Sawyer Bennett

Codename: Tiara (Jameson Force Security Group Teil 7)

 

Aus dem Amerikanischen ins Deutsche übertragen von Joy Fraser

 

© 2021 by Sawyer Bennett

© 2022 der deutschsprachigen Ausgabe und

Übersetzung by Plaisir d’Amour Verlag, D-64678 Lindenfels

www.plaisirdamour.de

info@plaisirdamourbooks.com

Englischer Originaltitel: „Code Name: Tiara (Jameson Force Security Book #7)“

Covergestaltung: © Mia Schulte / Sabrina Dahlenburg

Coverfoto: © Shutterstock

ISBN eBook: 978-3-86495-539-6

ISBN Taschenbuch: 978-3-86495-538-9

 

 

Alle Rechte vorbehalten. Dies ist ein Werk der Fiktion. Namen, Darsteller, Orte und Handlung entspringen entweder der Fantasie der Autorin oder werden fiktiv eingesetzt. Jegliche Ähnlichkeit mit tatsächlichen Vorkommnissen, Schauplätzen oder Personen, lebend oder verstorben, ist rein zufällig.

Dieses Buch darf ohne die ausdrückliche schriftliche Genehmigung der Autorin weder in seiner Gesamtheit noch in Auszügen auf keinerlei Art mithilfe elektronischer oder mechanischer Mittel vervielfältigt oder weitergegeben werden. Ausgenommen hiervon sind kurze Zitate in Buchrezensionen.

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Autorin

Kapitel 1

 

Jackson

 

„Du bist Jackson Gale, ehemaliger Navy SEAL und ein knallharter Typ“, sage ich zu meiner Reflexion, nachdem ich den nebligen Belag vom Spiegel gewischt habe.

Ich mag es, extrem heiß zu duschen.

Ich stütze die Handflächen auf das Waschbecken und rede mir weiter gut zu. „Du befreist Geiseln. Du tötest ausländische Terroristen.“

Mein Blick fällt auf die unzähligen Tattoos am rechten Arm, der voller Erinnerungen und Abzeichen meiner bedeutenden Zeiten als SEAL ist. Weitere Tattoos befinden sich auf meiner Brust, auf den Rippen und dem Bauch, die nach unten verlaufen und im Handtuch verschwinden, das ich um meine Hüften geschlungen habe. Frauen lieben es, dem Tattoo in meine südlichen Regionen zu folgen.

Ich richte meine haselnussbraunen Augen wieder auf mein Gesicht und sage mit absoluter Überzeugung: „Und auf keinen Fall wirst du eine Prinzessin babysitten.“

Lange starre ich mir ins Gesicht.

Dann nicke ich, denn ich meine es ernst.

Niemals werde ich den Auftrag annehmen, den Aufpasser für eine verwöhnte königliche Göre zu mimen, und Kynan wird das akzeptieren müssen.

 

***

 

Kynan McGrath, Besitzer von Jameson Force Security, der wahrscheinlich besten Firma der Welt für private Eliteeinheiten, grinst mich an. „Sorry, Jackson, aber ich will, dass du den Auftrag übernimmst.“

„Eine verfickte Prinzessin babysitten?“, knurre ich und lasse mich fast bockig auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch nieder.

„Das ist weit mehr als ein Babysitterjob, und das weißt du auch“, antwortet Kynan gelassen.

Dazu sage ich nichts, denn darüber lässt sich nicht streiten. Neben Aufträgen wie Geiselbefreiungen und für Regierungen inoffiziell Operationen auszuführen, übernimmt Jameson auch routinemäßig Personenschutz und Sicherheitsservice. Außer, dass ich eine Prinzessin beschützen nicht Routine nennen würde. Wir wurden schon angeheuert, um Kongressmitglieder und Hollywoodstars zu schützen, aber eine königliche Person ist etwas Neues.

„Ich verstehe gar nicht, warum du dich so gegen diesen Job wehrst“, sagt Kynan, als ich nicht antworte. „Du hattest schon viele Bodyguard-Aufträge. Du weißt, dass diese Arbeit Teil unserer Aufgaben ist und hast dich nie beschwert.“

„Es wird eine verwöhnte Göre sein und somit grauenvolle zwei Wochen“, brumme ich.

„Und woher willst du das wissen?“

Ich zucke mit den Schultern. Mir ist klar, dass ich Vorurteile habe, doch ich glaube nun mal, dass Leute, die Kronen auf dem Kopf haben, kaum authentisch sein können. Aber das ist nicht der Hauptgrund, warum ich diesen Job nicht will. Es ist klar, dass nicht jede Operation adrenalingeladen und gefährlich ist und es nicht immer um Leben oder Tod geht. Ich bin nicht mehr bei den SEALs, und das habe ich auch akzeptiert. Und mich bemüht, dass mein Vater es ebenfalls akzeptiert.

Ich bin in der dritten Generation bei der Navy gewesen, nach Großvater und Vater. Als ich die Entscheidung traf, nicht für immer bei der Navy zu bleiben, war das in Dads Augen fast unverzeihlich, und er behauptete, dass sich mein Großvater im Grab umdrehen würde. Seitdem ist unsere Beziehung belastet. Und noch schlimmer ist, dass mein Bruder, der immer noch in der Navy ist und dort Karriere machen will, es genießt, jetzt der Lieblingssohn zu sein und mir das ständig unter die Nase zu reiben.

Das Einzige, was meine Ehre rettet, ist, dass Jameson eine hochgeschätzte Firma ist, an die sich die wichtigsten Menschen der Welt wenden. Sogar unser Präsident hat uns damit beauftragt, seine Nichte zu beschützen. Natürlich halte ich das jedes Mal Dad vor, wenn er mich wieder damit nervt, für einen „Weichei-Sicherheitsjob“ die Navy hingeschmissen zu haben.

Himmel, meine Familie ist kompliziert, und es sollte mir egal sein, was Dad von meiner Berufswahl hält, aber ich bin damals nur wegen der Familientradition in die Navy eingetreten. Niemand zwang mich dazu, ich wollte es selbst. Ich wollte die Familienehre bewahren, indem ich dem Land diente.

