopf haben? Ob er wohl überhaupt noch an etwas denkt? Sein Gesicht ist dermaßen tot, daß es gar keinen Ausdruck mehr aufweist. Und woher hat er diesen garstigen Hund, der ihm so ähnlich ist und nicht von ihm weicht, als ob er mit ihm ein untrennbares Ganzes bildet?‹

Dieser unglückliche Hund war, wie es schien, ebenfalls achtzig Jahre alt; ja, so mußte es jedenfalls sein. Erstens war er dem Ansehen nach so alt, wie Hunde es sonst nie werden, und zweitens, woher kam mir nur gleich beim erstenmal, als ich ihn erblickte, der Gedanke, dieser Hund könne nicht von derselben Art sein wie alle Hunde; er sei ein ungewöhnlicher Hund; es stecke in ihm jedenfalls etwas Gespenstiges, Zauberisches; er sei vielleicht eine Art von Mephistopheles in Hundegestalt und sein Schicksal sei durch irgendwelche geheimnisvollen, unsichtbaren Bande mit dem Schicksal seines Herrn verknüpft? Wenn man ihn ansah, konnte man gut und gern glauben, daß es wohl schon zwanzig Jahre her war, seit er zum letztenmal gefressen hatte. Er war mager wie ein Skelett oder (welcher Ausdruck ist stärker?) wie sein Herr. Die Haare waren ihm fast vollständig ausgefallen, auch am Schwanz, der wie ein Stock herunterhing und den er immer fest zwischen die Beine kniff. Den langohrigen Kopf ließ er mürrisch hängen. In meinem ganzen Leben habe ich keinen Hund von so abstoßendem Äußerem zu sehen bekommen. Wenn die beiden auf der Straße gingen, der Herr voran, der Hund hinter ihm, so berührte die Nase des letzteren den Rockschoß des Vorangehenden, als ob sie daran festgeklebt sei. Und der Gang der beiden und ihr ganzes Aussehen sagte beinahe mit jedem Schritt: ›O Gott, wie alt sind wir, wie alt!‹

Ich erinnere mich auch, daß mir einmal der Gedanke kam, der Alte und sein Hund seien auf irgendeine Weise aus einer von Gavarni illustrierten Ausgabe von ›Hoffmanns Erzählungen‹ entwischt und gingen nun in der Welt als wandelnde Anzeigen dieses Buches umher. Ich ging über die Straße hinüber und trat hinter dem Alten in die Konditorei.

In der Konditorei benahm sich der Alte sehr seltsam, und der hinter seinem Ladentisch stehende Herr Müller fing in der letzten Zeit schon an, beim Eintritt des ungebetenen Gastes ein unzufriedenes Gesicht zu machen. Erstens bestellte der sonderbare Gast nie etwas. Er ging jedesmal geradenwegs in die Ecke beim Ofen und setzte sich dort auf einen Stuhl. War aber sein Platz am Ofen besetzt, so blieb er vor dem Herrn, der seinen Platz innehatte, ein Weilchen in gedankenloser Verwunderung stehen und ging dann ganz verstört nach einer anderen Ecke am Fenster. Dort wählte er sich einen Stuhl aus, ließ sich langsam darauf nieder, nahm den Hut ab, legte ihn neben sich auf den Fußboden, den Stock daneben, lehnte sich in den Stuhl zurück und verharrte so drei oder vier Stunden lang, ohne sich zu bewegen. Nie nahm er eine Zeitung in die Hand, nie sagte er ein Wort oder gab einen Laut von sich; er saß nur da und sah mit weitgeöffneten Augen vor sich hin, aber mit einem so trüben, leblosen Blick, daß man hätte darauf wetten mögen, er sehe und höre nichts von seiner ganzen Umgebung. Sein Hund aber drehte sich zwei-oder dreimal auf einem Fleck herum, legte sich dann grämlich zu seinen Füßen hin, steckte seine Schnauze zwischen die Stiefel seines Herrn, stieß einen tiefen Seufzer aus, streckte sich seiner ganzen Länge nach auf dem Fußboden aus und blieb gleichfalls den ganzen Abend über, ohne sich zu rühren, wie tot liegen. Es schien, als hätten diese beiden Wesen den ganzen Tag über tot dagelegen und seien nun bei Sonnenuntergang plötzlich lebendig geworden, einzig und allein um in die Müllersche Konditorei zu gehen und dadurch eine geheimnisvolle, niemandem bekannte Pflicht zu erfüllen. Nachdem der Alte drei, vier Stunden lang dagesessen hatte, stand er endlich auf, nahm seinen Hut und ging fort, doch wohl in seine irgendwo gelegene Wohnung. Auch der Hund erhob sich und folgte seinem Herrn, wieder mit eingeklemmtem Schwanz und herunterhängendem Kopf in dem früheren langsamen Gang. Die Besucher der Konditorei vermieden schließlich jeden Verkehr mit dem Alten und setzten sich nicht einmal in seine Nähe, wie wenn er ihnen Widerwillen einflöße. Er seinerseits bemerkte nichts davon.

