Ein neuer Fall für Leopold von Herzfeldt
Ullstein
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Originalausgabe im Ullstein Paperback
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ISBN: 978-3-8437-2670-2
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Inspektor Leopold von Herzfeldt
Inspektor Erich Loibl
Oberinspektor Paul Leinkirchner
Oberpolizeirat Moritz Stukart
Julia Wolf, Tatortfotografin
Augustin Rothmayer, Totengräber
Anna, ein Waisenmädchen
Der Friedhofsverwalter
Professor Alfons Strössner
Charlotte Rapoldy, Strössners Tochter
Dr. Clemens Rapoldy, Strössners Schwiegersohn
Professor Walter Kerfeld, Universitätsdozent
Dr. Alexander Dedekind, Leiter der Ägyptisch-Orientalischen Sammlung
Dr. Friedrich Carl Knauer, Direktor des Wiener Tiergartens am Prater
Carl Rebers, Knauers Assistent
Professor Eduard Ritter von Hofmann, Leiter des Instituts für Gerichtliche Medizin
Erzherzog Rainer von Österreich, Mitglied des Kaiserhauses
Adelheid Rinsinger, Leos Vermieterin
Die Fette Elli, Besitzerin des Bordells Zum Blauen Dragoner
Bruno, Türsteher im Dragoner
Margarethe, eine Freundin von Julia
Saidrovuni, Häuptling vom Stamm der Matabele
Eugen Lenz, Tierwärter
Jurek, Anführer der Kanalstrotter
Pater Gregor Mayr, Ägyptologe
Dr. Adolf Landinger, Ägyptologe
Ägypten, irgendwo bei den Ruinenfeldern des alten Theben, im späten Frühling des Jahres 1892
Professor Alfons Strössner, hoch angesehener Wiener Gelehrter und weltweit anerkannter Ägyptologe, stolperte über einen getrockneten Kamelfladen, schickte einen Fluch gen Re, den gleißenden Sonnengott, und plumpste vornüber in den Sand.
Die Zunge klebte ihm wie ein trockenes Stück Stoff am Gaumen, unzählige winzige Sandkörner rieselten aus seinen Haaren und juckten in Nase, Ohren und Augen, der weiche Boden unter ihm brannte wie Feuer. Er tastete nach seiner Wasserflasche, trank gierig die wenigen verbliebenen Tropfen, dann setzte er sich auf. Wie konnte er nur so dumm sein, den Weg zu verlieren – als wäre er irgendein versnobter britischer Lord! Um ihn herum breiteten sich endlos Sanddünen aus, eine hinter der anderen, wie Wellen in einem braungelben Meer, dazwischen ragten schroffe Felsen und Berge auf. Irgendwo hinter einem dieser Berge musste die Nekropole von Deir el-Bahari liegen, die er erst vor wenigen Stunden verlassen hatte. Nur wo genau? Vermutlich waren es nur wenige Meilen, doch die Wege durch die Berge waren verschlungen wie ein Labyrinth.
Alfons Strössner hatte die Grabungsstätte verlassen, weil er eine Zeit lang seine Ruhe brauchte. Seit etlichen Wochen schon teilte er sich mit den österreichischen Kollegen ein winziges Zelt – Kollegen, mit denen er es nicht einmal im großen Hörsaal der Wiener Universität länger ausgehalten hätte, geschweige denn auf knapp zehn Quadratmetern, umgeben nur von dünnen Stoffbahnen und der weiten ägyptischen Wüste. Das Schnarchen und Schmatzen des fetten Pater Gregor Mayr, Adolf Landingers ewig gleiches Lamentieren über das Wetter, die galletriefenden Kommentare seines alten Widersachers Walter Kerfeld … Er hatte es einfach nicht mehr ertragen.
