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Wie viel Freiheit
müssen wir aufgeben,
um frei zu sein?

 

Herausgegeben von

Corinne Michaela Flick

 

 

 

 

 

 

WALLSTEIN        CONVOCO! EDITION

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte

bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

 

 

© Wallstein Verlag, Göttingen 2022

www.wallstein-verlag.de

 

Umschlaggestaltung: Jade Blanchard-McKinley

 

 

ISBN (Print) 978-3-8353-5181-3

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4859-2

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4858-5

Auf die Hefte meiner Schulzeit

Auf mein Pult und an die Bäume

In den Sand in den Schnee

Schreibe ich deinen Namen

 

Auf alle gelesenen Seiten

Auf alle leeren Seiten

Stein Blut Papier oder Asche

Schreibe ich deinen Namen

[...]

Und durch die Macht eines Wortes

Beginne ich mein Leben noch einmal

Ich lebe um dich zu kennen

Um dich zu nennen

 

Freiheit.

 

Paul Éluard, Freiheit (1942)

 

 

Man muss die Freiheit beim Wort nehmen

und dem Wort seine Freiheit geben.

 

Albert Ostermaier (Convoco Forum 2021)

Inhalt

Einführung

Thesen

Clemens Fuest
Ökonomische Folgen von Freiheitsbeschränkungen in der COVID-19-Pandemie

Monika Schnitzer
Wettbewerb als Garant der Freiheit

Timo Meynhardt
Innere Freiheit: Fuchs und Igel

Tim Crane
Redefreiheit und Gedankenfreiheit

Herbert A. Reitsamer
Sind menschliche Freiheit und Autonomie nur eine Illusion?

Stefan Korioth
Autonomie und Schutz – Ambivalenzen der Freiheitsrechte

Hildegard Wortmann
Nachhaltigkeit als Voraussetzung für persönliche und unternehmerische Freiheit

Jörn Leonhard
Freiheit im Spannungsfeld kollektiver Werte: Eine historische Perspektive auf das 19. Jahrhundert

Birke Häcker
Individuelle und gesellschaftliche Dimensionen der Freiheit

Bruno Kahl
Wie viel Freiheit müssen wir aufgeben, um frei zu sein? Sicherheit und Freiheit bedingen einander

Peter Wittig
Gefährdungen der neuen Großmachtrivalität USA–China

Gabriel Felbermayr
Gefährdet der Aufstieg Chinas unsere Freiheit?

Sven Simon
Europas Freiheitsmodell im Systemkonflikt: Belastung und Bewährung

Claudia Wiesner
Freiheit, Gleichheit, Demokratie

Rudolf Mellinghoff
Freiheit und Steuern

Bazon Brock
Freiheit aus dem Pathos der Ordnung: Eine minimalinvasive Autopsie des Liberalismus

Hans Ulrich Obrist mit Martha Jungwirth im Gespräch
Freiheit, Rhythmen und Einschränkung

Philipp Pattberg
Freiheit im Anthropozän

Die Beiträgerinnen und Beiträger

Einführung

Liebe Freundinnen und Freunde von Convoco,

im Convoco-Netzwerk stellten wir im Juli 2021 die Frage: »Hat die Pandemie Ihre Sicht auf die Freiheit verändert?« 73 Prozent der Befragten antworteten mit Ja.[1] Ich habe durch die Pandemie wiedererkannt, wie sehr Freiheit für mich ein zentraler Wert ist. Mir wurde bewusst, wie gerne ich Deutsche und Europäerin bin und in Europa mit seinen offenen Grenzen lebe.

Welche Institutionen garantieren unsere Freiheit?

In Deutschland, wie in den meisten westlichen Ländern, sind die einzelnen Freiheiten in der Verfassung, im Grundgesetz, verankert. Grundrechte sind Abwehrrechte der Einzelnen gegen den Staat. Sie garantieren, dass ich verlässlich ein freiheitliches Leben führen kann. Nach dem Zweiten Weltkrieg wird im Jahr 1948 auf das Prinzip Freiheit gesetzt und damit auf die Tatkraft der Einzelnen. Freiheitliche Selbsthilfe ist der Ausgangspunkt, um das gesellschaftliche Leben wieder in Gang zu bekommen.[2] Zugleich sind Grundrechte der Kern der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, denn »die Demokratie ist die Staatsform der Freiheit. Sie ermöglicht die Selbstbestimmung einer Gesellschaft bei wechselseitiger Anerkennung der Mitglieder als gleichberechtigt«.[3] Die grundrechtlichen Freiheiten gestatten einerseits die Selbstbestimmung durch politische Partizipation – Autonomie –, andererseits garantieren sie die individuelle Selbstverwirklichung.

Nach dem Democracy Index 2020 des Economist gibt es 23 vollwertige Demokratien auf der Welt. Ferner zählt der Index 52 fehlerhafte ( flawed ) Demokratien. Das heißt: Von 167 Ländern können gerade einmal 75 als Demokratien irgendeiner Form angesehen werden.[4] Somit lebt mehr als ein Drittel der Weltbevölkerung in autoritären Regimen, in denen politische sowie kommunikative Freiheit nicht geschützt sind. Die Pandemie hat deutlich gemacht, was es bedeutet, wenn Freiheiten eingeschränkt werden und in welchem Ausmaß Staaten, insbesondere autoritäre Staaten, dazu in der Lage sind – zumal, wenn andere Werte in Gefahr sind. In der Pandemie sind die Gesundheit und das Leben in Gefahr. Um sie zu schützen, wurde in Freiheitsrechte eingegriffen. Denn Freiheit ist ein zentrales Gut, das nur in einem Kontext, einem Sinnzusammenhang erfahrbar ist und in einem Spannungsverhältnis zu anderen Werten steht. Dieser Kontext verändert sich laufend. Wird in Grundrechte durch den Staat eingegriffen, so müssen diese Eingriffe verhältnismäßig sein, denn der Kern der Grundrechte ist unantastbar. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist Ausfluss des Gerechtigkeitsprinzips.

