Louis Bayard
Der Denkwürdige Fall des Mr Poe
Kriminalroman
Aus dem amerikanischen Englisch von Peter Knecht
Insel Verlag
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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel The Pale Blue Eye
bei HarperCollins Publishers, New York 2006.
eBook Insel Verlag Berlin 2022
Der vorliegende Text folgt der xx. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4903.
Erste Auflage 2022
insel taschenbuch 4903
Deutsche Erstausgabe
© der deutschsprachigen Ausgabe
Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2022
Published by arrangement with William Morrow Paperbacks,
an imprint of HarperCollins Publishers, LLC.
Copyright © 2006 by Louis Bayard.
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Brighton; FinePic®, München
eISBN 978-3-458-77339-9
www.suhrkamp.de
Für A. J.
Die Trauer um die Verstorbenen ist der einzige Schmerz,
an dem wir unbedingt festhalten möchten.
Washington Irving
»Rural Funerals«
Mitten in tscherkessischen Hainen, reizend zu schaun,
In einem Bach, von Wolken dunkel gescheckt
Und glitzernd im Mondlicht, neigten die Mägde
Athenes, die lieblichen Jungfraun,
Schüchtern die Häupter.
Traurig verloren fand Leonore ich dort,
In den Krallen zum Himmel schreienden Leids.
Heftig riss der Anblick des Mädchens mich fort
Mit seinen bleich blauen Augen,
des Ghuls mit den bleich blauen Augen.
Der Denkwürdige Fall des Mr Poe
In zwei oder drei Stunden … na ja, es ist schwer zu sagen … in drei Stunden, denke ich, höchstens vier … binnen vier Stunden, sagen wir, werde ich tot sein.
Ich erwähne das, weil es die Dinge in eine bestimmte Perspektive rückt. Zum Beispiel sind meine Finger zuletzt für mich interessant geworden. Auch die unterste Lamelle der Jalousien, die ein wenig schief ist. Und draußen vor dem Fenster ein Glyzinientrieb, der vom Hauptstamm abgebrochen ist und wie ein Galgenstrick wackelt. Das ist mir vorher nie aufgefallen. Und noch etwas: Auf einmal drängt sich mir jetzt die Vergangenheit mit der ganzen Wucht der Gegenwart auf. All die Menschen, mit denen ich zu tun hatte, kommen, so scheint es, in dichten Scharen herbei. Es wundert mich, dass sie nicht mit den Köpfen zusammenstoßen. Da steht Alderman Hunt, ein Stadtrat aus Hudson Park, am Kamin; neben ihm meine Frau in ihrer Schürze und schaufelt Asche in den Blecheimer, und wer schaut ihr dabei zu? Niemand anderer als mein alter Neufundländer. Am Ende des Flurs sehe ich meine Mutter, die nie einen Fuß in dieses Haus gesetzt hat; sie starb, bevor ich zwölf Jahre alt wurde, und doch bügelt sie da meinen Sonntagsanzug.
Es ist komisch: Keiner von all den Leuten spricht auch nur ein Wort mit den anderen. Es herrscht eine sehr strenge Etikette, die ich mir nicht erklären kann.
Nun, nicht alle, um es richtig zu sagen, halten sich an die Regeln: In der letzten Stunde hat mir ein Mann namens Claudius Foot die Ohren vollgelabert – es war nicht auszuhalten. Ich habe ihn vor fünfzehn Jahren wegen eines bewaffneten Überfalls auf die Postkutsche nach Rochester verhaftet und ihm damit bitter Unrecht getan: Er hatte nämlich drei Zeugen, die schworen, dass er an dem Tag die Postkutsche nach Baltimore überfallen hat. Er regte sich schrecklich auf, verließ die Stadt auf Kaution, kam sechs Monate später zurück, verrückt vor Cholera, und warf sich vor eine Droschke. Redete ununterbrochen bis zum Tod. Redet immer noch.