Dabei waren sie hier einer der größten Entdeckungen der letzten Jahrzehnte auf der Spur, ein Traum für jeden Ägyptologen! Der Fund von Deir el-Bahari galt schon jetzt als Sensation. Ständig kamen neue Mumien zum Vorschein, Schmuckstücke, Amulette, kostbare Statuetten … Und die einzelnen Forschungsgruppen beharkten sich so eifersüchtig wie Jungfern auf der Suche nach dem besten Ehemann. Jedes Land hatte seine gelehrtesten Fachleute nach Ägypten geschickt, noch war nicht ausgemacht, wer welche Schätze mit nach Hause nehmen durfte, zu Ruhm und Ehre der eigenen Nation.
Der Professor richtete sich auf, setzte den mit Leinen überzogenen Tropenhelm ab und sondierte verzweifelt seine Lage. Sein bockiges Kamel, dieses elende Mistvieh, hatte ihn schon vor über einer Stunde abgeworfen und war davongetrottet. Er war zu Fuß umgekehrt und hatte sich offenbar zwischen den Felsen für die falsche Abzweigung entschieden. Eigentlich konnte der Rückweg nicht weit sein, aber das Gelände war überaus tückisch, durchsetzt von Spalten und weichem, teils hüfttiefem Sand, der einen nach dem Versinken nicht mehr losließ.
Er wusste genau, wenn er jetzt nicht aufpasste, wurde er noch selbst zur Mumie. Hier im heißen Wüstensand verdorrte man schneller als ein fauler Apfel. Schon jetzt machte ihn der Wassermangel leicht benommen. Sollte er um Hilfe rufen? Aber wer würde ihn hier draußen schon hören, außer ein paar räudigen Schakalen? Warum hatte er nicht wenigstens mehr Wasser mitgenommen? Sein Mund und seine Kehle waren völlig ausgetrocknet, er hatte Mühe, sich zu konzentrieren.
Wütend schleuderte Professor Alfons Strössner seine leere Wasserflasche gegen eine der Felswände. Der blecherne Behälter verursachte ein hallendes Geräusch, das von den Wänden mehrmals zurückgeworfen wurde; etwas klackerte wie eine Murmel, die über mehrere Stufen nach unten sprang.
Der Professor stutzte.
Über mehrere Stufen nach unten?
Neugierig stand er auf und näherte sich der Felswand. Tatsächlich tat sich genau dort, wo er die Flasche hingeworfen hatte, ein etwa handbreites Loch auf. Dort musste der Behälter hineingefallen sein … Strössner kniete nieder und räumte mit wachsender Erregung den Sand zur Seite. Schon bald stieß er auf einen Schacht, der schräg in die Tiefe führte, steile steinerne Treppenstufen verloren sich im Zwielicht. Er vermutete, dass der große Sandsturm vor einigen Tagen den Schacht erst freigelegt hatte, davor mochte der Eingang seit Jahrtausenden verborgen gewesen sein.
Strössners Herz pochte wie wild, seine rechte Hand begann zu zittern – war es die Krankheit, die ihn seit einiger Zeit quälte, oder die Aufregung über die unerwartete Entdeckung? Mit wenigen Schritten hastete er zurück zu seinem Grabungsrucksack, den er im Sand liegen gelassen hatte. Darin befand sich neben einem kleinen Handspaten auch eine Petroleumlampe. Der Professor riss ein Streichholz an, ein zweites … das dritte endlich entzündete den Docht.
Mit der brennenden Lampe in der Hand stieg er hinunter in den Schacht. Schon nach wenigen Schritten war die Welt über ihm wie ausgeblendet, er tappte durch den Sand, der sich umso höher auf den Stufen türmte, je tiefer er nach unten gelangte. Schon bald brauchte er den Spaten, um weiter voranzukommen. Durst und Müdigkeit waren verschwunden, er arbeitete wie besessen. Im Dunkel des Schachts stieß das eiserne Blatt schließlich auf etwas Hartes. Strössner wühlte im Sand und zog einen mumifizierten Kopf hervor, gleich darauf eine vertrocknete Hand, die er enttäuscht fallen ließ. Nein, das war keine sorgsam einbalsamierte Mumie, kein Priester oder Pharao, es waren nur die erbärmlichen menschlichen Überreste irgendeines Unbekannten.