Die Abwägung der einzelnen Werte untereinander fällt im Laufe der Geschichte unterschiedlich aus. Heute merken wir verstärkt, dass sich das gesellschaftliche Bewusstsein für das Beziehungsgefüge, in dem Freiheit möglich ist, wandelt.

Nicht nur während des historischen Verlaufs verändert sich der Blick auf die Freiheit, sondern auch die verschiedenen Kulturkreise schauen anders auf den Begriff. Nehmen wir zum Beispiel China. Die chinesische Regierung würde argumentieren, dass auch China ein freies Land ist, denn die gelebte Freiheit (im Unterschied zur theoretischen Freiheit) ist immer ein Kompromiss, der sich aus der Priorisierung verschiedener Werte ergibt. Nach der chinesischen Auffassung stehen Ordnung und Gemeinwohl in der Wertehierachie über politischem Wettbewerb und individuellen Freiheitsrechten. Eine solche Werteordnung kann man aber nicht unbedingt als spezifisch chinesisch oder orientalisch einordnen. Vielmehr sollte Europa sich die Frage stellen, ob es in Bezug auf Freiheit nicht zu selbstsicher ist. Herausforderungen wie der sich verschärfende Systemkonflikt mit autoritären Staaten bedrohen den westlichen Freiheitsbegriff, und Digitalisierung oder Klimawandel bzw. Pandemie können die Perspektive auf die Freiheit verändern.

Lassen Sie mich noch einmal näher beleuchten, welchen Stellenwert Freiheit für den Menschen hat.

Für den Philosophen Jean-Jacques Rousseau liegt die Freiheit des oder der Einzelnen neben der Wahl zwischen Tun und Unterlassen in der Möglichkeit, neu anfangen zu können – der Neubeginn als Ausdruck und Chance des freiheitlichen Menschen. Darauf bezieht sich im 20. Jahrhundert Hannah Arendt, für die Freiheit im Initiieren, im spontanen Handeln und eben im Anfangenkönnen liegt. Durch diese Fähigkeit, neu zu beginnen und damit sich zu entscheiden, definiert sich der oder die Einzelne. Dabei wird der Mensch durch seinen inneren Dämon geleitet. Dieser Dämon ist ein innerer Kompass, dem der Mensch bei seiner Lebensplanung folgt. In der Philosophie kennt man den Begriff des Dämons seit Sokrates als inneres Telos oder Gesetz. Max Weber schreibt 1922: Wir sollen »an unsere Arbeit gehen und der ›Forderung des Tages‹ gerecht werden – menschlich sowohl wie beruflich. Dies ist aber schlicht und einfach, wenn jeder den Dämon findet und ihm gehorcht, der seines Lebens Fäden hält«.[5] Damit schließt sich der Bogen. Freiheit zu handeln und neu zu beginnen, um seinem Dämon zu folgen und sich als Mensch zu definieren und zu unterscheiden, ist ein Grundprinzip des Menschseins. Aber natürlich ändert sich der Stellenwert von Freiheit in der Hierarchie der Werte im Verlauf der Geschichte. In der Literatur spiegelt sich der Wandel des Freiheitsverständnisses über die Jahrhunderte deutlich.

Goethes Freiheitsbegriff geht in Richtung Aktivität, räumliche Weite und Selbstwirksamkeit. Alles verbildlicht die Figur des Götz von Berlichingen. Sein ganzes Handeln ist von der Maxime geprägt, dass der Mensch frei ist und unabhängig bleiben muss. Götz’ letzte Worte im Gefängnis sind »Freiheit! Freiheit!«.[6] Diese Auffassung hat sich im Laufe der Jahrhunderte gewandelt. Freiheit ist die Freiheit von äußeren Zwängen (negative Freiheit) und die Freiheit zur Selbstverwirklichung (positive Freiheit).

Die Kombination von positiven und negativen Freiheitsrechten gestaltet aus, wie wir heute als Gesellschaft zusammenleben wollen. Denn Freiheit ist keine naturgegebene Sache. Freiheit ergibt sich aus dem Zusammenspiel von Sozialisation und Zwängen. Es braucht Regeln und Gesetze, um Freiheit zu erhalten, dauerhaft zu gewährleisten und zu gestalten. Freiheit und Ordnung gehören zusammen, sie stehen sich nicht gegensätzlich gegenüber. Denn absolute Freiheit hat als Folge Willkür und Schreckensherrschaft und führt letztendlich ins Chaos. Ein Beispiel, das der Denker Bazon Brock gerne anführt, ist der Straßenverkehr. »Nur wenn ich mich, wie hoffentlich alle Verkehrsteilnehmer, strikt an die Verkehrsregeln halte, kann ich mich frei im Verkehr bewegen!«[7] Nur durch Ordnung ist Freiheit möglich. Ordnung ist die Mutter der Freiheit. Fragen, die sich hier ergeben, sind:

 

Solche Fragen sind so alt wie die Idee der Freiheit. Freiheit und Gleichheit – Freiheit und Gerechtigkeit. Begriffspaare, die im Liberalismus eindeutig definiert waren, verschwimmen heute immer mehr. Beobachten wir eine Verschiebung zugunsten von Gleichheit und Gerechtigkeit auf der Werteskala, die zulasten von Freiheit geht und die dazu führt, dass wir Freiheit heute anders begreifen?

Meine Freiheit endet da, wo die Freiheit der anderen beginnt. Die Freiheit einer Generation endet, wo sie beginnt, die nächste Generation zu belasten. Durch den Klimawandel kommt zum ersten Mal eine zeitliche Perspektive in der Ausübung der Freiheitsrechte ins Spiel, denn das freiheitliche Leben in einer gesunden Umwelt ist ein zentraler Wert, den es zu schützen gilt. Es geht um intertemporale Verantwortung,[8] und zwar nicht nur in Bezug auf zukünftige Generationen, sondern auch in Bezug auf schwächere Nationen.