Die Besucher dieser Konditorei sind größtenteils Deutsche. Sie kommen hier vom ganzen Wosnessenskiprospekt zusammen, lauter Handwerksmeister verschiedener Berufsarten: Schlosser, Bäcker, Färber, Hutmacher, Sattler, sämtlich patriarchalische Leute im deutschen Sinn dieses Wortes. Bei Müller herrschte überhaupt ein patriarchalischer Ton. Oft trat der Wirt zu den ihm bekannten Gästen und setzte sich zu ihnen an den Tisch, wobei dann gewaltige Mengen Punsch getrunken wurden. Die kleinen Kinder des Wirtes und seine Hunde gesellten sich ebenfalls manchmal zu den Gästen und wurden von diesen geliebkost. Alle waren miteinander bekannt und hatten einander gern. Und während die Gäste sich in die Lektüre der deutschen Zeitungen vertieften, ertönte in der anstoßenden Wohnung des Wirtes die Melodie des »Lieben Augustin«, auf einem klapprigen Klavier von der ältesten Tochter des Wirtes gespielt, einem blondlockigen deutschen Mädchen, das die größte Ähnlichkeit mit einem weißen Mäuschen hatte. Dieser Walzer wurde von den Gästen mit Vergnügen aufgenommen. Ich ging zu Müller immer in den ersten Tagen des Monats, um die russischen Monatsschriften, die er hielt, zu lesen. Als ich in die Konditorei trat, sah ich, daß der Alte bereits am Fenster saß und der Hund wie gewöhnlich ausgestreckt zu seinen Füßen lag. Schweigend setzte ich mich in eine Ecke und legte mir in Gedanken die Frage vor: »Warum bin ich hierhergekommen, wo ich doch absolut nichts zu tun habe? Ich bin krank und täte am besten, mich schnell nach Hause zu begeben und mich ins Bett zu legen. Bin ich wirklich nur hier, um diesen alten Mann anzusehen ?« Ein Gefühl des Ärgers ergriff mich. »Was geht er mich eigentlich an?« dachte ich in Erinnerung an die sonderbare peinliche Empfindung, mit der ich ihn schon auf der Straße angesehen hatte. »Und was gehen mich alle diese langweiligen Deutschen an? Wozu diese sentimentale Stimmung? Wozu diese wohlfeile Aufregung über allerlei Unwichtiges, die ich in der letzten Zeit an mir bemerke und die mich an einer vernünftigen Lebensführung hindert und mir den klaren Blick für das Leben nimmt? Hat mir das doch schon ein scharfsinniger Rezensent aufgemutzt, als er meine letzte Novelle mißbilligend kritisierte.‹ Trotz dieser Gedanken und Selbstvorwürfe blieb ich jedoch auf meinem Platz sitzen; meine Krankheit aber steigerte sich immer mehr und mehr, und ich empfand schließlich eine wahre Scheu davor, das warme Zimmer zu verlassen. Ich nahm die ›Frankfurter Zeitung‹ zur Hand, las darin zwei Zeilen und schlief ein. Die Deutschen störten mich nicht. Sie lasen, rauchten und teilten einander nur selten, alle halbe Stunde einmal, kurz und halblaut irgendeine Neuigkeit aus Deutschland mit oder auch einen Witz oder eine geistreiche Bemerkung des berühmten deutschen Witzboldes Saphir, worauf sie sich, dann mit verdoppeltem nationalem Stolz von neuem in ihre Lektüre vertieften.