Vielleicht die Leiche eines Grabräubers?
Der Professor war sich beinahe sicher, dass der Plünderer noch nicht ins Innerste des Grabs vorgedrungen war. Noch fehlten die Totenkammer und auch die sogenannten Scheintüren. Nervös sah Strössner sich nach möglichen Fallen um. Er wusste von ausgefeilten Mechanismen, mit denen die alten Ägypter ihre Gräber schützten, tödliche Apparate und auch Gifte, die noch wenig erforscht waren … Doch er fand nichts, und so arbeitete er hastig weiter, wühlte mit dem Spaten im tiefen Sand, bis er schließlich auf eine Wand aus gemauerten Ziegeln stieß. Hieroglyphen waren darin eingeritzt. Kein Schaden, nicht einmal ein einziger Kratzer war an der Wand zu erkennen.
Über Strössners sonnenverbranntes Gesicht breitete sich ein Lächeln aus.
Na also …
Im zuckenden Licht der Lampe erkannte der Professor das Zeichen von Osiris, dem Gott der Unterwelt, aber auch das von Thot, dem Gott der Weisheit und Magie, und einige weitere Hieroglyphen, die er auf die Schnelle nicht deuten konnte. Aber eines wusste er jetzt: Das Grab vor ihm war noch nicht geplündert worden. Vielleicht war es ja sogar das Grab eines noch unbekannten Pharaos. Damit würde er in die Geschichte eingehen!
Strössner zögerte nur kurz, dann packte er den Spaten mit beiden Händen und stieß ein Loch in die Mauer. Staub stieg in Wolken auf, Sandkörner rieselten, Rinnsalen gleich, in breiten Bahnen an den Schachtwänden hinunter. Der Professor stand nun schon fast bis zur Hüfte im Sand. Unruhig blickte er nach oben, wo durch ein winziges Rechteck, unendlich weit entfernt, die Sonne hereinfiel. Wenn noch mehr Sand herunterkam, würde er hier unten lebendig begraben werden. Vielleicht würden andere Forscher in über hundert Jahren auf seine verdorrte Leiche stoßen, neben der des Grabräubers. Ihn fröstelte.
Jetzt nur nicht aufgeben!
Noch einmal stieß der Spaten gegen die Wand, die nun endlich berstend nachgab. Tonbrocken polterten in die Dunkelheit dahinter. Ein etwa kopfgroßes Loch war entstanden, aus dem ein muffiger, leicht süßlicher Geruch strömte, wie von vertrocknetem Weihrauch – ein Geruch, den der Professor nur allzu gut kannte. Mit bebender Hand tastete er zunächst um das Loch herum, dann leuchtete er mit der Petroleumlampe ins Innere. Ihr flackernder Schein wanderte über die natürliche Felswand dahinter.
Mein Gott …
Es war eine nur hüfthohe, jedoch mit zahlreichen Bildern bemalte Nische, eindeutig eine Totenkammer. Ein einzelner Sarkophag stand darin.
Strössners Hand zitterte jetzt so stark, dass er die Laterne beinahe fallen ließ. Er konnte sein Glück kaum fassen.
Das Grab, es ist noch völlig unberührt … Und diese seltsamen Zeichen auf dem Sarkophag, die Zeichen des Thot … Dazu ein einzelnes aufgemaltes Auge …
Ein Zeichen fiel Strössner besonders auf. Es war eine gemalte Hand, die sich ihm mit gespreizten Fingern entgegenstreckte.
Wie eine Warnung.
Während der Professor auf das Wunder vor ihm starrte, bemerkte er nicht, dass der Sand weiter in den Schacht rieselte, Körnchen für Körnchen, Zentimeter für Zentimeter, wie in das untere Glas einer Sanduhr. Das Rieseln ging über in ein Fließen, Strömen, dann, ganz plötzlich, stürzte der Schacht wie eine Woge über ihm zusammen.