Es lassen sich neue Freiheitsausprägungen beobachten: Freiheit neu gelebt. Isaiah Berlin stellte 1958 fest, dass es eine Welt, in der Menschen sowohl frei als auch gleich sind, nicht geben kann.[9] Man muss die Wahl treffen. Die Realisierung des einen bedeutet zwangsläufig eine Beschränkung des anderen. Die Allensbach-Umfragen zeigen, dass die Priorisierung von Freiheit oder Gleichheit unter der deutschen Bevölkerung dauernd im Wandel ist. Zur Wiedervereinigung 1990 dominierte die Freiheit mit 60 Prozent. Die Freiheit verlor dann an Wert, sodass sich 1997 eine knappe Mehrheit für die Gleichheit aussprach.[10] In den folgenden Jahren bis 2017 wurde der Freiheit wieder der Vorzug gegeben. Doch auch hier gab es Ausnahmen: 2006 stimmten 50 Prozent für Gleichheit und nur 41 Prozent für die Freiheit. 2016 war das Ergebnis 50 Prozent zu 50 Prozent, 2017 lag die Freiheit wieder um 10 Prozent in Führung.[11]

Die Wahl wird grundsätzlich für jeden anders ausfallen, und das führt zum Begriff des Pluralismus. Der Pluralismus der Werte ist für den politischen Philosophen und Ideengeschichtler Isaiah Berlin das Herz des Liberalismus. Doch Berlin erinnert uns auch daran, dass die Freiheit immer einen besonderen Stellenwert einnehmen muss. Denn nur Freiheit ermöglicht den Menschen, andere Werte zu verwirklichen und die eigene Anerkennung zu erreichen.

Der Pluralismus beschreibt in der Praxis nicht eine Gesellschaft von Individuen, sondern von Gruppen. Für jede Gruppe ist es wichtig, anerkannt zu werden. Isaiah Berlin spricht von »Recognition«, also von Gruppenzugehörigkeit und davon, als Gruppe anerkannt zu werden.[12]

Auf diesem Weg befindet sich unsere Gesellschaft, wenn man zum Beispiel an die LGBTQ-Community denkt oder auch an die gesellschaftliche Öffnung gegenüber Personen, die nicht »weiß und männlich« sind. Immer stärker stehen die einzelnen Gruppen gleichberechtigt nebeneinander. Der Begriff der Gleichfreiheit kommt hier ins Spiel. Freiheit und Gleichheit werden zunehmend als zwei Seiten ein und derselben Medaille gesehen. Für den französischen Philosophen Étienne Balibar haben Freiheit und Gleichheit dieselben Bedingungen: Beide Werte sind »Ausdrucksformen des gemeinschaftlichen Daseins der Menschen und der Institutionen« und setzen einander voraus.[13] Es bedarf der Balance von Gemeinschaftlichkeit (Gleichheit) und Individualität (Freiheit). Die verstärkte Diversität ermöglicht größere persönliche Entfaltung und somit eine Erweiterung der Freiheit. Damit einher geht aber auch eine erhöhte Anforderung an die Einzelnen, sich anerkennend und tolerant zu verhalten – d. h. auch, sich unter Umständen zu beschränken. So ergibt sich ein Spannungsfeld zwischen Freiheitsgewinn und Zunahme von Rücksichtnahme bzw. ein Sich-Zurücknehmen zugunsten des Gemeinwohls. Das betrifft nicht nur das gesellschaftliche Zusammenleben mit anderen Menschen, sondern auch unsere Beziehung zu anderen Lebewesen und der Natur. Dahinter steht ein neues Verständnis des Menschseins: der Mensch, der sich nicht mehr als die Krone der Schöpfung versteht, sondern als ein Teil dieser, und der nur im Miteinander von Menschen, Tieren und Pflanzen freiheitlich leben kann und will.

Ein Perspektiven- und Paradigmenwechsel ist also notwendig. Und falls wir Glück haben, ist dieser auch bereits zu beobachten. In ihrem Buch Les Lumières à l’âge du vivant spricht die französische Philosophin Corine Pelluchon von einem New Enlightenment – einer neuen Zeit der Aufklärung.[14] Im Convoco-Podcast sagt sie: »Eine neue Aufklärung verlangt tiefgreifende Veränderungen unseres Selbstverständnisses und unseres Zusammenlebens. Ich sehe bereits die Vorboten eines solchen Zeitalters. Viele Menschen sorgen sich um die Tiere und das Interesse an Ökologie wächst, vor allem unter den Jüngeren. Diese Entwicklung könnte die ökologische Wende in eine emanzipatorische Bewegung verwandeln.«[15] Es geht um eine Einsicht, die durch Wertschätzung des Anderen getragen ist. Freiheit in diesem Jahrhundert bedeutet eine verstärkte Anerkennung des Individuellen bei gleichzeitig größerer Rücksichtnahme. Freiheit nicht als Egoismus gelebt, sondern als Kombination von Wertschätzung, Rücksichtnahme und Selbstbegrenzung durch Einsicht. Wir brauchen eine langfristige Perspektive, um mit den heutigen Herausforderungen umzugehen. Ziel muss ein Leben in einer gesunden Welt sein. Um dieses Ziel zu erreichen, gilt es, auf kurzfristige freiheitliche Lustgewinne zu verzichten.

Das sind die Überlegungen, warum wir uns dem Thema Freiheit widmen und weshalb wir ein anscheinendes Paradox als Titel gewählt haben: Wie viel Freiheit müssen wir aufgeben, um frei zu sein? Es ist uns allen bewusst, dass wir unser Verhalten ändern müssen. Aber liegt darin wirklich ein Verlust von Freiheit, wenn wir dafür ein größeres Gut erhalten?

 

Corinne Michaela Flick, im Januar 2022

Anmerkungen

1      CONVOCO!, Umfrage zum Thema Freiheit, 25. 7. 2021, https://www.convoco.co.uk/convoco-umfrage-zum-thema-freiheit, abgerufen am 22. 12. 2021.

2      Paul Kirchhof, Freiheit in der Krise, in: Staatsfinanzierung und Wirtschaftsfinanzierung am Scheideweg, hg. von Corinne M. Flick, München 2010, S. 161-162.

