Dechen kam in Khorma, einer winzigen Ortschaft im Osten Bhutans am Fuße des Himalaya zur Welt. Ein Mönch aus der Umgebung hatte ihm den Namen Dechen Dorje, »Diamantene Glückseligkeit«, gegeben. Schon als Kind ahnte Dechen, dass es möglich sein könnte, die Welt zu verstehen. In ihm war eine Kraft gegenwärtig, die einzig danach verlangte, sich auszudrücken. Er wusste zwar nicht recht, welche Richtung er ihr geben sollte, doch die Hoffnung leuchtete in seinem Herzen wie eine kleine Flamme.
Manchmal hatte er den Eindruck, mit allem, was ihn umgab, eins zu sein: dem feuchten Gras, den vom Wind bewegten Zweigen, den farbigen Felswänden, den Insekten, die über die braune Erde eilten, den Mauerseglern, die mit schrillen Schreien durch den Himmel schossen. Dann verschmolz er mit der Welt, er atmete sie ein und nahm sie ganz in sich auf.
Bei anderen Gelegenheiten erschien ihm alles wie eine ferne Vision, ein ungewisses Bild. Er verstand nicht, warum das so war, und verweilte nachdenklich ein Stückchen außerhalb des Dorfes, wo er die Landschaft betrachtete und die Dinge befragte.
Er hatte kein anderes Leben als das in Khorma kennen gelernt, einem Dorf von gerade einmal zwanzig Häusern, das vielleicht hundert Seelen zählte. Vieles wühlte ihn auf, was für die Dorfbewohner selbstverständlich war. Bei den Feldarbeiten zum Beispiel bereitete es ihm unwillkürlich Unbehagen, Tiere leiden zu sehen: die Büffel, die man den ganzen Tag vor den Pflug spannte, die Regenwürmer, die von der hölzernen Pflugschar in Stücke gerissen wurden, die Maultiere, deren Rücken von schweren Lasten zerschunden waren …
Er mochte es ebenso wenig, wenn die Menschen, berauscht vom chang, dem Hirsebier, den Kopf verloren. Am unerträglichsten waren für ihn jedoch Raufereien. Schlimmer noch, er hatte gehört, dass anderswo ganze Völker einander umbrachten, und er konnte nicht begreifen, wie man es so weit kommen lassen konnte.
Ein Lächeln, sanfte Worte und Gesten der Güte erfüllten ihn mit einer Freude, wie man sie beim Einatmen einer reinen, frischen Brise empfindet. Seine Augen begannen zu glänzen und er fühlte, wie eine neue Lebenskraft in ihm erwuchs. Ja, dachte er, so sollten die Dinge sein.
Wenn er fortging, um mit den anderen Kindern dürres Holz im Wald zu sammeln, gab er lieber einem anderen sein Reisigbündel ab, als mitzuerleben, wie seine Kameraden von ihren Eltern zurechtgewiesen wurden, wenn sie mit leeren Händen heimkamen, denn so etwas tat ihm mehr weh, als wenn er selbst gescholten wurde. Einmal, als ganz kleiner Junge, war er an einem Tag, als es stark geschneit hatte, fast nackt und ohne den Mantel, den ihm seine Mutter geschneidert hatte, heimgekommen. »Da steht ein Männchen draußen, das ganz furchtbar friert«, verkündete er. Verblüfft ging seine Mutter nachsehen: Dechen hatte einen kleinen Busch mit menschenähnlichen Umrissen sorgsam in seinen Mantel eingehüllt.
Dechens Eltern waren gute und ehrbare Leute. Seine Mutter Palmo, »die Ruhmreiche«, war fast den ganzen Tag über damit beschäftigt, bunte Stoffe mit komplizierten, schillernden Mustern zu weben. Sie brauchte ein ganzes Jahr, um drei kishotara, große Stoffbahnen, fertig zu stellen, die zusammen ein prächtiges Gewand ergaben, das Frauen aus gutem Hause an Festtagen trugen. Mit ihrer fertigen Arbeit machte sie sich auf den Weg, um sie im dzong zu verkaufen, einem Marktflecken, der eine Stunde Fußweg von Khorma entfernt war und dessen Häuser eine befestigte Anlage umgaben. Der dzong, in dem sich der Sitz der örtlichen Verwaltung befand, umfasste auch ein Kloster. Palmo würde aus dem Verkauf eine hübsche Summe erzielen, für die sie Öl, Zucker und roten Reis kaufen konnte, der im hoch gelegenen Khorma nicht wuchs. Sie würde auch Gummistiefel, Taschenlampen und einige andere in Indien hergestellte Dinge mitbringen.