Und ich liebte jede Minute.

Aber ich liebte es nicht genug, um mich für zwanzig oder dreißig Jahre zu verpflichten. Ich wollte mehr Entscheidungsfreiheit haben. Ich wollte ein eigenes Leben, und ehrlich gesagt, mehr Jobsicherheit. Jameson zahlt gut und ich kann mir später eine schönere Rentenzeit leisten.

„Jackson“, sagt Kynan. Ich sehe ihn an. Unbewusst bin ich in die Familiengedanken versunken und habe wohl abwesend gewirkt. „Du hast gesagt, die Prinzessin ist bestimmt verzogen und der Job wird dir keinen Spaß machen.“

Ich schüttele den Kopf und halte eine Hand hoch, um die Fragerei zu stoppen. „Vergiss es einfach, Boss. Ich kann damit umgehen. Zwei Wochen sind nichts.“

„Eigentlich werden es drei Wochen sein“, sagt Kynan ohne die Spur einer Entschuldigung in der Stimme.

Mir fallen fast die Augen aus dem Kopf und ich schlucke meine Wut herunter. „Aber dann werde ich das Training in Santiago verpassen.“

„Training gibt es immer wieder“, sagt Kynan abschließend. Das Thema steht nicht zur Diskussion.

Ich verkneife mir einen bitteren Kommentar. Ich hatte mich darauf gefreut, schnelle Taktiken zu üben. Einen Kurs zu belegen, wie man jemanden bei Autoverfolgungen austrickst.

„Warum hat sich die Agenda geändert?“, frage ich und zwinge mich dazu, gleichgültig zu klingen.

„King Thomas möchte, dass wir uns mit seinem königlichen Sicherheitsteam in Bretaria treffen, bevor Prinzessin Camille in die USA reist. Er möchte, dass wir mit seinem Team trainieren, um sicherzustellen, dass wir reibungslos zusammenarbeiten können, und außerdem will er, dass wir unsere Arbeit etwas früher als geplant beginnen. Eins der Mitglieder des Königshauses heiratet in London, und das möchte er sozusagen als Test nutzen.“

„Um zu sehen, ob ich seine Tochter bei einer Hochzeit beschützen kann?“, frage ich leicht amüsiert.

„Um zu sehen, ob wir so gut sind, wie unsere Regierung behauptet.“

Ich fahre mir mit der Hand durch die Haare, was meinem Boss meinen Frust zeigt. Drei Wochen Sicherheitsdienst. Für eine verdammte Prinzessin. Ich knirsche mit den Zähnen, während mir Bilder durch den Kopf ziehen. Wie ich ihr von einer teuren Boutique zur nächsten folge, ihre Tüten schleppe und ihren winzigen Köter Gassi führe.

„Sie ist ein hoch dotiertes Ziel“, erinnert mich Kynan.

Genau das musste ich hören, um meine Irritation zu überwinden. Zwar finde ich es nicht gerade prickelnd, auf eine hochnäsige Prinzessin aufzupassen, aber ich verstehe, dass sie wirklich in Gefahr ist. Bretaria ist ein souveräner Stadtstaat vor der Küste Australiens, nordwestlich von Brisbane im Korallenmeer. Er besteht aus einer Hauptinsel und mehreren verstreuten kleineren. Ursprünglich wurden die Inseln um 1650 herum von den Engländern annektiert, aber da sie so klein sind und abseits im Korallenmeer liegen, wurden sie weitgehend ignoriert. Von der Familie Winterbourne regiert und von der Britischen Krone wenig reguliert, waren sie recht frei, bis sie irgendwann als souveräner Staat anerkannt wurden. Nicht allzu lange danach, und sehr zum Missfallen von King George III., des Hauses von Hannover, entdeckte man reiche Rubinvorkommen auf den Inseln. Sehr reiche. Nirgends sonst auf der Welt gibt es derartig viele dieser feuerroten Steine, was die Winterbournes zur reichsten Monarchie auf Erden machte. Auch, wenn die Inseln klein sind, ist der Wert der Edelsteine enorm, und noch heute werden die reinsten Rubine der Welt dort gefördert.

Wenn es eine Person auf der Welt gibt, die viele Millionen an Lösegeld wert ist, dann Prinzessin Camille Winterbourne. Ihre zweiwöchige Amerikareise bringt sie in Gefahr, egal für wie viel Sicherheit ihre Familie auch sorgt. Für die Aussicht auf ein Multimillionendollar-Lösegeld könnten Entführer sich definitiv eine spezielle Taktik ausdenken. Wir rechnen sogar damit, dass falls jemand die Prinzessin entführen will, es eine Elite-Spezialeinheit sein könnte, die über Leichen geht, um an sie heranzukommen.

Also, ja, dies ist ein echter und wichtiger Job. Ich weiß es. Kynan weiß es. Ihre Familie weiß es. Dennoch werde ich es nicht meinem Dad erzählen. Er würde weiterhin nur die Meinung vertreten, dass ich eine ehrenhafte Karriere in der Navy aufgebe, bei der ich Millionen Amerikaner beschütze, um lediglich eine mickrige Person zu schützen, die nicht einmal Amerikanerin ist.

Seufzend setze ich mich aufrechter hin, lege die Ellbogen auf die Armstützen und falte die Hände vor mir. „Mir ist klar, dass sie ein wertvolles Ziel darstellt. Das Wertvollste, das wir je beschützt haben, und ich freue mich, dass du mir zutraust, ihre letzte Verteidigungslinie zu sein. Ich bin voll dabei.“

Das bin ich wirklich, aber das heißt nicht, dass ich meine Schutzperson auch mögen muss. Ich muss meine Gefühle beiseiteschieben und mich darauf konzentrieren, warum sie Schutz braucht.

„Du musst packen.“ Kynan reicht mir einen Aktenordner über den Tisch. Ein Dossier über Camille, die königliche Familie, und den Reiseplan.

Ich lege es mir auf den Schoß und werde es später lesen.

