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Titel der Originalausgabe: »The Death Committee«
Zitate aus »From the Birthday of a Middle-Aged Child«
aus Selected Poems von Aline Kilmet. Copyright © 1929
by Doubleday & Company, Inc.
Abgedruckt mit Erlaubnis der Doubleday & Company, Inc.
Besonderer Dank gilt den Verlegern des Massachusetts Physician
und den Verlegern des New England Journal of Medicine
für die Erlaubnis, die Namen ihrer Zeitschriften
im Zusammenhang mit fingiertem Material zu verwenden.
 
Ausgabe 6/2000
Wilhelm Goldmann Verlag, München
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Copyright © der Originalausgabe 1969 by Noah Gordon
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1970
by Paul Zsolnay Verlag, Wien/Hamburg
Umschlaggestaltung: Design Team München
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
BH · Herstellung: Str
ISBN 978-3-641-13629-1
V003
 
www.goldmann-verlag.de
www.penguinrandomhouse.de

Inhaltsverzeichnis

Buch
Autor
Widmung
PROLOG
ERSTES BUCH - Sommer
ADAM SILVERSTONE
SPURGEON ROBINSON
HARLAND LONGWOOD
ADAM SILVERSTONE
ZWEITES BUCH - Herbst und Winter
RAFAEL MEOMARTINO
SPURGEON ROBINSON
ADAM SILVERSTONE
SPURGEON ROBINSON
HARLAND LONGWOOD
RAFAEL MEOMARTINO
ADAM SILVERSTONE
DRITTES BUCH - Der Kreis schließt sich - Frühling und Sommer
ADAM SILVERSTONE
RAFAEL MEOMARTINO
SPURGEON ROBINSON
ADAM SILVERSTONE
SPURGEON ROBINSON
ADAM SILVERSTONE
RAFAEL MEOMARTINO
ADAM SILVERSTONE
WORTERKLÄRUNGEN
Copyright

Autor

Noah Gordon, 1926 in Worcester, Massachusetts, geboren, arbeitete lange Jahre als Journalist beim Bostoner Herald, bevor er mit seinem ersten Roman »Der Rabbi« den Durchbruch als Schriftsteller erlebte. Mit »Der Medicus« gelang ihm ein Weltbestseller, der auch in Deutschland viele Monate auf der Bestsellerliste stand.

WORTERKLÄRUNGEN

Abdomen: Unterleib, Bauch
Adrenalin: Hormon der Nebenniere
agglutinieren: zur Verklumpung bringen
amniotisch: die Embryonalhülle (= Haut, die die Leibesfrucht umgibt) betreffend
Anastomose: 1) natürliche Verbindung zwischen Blut- oder Lymphgefäßen oder zwischen Nerven
2) operativ hergestellte künstliche Verbindung zwischen Hohlorganen
Aortenaneurysma: krankhafte Erweiterung oder Ausbuchtung der Aorta (= Hauptschlagader des Körpers)
aplastisch: nicht ausgebildet, (von Geburt an) fehlend
Biopsie: medizinische Untersuchung von Gewebe, das direkt dem lebenden Organismus entnommen ist
Defibrinator: Apparat zur Entfernung von Fibrin (= Eiweißstoff)
Diathermie: therapeutische Anwendung von Hochfrequenzströmen zur Erwärmung von Geweben im Körperinnern
Duodenum: Zwölffingerdarm
Emphysem: Luftansammlung im Gewebe, Aufblähung von Organen oder Körperteilen
Faszies: Bindegewebshülle
Ganglion: 1) Nervenknoten
2) Geschwulst, Überbein
Gangräne: Gewebebrand
gastrointestinal: Magen und Darm betreffend
glutaeus maximus: der größte der Gesäßmuskeln
Hepatitis: Entzündung der Leber
Kolloide: gallertartige Produkte von Zellen mit durchscheinendem Aussehen
Koma: Zustand tiefer Bewußtlosigkeit
Laminektomie: operative Entfernung des hinteren Teiles eines Wirbelbogens
Lithotomie: operative Entfernung von Steinen
Nephrektomie: operative Entfernung einer Niere
Ophtalmoskop: Augenspiegel
Otoskop: mit einer Lichtquelle versehener Ohrenspiegel
Pericarditis: Herzbeutelentzündung
Peritonitis: Bauchfellentzündung
praecordial: vor dem Herzen liegend
Prostatektomie: operative Ausschälung der Vorsteherdrüse
rigor mortis: »Totenstarre«, Erstarrung der Muskulatur 2–3 Stunden nach dem Tod
Sedativ: Beruhigungsmittel, schmerzstillendes Mittel
Serosa: die äußere der 3 Hautschichten der Eingeweide
Steroide: Gruppe sterinähnlicher organischer Verbindungen
subkutan: unter der Haut liegend
Tracheotomie: Luftröhrenschnitt
urämisch: harnvergiftet
Vagotomie: Durchschneiden des nervus vagus im Bereich der Speiseröhre
zirrhotisch: geschrumpft, verhärtet

ADAM SILVERSTONE

Die Sterne am erbleichenden Himmel hatten sich langsam in ihr Versteck gedrückt. Als der hustende Lastwagen die Überlandstraße von Massachusetts verließ und durch die menschenleeren Randbezirke ratterte, flackerte die lange Reihe von Straßenlampen den Fluß entlang zweimal auf und erstarb dann in der Finsternis. Der heiße Tag nahte, aber das Erlöschen der Lichterkette verlieh dem Tagesanbruch eine kurze trügerische Kühle und Dunkelheit.

Er starrte durch die staubige Windschutzscheibe, als sie sich Boston näherten, jener Stadt, die seinen Vater geformt, aufgerieben und zerbrochen hatte.

Mir werdet ihr das nicht antun, sagte er zu den vorbeiziehenden Häusern, der Skyline, dem Fluß.

»Sieht gar nicht nach einer schwierigen Stadt aus«, sagte er.

Der Fahrer sah ihn überrascht von der Seite an. Ihr Gespräch war schon vor achtzig Meilen, zwischen Hartford und Worcester, in ein ermüdendes Schweigen gemündet, als Folge einer heftigen Meinungsverschiedenheit über die John Birch Society. Jetzt sagte der Mann etwas Undeutliches, das im Dröhnen des Motors unterging.