Oh, es sind eine Menge Leute, das kann ich Ihnen sagen. Je nach Stimmung, je nach dem Winkel der Sonne, die durch das Wohnzimmerfenster scheint, kann ich mich darum kümmern oder nicht. Ich muss allerdings zugeben, dass ich mir manchmal mehr Gesellschaft mit Lebenden wünsche, aber die ist in diesen Tagen nicht so leicht zu bekommen. Patsy schaut nicht mehr vorbei … Professor Pawpaw ist verreist und misst Schädel in Havanna. Und was ihn angeht, was kann ihn zurückholen? Ich kann ihn mir nur ins Gedächtnis rufen, und wenn ich das tue, laufen all die alten Gespräche wieder vor mir ab. An einem Abend zum Beispiel haben wir über die Seele gesprochen. Ich war nicht davon überzeugt, dass ich eine habe, er schon. Es hätte amüsant sein können, ihm zuzuhören, wenn er nicht so furchtbar ernsthaft gewesen wäre. Niemand hat mich je, was diese Sache betrifft, so stark bedrängt, nicht einmal mein eigener Vater (ein presbyterianischer Wanderprediger, der zu sehr mit den Seelen seiner Schäfchen beschäftigt war, als dass er die meine irgend nachhaltig hätte prägen können). Immer wieder sagte ich: »Na ja, vielleicht haben Sie ja recht.« Das feuerte ihn nur noch mehr an. Er sagte, ich würde mich unter Berufung darauf, dass es keine empirische Bestätigung gebe, vor einer eindeutigen Antwort drücken. Und ich fragte ihn: »Was soll ich in Ermangelung einer solchen Bestätigung sonst sagen als: ›Sie könnten recht haben‹?« So drehten wir uns im Kreis, bis er eines Tages sagte: »Mr Landor, es wird der Moment kommen, in dem Ihre Seele sich umwendet und Ihnen so empirisch fassbar wie nur irgend denkbar direkt ins Gesicht sieht – der Moment, in dem sie Sie verlässt. Sie werden nach ihr haschen, ach, vergebens! Stellen Sie sich vor: Sie breitet Adlerschwingen aus und fliegt zu fernöstlichen Horsten.«
Nun, er neigte zum Fantastischen. Zum Schwülstigen, wenn Sie es genau wissen wollen. Ich selbst habe mich immer mehr an Tatsachen gehalten als an metaphysische Spekulationen. Gute, solide, hausgemachte Fakten – davon kann man runterbeißen. Es sind Fakten und logische Schlussfolgerungen, die das Rückgrat dieser Geschichte bilden. So wie sie das Rückgrat meines Lebens gebildet haben.
Eines Nachts – ich war schon über ein Jahr im Ruhestand – hörte mich meine Tochter im Schlaf reden. Sie kam in mein Schlafzimmer und wurde Zeugin, wie ich gerade einen Verdächtigen vernahm, der zwanzig Jahre tot war. Das lässt sich nicht wegdiskutieren, sagte ich immer wieder. Das sehen Sie doch, Mr Pierce. Dieser Kerl hatte die Leiche seiner Frau zerstückelt und nach und nach an ein Rudel Wachhunde in einem Lagerhaus verfüttert. In meinem Traum waren seine Augen rot vor Scham; es tat ihm sehr leid, meine Zeit in Anspruch genommen zu haben. Ich weiß noch, dass ich zu ihm sagte: Wenn Sie es nicht gewesen wären, müsste es jemand anderes gewesen sein.
Nun, es war dieser Traum, der mir klarmachte, dass man ein Berufsleben nicht einfach so hinter sich lassen kann. Du magst dich in die Hudson Highlands verziehen, du magst dich hinter Büchern verstecken oder dich als harmlosen Spaziergänger ausgeben – dein Job wird kommen und dich aufspüren.
Ich hätte weglaufen können, ein bisschen tiefer in die Wildnis hinein, ich hätte es vielleicht tun können. Wie es zuging, dass ich mich zurücklocken ließ, kann ich nicht genau sagen, aber manchmal scheint es mir, als wäre es, als wäre alles so gekommen, damit wir uns finden, er und ich.