„In zwei Tagen geht’s los. August war eingeplant, aber der liegt mit einer Grippe flach. Er meint zwar, dass er gesund genug sei, aber ich will bei diesem Auftrag alle hundertzehn prozentig fit haben. Also ist er raus. Ladd übernimmt die Leitung mit seinem Team über die USA-Reise. Du bist natürlich für die Prinzessin persönlich verantwortlich, und ihr beide werdet euch mit dem königlichen Sicherheitsteam absprechen.“

Schön, dass Ladd mitkommt. Er steht mir in der Firma am nächsten, da wir ungefähr zur selben Zeit angefangen haben. Er war bei der Army und der CIA, ist älter als die meisten anderen Agenten, aber dennoch knallhart.

„Sicherheitsteam?“, frage ich und empfinde seine Wortwahl als seltsam.

Kynan zuckt mit den Schultern. „Bretaria hat keine Feinde und kein eigenes Militär. Es gibt auch keine Handelsbeziehungen und die Rubinminen werden mehr wie eine private Firma abgewickelt. Da es ein Stadtstaat ist, gibt es Polizei für die Bevölkerung, aber Militär brauchen sie nicht. Daher hat König Thomas sein eigenes Sicherheitsteam, das den Palast und dessen Bewohner bewacht.“

„Faszinierend.“ Zwar mag ich meinen Auftrag nicht besonders, aber dieser Inselstaat und die Unterschiede zu anderen sind wahnsinnig interessant. Man stelle sich mal vor … kein Militär.

„Vergiss aber nicht“, sagt Kynan bestimmt, „dass wir von der US-Regierung beauftragt wurden, nicht von Bretaria. Du bist nicht dem König oder seinem Sicherheitsteam unterstellt, musst aber mit ihnen zusammenarbeiten. Zwar musst du kooperieren, aber die wissen auch, dass wir das Sagen haben, insofern sie unsere Hilfe wollen, wenn die Prinzessin zu uns kommt.“

Ich nicke. Oft werden wir von Staaten direkt beauftragt, aber das meist für verdeckte Operationen. Wenn fremde Diplomaten durch die USA reisen, deckt meistens unsere Regierung den Personenschutz ab. Mit dem Secret Service und vom Steuerzahler finanziert. In diesem Fall hat Bretaria jedoch keine Handelsbeziehungen mit den USA, sodass die Regierung keine Ausgaben zu ihrem Schutz aus Steuergeldern rechtfertigen kann.

Allerdings kann man aus irgendwelchen anderen Quellen und schwarzen Kassen unsere Agentur beauftragen. Ich bin sicher, dass die Anfrage, Prinzessin Camille zu schützen, von ganz oben aus dem Kongress kam, vielleicht sogar direkt vom Präsidenten.

Dennoch ist in erster Linie Kynan mein Boss, und dann meine Regierung, und nicht die Bretarianer. Da ergibt sich eine interessante Dynamik.

„Und wenn wir ihren Schutz übernommen haben?“ Kynan hatte mit Sicherheit mehr als ein Gespräch mit den Bretarianern, wie unser Schutz aussehen soll.

„Du wirst zu ihrem Schatten werden.“ Er grinst und lehnt sich im Stuhl zurück.

Ich verziehe das Gesicht und überlege, vielleicht Ohrhörer zu tragen und Metallica voll aufzudrehen, um mir das Gelaber nicht anhören zu müssen, das eine Prinzessin sicherlich von sich gibt.

Keine Ahnung, wo meine Vorurteile herkommen. Ich kenne gar keine Prinzessinnen, habe keine Filme über sie gesehen und keine Bücher gelesen. Ich weiß nur, dass Prinzessin Diana berühmt war, doch über sie weiß ich auch nichts, denn sie starb, als ich noch jung war. Und im Fernsehen sieht man nur, dass diese Adligen gern schreckliche und teure Klamotten tragen und Polo-Pferde mögen. Deshalb denke ich, dass da nicht viel Inhalt dahinter ist, und jemand ohne Substanz ist nicht mehr als heiße Luft, und das finde ich irritierend.

„Jackson“, knurrt mich Kynan an. „Du hast mir kein bisschen zugehört.“

Mir wird heiß im Nacken und ich schaffe es, leicht dümmlich entschuldigend zu schauen. „Sorry. Ich war im Geist schon beim Job.“

Kynan rollt kurz mit den Augen. „In Bretaria ist deine Arbeit noch nicht so wichtig. Der Palast sitzt mitten auf der Insel auf einem befestigten Felsen, von dicken Steinmauern geschützt, die schon vor ein paar hundert Jahren erbaut wurden. Es ist unmöglich, den Palast zu stürmen und die Prinzessin zu entführen. In den fünfundzwanzig Jahren, seit die Frau existiert, ist das auch noch nie versucht worden.“

„Aber sie könnte durch einen Insider in Gefahr geraten“, merke ich an.

Kynan nickt. „Daran haben sie bestimmt gedacht und ich hoffe, deren Sicherheitsüberprüfungen sind gründlich. Wahrscheinlich wollen sie uns deshalb auch früher da haben, um zu testen, was in uns steckt.“

„Verstehe.“ Auch, wenn wir die Besten in unserem Fach sind, ist keiner von uns beleidigt, wenn man uns auf die Probe stellt. „Sie werden nicht enttäuscht werden.“

„Absolut nicht.“ Seiner Stimme hört man den Stolz für seine Firma an und dafür, welchen Respekt sie sich erarbeitet hat.

Ich bin auch stolz auf Jameson. Ich wünschte nur, mein Dad würde die Firma genauso anerkennen, sodass mich meine Arbeit vollkommen erfüllen könnte.