Nachdem ich etwa eine halbe Stunde geschlummert hatte, kam ich infolge eines heftigen Fieberschauers wieder zu Bewußtsein. Es war entschieden nötig, daß ich mich nach Hause begab. Aber in diesem Augenblick hielt eine stumme Szene, die sich im Zimmer abspielte, mich noch einmal zurück. Ich habe bereits gesagt, daß der Alte, sobald er sich auf seinen Stuhl niedergelassen hatte, seinen Blick sogleich starr irgendwohin zu richten und dann den ganzen Abend über nicht mehr auf einen anderen Gegenstand zu lenken pflegte. Auch mir war es einige Male begegnet, das Ziel dieses gedankenlosen, nichts unterscheidenden Blickes zu werden; es war das eine unangenehme, ja geradezu unerträgliche Empfindung, und ich wechselte gewöhnlich so schnell wie möglich den Platz. In diesem Augenblick war ein anderer das Opfer des Alten geworden: ein sehr kleiner, rundlicher, außerordentlich sauberer Deutscher mit einem steif gestärkten Stehkragen und mit einem ungewöhnlich roten Gesicht, ein von auswärts gekommener Gast, ein Kaufmann aus Riga namens Adam Iwanowitsch Schulz, wie ich später erfuhr; er war mit Müller eng befreundet, kannte aber den Alten und viele der übrigen Gäste noch nicht. Er las mit Genuß den ›Dorfbarbier‹ und trank seinen Punsch dazu; da bemerkte er auf einmal, als er den Kopf in die Höhe hob, daß der unbewegliche Blick des Alten auf ihm ruhte. Das befremdete ihn. Adam Iwanowitsch war ein sehr empfindlicher, reizbarer Mensch, wie überhaupt alle Deutschen besseren Standes. Es schien ihm seltsam und beleidigend, daß ihn jemand so starr und ungeniert fixierte. Aber seinen Unwillen unterdrückend, wandte er seine Augen von dem taktlosen Gast ab, murmelte etwas vor sich hin und verbarg sich schweigend hinter seiner Zeitung. Indessen konnte er sich doch nicht bezwingen und spähte ein paar Minuten darauf argwöhnisch hinter der Zeitung hervor: derselbe starre Blick, dasselbe, gedankenlose Fixieren. Auch diesmal schwieg Adam Iwanowitsch noch. Aber als derselbe Vorgang sich zum drittenmal wiederholte, fuhr er auf und hielt es für seine Pflicht, seine Würde zu wahren und nicht angesichts eines anständigen Publikums die schöne Stadt Riga beleidigen zu lassen, als deren Repräsentanten er sich wahrscheinlich betrachtete. Mit einer Gebärde der Ungeduld warf er die Zeitung auf den Tisch und klopfte energisch mit dem Stock auf, an dem sie befestigt war; von dem Gefühl der eigenen Würde entflammt und dunkelrot im Gesicht von dem genossenen Punsch und von der Ehrenkränkung, richtete er nun seinerseits seine kleinen funkelnden Augen auf den lästigen alten Mann. Es schien, als ob sie beide, der Deutsche und sein Gegner, einander durch die magnetische Kraft ihrer Blicke überwältigen wollten und nun abwarteten, wer zuerst in Verlegenheit geraten und die Augen niederschlagen werde. Das Klopfen mit dem Stock und Adam Iwanowitschs ungewöhnliche Körperhaltung erregten die Aufmerksamkeit aller Gäste. Alle ließen sofort von ihrer Beschäftigung ab und beobachteten mit ernster, stummer Neugier die beiden Gegner. Die Szene gestaltete sich sehr komisch. Aber der Magnetismus der herausfordernden Blicke des geröteten Adam Iwanowitsch blieb ganz wirkungslos. Ohne sich um irgend etwas zu kümmern, fuhr der Alte fort, den wütenden Herrn Schulz gerade anzusehen; als wäre er auf dem Mond und nicht auf der Erde, bemerkte er offenbar gar nicht, daß er der Gegenstand der allgemeinen Neugier geworden war. Schließlich verlor Adam Iwanowitsch die Geduld und brach los.

»Warum fixieren Sie mich denn in dieser Weise?« schrie er auf deutsch mit scharfer, durchdringender Stimme und mit drohender Miene.

Aber sein Gegner schwieg weiter, als hätte er die Frage nicht verstanden und überhaupt nicht gehört. Adam Iwanowitsch entschloß sich, russisch zu reden. »Ich frage Sie, warum Sie mich so fixieren?« schrie er mit verdoppeltem Zorn in mangelhaftem Russisch. »Ich bin bei Hofe bekannt, was Sie von sich nicht werden sagen können!« fügte er hinzu, indem er vom Stuhl aufsprang.

Aber der Alte rührte sich noch immer nicht. Unter den Deutschen erhob sich ein unwilliges Gemurmel. Durch den Lärm herbeigerufen, trat Müller selbst ins Zimmer. Als er erfahren hatte, worum es sich handelte, glaubte er, der Alte sei taub, und beugte sich ganz nahe zu seinem Ohr hinab.

»Herr Schulz bittet Sie, ihn nicht so scharf anzusehen«, sagte er möglichst laut auf russisch und betrachtete den seltsamen Gast aufmerksam.

Der Alte blickte Müller mechanisch an, und auf einmal zeigten sich in seinem bis dahin regungslosen Gesicht Anzeichen einer ängstlichen Gedankenarbeit, einer unruhigen Erregung. Er geriet in hastige Bewegung, räusperte sich, bückte sich nach seinem Hut und ergriff ihn eilig mitsamt dem Stock; mit einem kläglichen Lächeln, dem demütigen Lächeln eines armen Teufels, der von dem irrtümlich eingenommenen Platz vertrieben wird, schickte er sich an, das Zimmer zu verlassen. In dieser ergebenen, unterwürfigen Eile des armen, gebrechlichen Greises lag soviel Mitleiderweckendes, soviel Herzergreifendes, daß das ganze Publikum, und Adam Iwanowitsch voran, sofort seine Anschauung über die Sache änderte. Es war klar, daß der Alte niemanden beleidigen konnte, ja sich sogar selbst jeden Augenblick bewußt war, daß man ihn wie einen Bettler fortjagen könne.

Müller war ein gutherziger, mitleidiger Mensch.

»Nein, nein«, sagte er und klopfte dem Alten ermutigend auf die Schulter, »bleiben Sie nur sitzen! Aber Herr Schulz hat Sie sehr gebeten, ihn nicht so scharf anzusehen. Er ist bei Hofe bekannt.«

Aber der alte Mann begriff auch dies nicht; er hastete noch mehr als vorher, beugte sich nieder, um sein Taschentuch aufzuheben, ein altes, zerrissenes, blaues Taschentuch, das ihm aus dem Hut herausgefallen war, und rief seinen Hund, der, ohne sich zu regen, auf dem Fußboden lag und, mit der Schnauze zwischen den beiden Vorderpfoten, anscheinend fest schlief.