Aber es hat keinen Sinn, zu spekulieren. Ich habe eine Geschichte zu erzählen, Erlebnisse zu berichten. Und da mir viele Aspekte dieser Erlebnisse verschlossen waren, trete ich dort, wo es nötig ist, beiseite und lasse andere sprechen, vor allem meinen jungen Freund. Er ist es, aus dessen Geist in Wahrheit diese Geschichte geboren ist, und immer wenn ich mir vorzustellen versuche, wer sie als Erster lesen wird, ist er derjenige, den ich vor mir sehe: Sein Finger fährt an Zeilen und Spalten entlang, seine Augen folgen meinem Gekritzel.
Oh, ich weiß: Wir können uns unsere Leser nicht aussuchen. Es bleibt mir also nichts anderes übrig, als mich mit dem Gedanken abzufinden, dass eine unbekannte – und, wie ich vermute, noch ungeborene – Person irgendwann diese Zeilen finden wird. Ihnen, geschätzter Leser, geschätzte Leserin, widme ich diese Erzählung.
Und so werde ich nun zu meinem eigenen Leser. Zum letzten Mal. Legen Sie bitte noch ein Holzscheit nach, Alderman Hunt.
Und so fängt alles noch einmal von vorn an.
Dass ich mit der Sache in West Point beruflich zu tun bekam, bahnte sich am Morgen des sechsundzwanzigsten Oktober 1830 an. An diesem Tag machte ich meinen üblichen Spaziergang – wenn auch etwas später als üblich – in den Hügeln um Buttermilk Falls. Ich erinnere mich, dass typisches Altweibersommerwetter war. Die Blätter verströmten eine echte Hitze, sogar die abgestorbenen, und diese Hitze drang durch meine Fußsohlen und vergoldete den Nebel, der die Farmhäuser umgab. Ich ging allein an den Hängen der Hügel hinauf, die einzigen Geräusche waren das Knarren meiner Stiefel, das Gebell von Dolph van Corlaers Hund und, so nehme ich an, mein eigenes Schnaufen, denn ich stieg an diesem Tag ziemlich hoch hinauf. Ich war auf dem Weg zu dem Granitvorsprung, den die Einheimischen Shadrach's Heel nennen, und hatte gerade meinen Arm um eine Pappel geschlungen, um vor dem letzten steilen Wegstück Atem zu schöpfen, als mich der Ton eines Waldhorns erreichte, der meilenweit weg im Norden erklang.
Ein Ton, den ich schon früher gehört hatte – es ist kaum möglich, ihn nicht zu hören, wenn man in der Nähe der Militärakademie lebt –, aber an diesem Morgen erzeugte er ein seltsames Summen in meinem Ohr. Zum ersten Mal fragte ich mich verwundert, wie der Klang eines Waldhorns so weit dringen kann.
Das ist nicht die Sorte von Dingen, die mich normalerweise beschäftigen. Ich würde Sie auch gar nicht damit belästigen, wenn es nicht ein Licht auf meinen Gemütszustand würfe. An einem gewöhnlichen Tag hätte ich keinen Gedanken an Hörner verschwendet, ich hätte mich nicht umgedreht, bevor ich den Gipfel erreicht hätte, und ich hätte nicht so lange gebraucht, um die Radspuren wahrzunehmen.
Zwei Spurrillen, jede einen halben Finger tief. Ich sah sie auf dem Rückweg, aber sie waren für mich nur eines von etlichen Dingen, die mir begegneten, eine Aster, Gänse in Keilformation am Himmel – sie waren bunt zusammengewürfelt und nicht streng in verschiedene Abteilungen getrennt, so dass ich sie nur halb zur Kenntnis nahm, statt (wie es für mich typisch ist) zu versuchen, sie in eine Kette von Ursachen und Wirkungen einzuordnen. Daher war ich so überrascht, als ich die Hügelkuppe erklomm und auf dem Platz vor meinem Haus einen Phaeton mit einem Schwarzbraunen im Geschirr vorfand.