Adam schüttelte den Kopf. »Verzeihung, ich habe nicht verstanden.«

»Was ist los, bist du taub?«

»Ein wenig, am linken Ohr.«

Der Mann runzelte die Stirn, weil er sich gefoppt fühlte. »Ich habe gefragt: Wartet ein Job auf dich?«

Adam nickte.

»Und was für einer?«

»Ich bin Chirurg.«

Der Fahrer sah ihn angewidert an, jetzt überzeugt, daß sein Verdacht gerechtfertigt war. »Natürlich, du schäbiger Beatnik. Ich bin Astronaut.«

Adam öffnete den Mund zu einer Erklärung, besann sich, dachte: zum Teufel mit ihm, schloß ihn wieder und wandte seine Aufmerksamkeit der Szenerie zu. Auf der anderen Seite des Charles River vermochte er in der Dunkelheit weiße Türme zu entdecken, zweifellos Harvard. Irgendwo dort drüben war das Radcliffe College, und dort schlief Gaby Pender wie ein Kätzchen, dachte er und fragte sich, wie lange er es wohl aushielt, sie nicht anzurufen. Würde sie sich an ihn erinnern? Unwillkürlich kam ihm ein Zitat in den Sinn – etwas darüber, wie oft ein Mann eine Frau sehen muß, daß es einmal genügt, das zweitemal aber die Bestätigung bringt.

Der kleine Computer in seinem Kopf sagte ihm, wer der Autor der Zeilen war. Wie gewöhnlich erfüllte ihn die Fähigkeit, sich an nichtmedizinische Dinge zu erinnern, mit gereizter Unzufriedenheit statt mit Stolz. Wortverschwender, hörte er seinen Vater sagen. Adamo Roberto Silverstone, du selbstgefälliges Aas, sagte er zu sich, schau, wo dein famoses Gedächtnis bleibt, wenn du mit einem Lehrsatz aus Thoreks Anatomy in Surgery oder Wangensteens Intestinal Obstruction ringst.

Kurz darauf schlug der Mann das Lenkrad ein, der Lastwagen polterte vom Storrow Drive weg, über eine Rampe, und plötzlich waren erleuchtete Lagerhausfenster da, Lastwagen, Personenwagen, Leute, ein Marktbezirk. Der Fahrer lenkte den Lastwagen eine kopfsteingepflasterte Straße hinunter, an einem Speisehaus vorbei, dessen Neonlicht noch immer blitzte, dann eine zweite lange, kopfsteingepflasterte Straße hinauf und blieb vor »Benj. Moretti & Sons Produce« stehen. Auf sein Hupen hin trat ein Mann ins Freie und schaute von der Laderampe nach ihnen aus. Fleischig und mit beginnender Glatze sah er in seinem weißen Arbeitskittel einem der Pathologen vom Krankenhaus in Georgia ähnlich, wo Adam seine Spitalspraxis und das erste Jahr seiner fachärztlichen Ausbildung absolviert hatte. Eh, paysan.

»Was bringst du?«

Der Fahrer rülpste, als würde ein Teppich zerrissen. »Melonen. Zitronen.« Der Mann in Weiß nickte und verschwand.

»Endstation, Kleiner.« Der Fahrer öffnete die Tür und kletterte schwerfällig aus der Fahrerkabine.

Adam griff hinter den Sitz, nahm den abgewetzten billigen Koffer und sprang zu dem Mann auf die Straße hinunter. »Kann ich Ihnen abladen helfen?«

Der Fahrer sah ihn finster und mißtrauisch an. »Das tun die«, sagte er, mit dem Kopf zum Lagerhaus deutend. »Wenn du einen Job haben willst, frag sie.«

Adam hatte das Angebot aus Dankbarkeit gemacht, sah jedoch erleichtert, daß es unnötig war. »Danke fürs Mitnehmen«, sagte er.

»Schon recht.«

Er ging die Straße hinunter bis zum Speisehaus, mühte sich mit dem Koffer ab, ein kleiner O-beiniger Mann, zu groß für einen Jockey, zu schwach für die meisten Sportarten, außer für Tauchen, das seit fünf Jahren für ihn kein Sport mehr war. In solchen Momenten bedauerte er, den muskulösen Brüdern seiner Mutter nicht ähnlicher zu sein. Er haßte es, der Gnade eines Menschen ausgeliefert oder von irgend etwas abhängig zu sein, einschließlich eines Gepäckstückes.

Aus dem Speisehaus kamen verlockende Düfte und der geschäftige Lärm billiger Restaurants: Reden und Lachen, das hohle Geklapper von Kochgeschirr drang durch das kleine Fenster zur Küche, das massive Geräusch von Kaffeekannen, die auf die weiße Marmortheke gestellt wurden, das Zischen von Dingen, die am Grill brutzelten. Teure Dinge, entschied er.

»Kaffee, schwarz.«

»Erst zahlen«, sagte das strohhaarige Mädchen. Sie war voll entwickelt, von festem Fleisch, mit einer blassen, milchigen Haut, und würde mit dem Problem der Fettleibigkeit zu kämpfen haben, bevor sie noch dreißig war. Unter der weißbeschürzten linken Brust stachen zwei parallele Schmutzstreifen wie Stigmata hervor. Der Kaffee schwappte über den Rand der Kanne, als sie ihn Adam zuschob; sie nahm sein Zehncentstück mürrisch entgegen und wandte sich dann mit einem beleidigenden Hüftschwung ab.

Muh.

Der Kaffee war sehr heiß, und er trank ihn langsam, wagte hie und da sehr mutig einen größeren Schluck und hatte ein siegreiches Gefühl, daß er sich die Zunge nicht verbrannt hatte. Die Wand hinter der Theke war mit Spiegeln verkleidet, aus denen ihn ein Landstreicher anstarrte, stoppelbärtig, zerrauft, in einem verschmutzten, abgetragenen blauen Arbeitshemd. Als er den Kaffee ausgetrunken hatte, stand er auf und trug den Koffer in die Herrentoilette. Er drehte versuchsweise die Wasserhähne auf, aus beiden kam aber nur kaltes Wasser, was Adam nicht überraschte. Er ging in den Speisesaal zurück und bat das Mädchen um eine Tasse heißes Wasser.