3      Stefan Korioth, Autonomie und Schutz – Ambivalenzen der Freiheitsrechte, in diesem Band, S. 109.

4      Economist Intelligence Unit, Democracy Index 2020: In sickness and in health?, EIU 2021, S. 3.

5      Max Weber, Wissenschaft als Beruf, S. 511, https://www.molnut.uni-kiel.de/pdfs/neues/2017/Max_Weber.pdf, abgerufen am 6. 1. 2022.

6      Johann Wolfgang Goethe, Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand. Ein Schauspiel, Stuttgart 2002, S. 119 (V. 12/13).

7      Bazon Brock, Freiheit – Das Pathos der Ordnungen, Januar 1990 (Zeitungsartikel).

8      Mit Verweis auf »intertemporale Freiheitssicherung« erklärte das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss am 24. März 2021 Teile des Bundes-Klimaschutzgesetzes für verfassungswidrig, da ein Großteil nötiger Emissionsminderungen zulasten künftiger Generationen in die Zukunft verschoben wurde: »Als intertemporale Freiheitssicherung schützen die Grundrechte die Beschwerdeführenden hier vor einer umfassenden Freiheitsgefährdung durch einseitige Verlagerung der durch Art. 20a GG aufgegebenen Treibhausgasminderungslast in die Zukunft.« Bundesverfassungsgericht, Pressemitteilung Nr. 31/2021, 29. 4. 2021, https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2021/bvg21-031.html, abgerufen am 4. 11. 2021.

9      »The world that we encounter in ordinary experience is one in which we are faced with choices between ends equally ultimate, and claims equally absolute, the realization of some of which must inevitable involve the sacrifice of others.« Isaiah Berlin, Two Concepts of Liberty, in: Four Essays on Liberty, hg. von Isaiah Berlin, Oxford 1969, S. 28.

10    Institut für Demoskopie Allensbach, Der Wert der Freiheit, Oktober / November 2003, S. 57.

11    John Stuart Mill Institut und Institut für Demoskopie Allensbach, Ergebnisdossier Freiheitsindex 2017, Wie halten es die Deutschen mit der Freheit? Schwerpunkt »Populistische Herausforderungen der Demokratie«, 2017, S. 14.

12    Berlin (Anm. 9), S. 21-25.

13    Étienne Balibar, Die Proposition Égaliberté (»Gleichfreiheit«), in: Trivium 3, 2009, https://journals.openedition.org/trivium/3337, https://www.convoco.co.uk/podcast/51-corine-pelluchon-why-we-have-to-overcome-the-dualism-between-nature-and-culture-2/ abgerufen am 6. 1. 2022.

14    Corine Pelluchon, Les Lumières à l’âge du vivant, Paris 2021.

15    Corine Pelluchon und Corinne Flick, Why we have to overcome the dualism between nature and culture, CONVOCO! Podcast (51), August 2021, https://www.convoco.co.uk/podcast/51-corine-pelluchon-why-we-have-to-overcome-the-dualism-between-nature-and-culture-2/ abgerufen am 13. 10. 2021.

Thesen

In einer Welt voller Widersprüche und Konflikte kommt es mehr auf die in der Selbstreflexion eroberte innere Freiheit als auf abstrakte Freiheitsbekundungen an. Der Weg zu mehr äußerer Freiheit führt über eine größere innere Freiheit.

Timo Meynhardt

 

Repräsentative Demokratie muss Freiheit und Gleichheit gleichwertig und aufeinander bezogen verbinden. Die Selbstregierung des demokratischen Souveräns basiert auf diesen beiden Prinzipien, die durch Institutionen, Prozesse und Rechte umgesetzt werden. Freiheit und Gleichheit bedingen und beschränken sich dabei gegenseitig.

Claudia Wiesner

 

In einem Land, in dem ein gefährliches Virus grassiert, kann die Wirtschaft nicht florieren. Deshalb ist wirksame Pandemiebekämpfung mit Voraussetzung für eine positive wirtschaftliche Entwicklung. Es besteht kein Konflikt zwischen dem Schutz der Gesundheit und dem Schutz der Wirtschaft.

Clemens Fuest

 

Freiheit und Sicherheit sind keine Gegensätze, die gegeneinander ausgespielt werden können: Sie bedingen einander.

Bruno Kahl

 

Wer die Alternative Ordnung oder Freiheit postuliert, vernichtet beide, ohne in irgendeiner Hinsicht ein höheres Recht, sei es ein nationalistisches oder ein göttliches, in Kraft zu setzen.

Bazon Brock

 

Das Prinzip des Steuerstaates und die in den Grundrechten geregelten Grenzen einer Besteuerung prägen die freiheitsgerechte Finanzierung des Staates. Sie bilden die Grundlagen für einen freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat, der einerseits soziale Sicherheit und Freiheit durch staatliche Leistungen gewährleistet und gleichzeitig die freiheitliche Ordnung von Arbeit und Kapital sowie das Vermögen in der Hand des Privaten respektiert.

Rudolf Mellinghoff

 

Individuelle Mobilität bedeutet Freiheit, Selbstbestimmung und Unabhängigkeit. Jetzt gilt es, individuelle Mobilität nachhaltig zu gestalten. Es braucht das Zusammenspiel von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, um Lösungen zu entwickeln, die den Menschen die Freiheit geben, nachhaltig zu leben, und die zu einem besseren Leben beitragen. Wenn das gelingt, ist Nachhaltigkeit nicht gleichbedeutend mit Verzicht. Nachhaltigkeit ist das neue Premium.

Hildegard Wortmann

 

Wettbewerb zwingt Unternehmen, um ihre Kundinnen und Kunden zu konkurrieren, mit günstigen Preisen, guten Dienstleistungen, neuen Ideen und besseren Produkten. Wettbewerb erhöht die ökonomische Freiheit der Menschen, indem er ihre Wahlmöglichkeiten erhöht.