Kapitel 2

 

Camille

 

„Ich habe dir das melonenfarbene Kleid herausgelegt“, sagt Netty, während sie sich in meiner Suite zu schaffen macht. „Es ist perfekt für den Nachmittagstee mit Mrs. Delmonde und ihrem gut aussehenden Sohn.“

Ich sitze vor dem Kosmetiktisch, untersuche meine Augenbrauen nach abstehenden Härchen und seufze. Ich lege die Pinzette weg und drehe mich um. „Mrs. Delmondes Sohn hat in keiner Weise mich oder meinen Titel verdient. Das ist die reinste Zeitverschwendung.“

Netty sieht mich nicht an, doch schnalzt missbilligend mit der Zunge. „Natürlich hat er das. Seine Familie steht gut da und besitzt ein reiches Handelsunternehmen.“

Ich drehe mich wieder dem Spiegel zu und greife nach der Pinzette. „Er ist nicht adlig. Prinzessinnen heiraten keinen Bürgerlichen, egal wie reich er ist.“

Was so nicht stimmt. Meine Eltern würden es mögen, wenn ich einen Adligen heirate, aber ein sehr reicher Mann würde es auch tun. Das beweist die Tatsache, dass sie mich mit einem Delmonde verkuppeln wollen.

Netty schnalzt wieder mit der Zunge, was ich schon mein ganzes Leben höre. So äußert sie ihre Missbilligung. Ich sollte mich aufregen, nicht ernst genommen zu werden. Aber was soll das bringen? Man erwartet von mir, einen reichen Erben zu heiraten, bevor ich nach dem Tod meines Vaters den Thron besteige.

Zwar kann ich mit dem Heiraten und Kinderkriegen noch warten, bis er gestorben ist, was hoffentlich nie passiert, aber meine Eltern lassen mich ständig wissen, wie wichtig es ist, dass ich die Thronfolge übernehme und die Familie weiterführe, was eine junge Frau wie mich massiv unter Druck setzt.

„Du bist eine Prinzessin“, antwortet Netty mit einem Lachen. „Und verdienst jemanden mit einem königlichen Rang. Aber wir beide wissen, dass die Optionen begrenzt sind, wenn man danach strebt. Schließlich wachsen Prinzen nicht auf Bäumen.“

Ich entdecke ein abstehendes Härchen, beuge mich zum Spiegel vor und zupfe es zielsicher aus. Lieber würde ich mich von einem Nashorn aufspießen lassen, als mir die Augenbrauen zu zupfen, doch eine Prinzessin muss nun einmal tun, was sie tun muss. Und jetzt tue ich es nur, um nicht mit Netty dieses uralte Thema durchkauen zu müssen.

„Ich will dieses Kleid nicht anziehen“, sage ich im Befehlston und lege die Pinzette ab. „Hol mir den blau-weiß gestreiften Hosenanzug …“

„Aber der ist nicht elegant genug.“

Ich ignoriere ihren Protest. „Den Hosenanzug“, wiederhole ich und stehe auf. „Und stelle meine Entscheidungen nicht infrage.“

Das ist eine brüske, kalte Antwort, und ehrlich gesagt, hat Netty das nicht verdient.

Sie starrt mich mit rosa Wangen an und nickt. „Natürlich, Eure Hoheit.“

Ich knirsche mit den Zähnen. Netty kennt mich seit dem ersten Windelwechseln. Selten spricht sie mich so formell an, und nur, wenn ich sie an meine Stellung erinnere, was untypisch für mich ist. Doch ich stehe unter Stress wegen des Tees mit den Delmondes und dem ständigen Druck auf mich, einen Weg einzuschlagen, den ich nicht gehen will.

Ich verdränge mein Mitgefühl für Netty und drehe mich zu ihr um. „Das ist für heute alles. Ich will nicht mehr gestört werden, bis es Zeit für den Tee ist.“

„Soll ich dir Frühstück bringen lassen, oder willst du …“

„Nein, danke“, sage ich schnell und entschlossen, um weitere Vorschläge zu unterbinden. „Du kannst jetzt gehen.“

Ich verhärte mich innerlich gegen den Schmerz auf ihrem Gesicht. Netty hat sich auf verschiedene Weise um mich gekümmert, seit ich ein Baby war. Zunächst half sie meiner Mutter bei allem und war eine Nanny im Haus. Als ich älter war, brachte sie mich zur Schule und achtete darauf, dass ich genug aß und meine Hausaufgaben machte, denn meine Eltern reisten sehr viel und hatten ihre königlichen Pflichten zu erfüllen. Jetzt bin ich fast fünfundzwanzig und Nettys Aufgabe ist es immer noch, sich um mich zu kümmern. Sie sucht meine Kleider aus, achtet auf meine Ernährung, managt meinen Terminkalender und benimmt sich wie eine Glucke, wenn ich es brauche.

Als Netty die Tür von außen schließt, verschwende ich keine Zeit und gehe zu meinem Nachttisch, auf dem mein Handy lädt. Ich schicke eine kurze Nachricht an Marius.

 

Ich: Steht die Verabredung noch?

 

Ich schaue aus den großen Balkonfenstern meiner Suite. Von der höchsten Erhebung Bretarias, der Hauptinsel unseres Königreichs, rufen die Gewässer des Korallenmeers nach mir. Das mystisch ozeangrüne Wasser wird zum Strand hin heller, wird aber auch sonst nie ganz dunkel, da das Land vom Korallenriff umschlossen wird. Erst darüber hinaus wird das Wasser tief blau. Es ist Januar und Hochsommer auf unserer Insel, die ungefähr fünfzehnhundert Kilometer von Brisbane entfernt ist, oder zwei Stunden Flug mit dem Privatjet vom Flughafen am Südende der Insel.

Bretaria ist nicht nur der Name unseres Königreichs, ein souveräner Stadtstaat, sondern so heißt auch die Hauptinsel, auf der wir wohnen. Sie ist achtzehn Quadratkilometer groß, was nicht nach viel klingt, bis man bedenkt, dass das Fürstentum Monaco nur zwei Quadratkilometer misst.

Die Rubinmine hier ist nicht unsere größte. Die alte Originalmine befindet sich am nördlichen Ende der Insel und fördert immer noch jährlich eine beeindruckende Menge Rubine. Auf den umliegenden Inseln haben wir weitere Minen, die ich alle irgendwann einmal besucht habe. Es ist mein Familienerbe, daher kenne ich mich natürlich mit der Förderung aus und wurde von klein auf geschult.

Unser Wetter ist fast perfekt. In den Hochsommermonaten von Dezember bis Februar wird es um die 27 Grad warm und im Winter nie kühler als 20 Grad. Auf dieser Insel zu leben bedeutet, dass man meistens draußen sein, die warme Brise und den sonnigen Himmel genießen kann.