»Asorka, Asorka!« rief er mit zitternder, greisenhafter Stimme; »Asorka!«

Asorka rührte sich nicht.

»Asorka, Asorka!« sagte der Alte noch einmal traurig und berührte den Hund mit dem Stock; aber das Tier verharrte in seiner bisherigen Haltung.

Der Stock entsank den Händen des alten Mannes. Er bückte sich, ließ sich auf beide Knie nieder und hob mit beiden Händen Asorkas Schnauze in die Höhe. Der arme Asorka! Er war tot! Er war, ohne einen Laut von sich zu geben, zu den Füßen seines Herrn gestorben, vielleicht an Altersschwäche, vielleicht aber war er auch verhungert. Der Alte blickte ihn ein Weilchen an, wie wenn er völlig bestürzt wäre und nicht begriffe, daß Asorka schon gestorben war; dann beugte er sich still zu seinem bisherigen Diener und Freund herab und drückte sein blasses Gesicht an dessen tote Schnauze. So verging eine Minute unter allseitigem Stillschweigen. Wir alle waren gerührt. Endlich erhob sich der arme Mensch. Er war sehr blaß und zitterte wie in einem heftigen Fieberanfall.

»Man kann ihn ausstopfen«, sagte der mitleidige Herr Müller in dem Wunsch, den Alten irgendwie zu trösten. »Fjodor Karlowitsch Krüger versteht das ausgezeichnet; er ist ein Meister in dieser Kunst«, versicherte Müller, hob den Stock vom Boden auf und reichte ihn dem Alten. »Ja, ich stopfe ausgezeichnet aus«, fiel Herr Krüger selbst bescheiden ein, indem er in die vordere Reihe trat.

Dies war ein langer, hagerer, tugendhafter Deutscher mit rotem, buschigem Haar und mit einer Brille auf der gebogenen Nase.

»Fjodor Karlowitsch Krüger besitzt ein großes Talent im Ausstopfen«, fügte Müller hinzu, der sich in seine schöne Idee zu verlieben begann.

»Ja, ich besitze ein großes Talent im Ausstopfen«, bestätigte Herr Krüger von neuem, »und ich werde Ihnen Ihren Pudel umsonst ausstopfen«, fügte er in einem Anfall hochherziger Selbstverleugnung hinzu.

»Nein, ich werde Ihnen das Ausstopfen bezahlen!« rief Adam Iwanowitsch Schulz ordentlich grimmig und errötete aus zwiefachem Grunde: sowohl wegen seiner eigenen Großmut, als auch weil er sich schuldloserweise für die Ursache des ganzen Unglücks hielt.

Der Alte hörte das alles mit an, verstand aber offenbar nichts davon und zitterte wie vorher am ganzen Leib.

»Warten Sie! Trinken Sie ein Gläschen guten Kognak!« rief Müller, als er sah, daß der rätselhafte Gast dem Ausgang zustrebte.

Der Kognak wurde gebracht. Der Alte nahm mechanisch das Gläschen; aber seine Hand zitterte, und bevor er es an die Lippen brachte, verschüttete er die Hälfte und stellte es, ohne einen Tropfen getrunken zu haben, wieder auf das Tablett. Darauf lächelte er in einer sonderbaren, gar nicht zur Situation passenden Art und verließ mit beschleunigten, ungleichmäßigen Schritten die Konditorei; den Hund ließ er auf seinem Platz liegen. Alle standen, erstaunt; Ausrufe der Verwunderung wurden laut.

»Schwerenot, was ist das für eine Geschichte?« sagten die Deutschen, einander mit großen Augen anblickend. Ich aber eilte dem Alten nach. Wenn man sich von der Konditorei nach rechts wendet, so biegt nach einigen Schritten eine schmale, dunkle, von gewaltig großen Häusern eingefaßte Gasse ab. Eine Art von Ahnung sagte mir, daß der Alte sich gewiß dahin gewandt habe. Hier war das zweite Haus rechter Hand im Bau begriffen und ganz mit Gerüststangen umgeben. Der Bauzaun reichte beinahe bis in die Mitte der Gasse; am Zaun entlang war ein hölzerner Steig für Fußgänger angelegt. In einem dunklen Winkel, der von dem Zaun und dem Hause gebildet wurde, fand ich den Alten. Er saß auf der Stufe des hölzernen Trottoirs, hatte die Ellbogen auf die Knie gestützt und hielt seinen Kopf in beiden Händen. Ich setzte mich neben ihn.