»Für Suppe oder für Tee?«

»Einfach nur Wasser.«

Sie ignorierte ihn mit einer Miene langmütigen Widerwillens. Schließlich gab er nach und bestellte Tee. Als er ihn erhielt, bezahlte er, nahm den Teebeutel aus der Tasse und ließ ihn auf die Theke fallen. Er trug die Tasse in die Herrentoilette. Der Boden war mit Schichten von Sand und, dem Geruch nach zu urteilen, eingetrocknetem Urin bedeckt. Adam stellte die Tasse auf den Rand des schmutzigen Waschbeckens, balancierte den Koffer auf dem Heizkörper und öffnete ihn, um seine Toilettensachen herauszunehmen. Indem er kaltes Wasser in der hohlen Hand auffing und heißes aus der Tasse hinzufügte, gelang es ihm, seinen Bart einzuseifen und sich das Gesicht mit dem Wasser genügend warm zu spülen, um die Stoppeln aufzuweichen. Als er mit dem Rasieren fertig war, sah das Gesicht, das ihn aus dem fleckigen Spiegel anblickte, schon zivilisierter aus. Dr. Silverstone. Braune Augen. Eine große Nase, die er gern für römisch hielt, an sich nicht extrem groß, aber doch durch seine geringe Körpergröße auffallend. Ein breiter Mund, wie eine zynische Schnittwunde in dem mageren Gesicht. Ein trotz der Sonnenbräune unleugbar hellhäutiges Gesicht, von braunen Haaren gekrönt. Einem glanzlosen, faden Braun. Er nahm eine Bürste aus dem Koffer und drückte sie in sein Haar. Sein Teint verursachte ihm immer ein leichtes Schuldbewußtsein. Ein Kind sollte die Farbe von Oliven haben, nicht von Zitronen oder Hafergrütze, hatte er einmal seine Mutter sagen hören. Sein Teint war wie Hafergrütze, ein Kompromiß zwischen seinem blonden Vater und seiner italienischen Mutter.

Seine Mutter war dunkel gewesen, eine Frau mit unglaublich schwarzen Augen und unglaublich schweren Lidern, den Schlafzimmeraugen einer irdischen Heiligen. Er konnte sich kaum an ihr Gesicht erinnern, aber um ihre Augen zu sehen, brauchte er bloß die seinen zu schließen. An den Abenden, wenn sein Vater betrunken heimgekommen war – der abtrünnige Myron Silberstein, der im Schnaps ertrank, eine Gewohnheit, die er zusammen mit italienischen Lieblingsphrasen angenommen hatte, um seine Vorurteilslosigkeit zu demonstrieren – und seine nach Anis riechenden Hilfeschreie ausstieß (O putana nera! O troia scura! O Donna! Oi, nafke!), an solchen Abenden pflegte der kleine Junge in der Dunkelheit wach zu liegen, und er zitterte bei dem dumpfen Schlag der Fäuste seines Vaters auf dem Fleisch seiner Mutter, der ihn krank machte, bei dem Klatschen ihrer Handfläche gegen sein Gesicht, und die Geräusche mündeten oft in anderen, hitzigen, rasenden, keuchenden, die ihn starr daliegen und die Nacht hassen ließen.

Als er in die High-School ging und seine Mutter schon vier Jahre lang tot war, entdeckte er die Sache mit Gregor Johann Mendel und den Erbsen, machte sich daran, sein eigenes Erbbild zusammenzubrauen, und hoffte im stillen, daß seine braunen Haare und Augen sich als genetische Unmöglichkeit erweisen würden: daß er die Blondheit seines Vaters hätte erben müssen und daß er vielleicht doch ein Bastard war, das Erzeugnis seiner schönen toten Mutter und eines unbekannten Mannes, der alle jene edlen Tugenden besaß, die dem Mann, den er Paps nannte, so sehr fehlten.

Aber die Biologiebücher enthüllten ihm, daß die Kombination von Mondlicht und Schatten eben – Hafergrütze ergab.

Na schön.

Jedenfalls war er zu jener Zeit bereits mit einer Art Haßliebe an Myron Silberstein gebunden.

Um das zu beweisen, du verdammter Narr, sagte er zu seinem Spiegelbild, kratzt du zweihundert Dollar zusammen und läßt sie dir dann von ihm herauslocken, fast die ganze Summe. Was war es, das in seinen Augen aufleuchtete, als sich seine Hände – diese Hände eines hebräischen Fiedlers und Hausmeisters, in deren Knöcheln der Kohlenstaub eingefressen war – um das Geld geschlossen hatten?

Liebe? Stolz? Die Verheißung der schönsten Überraschung im Leben, einer unverhofften Trunkenheit? Jagte der alte Mann noch immer nach Liebe? Wohl kaum. Die bei Alkoholikern übliche Impotenz des mittleren Alters. Gewisse Ketten binden früher oder später jeden, selbst einen Myron Silberstein.

Nur ein Mensch, die Großmutter, seine vecchia, war je imstande gewesen, seinen Vater einzuschüchtern. Rosella Biombetti war eine kleine Süditalienerin gewesen: das weiße Haar zu einem Knoten gedreht, alles übrige natürlich schwarz: Schuhe, Strümpfe, Kleid, Halstuch, oft sogar die Stimmung, als trauere sie um die Welt. In ihrem olivfarbenen Gesicht standen Narben, die ihr geblieben waren, als sie vierjährig in dem Avellino-Dorf Petruro lebte und alle acht Kinder der Familie an vaiolo, den gefürchteten Pocken, erkrankten. Die Krankheit raffte keines hinweg, entstellte jedoch sechs der Kinder und zerstörte das siebente, einen Achtjährigen namens Muzi, dessen Hirn das hohe Fieber zu weicher Asche verbrannte und ihn als ein Etwas hinterlassen hatte, das schließlich zu einem alternden kahlköpfigen Mann in East-Liberty von Pittsburgh, Pennsylvanien, wurde; er spielte den ganzen Tag mit seinen Löffeln und Flaschenkappen und trug, selbst wenn die Julihitze die Luft über der Larimer Avenue schimmern ließ, einen zerlumpten Sweater.