Mein Handy macht pling und ich lächele, als ich Marius’ Antwort sehe.

 

Marius: Ich warte schon auf dich. Bring Frühstück mit.

 

Mein Herz füllt sich mit Freude und ich schreibe zurück, dass ich in zwanzig Minuten da sein werde. Ich gehe ins Ankleidezimmer und suche mir zusammen, was ich anziehen will.

Fünf Minuten später, gewaschen, gekämmt und einen Badeanzug unter dem T-Shirt und den Shorts, schleiche ich durch den Palast. Ich weiß nicht, warum drei Menschen fast zwanzigtausend Quadratmeter brauchen, aber das monströse Haus wurde von unseren Vorfahren erbaut, die damit ihr Ego befriedigten, nachdem sie durch die Rubinminen reich geworden waren. Obwohl Bretaria einst britisch regiert wurde, ahmt der Palast neoklassische französische Architektur nach. Er sollte riesig und nobel sein, manche würden es protzig nennen. Doch ich liebe die weiße Steinfassade mit Marmorsäulen und die Balkone mit den schmiedeeisernen Geländern, die alle vier Stockwerke zieren. Der schwarz-weiß gemusterte Marmorboden des Innenhofs wirkt wie ein monströses Schachbrett, und durch das fast tropische Wetter wachsen überall auf den Balkonen, Terrassen und überdachten Sitzplätzen große Pflanzen, die das ganze Jahr blühen und die Luft parfümieren.

Es ist mein Zuhause und von märchenhafter Schönheit.

Aber es ist auch erdrückend, und das nicht nur wegen der massiven sechs Meter hohen Steinmauer, die den Palast umschließt. Ursprünglich diente sie dazu, die Nordmine vor Piraten und Plünderern zu schützen, aber als der Familienreichtum allgemein bekannt wurde, diente sie auch als Personenschutz. Meine Familie ist eine Zielscheibe für Entführungen. Mutter, Vater und ich.

Für die Reichsten der Reichen und solche, die in gefährliche Länder reisen, gibt es sogar eine Versicherung gegen Entführung. Wir machen oft Witze darüber, dass wir unversicherbar sind, denn keine Versicherungsgesellschaft würde das Risiko eingehen, für uns Lösegeld erstatten zu müssen. Daher hat mein Vater mit unseren Multimilliarden, die sich immer weiter vermehren, in ein privates Sicherheitsteam investiert.

Was bedeutet, dass ich auf dem Weg zu Marius vorsichtig sein muss. Ich muss im Schutz der Schatten bleiben und mich durch die Räume mit mehreren Ausgängen schleichen. In der Küche schnappe ich mir schnell ein paar frische Cranberry-Muffins, wickele ein Leinentuch darum und stecke sie in meinen Rucksack. Dann eile ich zu den Personalunterkünften im untersten Stock im Osten des Palastes. Der Bereich ist um die tausend Quadratmeter groß und beherbergt kleine, aber luxuriöse Apartments für unser Top-Personal. Dazu gehören Netty, der Haushaltsvorstand Armand, der meiner Mutter untersteht, die Leiterin der Hausmädchen, Mary, der Landverwalter Jules und der Chef des Sicherheitsteams Dmitri, der mich einschüchtert, ohne es überhaupt zu versuchen. Er ist eine imposante Erscheinung, sehr groß und breit. Er ist Ende fünfzig und kann sehr streng sein. Man munkelt, dass er einst beim KGB war. Zwar schüchtert mich das ein, doch er ist auch der engste Vertraute meines Vaters, und dadurch fühle ich mich hier sicher.

Wahrscheinlich ist das gesamte Personal unterwegs und geht seinen Pflichten nach, sich um die vielen Menschen zu kümmern, die man braucht, um das große Anwesen zu führen. Daher sind die Apartments leer. Ich eile durch die Empfangshalle zu der Tür, die zum Parkplatz führt, wo der Fuhrpark steht, falls jemand für irgendetwas in die Stadt fahren muss.

Möwen kreischen, als ich über das Steinpflaster laufe und den Rucksack über die Schulter hänge. Ich eile zwischen zwei Autos hindurch, an einer Hecke entlang, durch die ein Eisentor führt, und eine steile Steintreppe hinab, die sich den Berg hinunter schlängelt. Unten stoße ich auf die Ringmauer. Eine Stahltür befindet sich darin, die sich nur mit einem elektronischen Code öffnen lässt. Durch sie gelangt man zum felsigen Strand und einem Pfad zu einem geschützt liegenden Hafen mit Anlegestellen und Booten.

In der Ringmauer befinden sich mehrere Stahltüren, die alle mit unterschiedlichen Codes zu öffnen sind. Nur meine Eltern, der Sicherheitschef und ich kennen die Codes. Ich schaue über die Schulter zurück zur Treppe und dem Parkplatz. Warum, weiß ich nicht. Niemand hat mich gesehen, und wenn, dann hätte man mich angesprochen. Aber niemand sucht mich momentan. Man geht davon aus, dass ich in meiner Suite bin. Außerdem hält man mich für eine pflichtbewusste und vernünftige Frau, die weiß, dass sie sich nicht schutzlos außerhalb der Ringmauer aufhalten sollte, und niemand würde mir je zutrauen, so etwas zu tun. Dennoch spüre ich Erleichterung, dass ich es so weit ohne Zwischenfälle geschafft habe, und ich zögere nicht, durch die Tür auf die andere Seite der Mauer zu gehen.

Statt den Pfad zu nehmen, der direkt zu den Docks führt, gehe ich links den Weg entlang, der von hohen Gräsern umsäumt wird. Er führt zu einer tief hängenden Klippe über dem Korallenmeer und dort wartet Marius auf mich.

Ein Meter neunzig nichts als goldbraune Haut und harte Muskeln, sonnengeküsstes braunes Haar und funkelnde grüne Augen – Marius Lafayette ist Gottes Geschenk an die Frauen. Und das ist ihm bewusst. Wann immer wir ausgehen – bei den seltenen Gelegenheiten, an denen ich raus komme – stolpern Frauen über ihre eigenen Füße, wenn sie ihn anstarren. Er merkt das, und schreitet dann noch männlicher und aufreizender davon.