Dechens Vater Pema Dorje, »Diamantlotus«, war für das Vieh – einen Büffel und fünf Kühe – und die Feldarbeit zuständig, wobei ihm seine fünf Kinder, zwei Jungen und drei Mädchen, zur Hand gingen. Die Böden waren nicht sehr fett, doch sie erbrachten eine Ernte an Gerste, Buchweizen, Hirse und Mais, die den Großteil ihrer Nahrung bildeten. Gegen Ende des Sommers leuchteten die Dächer des Dorfes, die aus langen, von der Zeit schwärzlich verwitterten Holzlatten bestanden, unter den dort in der Sonne zum Trocknen ausgelegten Pfefferschoten in einem hellen Rot.
Palmo vergor außerdem Hirse zu chang und brannte Alkohol, dessen Dunst sich, wenn der Abend gekommen war, in jedem Haus des Dorfes ausbreitete.
Die Männer waren geschickt darin, Holz mit dem langen Messer, das sie stolz an ihrem Gürtel trugen, zu bearbeiten.
Der Bau eines Hauses bot Anlass zu Festen und religiösen Zeremonien. Zuallererst kamen Mönche, um den Ort zu segnen. Dechen erfasste nur unklar den Sinn ihrer Rituale und die Mönche unternahmen auch keine großen Anstrengungen, den Bauern den Sinn zu erklären, zumal sie häufig selbst nicht sehr gebildet waren. Doch ihre Musik und ihre Gesänge bewegten Dechen und ihre Gegenwart zog ihn an. Anschließend wählte man auf dem Kalender einen günstigen Tag für den Beginn der Arbeiten. Beim Richtfest floss das chang in Strömen. Dechen erinnerte sich an einen Tag, als sein Onkel Wangchuk wie ein Akrobat über den Dachfirst getänzelt war und dazu in die Runde sang: »Ich bin Vishvakarma, der Gott der Handwerker!« Dechen und seine Freunde hatten ihn halb amüsiert, halb erschreckt betrachtet, wobei sie die ganze Zeit erwarteten, dass er vom Dach purzeln würde, aber nichts dergleichen geschah: Der Gott der Betrunkenen wachte wohl über ihn! Zum Schluss segnete ein Lama, den man zu diesem Anlass einlud, das Haus und insbesondere den Raum, der für den Familientempel bestimmt war.
Mit der Nacht kam die Stille. Der fahle Schein der Öllampen erlosch bald; es dauerte nicht lange und das ganze Dorf lag in tiefem Schlaf. Die friedliche Ruhe des Dunkels schien alle Dinge zu durchdringen. Nur von Zeit zu Zeit wurde sie vom Konzert der Hunde unterbrochen, die plötzlich ohne Grund bellten – oder weil vielleicht einer ihresgleichen aus dem Nachbarweiler gekommen war, um in verbotenem Revier zu streunen.
Die ganze Familie schlief gemeinsam in einem großen Raum: die Älteren auf breiten niedrigen Bänken, die entlang der Wand standen und mit bunten Wolldecken bedeckt waren, die Jüngsten auf Matten, die auf dem Boden ausgelegt wurden. Sobald sich das erste Morgenlicht zeigte, ging alles flink vonstatten. Man entzündete ein Holzfeuer an der Feuerstelle, Rauch zog durch das Hauptzimmer und der Teekessel begann zu singen, bereit, um heißen Tee über grobe Reisflocken oder geröstetes Gerstenmehl zu gießen, das mit einem großen Stückchen Butter angereichert wurde. Palmo warf sich drei Mal vor der Buddhafigur nieder und brachte sieben Schälchen mit klarem Wasser als Opfergaben auf dem Familienaltar dar, dann zündete sie ein Räucherstäbchen und eine Butterlampe an. Sie konnte weder lesen noch schreiben, wusste aber zahlreiche Gebete auswendig und brachte sie ihren Kindern bei. Sie erzählte ihnen außerdem faszinierende Geschichten wie die vom großen Eremiten Milarepa, dessen Körper, weil er sich nur von Brennnesseln ernährte, einen grünlichen Farbton angenommen hatte; er konnte durch die Lüfte fliegen und durch Felsen hindurchgehen. Auch sang sie mit sanfter und melodischer Stimme Verse aus den Lehren Buddhas:
Wer Mitgefühl hat, ist Buddha.