»Hören Sie«, sagte ich und wußte nicht recht, wie ich anfangen sollte, »grämen Sie sich nicht um Ihren Asorka! Kommen Sie, ich werde Sie zu Ihrer Wohnung bringen. Beruhigen Sie sich! Ich werde gleich eine Droschke holen. Wo wohnen Sie denn?«

Der Alte gab keine Antwort. Ich wußte nicht, was ich machen sollte. Passanten waren nicht da. Auf einmal faßte er mich bei der Hand. »Mir ist so beklommen!« sagte er mit heiserer, kaum hörbarer Stimme; »so beklommen!« »Kommen Sie zu Ihrer Wohnung!« rief ich, indem ich mich aufrichtete und auch ihn mit Gewalt aufzurichten suchte. »Da sollen Sie Tee trinken und sich ins Bett legen … Ich werde sofort eine Droschke holen. Ich werde einen Arzt rufen; ich bin mit einem bekannt.«

Ich erinnere mich nicht mehr, was ich sonst noch zu ihm sagte. Er wollte sich erheben; aber nachdem er sich ein klein wenig aufgerichtet hatte, fiel er wieder auf die Erde zurück und begann erneut mit derselben heiseren, erstickten Stimme etwas zu murmeln. Ich beugte mich noch näher zu ihm herab und horchte.

»Auf der Wassili-Insel«, flüsterte der Alte, »in der Sechsten Linie … in der Sechsten Li-nie …«

Er verstummte.

»Wohnen Sie auf der Wassili-Insel? Aber dann sind Sie falsch gegangen; Sie mußten sich nach links wenden, nicht nach rechts. Ich will Sie gleich hinbringen …«

Der Alte rührte sich nicht. Ich faßte ihn an der Hand; die Hand fiel wie tot herab. Ich sah ihm ins Gesicht und berührte es – er war bereits tot. Mir war, als ob mir das alles nur träumte.

Dieses Begebnis hatte für mich eine längere mühevolle Tätigkeit zur Folge, während der mein Fieber ganz von selbst verging. Es gelang mir, die Wohnung des alten Mannes ausfindig zu machen. Er wohnte jedoch nicht auf der Wassili-Insel, sondern wenige Schritte von der Stelle, wo er gestorben war, in dem Hause eines Herrn Klugen dicht unter dem Dach im fünften Stockwerk in einer eigenen Wohnung, die aus einem kleinen Vorzimmer und einem großen, sehr niedrigen Zimmer mit drei ganz schmalen Fenstern bestand. Er hatte äußerst ärmlich gewohnt. Das Mobiliar bestand nur aus einem Tisch, zwei Stühlen und einem uralten, steinharten Sofa, aus dem überall die Bastpolsterung hervorsah; und auch diese Möbelstücke gehörten, wie sich herausstellte, dem Wirt. Der Ofen schien seit langer Zeit nicht geheizt zu sein; auch Kerzen fanden sich nicht. Ich glaube jetzt allen Ernstes, daß der Alte zu Müller einzig und allein in der Absicht ging, bei Licht zu sitzen und sich zu wärmen. Auf dem Tisch stand ein leerer irdener Krug; daneben lag eine alte, harte Brotrinde. An Geld fand sich auch nicht eine Kopeke vor. Nicht einmal Wäsche zum Wechseln war vorhanden, in der er hätte beerdigt werden können; jemand gab zu diesem Zweck ein Hemd von sich her. Es war klar, daß er nicht in dieser Weise, so völlig allein, hatte leben können; gewiß hatte ihn jemand, wenn auch nur selten, besucht. Im Tischkasten fand sich sein Paß. Der Verstorbene war Ausländer gewesen, aber russischer Untertan, Jeremija Smith, Maschinenbauer, achtundsiebzig Jahre alt. Auf dem Tisch lagen zwei Bücher: eine kurzgefaßte Geographie und ein russisches Neues Testament, in welchem einzelne Stellen am Rand mit Bleistift angestrichen oder mit Nagelkrellen bezeichnet waren. Diese Bücher erwarb ich für mich. Man befragte die anderen Mieter und den Hauswirt, aber sie wußten fast nichts über ihn zu sagen. Mieter gab es in diesem Haus eine große Menge, fast lauter Handwerker und deutsche Zimmervermieterinnen, welche Zimmer mit Beköstigung und Bedienung abließen. Der Verwalter des Hauses, ein Adliger, wußte ebenfalls nur sehr wenig von seinem früheren Mieter zu sagen, außer daß die Wohnung sechs Rubel monatlich kostete, daß der Verstorbene sie vier Monate lang innegehabt, aber für die beiden letzten Monate keine Kopeke bezahlt hatte, so daß er eigentlich schon hätte hinausgesetzt werden sollen. Man fragte, ob nicht manchmal jemand zu ihm gekommen sei. Aber niemand konnte darüber befriedigende Auskunft geben. »Das Haus ist groß«, hieß es; »was gehen in einer solchen Arche Noah nicht alles für Leute ein und aus? Wie soll man die alle im Kopf behalten?« Der Hausknecht, der in diesem Haus schon fünf Jahre diente und wahrscheinlich wenigstens etwas, wenn auch noch so wenig, hätte mitteilen können, war vor zwei Wochen zu Besuch in seine Heimat gereist und hatte als Vertreter seinen Neffen dagelassen, einen jungen Burschen, der bisher kaum die Hälfte der Mieter von Gesicht kennengelernt hatte. Ich weiß nicht mehr genau, welches damals das Endresultat all dieser Nachforschungen war; aber schließlich wurde der alte Mann begraben. In diesen Tagen ging ich, unter anderen Laufereien und Bemühungen, auch einmal nach der Wassili-Insel zur Sechsten Linie, und erst als ich hingekommen war, lachte ich über mich selbst: was konnte ich in der Sechsten Linie sehen außer eine Reihe gewöhnlicher Häuser? ›Aber warum‹, dachte ich, ›hat der Alte im Sterben von der Sechsten Linie und von der Wassili-Insel gesprochen? Hat er nur phantasiert?‹