„Na endlich“, meckert er.

Er trägt Boardshorts und ein weißes Tanktop. Seine Haare sind unordentlich und er ist ganz klar direkt aus dem Bett gestiegen, ohne sich gekämmt zu haben. Ich nehme den Rucksack von der Schulter, hole das Tuch mit den Muffins heraus und werfe es ihm zu. Die Muffins fallen heraus und er versucht, sie aufzufangen. Zu seinem unfassbar guten Aussehen kommt hinzu, dass er sich unglaublich sportlich und elegant bewegt. Wie ein Jongleur fängt er die vier Muffins mühelos auf, je zwei in einer Hand.

Ich laufe über den dicken Grasteppich, der bis zum Rand der Klippe reicht, nehme einen Muffin aus Marius’ Hand und setze mich. Er tut dasselbe und wir strecken die Beine Richtung Meer aus. Es ist still hier, abgesehen von den Möwen und den Wellen, die unter uns an die Felsen schlagen. Schweigend essen wir und genießen den Ausblick. Wir treffen uns nicht zum ersten und bestimmt auch nicht zum letzten Mal hier. Seit Jahren schleichen Marius und ich uns raus, um uns zu treffen.

Nachdem wir die Muffins gegessen haben, stoße ich ihn mit der Schulter leicht an. „Tust du mir den Gefallen und kommst zum Nachmittagstee?“

Er sieht mich mit gerunzelter Stirn und Zurückhaltung im Ton an. „Warum?“

„Weil Mom mich mit Boyce Delmonde verkuppeln will. Er und seine Mutter kommen zum Tee.“ Ich wische mir Krümel von den Fingerspitzen. Den Muffin habe ich viel zu schnell verschlungen.

„Was ist für mich drin?“, fragt er ernst, bereit zu handeln.

Seufzend lege ich mich aufs Gras zurück, schiebe die Hände unter den Kopf und schaue in den wolkenlosen Himmel. „Nichts. Deine Familie ist steinreich. Es gibt nichts, was ich dir geben könnte, das du nicht schon hast.“

„Stimmt.“ Er lacht in sich hinein und legt sich neben mich. „Aber ich glaube, dass ich dir auch so den Gefallen tun kann. Ich könnte dich sogar vor denen küssen. Das würde sie zum Flüchten bringen.“

Ich kichere. „Und das würde dich wieder auf den Radar meiner Eltern bringen. Außerdem habe ich dich schon mal geküsst und nichts dabei gefühlt.“

„Autsch.“

Aber das ist die Wahrheit. Marius und ich sind Freunde seit wir acht waren, als seine Eltern auf die Insel gezogen sind. Bretaria war durch die Rubine bereits zu einem Finanz-Mekka geworden. Banken siedelten sich bei uns an, angezogen von unserer Steuerfreiheit und den lockeren Gesetzen, und so kam auch Marius’ Familie hierher, die Lafayettes. Sein Vater war ein erfolgreicher Finanzberater in Paris und seine Mutter die Erbin eines Mode-Labels. Sie befinden sich nicht im Milliardenbereich, wie wir, aber auf dem Multimillionendollar-Level, was Marius in den Augen meiner Eltern zu einem passenden Heiratskandidaten macht, der mir hübsche königliche Babys machen kann.

Das Problem ist nur, dass Marius und ich nur Freunde sind. Beste Freunde zwar, aber dennoch nur Freunde. Wenn man adlig ist, sind die Spieloptionen gering, und die Lafayettes befreundeten sich mit uns. Also wuchsen Marius und ich praktisch zusammen auf und wurden beste Freunde. Mit fünfzehn küssten wir uns und stellten fest, dass wir es beide nicht mochten. Erst hielt Marius mich für lesbisch, weil ich seine Küsse nicht mochte – selbstgefällig wie er ist. Doch dann merkten wir beide, dass wir einfach nur Freunde sind, fast wie Bruder und Schwester, und alles andere fühlte sich seltsam an. Demnach steht romantische Liebe wohl nicht in unseren Sternen, aber dauerhafte Freundschaft ganz bestimmt.

Endlich haben wir unsere Eltern einigermaßen überzeugt, uns in Ruhe zu lassen und mit den nicht sehr subtilen Bemerkungen über eine Liebesbeziehung aufzuhören. Aber, oh Gott, wenn er mich heute beim Tee küsst, um Boyce Delmonde zu verjagen, fängt das ganze Theater wieder von vorn an.

„Apropos küssen“, sage ich und wechsele das Thema. „Wie lief dein Date mit … wie war noch gleich ihr Name?“

„Du meinst Emelia?“ Er klingt von ihr eingenommen.

„Glaube schon.“ Ich bin nicht sicher. Er hatte mir erzählt, jemanden bei der Arbeit kennengelernt zu haben und wollte sie zum Dinner auszuführen.

„Das Dinner lief super.“

Ich muss nicht erst den Blick vom Himmel nehmen und ihn ansehen, um ihm den Schalk anzuhören.

„Ich habe ihr keinen Gutenachtkuss gegeben. Aber am nächsten Tag habe ich sie in ihrem Büro flachgelegt.“

Entsetzt starre ich ihn an. „Bist du verrückt? Du kannst doch nicht im Büro deines Vaters vögeln. Das ist … unprofessionell, oder so was.“

„Sie wollte es“, antwortet er überheblich, ohne mich anzusehen. „Außerdem ist das auch mein Büro.“

Stimmt. Während ich in der Schweiz Geisteswissenschaften studierte, was für meinen Lebenslauf völlig nutzlos ist, mich aber total erfüllte, trat Marius in die Fußstapfen seines Vaters und studierte Betriebswirtschaftslehre mit Magister. Er wurde zum Geschäftspartner seines Vaters.

„Das ist widerlich“, sage ich.

„Du bist nur neidisch“, neckt er mich.