Wer kein Mitgefühl hat, ist ein Dämon des Todes.
Übe dich in vollkommener Tugend,
ohne die geringste schädliche Handlung.
Und beherrsche deinen Geist vollkommen:
Dies ist die Lehre Buddhas.
Wenn Dechen wegen einer Dummheit geschimpft wurde oder Kummer hatte, lief er spontan zu seiner Großmutter Yangchen, einer großherzigen Frau mit flinker Zunge, die keine Scheu hatte, ihre Ansichten über die Leute und die Dinge kundzutun; die Dorfbewohner hielten es für klüger, sich ihre Predigten anzuhören, als ihr zu widersprechen. Sie tröstete Dechen und belehrte ihn gleichzeitig, wobei sie sich auf weise Redewendungen stützte, von denen sie ein unerschöpfliches Repertoire besaß: »Nur wer ohne Verstand ist, legt seine Hand ins Feuer und hofft dabei, dass er sich nicht verbrennt. Wer keine Tränen gekostet hat, wird das Lachen nicht schätzen.«
Das Bogenschießen war der beliebteste Zeitvertreib der Männer im Dorf. Man stellte an den beiden gegenüberliegenden Enden eines Feldes, etwa hundert Meter voneinander entfernt, zwei schmale Bretter auf, die ein farbig aufgemaltes rundes Ziel von der Größe einer Untertasse trugen. Die Bogenschützen, die bereits geschossen hatten, versammelten sich um die Zielscheibe. Ganz unbekümmert erwarteten sie jeden neuen heranfliegenden Pfeil und wichen ihm mit einer schnellen Körperbewegung aus, wenn er zu nahe an ihnen vorbeizukommen drohte. Berührte ein Pfeil das Ziel oder blieb sogar in ihm stecken, so vollführten die Mitglieder der siegreichen Mannschaft rituelle Tanzschritte und stimmten Siegesgesänge an.
Im Grunde genommen war das Leben im Dorf gar nicht so rau, trotzdem hatte Dechen das bislang noch undeutliche Gefühl, dass dies nicht die Art war, wie er sein ganzes Dasein verbringen wollte.
Eines Tages, dessen Erinnerung für immer in seinem Herzen eingeprägt bleiben würde, traf ein Mann ein, den die Dorfbewohner besonders freudig zu empfangen schienen. Es war Jamyang Nyima, »Milde Sonne der Erkenntnis«, ein Halbbruder seiner Mutter. Viele Jahre schon lebte er in den Bergen, hoch oben, wo es nachts häufig Frost gab, sogar mitten im Sommer. Beim abendlichen Zusammensitzen am Feuer sprach er von der Schneepagode, einem Ort außerhalb der Welt, weitab von den Menschen, den Göttern nah. Einige Gläubige aus dem Dorf waren als Pilger dort gewesen. Jamyang selbst lebte seit zwölf Jahren an dieser verheißungsvollen Stätte. Er erzählte von der wilden Schönheit und dem immer währenden Frieden des Orts. Besonders hob er hervor, dass dort oben ein außergewöhnlicher spiritueller Meister mit Namen Tokden Rinpoche lebe, dessen Schüler er sei. Mit einer von Liebe und Achtung erfüllten Stimme sprach Jamyang von ihm als demjenigen, der mit Weisheit und Mitgefühl sein geistiges Leben anleite. Jamyang war weder ein Mönch noch ein verheirateter Mann, sondern ein Eremit, ein Meditierender, der viele Jahre in Zurückgezogenheit verbracht hatte. Er strahlte eine ruhige Selbstsicherheit und eine große Freundlichkeit aus. Während Dechen ihm lauschte, flog sein Geist hinauf zu den verschneiten Bergen; er versuchte sich vorzustellen, wie das Leben dort oben sein mochte, und fragte sich, was man unter einem spirituellen Meister und einem Einsiedlerdasein zu verstehen hatte. Die Möglichkeit, auf eine andere Art zu leben, begann in ihm aufzuscheinen.