Ich besah mir Smiths leergewordene Wohnung, und sie gefiel mir. Ich mietete sie für mich. Die Hauptsache war mir das große Zimmer, obwohl es so niedrig war, daß es mir in der ersten Zeit immer so vorkam, als würde ich mit dem Kopf die Decke streifen. Übrigens gewöhnte ich mich bald daran. Für sechs Rubel monatlich war auch nichts Besseres zu bekommen. Was mich lockte, war, daß ich die Wohnung direkt vom Hauswirt mietete; ich mußte mich nur noch um eine Bedienung bemühen, da ich ganz ohne Bedienung denn doch nicht hausen konnte. Der Hausknecht versprach, für die erste Zeit wenigstens einmal täglich zu mir zu kommen und mir die allernotwendigsten Dienste zu leisten. ›Wer weiß‹, dachte ich, ›vielleicht erkundigt sich auch jemand nach dem alten Mann!‹ Indessen waren bei meinem Einzug schon fünf Tage seit seinem Tod vergangen, und es war noch niemand gekommen.

Zehntes Kapitel

Inhalt

Fünf Tage nach Smith’ Tod siedelte ich in seine Wohnung über. Diesen ganzen Tag lang war mir sehr traurig zumute. Das Wetter war trüb und kalt: es fiel ein feuchter, mit Regen gemischter Schnee. Erst gegen Abend brach die Sonne auf einen Augenblick durch, und ein verirrter Strahl blickte, wahrscheinlich aus Neugier, in mein Zimmer. Ich fing schon an zu bereuen, daß ich hierhergezogen war. Das Zimmer war zwar groß, aber sehr niedrig, verräuchert und dumpfig und machte trotz der darinstehenden paar Möbelstücke einen unangenehm leeren Eindruck. Es kam mir gleich damals der Gedanke, daß ich mir in diesem Zimmer unfehlbar den Rest meiner Gesundheit verderben würde. Und das ist denn auch geschehen.

Diesen ganzen Vormittag war ich mit meinen Papieren beschäftigt, die ich sichtete und ordnete. In Ermangelung einer Mappe hatte ich sie in einem Kopfkissenbezug transportiert, und dabei waren sie arg zerknittert und durcheinandergeraten. Dann setzte ich mich hin, um zu schreiben. Ich schrieb damals immer noch an meinem großen Roman; aber ich hörte bald wieder auf; mein Kopf war mit anderen Gedanken erfüllt …

Ich warf die Feder hin und setzte mich ans Fenster. Die Dunkelheit brach herein, und meine Stimmung wurde immer trauriger und trauriger. Mancherlei bedrückende Gedanken bemächtigten sich meiner. Ich hatte die Empfindung, daß ich in Petersburg schließlich völlig zugrunde gehen würde. Der Frühling nahte; ich dachte: ›Könnte ich mich nur aus dieser beklemmenden Enge in die freie Natur flüchten und den Geruch der frischen Felder und Wälder einatmen, die ich so lange nicht gesehen habe; dann würde ich wieder aufleben! …‹

Es kam mir auch der Gedanke: ›Wie gut wäre es, wenn ich durch irgendwelche Zauberei oder durch ein Wunder alles in den letzten Jahren Geschehene und Erlebte vollständig vergäße, einen frischen Geist bekäme und wieder mit neuer Kraft anfinge!‹ Damals hing ich noch solchen Zukunftsträumereien nach und hoffte auf eine Art von Wiedergeburt. ›Meinetwegen will ich sogar ins Irrenhaus kommen‹, sagte ich mir, ›damit man mir da auf irgendwelche Weise das ganze Gehirn umkehrt und neu einrichtet und ich dann wieder ganz gesund werde!‹ Es steckte noch ein starker Lebensdurst in mir, und ich glaubte noch an das Leben! … Aber ich erinnere mich, daß ich damals in ein Gelächter ausbrach. ›Was sollte ich denn nach dem Aufenthalt im Irrenhaus tun?‹ fragte ich mich. ›Etwa wieder Romane schreiben?‹

So überließ ich mich meinen Träumereien und meinem Trübsinn; aber unterdessen rückte die Zeit weiter, und die Nacht kam heran. Für diesen Abend hatte ich Natascha zugesagt, zu ihr zu kommen; sie hatte mich schon tags zuvor durch ein Billett dringend dazu aufgefordert. Ich sprang auf und begann, mich zurechtzumachen. Auch ohnedies war es mir ein Bedürfnis, möglichst schnell aus der Wohnung hinauszukommen, irgendwohin, meinetwegen in den Regen und in den Schmutz. Je stärker die Finsternis wurde, um so geräumiger schien mein Zimmer zu werden, um so mehr schien es sich auszudehnen. Ich hatte die Vorstellung, ich würde in jeder Nacht in jeder Ecke den alten Smith sehen: er werde dasitzen und mich regungslos anblicken, so wie er in der Konditorei Adam Iwanowitsch angeblickt hatte, und Asorka werde zu seinen Füßen liegen. Und gerade in diesem Augenblick hatte ich ein Erlebnis, das mir einen starken Eindruck machte.