Das ist nicht zu weit hergeholt. Seit dem Abschluss bin ich hier ziemlich eingeschlossen. Arbeitslos bin ich allerdings ganz und gar nicht, denn ich lerne von meinem Vater alles über das Familienunternehmen, und was noch wichtiger ist, die Rolle der Monarchin, denn das kommt unausweichlich auf mich zu.

Im Studium konnte ich mich ausleben. Es war meine erste Freiheit und die Bodyguards waren diskret und blieben im Hintergrund. Ich durfte eine echte Studentin sein, Alkohol trinken, Joints rauchen und bedeutungslose Männerbekanntschaften haben. Meine Bodyguards wussten wahrscheinlich genau, was ich alles angestellt habe, aber sie haben mich nicht zurückgehalten. Meine Eltern wollten, dass ich das Studentenleben mit allem, was dazugehört durchmache. Die Bodyguards sollten mich nur vor Entführern und solchen Gefahren beschützen.

An diese Zeit denke ich gern zurück und ja, ich beneide Marius darum, dass er sein Leben gestalten kann, wie er es möchte.

Da ich ungern an mein nicht vorhandenes Sexleben denken will, seit ich vor drei Jahren wieder nach Hause kam, stehe ich vom Gras auf. „Lass uns springen.“

Deswegen sind wir hergekommen. Ich ziehe mich bis auf den schwarzen Badeanzug aus, der anständig ist und praktisch. Beim Sonnenbaden am Strand oder an einem unserer drei Palast-Pools trage ich meist einen Bikini, aber zum Klippenspringen benötigt man einen Badeanzug, der auch bleibt, wo er ist.

Marius steht ebenfalls auf, zieht sich das Top über den Kopf und wirft es auf meine Kleider.

„Der Letzte gibt einen aus“, sagt er herausfordernd, wartet jedoch höflich, bis ich meine langen blonden Haare zusammengebunden habe.

Ich blicke über die ruhige See und ein Schauder läuft mir über den Rücken. Obwohl die Oberfläche glatt wie eine Scheibe ist, sind die zehn Meter nach unten doch ganz schön erschreckend. Zwar nennt man das hier keine hohe Klippe, aber die meisten Leute hätten Angst davor. Seit Marius und ich vierzehn waren, sind wir von dieser Klippe ins warme Wasser getaucht, ohne dass jemand davon weiß.

„Los geht’s“, sage ich, und bevor Marius begreift, was ich vorhabe, schubse ich ihn zur Seite. Er stolpert ein paar Schritte rückwärts, was mir einen kleinen Vorsprung gibt. Ich mache einen großen Schritt auf die Klippe zu und brauche nur noch vier, um abzuspringen. Doch ehe ich den zweiten Schritt machen kann, ruft jemand.

„Halt, Euer Hoheit!“

Eiskalt durchläuft es mich, als ich den russischen Akzent erkenne. Dmitri Lebedev, Sicherheitschef meines Vaters. Ich drehe den Kopf und sehe ihn ungefähr fünf Meter entfernt stehen. Und er ist sauer. Nach all der Zeit, in der ich mich zum Klippenspringen mit Marius hinausschleiche und damit mein Leben selbst kontrolliere, bin ich aufgeflogen.

Die Frau in mir, die es hasst, kontrolliert zu werden und gesagt zu bekommen, was sie darf und was nicht, rebelliert. Ich gehe näher an die Klippe heran. Dmitris eisblaue Augen versprühen Wut, dass ich es wage, ihm nicht zu gehorchen. Sein Ausdruck kann einem schon Angst einjagen.

Sogar Marius spürt die gefährlichen Schwingungen, denn er murmelt: „Tu es nicht, Cami.“

Er kennt mich gut. Er weiß, dass ich zu fünfundneunzig Prozent vorhabe, von der Klippe zu springen. Schließlich bin ich bereits aufgeflogen. Meine Eskapaden finden ein Ende. Ab jetzt werde ich genauer beobachtet und man wird den Code der Stahltüren in der Mauer ändern und mir nicht mehr verraten.

Egal. Da kann ich auch ein letztes Mal springen.

Ich wende mich der Klippe und dem glitzernden Wasser zu, und bereite mich auf den verrückten Sprung vor. Dmitri kann mich nicht mehr rechtzeitig erreichen.

Aber bevor ich den Fuß wieder heben kann, höre ich Dmitri in gefährlich ruhigem Ton sagen: „Noch ein Schritt, und ich erschieße ihn.“

Langsam schaue ich über die Schulter und sehe, dass Dmitri die Waffe gezogen hat und sie direkt auf Marius richtet. Kurz bin ich entsetzt, dass er wirklich meinen besten Freund erschießen könnte, um mich vom Springen abzuhalten. Dmitri hat ja keine Ahnung, dass ich das schon hundert Mal getan habe. Allerdings ist er auch ein bisschen gestört. Er kennt keine Skrupel, wenn es darum geht, unsere Familie zu beschützen, sodass ihm zuzutrauen ist, Marius eine Kugel ins Bein zu jagen, um mich aufzuhalten.

Aber nein … das wird er nicht tun. Niemals. Ganz sicher.

Dennoch löst sich das Adrenalin auf, das mich fast dazu brachte, trotz der Konsequenzen zu springen, und mein Rückgrat sackt zusammen. Seufzend wende ich mich von dem Abenteuer des freien Falls ab und marschiere zu meinen Kleidern.

Marius lächelt traurig, denn er weiß, dass unsere jahrelangen kleinen Ausflüge nun zu Ende sind. Er zieht sich das Tanktop nicht an und ich bin sicher, dass er springen wird, nachdem ich gegangen bin.

Ich ziehe Shorts und T-Shirt an, schlüpfe in die Sandalen und drehe mich zu Dmitri um. Er hat die Waffe wieder im Holster stecken und macht eine Handbewegung Richtung Pfad. Er sieht Marius nicht einmal an, sondern neigt den Kopf, um anzudeuten, dass ich an ihm vorbei und vorgehen soll. Ohne mich noch einmal zu meinem Freund umzudrehen, tue ich genau das. Es wäre zu schwer, einen letzten Blick auf die Freiheit zu werfen, die ich soeben verloren habe.