Monika Schnitzer

 

Um die Stabilität des Welthandelssystems zu gewährleisten, braucht die EU neue defensive Instrumente. Wichtig dabei ist, das Ziel offener Märkte nicht aus den Augen zu verlieren, sonst kann sich die EU gemeinsam mit ihren Handelspartnern in einem Nullsummenspiel wiederfinden, in dem die wirtschaftlichen Freiheiten auf allen Seiten kleiner werden.

Gabriel Felbermayr

 

Der oulipotische Schriftsteller Harry Mathews sagte mir einmal, dass sich die Freiheit manchmal in Einschränkungen findet: Indem man die Spielregeln ändert, kann man innerhalb dieser Regeln neue Freiheit finden. Die Frage »Auf wie viel Freiheit müssen wir verzichten, um frei zu sein?« bedeutet also, dass wir das, worauf wir verzichten, nicht als Verlust, sondern als Chance zur Gestaltung betrachten können.

Hans Ulrich Obrist

 

Ich will eine offene Sache auf die Leinwand oder das Papier bringen, damit jede Person, die das anschaut – auch ich selbst –, das neu zusammensetzen kann. Also nichts Fixiertes, nichts Eingerahmtes.

Martha Jungwirth

 

Um verschwenderische Lebensstile und Wirtschaftskreisläufe, fossile Brennstoffe und ein mörderisches Nahrungsmittelsystem hinter uns zu lassen, müssen wir ein großes integratives Meta-Narrativ und internationale Solidarität sicherstellen und auf die schweigende Mehrheit der Vernunft abstellen. Freiheit und ein stabiles Klima sind kein Widerspruch.

Philipp Pattberg

 

Die neue Rivalität der Großmächte USA und China ist für Europa die größte Herausforderung der kommenden Jahre. China wird zum Lackmustest auch der transatlantischen Beziehungen. Europäische Äquidistanz zu beiden Großmächten darf keine Option sein. Stattdessen bedarf es einer gemeinsamen China-Agenda von USA und Europäischer Union, die das Verhältnis differenziert: China als Partner, als Konkurrent und (in bestimmten Fällen) als Gegner.

Peter Wittig

 

Um Europas Freiheitsmodell zu verteidigen, müssen die Europäer handlungsfähig werden. Das braucht einen Paradigmenwechsel von der Binnenorientierung zur Weltorientierung und zur Legitimation einen echten Wettbewerb der Meinungen auf europäischer Ebene, eine gemeinsame Öffentlichkeit und eine Fokussierung auf die Themen, in denen die europäische Zusammenarbeit einen konkreten Mehrwert bringt.

Sven Simon

 

Die Erkenntnisse der Neurowissenschaften und der Philosophie können die Gesetze der Physik nicht infrage stellen. Im Rahmen dieser Naturgesetze und der enormen Komplexität unseres Gehirns entstehen dadurch Spielräume und Möglichkeiten, die Voraussetzungen für die Existenz von freien Entscheidungen und letztlich einen freien Willen sind.

Herbert A. Reitsamer

 

Eine Einschränkung der Redefreiheit birgt in sich die Gefahr, auch die Freiheit des Denkens einzuschränken. Ein liberaler Staat kann und darf bestimmte Formen der Meinungsäußerung verbieten, wenn sie tatsächlich Schaden verursachen. Aber der Staat sollte keinen Glauben erzwingen.

Tim Crane

 

Grundrechte schützen Freiheit, also die individuelle Fähigkeit, zwischen verschiedenen Handlungsweisen zu wählen und die Folgen der eigenen Entscheidung zu verantworten. Dabei gibt es zwei Seiten: Die klassische Seite zielt darauf, in der eigenen Entfaltung unbehelligt zu bleiben. Die neue Seite verlangt vom Staat, die Voraussetzungen der Freiheitsentfaltung zu schaffen und zu schützen. Beide Seiten können in Konflikt geraten.

Stefan Korioth

 

Freiheit bedeutet in diesem Jahrhundert eine verstärkte Anerkennung des Individuellen bei gleichzeitig größerer Rücksichtnahme. Freiheit nicht als Egoismus gelebt, sondern als Kombination von Wertschätzung des Anderen und Selbstbegrenzung durch Einsicht. Dabei ist es wichtig, eine langfristige Perspektive einzunehmen.

Corinne Michaela Flick

 

Der Blick auf das 19. Jahrhundert sagt uns nicht allein etwas über die Variationsbreite von Freiheitsbestimmungen. Es verweist vor allem darauf, dass zur Bestimmung der Freiheit schon immer die Polarität und Verflechtung mit anderen Wertbegriffen gehörten – sie waren und sind eine Voraussetzung für die Dynamik von Freiheitsbegriffen, für ihre Hinterfragung, Anpassung und Neubestimmung.

Jörn Leonhard

 

Die Idee der »Freiheit« ist ein wirkmächtiges und zugleich facettenreiches Postulat. Im Mittelpunkt steht das Individuum, jedoch immer in einem größeren gesellschaftlichen Kontext. Um zu verstehen, wie man »Freiheit« erlangen kann, indem man sie aufgibt, gilt es, die »positiven« und »negativen« Begriffe der Freiheit auseinanderzuhalten und ihre individuellen und gesellschaftlichen Dimensionen näher zu betrachten.

Birke Häcker

Clemens Fuest

Ökonomische Folgen von Freiheitsbeschränkungen in der COVID-19-Pandemie

1. Einleitung: Konflikt zwischen Gesundheit, Freiheitsrechten und Wirtschaft?

In der Diskussion über das Management der COVID-19-Pandemie spielen die wirtschaftlichen Folgen der staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Infektionen eine zentrale Rolle. Die wirtschaftlichen Auswirkungen sind eng mit den Folgen für individuelle Freiheiten verbunden. Trotzdem gibt es Unterschiede. Menschen zu verbieten, am Abend für einen Spaziergang das Haus zu verlassen, ein Museum zu besuchen, Freunde zu treffen, ist ein tiefer Eingriff in Freiheitsrechte. Wirtschaftliche Kosten werden damit zumindest in öffentlichen Debatten in der Regel nicht verbunden, obwohl derartige Kosten durchaus entstehen, wie im Folgenden noch erläutert wird.