Aber ich muß alles offen bekennen: ob nun infolge meiner Nervenzerrüttung oder infolge der Eindrücke in der neuen Wohnung oder infolge der neuerdings über mich gekommenen Melancholie, kurz, ich war gleich von dem Einbruch der Dämmerung an allmählich und stufenweise in denjenigen Seelenzustand hineingeraten, der jetzt während meiner Krankheit nachts bei mir so häufig vorkommt und den ich ›mystische Angst‹ nenne. Es ist dies eine überaus peinliche, qualvolle Furcht vor etwas, was ich selbst nicht zu definieren vermag, vor etwas Unbegreiflichem, das in der natürlichen Ordnung der Dinge nicht existiert, das aber unfehlbar, vielleicht gleich im nächsten Augenblick, sich verwirklichen, allen Vernunftgründen zum Trotz zu mir kommen und als unwiderlegliche, schreckliche, grauenhafte, unerbittliche Tatsache vor mich hintreten wird. Diese Furcht wächst gewöhnlich immer stärker und stärker heran, ohne sich an irgendwelche Gründe des Verstandes zu kehren, so daß schließlich der Verstand, obwohl er in diesen Augenblicken vielleicht noch größere Klarheit besitzt als sonst, schlechterdings keine Möglichkeit hat, den Empfindungen entgegenzuwirken. Er findet kein Gehör, er ist nutzlos, und durch diese Zwiespältigkeit wird die ängstliche Pein der Erwartung noch vermehrt. Ich glaube, von dieser Art ist die schreckliche Empfindung der Leute, die sich vor Leichen fürchten. Aber bei mir wird die Qual noch durch die Undefinierbarkeit der Gefahr gesteigert. Ich stand mit dem Rücken nach der Tür und nahm gerade meinen Hut vom Tisch; in diesem Augenblick kam mir plötzlich der Gedanke, wenn ich mich umsähe, würde ich bestimmt den alten Smith erblicken; zunächst werde er sachte die Tür öffnen, auf der Schwelle stehenbleiben und im Zimmer umherschauen; dann werde er leise mit gesenktem Kopf eintreten, sich vor mich hinstellen, mich mit seinen trüben Augen anstarren und mir auf einmal mit seinem zahnlosen Mund gerade ins Gesicht lachen, lange und unhörbar, und sein ganzer Körper werde von diesem Lachen erschüttert werden und lange hin und her schwanken. Diese ganze Vision stand mir auf einmal mit größter Klarheit und Deutlichkeit vor dem geistigen Auge, und gleichzeitig bildete sich bei mir die volle unerschütterliche Überzeugung heraus, daß das alles unfehlbar und unabwendbar geschehen werde, ja, daß es bereits geschehe und ich es nur nicht sähe, weil ich mit dem Rücken nach der Tür stände, und daß sich gerade in diesem Augenblick die Tür vielleicht schon öffne. Schnell drehte ich mich um, und was sah ich? Die Tür öffnete sich wirklich, sachte und unhörbar, ebenso wie ich mir das gerade vorgestellt hatte. Ich schrie auf. Lange Zeit erschien niemand, als ob die Tür sich von selbst geöffnet hätte; auf einmal zeigte sich auf der Schwelle ein seltsames Wesen: seine Augen blickten mich, soweit ich das in der Dunkelheit erkennen konnte, starr und unverwandt an. Ein kalter Schauer lief durch alle meine Glieder. Zu meinem größten Schrecken sah ich, daß es ein Kind, ein Mädchen war, und wenn es sogar der alte Smith selbst gewesen wäre, so wäre ich über ihn vielleicht nicht so erschrocken, wie über die seltsame, unerwartete Erscheinung dieses Kindes in meinem Zimmer zu einer solchen Tageszeit.

Ich habe bereits gesagt, daß die Kleine die Tür so unhörbar und langsam öffnete, als ob sie sich fürchtete hereinzukommen. Als sie in der Tür erschien, blieb sie auf der Schwelle stehen und sah mich lange mit einem an Erstarrung grenzenden Erstaunen an; endlich tat sie sachte und langsam zwei Schritte vorwärts und blieb vor mir stehen, immer noch ohne ein Wort zu sprechen. Ich musterte sie nun aus größerer Nähe. Es war ein Mädchen von zwölf oder dreizehn Jahren, von kleiner Statur, mager und blaß, als ob sie eben erst eine schwere Krankheit durchgemacht hätte. Um so heller funkelten ihre großen schwarzen Augen. Mit der linken Hand hielt sie über der Brust ein altes, zerrissenes Tuch zusammen, das sie um ihren noch von der Abendkälte zitternden Oberkörper geschlagen hatte. Ihren Anzug konnte man geradezu als Lumpen bezeichnen; das dichte, schwarze Haar war ungekämmt und zerzaust. So standen wir ein paar Minuten lang da und blickten einander unverwandt an.