Auf dem Bock saß ein junger Artillerist, aber mein Auge, daran gewöhnt, Rangstufen zu unterscheiden, nahm bereits den Mann ins Visier, der an der Kutsche lehnte. Er war in Paradeuniform – herausgeputzt, als wollte er sich malen lassen. Von Kopf bis Fuß mit Gold geschmückt: vergoldete Knöpfe und eine goldene Kordel an seinem Tschako, ein vergoldeter Messinggriff an seinem Säbel. Heller als die Sonne blitzend, so kam er mir vor, und ich fragte mich einen Moment lang, ob er vielleicht eine Kreatur des Waldhorns war. Da war schließlich die Musik gewesen, und jetzt stand da dieser Mann. Etwas in mir – ich kann es sehen – entspannte sich, so wie eine Faust sich löst und ihre einzelnen Teile spürbar werden: Finger, eine Handfläche.
Ich hatte zumindest einen Vorteil: Der Offizier hatte keine Ahnung, dass ich da war. Es schien, als wäre etwas von der trägen Muße des Tages in seine Stimmung eingeflossen. Er lehnte sich an das Pferd, spielte mit den Zügeln, schnippte sie hin und her, im Takt mit dem zuckenden Schweif des Braunen. Seine Augen waren halb geschlossen, der Kopf nickte auf seinem Stiel …
Wir hätten noch eine Weile so weitermachen können – ich beobachtete ihn, er ließ sich beobachten –, wenn wir nicht von einer dritten Partei gestört worden wären. Eine Kuh. Eine große, rötliche Kuh mit sanften Wimpern. Sie kam aus einem Platanenwäldchen, angezogen von einem Flecken Klee, der da wuchs, und diese Kuh näherte sich, ging aber mit seltenem Taktgefühl in einem Bogen um den Phaeton herum – offenbar nahm sie an, dass der junge Offizier einen guten Grund für sein Eindringen haben musste. Dieser wich unwillkürlich einen Schritt zurück, als rechnete er mit einem Angriff, und seine Hand fuhr nervös zum Griff seines Säbels. Ich vermute, es war die Furcht davor, dass Blut fließen könnte (wessen Blut auch immer), was mich schließlich dazu brachte, mich in Bewegung zu setzen, mit humoristisch übertrieben langen Schritten den Hügel hinunter, und dabei rief ich: »Ihr Name ist Hagar!«
Der Offizier fuhr nicht erschrocken herum, dafür war er zu gut ausgebildet, sondern drehte kontrolliert ruckelnd erst den Kopf in meine Richtung und dann auch den Körper.
»Zumindest hört sie darauf«, sagte ich. »Sie kam ein paar Tage nach mir hierher. Sie hat mir nie verraten, wie sie heißt, darum musste ich ihr einen Namen geben.«
Er brachte so etwas wie ein Lächeln zustande. »Sie ist ein schönes Tier, Sir«, sagte er.
»Eine republikanische Kuh. Kommt und geht, wie es ihr gefällt. Keine Verpflichtungen auf beiden Seiten.«
»Nun. Da Sie … da fällt mir ein, wenn …«
»Wenn nur alle weiblichen Wesen so wären, ich weiß.«
Dieser junge Mann war nicht so jung, wie ich zuerst gedacht hatte. Ein paar Jahre jenseits der vierzig bestenfalls, schätzte ich: nur ein Jahrzehnt jünger als ich, und musste immer noch den Laufburschen spielen. Aber dieser Posten war seine einzige sichere Sache. Er verlieh ihm seine gerade straffe Haltung.
»Sie sind Augustus Landor, Sir?«, fragte er.
»Das bin ich.«
»Lieutenant Meadows, zu Ihren Diensten.«
»Angenehm.«
Er räusperte sich, und dann noch einmal. »Sir, ich bin hier, um Ihnen mitzuteilen, dass Superintendent Thayer Sie um ein Gespräch bittet.«
»Worum ginge es bei diesem Gespräch?«, fragte ich.