In öffentlichen Debatten in Deutschland und vielen anderen Ländern wurden staatlich verhängte Kontaktbeschränkungen mit dem Ziel, die Verbreitung des Coronavirus einzudämmen, oft als schwere Belastung der Wirtschaftsentwicklung betrachtet. Es bestehe ein Konflikt zwischen dem Schutz der Gesundheit und dem Schutz der Wirtschaft. Immer wieder wurde gefordert, Kontaktbeschränkungen zu lockern oder gar nicht erst zu verhängen, um wirtschaftliche Schäden abzuwenden. Tatsächlich ist die Vorstellung, der Verzicht auf Kontaktbeschränkungen und das Hinnehmen höherer Infektionszahlen würde dazu beitragen, wirtschaftlichen Schaden zu verhindern, irreführend. Dieser Beitrag erläutert, warum das so ist, und diskutiert darüber hinaus weitere Lehren aus der Krise zu wirtschaftlichen Aspekten des staatlichen Pandemiemanagements.

2. Ökonomische Kosten von Pandemien

In der Geschichte der Menschheit sind Pandemien einschneidende Ereignisse. Die wichtigsten Kosten von Pandemien liegen in den großen Verlusten an menschlichem Leben und der Schädigung der Gesundheit bei vielen Überlebenden.

Aber Pandemien haben auch weitreichende ökonomische Folgen. Pestepidemien, die Europa vor allem im 14. Jahrhundert heimsuchten, haben viele Menschenleben gekostet. In der Folge wurden in vielen Ländern die Arbeitskräfte knapp, die Wirtschaftsleistung ging deutlich zurück.

Die weltweite Grippepandemie, die im Jahr 1918 ausbrach und unfairerweise als »Spanische Grippe« bezeichnet wurde und bis heute wird,[1] tötete in den Jahren 1918 bis 1920 nach Schätzungen 40 Millionen Menschen. Sie hatte gravierende wirtschaftliche Auswirkungen. Die Pandemie verlief in drei Wellen. Sie brach im Frühjahr 1918 aus, vermutlich in Haskell County, Kansas. Das ist eine ländliche Region in den USA, in der sich unglücklicherweise ein großes Ausbildungslager für Soldaten befand. Die Soldaten wurden dort auf ihren Einsatz im Ersten Weltkrieg vorbereitet, vor allem den Einsatz in Europa. Durch die Verschickung der Soldaten verbreitete sich die Grippe zunächst in den USA, dann in den Schützengräben der europäischen Schlachtfelder und letztlich weltweit. Im Zeitraum September 1918 bis Februar 1919 wütete eine zweite und besonders tödliche Infektionswelle. Im weiteren Verlauf des Jahres 1919 folgte eine dritte Infektionswelle.

Die Folgen für die vom Krieg ohnehin gebeutelte Wirtschaft waren verheerend. Eine wirtschaftshistorische Studie kommt zu dem Ergebnis, dass die Wirtschaftsleistung in den betroffenen Ländern um sechs bis acht Prozent einbrach.[2] Da die Pandemie sich zeitlich mit dem Ende des Ersten Weltkriegs überlagerte, ist die Messung der ökonomischen Auswirkungen nicht einfach. Aber dass die Verluste groß waren, ist unbestritten. Interessanterweise sehen wir heute bei den Auswirkungen der Coronapandemie Wachstumsverluste in ähnlichen Größenordnungen, obwohl die wirtschaftlichen Verhältnisse sich in den letzten hundert Jahren stark verändert haben.

In den letzten Jahrzehnten hat es immer wieder lokale Epidemien gegeben, beispielsweise die SARS-Epidemie, die 2003 in China ausbrach. Das SARS-Virus forderte in 37 Ländern 8000 Todesopfer. Damit war die Wirkung nicht vergleichbar mit jener der Grippepandemie nach dem Ersten Weltkrieg oder der Coronapandemie. Entsprechend kleiner waren die wirtschaftlichen Folgen, nach Schätzungen nicht mehr als ein Wachstumsrückgang in China von ungefähr einem Prozent der Wirtschaftsleistung.

Die COVID-19-Pandemie ist noch nicht überwunden, aber dass sie hohe Kosten in Form verlorener Wirtschaftsleistung verursacht hat, ist bereits sichtbar. Vor der Pandemie wurde für Deutschland im Jahr 2020 beispielsweise ein Wirtschaftswachstum von etwas über einem Prozent erwartet, tatsächlich schrumpfte das Bruttoinlandsprodukt krisenbedingt um fünf Prozent. Der Wachstumsverlust, also die Differenz zwischen dem erwarteten Szenario ohne Krise und dem tatsächlich eingetretenen Wachstum beträgt also mehr als sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Länder wie Großbritannien, Frankreich, Spanien und Italien hatten teils zweistellige Wachstumseinbrüche zu verkraften. Damit übertraf die Corona-Rezession weltweit bei Weitem die globale Finanzkrise der Jahre 2008 /2009. Sie brachte die schwerste Wirtschaftskrise seit der traumatischen weltweiten Depression der 1930er-Jahre.[3]

Die wirtschaftlichen Kosten von Pandemien mit den Auswirkungen auf das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts gleichzusetzen, wäre allerdings nicht sachgerecht. Das hat verschiedene Gründe. Erstens gehört der medizinische Aufwand für Medikamente, Masken und die Betreuung von Kranken zu den Kosten der Pandemie. Die Produktion dieser Güter und Gesundheitsleistungen steigert aber das Bruttoinlandsprodukt. Die Kosten bestehen hier darin, dass man die eingesetzten Ressourcen ohne die Pandemie für andere Zwecke hätte verwenden können, beispielsweise die Behandlung anderer Krankheiten, die in der Pandemie oft vernachlässigt wurde.