Einmal fragte Adam die Großmutter, warum der alte Großonkel so war.

»L’Arlecchino«, sagte sie.

Er lernte schon früh, daß der Harlekin die innere Angst war, die das Leben seiner Großmutter durchzog, das Universalübel, ein Erbe aus dem Europa vor zehn Jahrhunderten. Ein Kind stirbt an einem plötzlichen Anfall einer unerwarteten Krankheit? Es wurde vom Harlekin geraubt, der nach Kindern giert. Eine Frau wird schizophren? Der schlanke, teuflisch-schöne dämonische Liebhaber hat sie verführt und ist mit ihrer Seele durchgebrannt. Ein Arm schrumpft gelähmt zusammen, ein Mensch vergeht langsam unter den Verheerungen der Tuberkulose? Der Harlekin pflückt und pflückt Lebenskraft von seinem Opfer und schlürft die Lebensessenz wie Sirup.

In dem Versuch, ihn zu bannen, machte sie ihn zu einem Familienmitglied. Als Adams Kusinen immer mehr erblühten und mit Lippenstiften und hohen, spitzen Büstenhaltern zu experimentieren begannen, kreischte die alte Frau, daß sie den Harlekin anlocken würden, der in der Nacht die Jungfernschaft stahl. Während Adam der vecchia jahrelang zuhörte, erfuhr er Einzelheiten. Der Harlekin trug eine Kniehose und eine Jacke aus bunten Flicken und war unsichtbar, außer bei Vollmond, der seine Buntscheckigkeit in einen vor tausend Lichtern glitzernden Anzug verwandelte. Er besaß keine Stimme, aber das Geklingel der Glöckchen an seiner Narrenkappe verriet seine Anwesenheit. Er trug ein hölzernes Zauberschwert, eine Art Narrenzepter, das er als Zauberstab verwendete.

Manchmal dachte der Knabe, es wäre ein wunderbares Abenteuer, der Harlekin zu sein, so allmächtig, so herrlich böse. Als Adam elf war und seine ersten Samenergüsse während der nächtlichen Träume hatte, durch die die üppige dreizehnjährige Lucy Sangano geisterte, beschloß er zu Halloween, dem Abend vor Allerheiligen, der böse Geist zu sein. Während die anderen Kleinen in ihren Verkleidungen zu Spaß und Schmaus von Tür zu Tür rannten, wandelte er langsam durch die plötzlich behagliche Dunkelheit und stellte sich wilde Szenen vor, in denen er den zarten jungen Hinterbacken Lucy Sanganos einen leichten Schlag mit seinem Schwert aus einer Kistenlatte gab und stumm befahl: »Zeig mir alles.«

Rosella wehrte den Bösen mit vier Mittelchen ab, von denen Adam nur zwei, das Weihwassersprengen und den täglichen Besuch der heiligen Messe, für harmlos hielt. Ihr Brauch, die Türknöpfe mit Knoblauch einzureiben, war ihm wegen der ständig klebrigen Hände lästig und brachte ihn wegen des stechenden Geruchs in der Schule immer wieder in Verlegenheit, obwohl er selbst heimlich den letzten Rest, der in seiner verschwitzten Handfläche zurückgeblieben war, genoß, wenn er sie nachts in seinem Bett an die Nase hielt. Den wirkungsvollsten Schutz erreichte man, wenn man die zwei Mittelfinger unter den Daumen klemmte, den Zeigefinger und den kleinen Finger in Nachahmung der Teufelshörner ausstreckte und zwischen ihnen trocken durchspuckte sowie das Sprüchlein folgen ließ: Scutta mal occhio, brich den bösen Blick, pf, pf, pf. Rosella führte diesen Ritus täglich viele Male durch, was ihm ebenfalls peinlich war, denn für einige von Adams gleichaltrigen Freunden war das Fingerzeichen ein Geheimsignal anderer Art, eine Abfuhr, ein geringschätziges Zeichen von Ungläubigkeit, die in einem einzigen schnellen, unschönen Wort zusammengefaßt wurde. Für diese Uneingeweihten war es erheiternd, wenn die Großmutter Damo Silverstones das pöbelhafte Geheimzeichen machte. So kostete ihn die Großmutter seine erste blutige Nase und sehr viel Ärger.

Seine junge Seele wurde zwischen dem frommen Aberglauben der alten Frau und dem Vater hin und her gerissen, der an jedem Jom Kippur vorsichtig nüchtern blieb, damit er aus irgendeinem wichtigen geheimen Grund fischen gehen konnte. Ihr Aberglaube und ihre Religion besaßen ihre Reize, aber zuviel von dem, was sie sagte, war einfach nur dumm. Größtenteils ergriff er schweigend die Partei seines Vaters, vielleicht weil er in dem Mann so eifrig nach etwas Bewundernswertem suchte.

Und dennoch, als sie in ihrem achtzigsten und seinem fünfzehnten Lebensjahr kränkelte und es mit ihr zu Ende ging, sehnte er sich schmerzlich nach ihr. Als Dr. Calabreses langer schwarzer Packard mit zunehmender Regelmäßigkeit vor dem Mietshaus in der Larimer Avenue parkte, betete er für sie. Und als sie eines Morgens mit einem koketten Lächeln auf den Lippen starb, weinte er um sie und wußte endlich, wer der Harlekin wirklich war. Er wünschte nicht mehr, den verliebten Spaßmacher zu verkörpern, der der Tod war; statt dessen beschloß er, eines Tages wie Dr. Calabrese einen langen neuen Wagen zu fahren und den arlecchino bis ans Ende zu bekämpfen.