»Ich bin nicht befugt, darüber Auskunft zu geben, Sir.«
»Nein, natürlich nicht. Hängt es mit meiner früheren beruflichen Tätigkeit zusammen?«
»Ich bin nicht –«
»Aber ich darf doch vielleicht erfahren, wann dieses Gespräch stattfinden soll?«
»Sofort, Sir. Wenn es Ihnen recht ist.«
Ich gebe es zu: Die Schönheit des Tages stand mir nie so deutlich vor Augen wie in diesem Moment. Dieser besondere leichte Schleier in der Luft, ganz ungewöhnlich für Ende Oktober. Der Nebel, der in dünnen Schwaden über tiefer gelegenem Gelände hing. Ein Specht hämmerte eine geheimnisvolle Botschaft in den Stamm eines Ahorns. Bleib hier!
Mit meinem Spazierstock zeigte ich in Richtung der Haustür. »Sind Sie sicher, dass Sie keinen Kaffee trinken möchten, Lieutenant?«
»Nein, danke, Sir.«
»Ich könnte Ihnen auch eine Scheibe Speck braten, wenn Sie eine Kleinigkeit –«
»Nein, ich habe schon gegessen. Danke.«
Ich wandte mich ab. Machte einen Schritt auf das Haus zu.
»Ich bin meiner Gesundheit wegen hierhergezogen, Lieutenant.«
»Wie bitte?«
»Mein Arzt sagte mir, nur so könne ich hoffen, ein einigermaßen hohes Alter zu erreichen: Ich müsse hinauf in die Highlands, weg von der Stadt.«
»Mmm.«
Diese stumpfen braunen Augen. Diese stumpfe weiße Nase.
»Und hier bin ich jetzt«, fuhr ich fort. »Wie die Gesundheit selbst sehe ich aus.«
Er nickte.
»Sind Sie nicht auch der Meinung, Lieutenant, dass die Gesundheit überbewertet wird?«
»Das kann ich nicht beurteilen. Möglicherweise haben Sie recht, Sir.«
»Sind Sie ein Absolvent der Akademie, Lieutenant?«
»Nein, Sir.«
»Oh, dann haben Sie es auf die harte Tour geschafft. Sie haben sich von der Pike auf hochgedient, ja?«
»Ja, genau.«
»Ich war selbst nie auf dem College«, sagte ich. »Wozu sollte noch mehr Schulbildung gut sein, da ich doch keine besondere Neigung und Eignung für den geistlichen Beruf besaß? So dachte mein Vater – so dachten alle Väter damals.«
»Ich verstehe.«
Es ist gut, sich eines klarzumachen: Die Regeln des Verhörs gelten nicht für normale Gespräche. In einer normalen Unterhaltung ist derjenige, der spricht, schwächer als derjenige, der nicht spricht. Aber ich war zu diesem Zeitpunkt nicht stark genug, um mich entsprechend zu verhalten. Also gab ich dem Rad des Phaetons einen Tritt.
»So ein schickes Gefährt«, sagte ich, »um einen einzigen Mann abzuholen.«
»Es war sonst keines verfügbar, Sir. Und wir wussten nicht, ob Sie ein eigenes Pferd haben.«
»Und was ist, wenn ich mich dafür entscheiden sollte, nicht mitzukommen, Lieutenant?«
»Ob Sie mitkommen oder nicht, Mr Landor, das bleibt Ihnen überlassen. Sie sind ein Privatmann, und dies ist ein freies Land.«
Ein freies Land, so sagte er.
Das hier war mein Land. Hagar ein paar Schritte zu meiner Rechten. Die Tür meines Hauses, die noch einen Spalt weit offen stand, so wie ich sie verlassen hatte. Drinnen eine Anzahl neuer Zahlenrätsel, frisch vom Postamt, eine Blechtasse mit kaltem Kaffee, schon ziemlich ramponierte Jalousien und auf eine Schnur gefädelte getrocknete Pfirsiche in der Ecke neben dem Kamin, schließlich ein Straußenei, das mir Jahre zuvor ein Gewürzhändler aus dem vierten Bezirk geschenkt hatte. Und hinter dem Haus mein Pferd, ein alter Rotschimmel, angebunden am Zaun, umgeben von einer Mauer aus Heu. Es hieß Pferd.