Zweitens ist im Rückgang des Bruttoinlandsprodukts der Verlust an Schulunterricht und Berufsausbildung nicht erfasst. Hier werden die Kosten in Form verringerter Produktivität infolge verpasster Ausbildung erst künftig sichtbar. Drittens mussten Unternehmen und Beschäftigte in der Pandemie mit erheblichen öffentlichen Mitteln gestützt werden. Das wurde kurzfristig mit höheren Staatsschulden finanziert. Mittelfristig müssen aber höhere Steuern erhoben oder Staatsausgaben gekürzt werden, um die Schulden zu bedienen. Höhere Steuern oder entfallende Staatsausgaben, vor allem sinkende öffentliche Investitionen, können die künftige Wirtschaftsentwicklung beeinträchtigen.

Viertens verursacht die Pandemie Kosten in Form entfallenden Soziallebens, das für die Lebensqualität vieler Menschen von hoher Bedeutung ist, aber nicht als Teil des Bruttoinlandsprodukts erfasst wird. Der Verzicht auf Besuche bei Freunden und Verwandten, auf Vereinsleben und gemeinsame Aktivitäten bedeutet eine hohe Belastung bis hin zur Beeinträchtigung der physischen und psychischen Gesundheit. Man kann hier durchaus auch von Kosten im ökonomischen Sinne sprechen. Um die Höhe dieser Kosten zu messen, müsste man ermitteln, wie hoch die Zahlungsbereitschaft der Betroffenen für einen hypothetischen Wegfall der pandemiebedingten Ansteckungsrisiken wäre. Man würde dabei zweifellos zu sehr hohen Summen kommen.

3. Ökonomische Kosten und Erträge von Maßnahmen zur Eindämmung von Pandemien

Dass die COVID-19-Pandemie neben den gesundheitlichen Schäden hohe wirtschaftliche Kosten verursacht hat und dass diese nicht auf die Produktionsausfälle reduziert werden können, die das Bruttoinlandsprodukt erfasst, dürfte wenig umstritten sein.[4] Umstritten ist dagegen, wie staatlich verordnete Kontaktbeschränkungen zur Eindämmung der Pandemie sich auf die Wirtschaftsentwicklung auswirken. Wie bereits erwähnt wurde, ist die Auffassung verbreitet, es bestehe ein Konflikt zwischen dem Schutz der Gesundheit einerseits und dem Schutz der Wirtschaft andererseits. Auf den ersten Blick erscheint das plausibel. Bei näherem Hinsehen zeigt sich aber, dass diese Idee irreführend ist. Der wichtigste Denkfehler besteht darin, nicht hinreichend zwischen den Wirkungen staatlicher Kontaktbeschränkungen und den Wirkungen der Pandemie selbst zu differenzieren.

Um das zu verdeutlichen, ist es hilfreich, die grundlegenden ökonomischen Wirkungen von Pandemien und staatlichen Kontaktbeschränkungen zu betrachten. Grundsätzlich ist es möglich, dass staatlich verfügte Schließungen wirtschaftlicher Aktivitäten ökonomische Kosten nach sich ziehen. Wenn ein Restaurant, das ohne staatlichen Eingriff voll oder wenigstens gut besucht wäre, nicht öffnen darf, entfällt wirtschaftliche Aktivität, die Wohlstand schafft. Nun ist allerdings zu bedenken, dass Restaurantbesucher:innen, die fürchten müssen, sich mit einem gefährlichen Virus zu infizieren, weniger gerne ins Restaurant gehen und vermutlich eher zu Hause bleiben. Das gilt in der COVID-19-Pandemie vor allem für ältere Menschen, die meistens mehr Geld in Restaurants ausgeben als jüngere Menschen, aber durch das Virus deutlich stärker gefährdet sind. Deshalb kann man nicht davon ausgehen, dass die Restaurants ohne staatliche Kontaktbeschränkungen auch nur annähernd so voll gewesen wären wie vor der Pandemie. Ein Teil der Schäden entsteht also durch die Pandemie selbst, nicht durch staatliche Kontaktbeschränkungen.[5] Wie groß der Anteil des Schadens ist, der durch die Pandemie selbst entsteht, ist eine empirische Frage.

Dazu liegt mittlerweile eine umfangreiche Forschung vor, die sich allerdings hauptsächlich auf die frühere Phase der Pandemie bezieht, im Wesentlichen auf Erfahrungen und Daten aus dem Jahr 2020. Die Vorstellung, man könnte wirtschaftliche Schäden einer gefährlichen Pandemie begrenzen, indem man auf staatlich verordnete Kontaktbeschränkungen verzichtet und hinnimmt, dass der Krankheitserreger sich verbreitet, wird von der vorliegenden empirischen Literatur zu den ökonomischen Wirkungen der Pandemie widerlegt. Dabei geht es vor allem um zwei Aspekte. Erstens verlängert und verschärft eine solche Politik Infektionswellen. Zweitens reagieren Menschen, wie bereits erwähnt, unabhängig von staatlichen Maßnahmen auf die Gefahr, sich zu infizieren, indem sie auf bestimmte Formen des Konsums verzichten. Das gilt vor allem für ältere Menschen mit hohen Einkommen, deren Ausgaben für die Wirtschaftsentwicklung viel Gewicht haben. Das zeigen beispielsweise Studien, die das Konsumverhalten in US-Bundesstaaten mit unterschiedlichen Lockdown-Politiken vergleichen. In US-Bundesstaaten, die Schließungen später verfügt oder die Wirtschaft bei ähnlicher Infektionslage früher geöffnet haben, ist kein signifikant höheres Niveau an sozialem Konsum, also Besuchen in Restaurants, beim Friseur oder bei Veranstaltungen zu beobachten.[6]