Er verabschiedete sich von der alten Frau bei dem schönsten Begräbnis, das ihr die Versicherung »Söhne Italiens« nur bieten konnte, aber ganz verließ sie ihn nie. Jahre später, als er Arzt und Chirurg geworden war und Dinge getan und gesehen hatte, die sich in Petruro oder selbst in East Liberty nie hätten träumen lassen, war seine erste Reaktion auf ein Mißgeschick eine spontane unterbewußte Suche nach dem Harlekin. Wenn er eine Hand in der Tasche hatte, machten die Finger unwillkürlich das Zeichen der Hörner. Sein Vater und seine Großmutter hatten ihn in einem unaufhörlichen inneren Konflikt hinterlassen: Scheiße, spottete der Wissenschaftler, während der kleine Junge flüsterte: Scutta mal occhio, pf, pf, pf.

 

Nun packte er in der Herrentoilette des Speisehauses seine Toilettensachen ein. Wie ein ungeschickter Wasservogel, zuerst das eine, dann das andere Bein hochgezogen, um seine Kleider nicht durch den Schmutz des unerquicklichen Fußbodens zu gefährden, zog er die Blue jeans und das blaue Arbeitshemd aus. Das Hemd und der Anzug, die er aus dem Koffer grub, waren etwas zerknittert, aber präsentabel. Die Krawatte sah bei weitem nicht mehr so gut aus wie vor achtzehn Monaten, als er sie aus zweiter Hand »neu« erstanden hatte, von einem Studenten aus dem dritten Studienjahr, der ein schlechter Pokerspieler war. Die dunklen Schuhe, die er gegen die Turnschuhe austauschte, glänzten noch immer schön.

Als er durch den Speisesaal zurück- und hinausging, starrte ihn die Kuh hinter der Theke an, als versuchte sie sich zu erinnern, wo sie ihn schon einmal gesehen hatte.

Draußen war es heller geworden. Am Randstein summte ein Taxi ein ruhiges mechanisches Lied, der Chauffeur saß verloren hinter der Wettliste und träumte den ewigen Traum vom Höchstgewinn. Adam fragte ihn, ob das Suffolk County General Hospital zu Fuß zu erreichen sei.

»Das Allgemeine Krankenhaus? Sicher.«

»Wie komme ich hin?«

Ein schnelles Grinsen spaltete die Lippen des Taxichauffeurs. »Auf die schwere Tour. Quer durch die ganze verdammte Stadt. Zu früh für einen Bus, nirgendwo in der Nähe eine Untergrundbahn.« Der Mann legte die Wettliste hin, überzeugt, daß eine Fahrt herausschaute.

Wieviel steckte in seiner Brieftasche? Weniger als zehn Dollar, wußte Adam. Acht, neun. Und noch ein Monat bis zum Zahltag. »Fahren Sie mich für einen Dollar?«

Ein angewiderter Blick.

Adam hob den Koffer auf und ging die Straße hinunter. Er kam bis zu »Benj. Moretti & Sons Produce«, als das Taxi an ihm vorbeifuhr und anhielt.

»Steigen Sie hinten ein«, sagte der Taxifahrer. »Ich schau den ganzen Weg nach einem Fahrgast aus. Wenn ich einen andern aufgable, steigen Sie aus. Für einen Dollar.«

Dankbar kletterte Adam hinein. Das Taxi kroch durch die Straßen, er blickte aus dem offenen Fenster und ahnte, was für ein Krankenhaus es sein würde. Die Straßen waren alt und traurig, gesäumt von Mietshäusern mit zerbrochenen Stufen und überquellenden Mülleimern, Armeleutegegenden, in denen die Menschen in äußerster Armut zusammengepfercht waren. Es würde ein Krankenhaus sein, wo die Bänke seiner Ambulanz allmorgendlich von den Kranken und Verstümmelten besetzt sein würden, die in die selbstgebauten Fallen der Gesellschaft geraten waren.

Unangenehm für euch, sagte er stumm zu den schlafenden Opfern hinter ausdruckslosen Fenstern, als das Taxi vorbeirollte. Aber gut für mich, ein Lehrhospital, wo ich vielleicht Chirurgie erlernen kann.

Der Krankenhauskomplex ragte wie ein Monolith in das frühe Morgenlicht; große Parklampen leuchteten noch immer gelb um das leere Geviert des Hofes für die Krankenwagen.

Die Eingangshalle war düster und altmodisch. Ein ältlicher Mann mit hängenden verrunzelten Wangen und unwahrscheinlich pechschwarzem Haar saß hinter dem Empfangstisch. Adam sah in dem Brief nach, den er vor vier Wochen vom Verwalter erhalten hatte, und fragte dann nach dem Fellow der Chirurgie, Dr. Meomartino. Ah, Italiener in aller Welt, wir sind überall.

Der Mann sah in einem Telefonverzeichnis des Krankenhauses nach. »Vierte chirurgische Station. Vielleicht schläft er noch«, sagte er zweifelnd. »Soll ich ihn anläuten?«

»Gott, nein.« Er dankte ihm und ging hinaus. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite brannte grelles Licht in einem Kaffeehaus, und als er darauf zuging, konnte er einen kleinen dunklen Mann hinter der Theke sehen, der eben Wasser in die Kaffeemaschine zugoß; die Tür war jedoch versperrt, und der kleine Mann blickte nicht auf, als Adam an ihr rüttelte. Er ging ins Krankenhaus zurück und fragte den Mann mit dem gefärbten Haar, wie man zur Abteilung der Vierten chirurgischen Station gelangte.

»Die Halle da immer geradeaus, an der Unfallstation vorbei, dann die zweite Treppe in den ersten Stock. Abteilung Quincy. Können es nicht verfehlen.«

Als er zur Unfallstation kam, zog er halb in Betracht, freiwillig seine Dienste anzubieten. Zum Glück verging der Impuls, noch bevor er in den großen Raum spähte und sah, daß noch keine Patienten gekommen waren. Ein Spitalarzt saß zusammengesunken in einem Sessel und las. Am anderen Ende des Saals saß eine Schwester und schielte schläfrig auf ihre Strickerei. Auf einer Tragbahre in einer Ecke lag ein Pfleger mit leicht geöffnetem Mund wie ein schlafender Bär.

Adam kletterte die Treppe zur Abteilung Quincy hoch und kam in den stillen Gängen nur an einem mageren blonden Spitalarzt vorbei, dessen offener Kragen unter seinem mit Pickeln übersäten Kinn schlaff wie eine Flagge bei einer Flaute herunterhing.