»Es ist ein schöner Tag für einen Ausritt«, sagte ich.
»Ja, Sir.«
»Ein Mann wie ich kann nach Herzenslust seine Freizeit genießen.« Ich sah ihn an. »Und Colonel Thayer wartet, das ist auch eine Tatsache. Gilt Colonel Thayer als Tatsache, Lieutenant?«
»Sie könnten Ihr eigenes Pferd nehmen«, sagte er ein wenig verzagt. »Wenn Ihnen das lieber ist.«
»Nein.«
Das Wort hing in der Stille. Wir standen da, das Schweigen zwischen uns. Hagar umkreiste weiter den Phaeton.
»Nein«, sagte ich schließlich noch einmal. »Es macht mir nichts aus, mit Ihnen zu fahren, Lieutenant.«
Ich schaute auf meine Füße. »Um die Wahrheit zu sagen«, sagte ich, »bin ich dankbar für die Gesellschaft.«
Das war es, worauf er gewartet hatte. Klar, er zog auch gleich eine kleine Trittleiter aus dem Fahrzeug, klappte sie herunter und bot mir sogar seinen Arm, um mir beim Einsteigen behilflich zu sein. Einen Arm für den alten Mr Landor! Ich setzte meinen Fuß auf die unterste Sprosse, ich versuchte, mich hochzuwuchten, aber der Morgenspaziergang hatte mich erschöpft, ich knickte ein und fiel gegen die Leiter, plumpste schwerfällig nach vorn, so dass er mich schieben und geradezu in den Phaeton hieven musste. Ich ließ mich auf die harte Holzbank sinken, und er stieg hinter mir hinauf, und ich sagte, um doch wenigstens in einem Punkt Souveränität zu demonstrieren: »Lieutenant, Sie sollten auf dem Rückweg vielleicht die Poststraße nehmen. Der Weg an der Farm von Hoesman vorbei ist zu dieser Jahreszeit etwas holprig für eine Kutsche.«
Es passierte genau das, was ich mir erhofft hatte. Er hielt inne. Neigte den Kopf zur Seite.
»Entschuldigen Sie«, sagte ich. »Ich hätte es erklären sollen. Sie haben vielleicht bemerkt, dass drei sehr große Sonnenblumenblätter im Geschirr Ihres Pferdes eingeklemmt sind. Natürlich hat niemand größere Sonnenblumen als Hoesman – sie springen einen praktisch an, wenn man vorbeifährt. Und der gelbe Fleck an der Seite? Genau der Farbton von Hoesmans Indianermais. Angeblich benutzt er eine besondere Art von Dünger – Hühnerknochen und Forsythienblüten, sagen die Leute hier, aber von einem Holländer erfährt man nie etwas, oder? Übrigens, Lieutenant, lebt Ihre Familie immer noch in Wheeling?«
Er sah mich nicht an. Dass ich ins Schwarze getroffen hatte, erkannte ich nur daran, dass er die Schultern sinken ließ und mit den Fingerknöcheln an die Seitenwand der Kutsche klopfte. Das Pferd schoss den Hügel hinauf, mein Körper fiel nach hinten, und da kam mir in den Sinn, dass ich, wenn keine Lehne da wäre, die mich auffing, einfach nach hinten hinauskippen würde. Ich sah es ganz deutlich vor meinem inneren Auge. Wir erreichten den Kamm des Hügels, und als ich zu meinem Haus hinabsah, erhaschte ich noch einen Blick auf die anmutige Gestalt von Hagar, die nicht länger auf eine Erklärung wartete, sondern bereits forttrottete. Sie sollte niemals zurückkehren.