Strössner keuchte überrascht auf, er ruderte mit den Armen, schwamm sich frei, nur um noch tiefer begraben zu werden. Aus dem Augenwinkel sah er, wie das Loch zur Totenkammer unter den Sandmassen verschwand, dann seine Laterne, der Grabspaten … Schließlich konnte er sich nicht mehr bewegen, der Sand stand ihm bis zum Hals. Ein heiserer Schrei, mehr ein Krächzen, entfuhr seiner Kehle. Und ein schrecklicher Gedanke durchzuckte ihn.
Die Hand … es war wirklich eine Warnung … ein Fluch! Eine Falle!
Ein Pillendreher, ein kleiner schwarzer Käfer, krabbelte direkt vor seiner Nase. Ein weiterer Käfer kitzelte ihn am Ohr, beinahe glaubte Strössner, das Kratzen der Insektenbeine zu hören.
Scarabaeus sacer, schoss es ihm durch den Kopf. Der heilige Pillendreher, mein Todesbote …
»Herr Professor, sind Sie das? Sind Sie da unten?«
Im ersten Augenblick glaubte er, seine eigene Stimme zu vernehmen, in der Verwirrung einer beginnenden Ohnmacht. Doch dann wurde ihm bewusst, dass die Stimme von weiter oben kam, von dorther, wo das Licht als winziger Strahl zu ihm herunterdrang. Es war die schneidende Stimme seines Widersachers Walter Kerfeld. Nie hätte Alfons Strössner gedacht, einmal so froh zu sein, sie zu hören.
Er keuchte, hustete, spuckte Sand. »Bin … verschüttet …«, brachte er schließlich hervor.
»Um Himmels willen, Herr Professor! Wir haben Sie überall gesucht! Der Jungfrau Maria sei Dank, meine Gebete sind erhört worden!« Das war eindeutig Pater Gregor Mayr. Nun meinte der Professor auch, oben in dem Lichtfleck einzelne Gesichter ausmachen zu können. Pater Gregor, Walter Kerfeld, die graue, eingefallene Visage Dr. Adolf Landingers … Die Kollegen hatten einen Suchtrupp gebildet und ihn in letzter Sekunde entdeckt.
»Ein Seil!«, rief Strössner. »Schnell!«
Unter schier übermenschlicher Anstrengung gelang es ihm, die Arme aus dem Sand zu ziehen. Als das Seil schließlich vor seinen dreckverklebten Augen baumelte, griff er danach, schlang es um seine Brust und ließ sich hochziehen. Oben angekommen, spuckte er Sand aus, würgte, schüttelte sich. Die drei Männer starrten ihn an, als wäre er soeben der Unterwelt entronnen.
Professor Alfons Strössner nahm die Wasserflasche, die ihm gereicht wurde, und trank gierig, dann musterte er jeden einzelnen seiner Kollegen eindringlich. Noch während er sich die letzten Sandkörner aus den Augenwinkeln wischte, hob er mit leiser, heiserer Stimme zu sprechen an.
»Meine Herren, was ich Ihnen jetzt erzähle, bleibt unter uns. Ich habe ein intaktes Grab gefunden, ein jahrtausendealtes Wunder! Und ich habe nicht vor, es mit den Briten, Franzosen oder gar den Piefkes zu teilen. Geschweige denn mit irgendwelchen Kameltreibern. Dieses Grab ist eine Sensation, und es gehört Österreich! Kann ich mich auf Ihr Ehrenwort als Bürger unseres Landes verlassen?«
Sie alle nickten schweigend, und der Pakt war geschlossen. Nur Walter Kerfeld warf ihm einen misstrauischen Blick zu, aber er sagte nichts.
Dann begann Professor Alfons Strössner, flüsternd von seiner Entdeckung zu erzählen.
Keiner der Anwesenden ahnte, dass sich ihr spektakulärer Fund am Ende als ihrer aller Untergang erweisen würde.