»Wo ist der Großvater?« fragte sie endlich mit kaum hörbarer, heiserer Stimme, wie wenn ihr die Brust oder die Kehle weh täte.

Meine ganze mystische Angst verflog bei dieser Frage. Da fragte jemand nach Smith; also hatte ich unerwartet eine Spur von ihm gefunden.

»Dein Großvater? Aber der ist ja schon gestorben!« erwiderte ich, da ich in keiner Weise darauf vorbereitet war, auf eine solche Frage zu antworten, bereute aber meine Antwort sofort. Eine Weile blieb sie noch in der früheren Haltung stehen; dann aber fing sie auf einmal an am ganzen Leib zu zittern, und zwar so stark, als ob ein gefährlicher nervöser Anfall im Anzug sei. Ich wollte sie schon anfassen und halten, damit sie nicht hinfiele; aber nach einigen Augenblicken wurde ihr besser, und ich sah deutlich, daß sie gewaltsame Anstrengungen machte, um mir ihre Erregung zu verbergen.

»Verzeih mir, verzeih mir, mein Kind!« sagte ich. »Ich habe das so plötzlich ausgesprochen, und vielleicht ist es gar nicht einmal richtig … du Ärmste! … Wen suchst du denn? Den alten Mann, der hier gewohnt hat?«

»Ja«; flüsterte sie mühsam und sah mich ängstlich an.

»Hieß er Smith? Ja?«

»J-ja!«

»Der ist … nun ja, der ist allerdings gestorben … Aber gräme dich nicht zu sehr, liebes Kind! Warum bist du denn nicht schon früher einmal hergekommen? Von wo kommst du jetzt? Er ist gestern begraben worden; er war ganz plötzlich und unerwartet gestorben… Also du bist seine Enkelin?«

Das Mädchen antwortete auf meine hastigen, ungeordneten Fragen nicht. Schweigend wandte sie sich ab und ging sachte aus dem Zimmer. Ich war so überrascht, daß ich sie nicht zurückhielt und sie nicht weiter fragte. Auf der Schwelle blieb sie noch einmal stehen, wandte sich halb mir zu und fragte:

»Ist Asorka auch gestorben?«

»Ja, Asorka ist auch gestorben«, antwortete ich. Die Frage erschien mir sonderbar; sie klang, als ob die Kleine davon überzeugt wäre, daß Asorka jedenfalls mit dem alten Mann zugleich gestorben sein müsse.

Als das Mädchen meine Antwort vernommen hatte, verließ sie unhörbar das Zimmer und schloß behutsam hinter sich die Tür.

Einen Augenblick darauf lief ich ihr nach; ich ärgerte mich sehr darüber, daß ich sie hatte fortgehen lassen. Sie war so leise hinausgegangen, daß ich nicht hatte hören können, wie sie die nach der Treppe führende Flurtür öffnete. ›Die Treppe kann sie noch nicht hinunter sein‹, dachte ich und blieb stehen, um zu horchen. Aber alles war still, und es waren keine Schritte zu hören. Es klappte nur irgendwo in einem tieferen Stockwerk eine Tür; dann wurde wieder alles still.

Eilig begann ich die Treppe hinunterzusteigen. Die Treppe von meiner Wohnung im fünften Stock nach dem vierten Stock war eine Wendeltreppe; vom vierten Stock an begann eine gerade Treppe. Es war eine jener unsauberen, immer dunklen Treppen, wie man sie gewöhnlich in Mietskasernen mit kleinen Wohnungen findet. In diesem Augenblick war es auf ihr schon völlig dunkel. Tastend stieg ich nach dem vierten Stock hinunter; hier blieb ich stehen und hatte auf einmal ein Gefühl, als ob ich angestoßen und darauf aufmerksam gemacht würde, daß hier jemand auf dem Flur war und sich vor mir versteckte. Ich begann mit den Händen umherzutasten; ganz in einer Ecke stand das Mädchen mit dem Gesicht zur Wand und weinte still und lautlos. »Höre, mein Kind, warum fürchtest du dich?« sagte ich. »Ich habe dich so erschreckt; es tut mir leid. Dein Großvater hat, als er starb, noch von dir gesprochen; das waren seine letzten Worte… Ich habe auch noch Bücher von ihm; wahrscheinlich gehören sie dir. Wie heißt du denn? Wo wohnst du? Er sagte, in der Sechsten Linie…«

Aber ich konnte nicht zu Ende sprechen. Sie schrie erschrocken auf, anscheinend darüber, daß ich wußte, wo sie wohnte, stieß mich mit ihren dünnen, mageren Armen zurück und lief die Treppe hinunter. Ich eilte ihr nach; ich konnte noch ihre Schritte unten hören. Auf einmal hörten sie auf… Als ich auf die Straße hinausstürzte, war das Mädchen nicht da. Ich lief bis zum Wosnessenskiprospekt und sah, daß all mein Suchen vergeblich war: sie war verschwunden. »Wahrscheinlich hat sie sich schon beim Hinuntersteigen von der Treppe irgendwo vor mir versteckt«, dachte ich.