Genervt gehe ich zur Stahltür, trete zur Seite und lasse Dmitri den Code eingeben. Mit verschränkten Armen frage ich ihn: „Woher wussten Sie, dass ich hier bin?“

„Ich habe nach Ihnen gesucht und Sie waren nicht in Ihrer Suite, wie Sie Netty gesagt hatten. Dann musste ich mir nur die Kameraaufzeichnungen ansehen.“

Wir gehen durch den Personaleingang in den Palast und ich nehme an, dass er mich entweder zu meinem Vater bringt, wo ich mich seiner Verärgerung stellen muss, oder zu meiner Suite. Doch stattdessen geht er in Richtung des Büros des Sicherheitsdienstes.

„Wohin gehen wir?“, frage ich misstrauisch.

„Sie müssen ein paar Leute kennenlernen“, antwortet er knapp, ohne langsamer zu gehen oder mich anzusehen.

„Wen?“

„Die Leute von der Sicherheitsagentur, die Ihr Vater angeheuert hat, und die Sie in London und durch die USA begleiten werden.“

Ich halte inne und bin überrascht. „Warum denn das? Ich dachte, das übernehmen Sie mit unseren eigenen Männern.“

Sein Ton ist spitzzüngig. „Ein paar von uns kommen mit. Aber ich kann nicht auf Sie achten und Ihr Vater hält es für sicherer, wenn die amerikanische Agentur uns unterstützt.“

„Was meinen Sie damit, Sie können nicht auf mich achten?“ Ich versuche, ihn einzuholen. „Sie sind der Sicherheitschef und das ist Ihr Job.“

„Das ist nicht mein einziger Job“, brummt er und bleibt vor der Tür eines Konferenzraums stehen.

„Halt!“, sage ich gebieterisch. Erstaunlicherweise sieht Dmitri mich tatsächlich endlich an. In meinem hochmütigsten Ton sage ich: „Ich bin Prinzessin Camille aus dem Hause Winterbourne und verlange, dass Sie mich ansehen, wenn ich mit Ihnen rede. Außerdem bestehe ich darauf, dass Sie mir alle Details zu dieser Situation nennen, die hier verdammt nochmal vor sich geht. Sie unterstehen mir genauso wie meinem Vater.“

Dmitris Augen funkeln erneut, aber diesmal nicht vor Wut, sondern amüsiert.

Er findet mich lächerlich.

Es ist entwürdigend, dass er mir nicht den gebührenden Respekt zollt.

Er greift nach der Klinke und öffnet die Tür. Mit einer einladenden Handbewegung sagt er: „Überzeugen Sie sich am besten selbst. Hier drin warten alle Antworten auf Sie.“

Kapitel 3

 

Jackson

 

„Ich habe schon schlimmere Bauplätze für ein Haus gesehen“, kommentiert Ladd, als er vor den offenen Balkondoppeltüren steht.

Die Aussicht präsentiert das Stadtzentrum und dahinter das Korallenmeer. Bretaria ist ungefähr so alt wie die USA, doch der Reichtum der Insel sorgt dafür, dass alle Gebäude gepflegt sind, die Straßen neu und es keine Anzeichen irgendwelcher Armut gibt.

Dem Dossier, das ich auf dem langen Flug mindestens zehnmal gelesen habe, entnahm ich, dass König Thomas seinen irrsinnigen Reichtum dazu benutzt, alles auf dem neuesten Stand zu halten. Die Bewohner zahlen keine Steuern, denn das Geld wird nicht gebraucht. Die ungefähr hunderttausend Einwohner der gesamten Inseln sind in zwei Klassen aufgeteilt. Die mittlere Arbeiterklasse und die Überreichen.

Die Mittelschicht arbeitet in den Minen, für die königliche Familie, und einige, um den Stadtstaat am Laufen zu halten. Die Bezahlung ist viermal so hoch wie das Mindesteinkommen Australiens und steigert sich noch je nach Fähigkeiten und Berufserfahrung.

Privatunternehmen wie Bäckereien, Restaurants und Einkaufsläden haben das ganze Jahr geöffnet. Zusammen mit den Privatunternehmen und gut bezahlten Beamten gibt es dort praktisch keine Armut, keine Slums und keine mangelhafte Bildung. König Thomas stellt sogar Privatunterricht für jedes Kind zur Verfügung. Wenn man das Glück hat, hier die Staatsbürgerschaft zu ergattern, will man sicherlich nie wieder gehen. Das Dreiklassenkonzept aus Arbeiterschicht, Mittelschicht und Reichen gibt es in Bretaria nicht.

Der wohlhabende Teil der Bevölkerung ist überreich. Seit mehr als hundert Jahren haben sich die Banker und Finanzleute hier angesiedelt, angelockt von dem reichen Rubinvorkommen. Andere waren Erbinnen und Oberschichtler, die einen Teilzeitwohnsitz auf einer schönen Insel mit nahezu perfektem Wetter das ganze Jahr über wollten. Mit diesen Leuten kamen Villen und schlossartige Anwesen, Fine-Dining-Restaurants, teure Modeboutiquen und teure Autos auf die Insel. Man sieht eher einen Lamborghini durch die engen Kopfsteinpflasterstraßen fahren, als die hier ebenfalls gern benutzten Mopeds.

Ja, ich habe eine Menge über diesen interessanten Stadtstaat gelernt und empfinde etwas Respekt für König Thomas, dass er seinen royalen Reichtum so mit der Bevölkerung teilt. In seiner fast grenzenlosen Großzügigkeit ist er jedoch auch leichtsinnig. Er gibt sein Geld für übertriebene Dinge aus. Die ganze Welt weiß, wie reich er ist, und dass er monatlich Lösegeld an Entführer zahlen könnte, ohne eine Delle in seine Zinsen zu machen, die er in derselben Zeit einnimmt. Das macht ihn und seine Familie zu Zielscheiben, und deswegen sitze ich im Konferenzraum des königlichen Palasts in Bretaria.

Heute Morgen trafen wir uns mit dem Sicherheitschef Dmitri Lebedev. Ihm untersteht nicht nur der Schutz des Palasts, sondern auch der vom König, der Königin und der Prinzessin.