Mit Ausnahme der Nachtlichter war der Krankensaal dunkel. Die Patienten lagen in Reihen da, einige wie Klötze, andere jedoch unruhig und im Schlummer von Teufeln geritten.

Aus einem Bett kam das Weinen einer Frau. Adam blieb stehen. »Was gibt es denn?« fragte er sanft. Ihr Gesicht war verborgen.

»Ich habe Angst.«

»Dazu ist kein Grund vorhanden«, sagte er. Schau, zum Teufel, daß du hier herauskommst, sagte er sich wütend. Soviel du weißt, ist durchaus Grund dazu vorhanden.

»Wer sind Sie?«

»Ein Arzt.«

Die Frau nickte. »Auch Jesus war es.«

Es gab ihm zu denken, als er wegging.

Im Schwesternzimmer traf er eine ältere Stationsschwester, die an neue Ärzte gewöhnt war. Sie gab ihm Kaffee und frische knusprige Brötchen und Butter aus der Küchenabteilung, köstlicherweise gratis. »Alles, was Sie brauchen, Doktor, ist ein reicher Distrikt. Ich bin Rhoda Novak.« Plötzlich lachte sie. »Sie haben Glück, daß Helen Fultz heute nacht dienstfrei war. Die gäbe niemandem auch nur das Schwarze unterm Nagel.«

Sie ging, bevor er seine Brötchen aufgegessen hatte. Er hätte gern noch eines gehabt, war jedoch für jede Kleinigkeit dankbar. Ein riesiger Mann im grünen OP-Anzug kam herein und seufzte, als er einen Stuhl unter sich begrub. Er hatte rotes Haar unter der Operationskappe, und das Gesicht war trotz seiner Größe weich und ungeformt, ein Knabengesicht. Er nickte Adam zu und griff eben nach der Kaffeekanne, als der kleine Signalapparat an seiner Uniform summte. »Ah«, sagte er. Er ging zum Wandtelefon und sprach hinein, sagte schnell ein paar Worte und eilte fort.

Adam ließ den Rest Kaffee stehen und ging der riesigen grünen Gestalt nach, durch ein Labyrinth von Gängen zur chirurgischen Station hinunter.

Die Chirurgische Abteilung des Krankenhauses in Georgia war rein gewesen, hell erleuchtet, nicht so vollgestopft, der Durchgang nicht behindert. Hier war die Beleuchtung bestenfalls trüb zu nennen. Die Gänge schienen Speicher für zusätzliche Möbel, überflüssige Tragbahren, Büchergestelle und alles mögliche sonst zu sein; bei Hochbetrieb stellte man wahrscheinlich Patienten vor und nach Operationen ebenfalls hier ab. Die Schwingtüren der Operationssäle waren an beiden Seiten zehn Zentimeter breit abgewetzt, wo der Rand unzähliger Betten angestoßen war.

Er ging eine Treppe zur Zuschauergalerie hinauf, die dunkel und von einem seltsamen lauten Atmen erfüllt war. Es war das Keuchen eines Patienten, das über die Sprechanlage kam, die man angestellt gelassen und zu laut aufgedreht hatte. Da Adam den Lichtschalter nicht finden konnte, tastete er sich zu einem Sitz in der ersten Reihe und ließ sich auf ihn fallen. Durch die Glasscheibe konnte er den Mann auf dem Operationstisch unten sehen, einen Mann mit schütter werdendem Haar, dem Blick eines gefangenen Tieres, ungefähr vierzig Jahre alt, der offensichtlich Schmerzen hatte und einer Schwester beim Auflegen der Instrumente zusah. Seine Augen waren trüb; er hatte bestimmt ein Sedativ erhalten, bevor man ihn hereingebracht hatte, wahrscheinlich Scopolamin.

Wenige Minuten später kam der Dicke, der in der Küche Kaffee getrunken hatte, geschrubbt und behandschuht in den OP.

»Doktor«, sagte die Schwester.

Der Dicke nickte teilnahmslos und begann zu anästhetisieren. Seine Wurstfinger spielten am linken Arm des Patienten herum, fanden mühelos die Vene im Bereich der Armbeuge und ließen den intravenösen Katheter hineingleiten. Um den zweiten Arm legte er die Manschette und begann den Blutdruck zu messen.

»Es war einer, den wir nicht erwarteten«, sagte die Schwester.

»Könnten verdammt gut ohne ihn auskommen«, sagte der Dicke.

Er verabreichte ein muskelentspannendes Mittel sowie eine Schlafdosis Pentothal, dann führte er den Intubator in die Luftröhre des Patienten ein und regulierte die Atmung des Mannes mit dem Druckgerät.

Der Spitalarzt kam herein, der große, schlampig aussehende, den Adam auf dem Gang gesehen hatte. Weder der Anästhesist noch die Schwester nahmen seine Anwesenheit zur Kenntnis. Er begann die Operation vorzubereiten, indem er den Bauch mit antiseptischen Mitteln, oben beginnend, abrieb. Adam sah interessiert zu, weil er sehen wollte, wie man es hier machte. Es sah aus, als benutzte der Spitalarzt eine einzige Lösung. In dem Krankenhaus in Georgia mußten sie das Operationsfeld zuerst mit Äther, dann mit Alkohol, dann ein drittes Mal mit Betadin waschen.

»Bestimmt habt ihr bemerkt, was für ein glattrasierter Mann Mr. Peterson ist«, sagte der Spitalarzt. »Im Vergleich dazu ist ein Babyarsch ein wahrer Urwald.«

»Für einen Chirurgen bist du ein ziemlich guter Barbier, Richard«, sagte der Dicke.

Der mit Richard Angesprochene beendete das Waschen des Bauchs, begann den Patienten mit sterilen Tüchern abzudecken und ließ nur ein dreißig Zentimeter großes Viereck offen.