Ein Beispiel für eine empirische Untersuchung, die diese Zusammenhänge sehr detailliert dokumentiert, bietet die Studie von Goolsbee und Syverson.[7] Die Studie verwendet Mobilfunkdaten, um zu untersuchen, ob Kundinnen und Kunden in Staaten ohne Lockdown-Maßnahmen häufiger Geschäfte besuchen als in Staaten, in denen diese Besuche teils gar nicht möglich sind, weil viele Geschäfte schließen müssen. Die Autoren analysieren Kundenbesuche in 2,25 Millionen Handels- und Dienstleistungsunternehmen in 110 verschiedenen Sektoren. Dabei werden Kunden verglichen, die jeweils innerhalb derselben Region leben, aber unterschiedlichen Lockdown-Maßnahmen unterliegen, weil die Region durch eine County-Grenze oder eine US-Bundesstaatengrenze geteilt ist. Das Ergebnis ist deutlich: In der Pandemiesituation im Frühjahr 2020 verloren die Geschäfte im Durchschnitt 60 Prozent ihrer Kundschaft, aber staatliche Lockdown-Maßnahmen erklären davon nur sieben Prozentpunkte. Bei gleichem Infektionsgeschehen, aber ohne staatliche Lockdown-Maßnahmen, lag der Rückgang der Wirtschaftsaktivität also bei fast 90 Prozent dessen, der in Regionen mit Lockdown-Maßnahmen beobachtet wurde.

In Europa hat vor allem Schweden in der Frühphase der Pandemie einen Sonderweg verfolgt und zunächst auf Lockdown-Maßnahmen verzichtet. Vergleiche der Arbeitsmarktentwicklung in Schweden und anderen skandinavischen Ländern zeigen, dass der krisenbedingte Rückgang der Beschäftigung in Schweden etwas später kam und etwas weniger hoch ausfiel als in Nachbarländern, die früher Lockdown-Maßnahmen ergriffen haben. Dennoch betrug der Beschäftigungsverlust letztlich rund 80 Prozent des Beschäftigungsverlusts in Ländern mit Lockdown-Maßnahmen.[8] Darüber hinaus hatte Schweden 2020 einen ähnlich hohen Wachstumseinbruch wie die anderen skandinavischen Länder, aber deutlich mehr Todesopfer zu beklagen, sogar rund zehnmal so viele wie Norwegen.

Das Gesamtbild der vorhandenen empirischen Evidenz legt den Schluss nahe, dass mindestens 80 Prozent der Kosten in Form entfallender Wertschöpfung im Bereich des sozialen Konsums durch die Präsenz des Virus und die Ansteckungsgefahr selbst verursacht werden, nicht durch staatliche Lockdown-Maßnahmen.

Hier könnte man einwenden, dass Lockdown-Maßnahmen überflüssig sind, wenn Menschen freiwillig Kontakte vermeiden. Richtig ist, dass staatliche Vorschriften zur Einschränkung sozialer Kontakte häufig weniger bindend sind, als man denken könnte, wenn man vernachlässigt, dass Menschen in einer Pandemiesituation ohnehin Ansteckungsrisiken meiden. Zu fordern, ganz auf staatlich verordnete Kontaktbeschränkungen zu verzichten, würde jedoch zu weit gehen. Es gibt durchaus Gruppen, die nicht bereit sind, soziale Kontakte einzuschränken, und Ansteckungsrisiken in Kauf nehmen. In der COVID-19-Pandemie sind die Gesundheitsrisiken stark mit dem Alter korreliert. Vor allem junge Menschen sind durch die Krankheit weniger gefährdet, deshalb ist die »freiwillige« Vermeidung sozialer Kontakte hier weniger ausgeprägt. Das wäre hinzunehmen, wenn Infektionsrisiken und sonstige Kosten nur für diejenigen entstehen würden, die bewusst riskieren, sich anzustecken. Das ist jedoch nicht der Fall, weil das Virus durch dieses Verhalten verstärkt verbreitet wird.

Aus ökonomischer Perspektive kann man hier ein klassisches Problem externer Effekte sehen. Der Einzelne berücksichtigt bei seinen Entscheidungen das eigene Gesundheitsrisiko, aber nicht die Folgen für andere. Die Folgen bestehen dabei nicht nur darin, dass die Infektionsrisiken für andere steigen, sondern auch darin, dass Menschen, die Risiken eingehen, das solidarisch finanzierte Gesundheitswesen belasten, das in der Pandemie an Kapazitätsgrenzen gerät. Fairerweise ist hier anzumerken, dass es auch andere Bereiche gibt, in denen Risiken individuellen Verhaltens über das Gesundheitswesen auf die Allgemeinheit abgewälzt werden, man denke nur an verletzungsträchtige Freizeitaktivitäten wie das Skifahren. Daraus folgt allerdings nicht, dass derartiges Verhalten eben zu tolerieren sei, sondern eher, dass Maßnahmen wie eine höhere Krankenversicherungsprämie für Skifahrer sinnvoll wären.

Dass staatlich verhängte Beschränkungen sozialer Kontakte Infektionen eindämmen, obwohl sie für viele Menschen nicht bindend sind, ist recht gut dokumentiert. Das hat nicht nur damit zu tun, dass bestimmte Gruppen nicht bereit sind, soziale Kontakte freiwillig einzuschränken. Es gibt Gruppen, die das gar nicht können, beispielsweise Kinder, die der Schulpflicht unterliegen und zur Schule gehen müssen, wenn nicht staatliche Regelungen die Schulpflicht aufheben beziehungsweise dafür sorgen, dass der Unterricht online stattfindet.

Staatliche Maßnahmen, die Infektionen verringern, richten nicht nur geringen wirtschaftlichen Schaden an. Soweit sie Infektionswellen eindämmen und verkürzen und dadurch sozialen Konsum früher wieder ermöglichen, verringern sie sogar wirtschaftliche Kosten der Pandemie. Das gilt allerdings nicht für Politiken, die Einschränkungen bringen, diese aber so gestalten, dass die Infektionen eher konstant bleiben, statt zu sinken. Ein ›Lockdown light‹, der nicht wirklich zu einer Senkung von Infektionszahlen führt, kann hochgradig ineffizient sein.[9] In einem solchen Lockdown ist es möglich, dass eine Verschärfung der Maßnahmen die Wirtschaft nicht belastet, sondern schützt, weil die Dauer der Maßnahmen verkürzt wird.