Ein Chirurg kam herein. Meomartino, der Fellow der Chirurgie, vermutete Adam, war jedoch nicht sicher, weil niemand grüßte. Ein großer Mann mit einer gebrochenen Habichtsnase und einer alten, fast unsichtbaren Narbe auf der Wange, der gähnte, sich streckte und fröstelte. »Ich habe so hübsch geträumt«, sagte er. »Wie geht’s unserem perforierten Ulcus? Blutet er?«

»Ich glaube nicht, Rafe«, sagte der Dicke. »Herzschlag 96. Atmung 30.«

»Blutdruck?«

»110/60.«

»Also los. Ich wette, da drin schaut’s aus, als hätte man ein Loch mit einer Zigarette hineingebrannt.«

Adam sah ihn das Skalpell von der Schwester entgegennehmen und auf der rechten Seite den paramedianten Schnitt führen, eine wohlüberlegte Teilung des Fleisches, die zwei Lippen bildete, wo vorher schlaffer Bauch gewesen war. Meomartino schnitt durch die Haut und das fettige gelbe subkutane Gewebe, und Adam bemerkte interessiert, daß der Spitalarzt die Blutung mit Schwämmen statt Klammern abstoppte, wobei er gleichzeitig den Druck des Schwamms ausnutzte, um die Wundränder so zu spreizen, daß die glänzende graue Hülle der Faszies sichtbar wurde. Das ist verdammt praktisch, dachte Adam; in Georgia war es ihnen nie eingefallen, das zu tun. Zum erstenmal empfand er den Schimmer eines Glücksgefühls: Die hier können mir noch was beibringen.

Meomartino hatte den Schnitt langsam und sorgfältig geführt, jetzt aber durchtrennte er die Faszie schnell und sauber. Um das so gekonnt zu machen, mit einem einzigen sicheren Schnitt, der nicht in den gleich darunterliegenden Rektusmuskel drang, mußte es dieser Mann schon oft und oft gemacht haben. Einen Augenblick lang war er töricht genug, dem Fellow seine leichte Geschicklichkeit übelzunehmen. Er erhob sich halb, um zuzuschauen, aber der Schlampsack von Spitalarzt bewegte Kopf und Schultern über dem Operationsfeld, und Adam konnte nichts sehen.

Er lehnte sich im Stuhl zurück, schloß die Augen in der Dunkelheit und sah im Geiste, was der Chirurg unten vermutlich machte: Er würde die Faszies heben, sie mit der scharfen Schneide des Skalpells unterfahren, dann mit dem stumpfen Rand auslösen und damit die Mittellinie, wo die beiden Teile des Rektus aneinandertrafen, bloßlegen. Dann würde er den Muskel hochheben, ihn seitwärts zurückziehen und durch das Bauchfell weiter in die Bauchhöhle vordringen.

In den Bauch vordringen. Für jemanden, der sich der allgemeinen Chirurgie widmen wollte, die hauptsächlich aus Bauchoperationen bestand, war das der springende Punkt.

»Da hätten wir’s, Richard. Hier ist es«, sagte der Chirurg nach einer Weile. Seine Stimme war tief, sein Englisch um eine Spur zu exakt, dachte Adam, so, als hätte er es als Zweitsprache gelernt. »Direkt durch die Hinterwand des Duodenums. Was tun wir jetzt?«

»Stich, Stich, Stich?«

»Und dann?«

»Vagotomie?«

»Ah, Richard, Richard, ich kann es nicht glauben, so jung und so clever, und doch nur zur Hälfte richtig, mein Junge. Eine Vagotomie und eine Drainage. Dann wird es wunderhübsch heilen. Ein Meilenstein in den Annalen.«

Danach arbeiteten sie schweigend weiter, und Adam hoch über ihnen grinste im Dunkeln, als er den Verdruß des schlampigen Spitalarztes fühlte, den er selbst so oft in ähnlichen Situationen empfunden hatte. Es war warm auf der Galerie, wie in einem Mutterleib. Er döste und träumte einen alten Alptraum von den beiden Hochöfen, die er an den Abenden seiner ersten Semester gefüttert und deren gähnende orangefarbene Mäuler er gehaßt hatte, die nach mehr Kohle gierten, als er zu schaufeln vermochte. Er stöhnte im Schlaf, riß sich dann wach; steif und unglücklich und für einen Augenblick unsicher, warum seine Stimmung umgeschlagen war. Dann erinnerte er sich, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und grinste: wieder der verdammte Traum. Er hatte ihn schon so lange nicht mehr geträumt, es mußte das neue Krankenhaus sein, die ungewohnte Situation.

Unter ihm arbeitete das Chirurgenteam noch immer. »Hilf mir den Bauch schließen, Richard«, sagte der Fellow. »Ich nähe, du bindest ab. Ich will es schön eng haben.«

»So eng wie bei deiner ersten Liebe«, sagte Richard, der zwar zu Meomartino sprach, aber die OP-Schwester ansah, die mit keinem Zeichen verriet, daß sie es gehört hatte.

»Ich will es noch viel enger haben, Doktor«, sagte Meomartino.

Als er schließlich befriedigt nickte und sich vom Operationstisch abwandte, verließ Adam die Galerie und eilte gerade rechtzeitig hinunter, um den Mann abzufangen, als dieser den Operationstisch verließ.

»Dr. Meomartino.«

Der Fellow blieb stehen. Er war kleiner, als es, von oben gesehen, den Anschein hatte. Er hätte ein Kind meiner Mutter sein können, dachte Adam albernerweise, als er auf ihn zutrat. Aber kein Italiener, entschied er, Spanier vielleicht. Olivfarben, dunkle Augen, dunkle Haut trotz der üblichen Krankenhausblässe, das Haar unter der OP-Kappe dunkel vor Feuchtigkeit, aber fast völlig ergraut. Dieser Mann ist älter als ich, dachte er.

»Ich bin Adam Silverstone«, sagte er leicht keuchend. »Der neue Oberarzt.« Abschätzende Augen maßen ihn, und er schüttelte eine Hand, die wie ein Holzklotz war.

»Sie sind um einen Tag zu früh eingetroffen. Ich bekomme offenbar Konkurrenz«, sagte Meomartino mit einem leichten Lächeln.

»Ich bin per Anhalter gekommen. Ich habe mir einen zusätzlichen Tag gelassen und brauchte ihn dann nicht.«

»Oh? Haben Sie eine Unterkunft?«

»Hier. In dem Brief heißt es, daß das Krankenhaus ein Zimmer stellt.«

»Üblicherweise benutzt es der Oberarzt nur, wenn er Nachtdienst hat. Ich wohne lieber anderswo. Sie und ich stünden verdammt zu leicht zur Verfügung, wenn wir hier wohnten.«

»Ich werde zur Verfügung stehen. Ich bin bankrott.«

Meomartino nickte ohne Überraschung. »Ich bin zwar nicht ermächtigt, Ihnen ein Zimmer anzuweisen. Aber ich kann Ihnen helfen, einen Platz zu finden, wo Sie sich hinhauen können. Soweit es noch Nacht ist.«

Der Lift war alt und langsam. »Im Notfall dreimal läuten!« riet ein Schild neben der Glocke. Adam stellte sich vor, in einem Notfall auf dieses knarrende Ungeheuer warten zu müssen, und Zweifel überfielen ihn.

Endlich kam es an und trug sie in den sechsten Stock. Der Gang war besonders eng und dunkel. Die Zimmernummer war 6-13, was kein schlimmes Zeichen sein mußte. Die Decke war schief; das Zimmer lag unter den Dachtraufen des alten Gebäudes. Die Jalousien waren heruntergelassen. In dem trüben Licht konnte er einen riesigen kotfarbenen Riß in einer der Gipswände ausmachen. Unter ihm, den beiden Betten gegenüber, stand ein hölzerner Stuhl zwischen einem Schreibpult und einem Schreibtisch, alles von der Farbe alten Senfs. Auf einem Bett ausgestreckt, lag ein Mann im weißen Ärztekittel, das New England Journal of Medicine aufgeschlagen auf der Brust, das er sichtlich um des Schlafes willen im Stich gelassen hatte.

»Harvey Miller, Turnusarzt von der schicken Institution am anderen Ende der Stadt«, sagte Meomartino, ohne den geringsten Versuch zu flüstern. »Für das Haus dort kein schlechter hombre.« Sein Ton war geringschätzig. Gähnend winkte er Adam zu und ging hinaus.

Die Luft im Zimmer war muffig. Adam ging zum Fenster und schob die Jalousie eine Handbreit hoch. Sofort begann sie zu flattern; er schob sie so zurecht, daß das Flattern aufhörte. Der Mann auf dem Bett bewegte sich, wachte jedoch nicht auf.

Adam nahm Harvey Miller die Zeitschrift weg und legte sie vor sich hin. Er versuchte sich zu erinnern, wie Gaby Pender aussah, entdeckte jedoch, daß er Details nicht mehr rekonstruieren konnte; er erinnerte sich nur an eine sehr tiefe Sonnenbräune und ein wunderbares Muttermal auf ihrem Gesicht, und daß das Ganze ein Mädchen war, das ihm sehr gefallen hatte. Die Matratze war dünn und klumpig, Abfall aus den Krankensälen. Aus dem offenen Fenster unter ihm kam ein Schmerzenslaut in sein offenes Fenster geweht, ein Mittelding zwischen Stöhnen und Schreien. Harvey Miller tätschelte seine Leistengegend im Schlaf, ohne zu wissen, daß er nicht mehr allein war. »Alice«, sagte er deutlich.

Adam wandte sich den Annoncenseiten der Zeitschrift mit den Stellenangeboten zu und gab sich den Phantasien über eine Zukunft hin, die ihm alle jene Dinge des Lebens bieten würde, welche er sich nie hatte leisten können, und so viel Geld, daß Myron Silbersteins hingestreckte Hand keine Bedrohung mehr bedeuten würde. Gewisse Annoncen überging er oder las sie nur verächtlich, die Aufforderung an Bewerber zur Fortsetzung des Studiums nach dem Doktorat, Auslagen bezahlt, nur kleine oder gar keine Stipendien; die Bekanntmachungen über Forschungsstipendien mit einem Einkommen von siebentausend Dollar pro Jahr; die Universitätsdozentenstellen, die saftige Zehntausende eintrugen; die trügerisch verlockenden Beschreibungen von billigen Praxen, die in den großen medizinischen Zentren Boston, New York, Philadelphia, Chicago, Los Angeles zum Verkauf standen; dort gab es eingesessene praktische Ärzte, die einem Anfänger die Hände banden und ihn mit dem Blechnapf in der Hand zu Stückarbeit bei den Versicherungsgesellschaften zu sechs Dollar pro Stunde schickten. Gelegentlich veranlaßte ihn eine Annonce, sie mehrmals zu lesen.

»Vielfältig spezialisierte Zehn-Mann-Privatklinik in Nordmichigan, im Herzen des Fischerei- und Jagdgebietes, sucht Allgemeinen Chirurgen. Neues Klinikgebäude und Gewinnbeteiligungsplan. Anfangsgehalt 20 000 Dollar. Besitzanteil nach zwei Jahren. Anteilseinkommen zwischen 30 000 und 50 000 Dollar. Anschrift F-213, New Eng. J. Med. 13-2t.«

Er wußte, daß er in einem Jahr ein Arbeitsgebiet brauchen würde, das von der berauschenden medizinischen Atmosphäre der Lehrkrankenhäuser, von alteingesessenen Rivalitäten weit entfernt sein mußte. Ideal wäre ein kränkelnder oder alternder Chirurg in einer abgelegenen Gegend, der gewillt war, einen allmählich steigenden Gewinn zu akzeptieren, während er seine Praxis stufenweise abbaute, indem er sie nach und nach einem jungen Partner übergab. So etwas würde gleich zu Beginn 33 000 Dollar wert sein, wobei 75 000 pro Jahr auf längere Sicht nicht unmöglich waren.

Bei den seltenen Gelegenheiten, wenn er seine Gefühle für die Medizin einmal nicht analysierte, wußte er, daß er beides sein wollte: ein Heilender und ein Kapitalist zugleich. Jesus Christus und die Geldwechsler in einer Person. Nun, warum auch nicht? Leute, die es sich leisten konnten, ihre Rechnungen zu bezahlen, wurden genauso krank wie bedürftige Arme. Niemand hatte von ihm ein Gelübde der Armut verlangt. Von der hatte er auch ohne Gelübde genug kennengelernt.