CHRISTIAN DÖRGE
KANDLBINDER
UND DIE VAMPIRE VON MÜNCHEN
Roman
Edition Bärenklau
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Das Buch
Der Autor
KANDLBINDER UND DIE VAMPIRE VON MÜNCHEN
Prolog
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Epilog
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker.
© Roman 2021 by Christian Dörge.
© Cover: Christian Dörge, 2021.
Lektorat/Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg/Zasu Menil.
© dieser Ausgabe 2021 by Christian Dörge & AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius, und mit dem Apex-Verlag.
Alle Rechte vorbehalten.
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München 1985.
Ludwig 'Jack' Kandlbinder ist Privatdetektiv, und München ist seine Stadt.
Nachts streift er durch Schwabing, durch die Maxvorstadt, durch Nymphenburg – sein Job ist ein schmutziges Spiel im Schatten der Großstadt: untreue Ehemänner, allzu leichtlebige Ehefrauen, kleine Betrügereien und Gaunereien, von Zeit zu Zeit ein Mord, der die Seele kalt und den Schornstein rauchen lässt.
Also nichts, was Jack Kandlbinder den Schlaf rauben würde.
Das ändert sich, als er der ebenso exzentrischen wie attraktiven Laura Zeplichal begegnet – die rothaarige Schönheit ist der Boss eines Syndikats, das buchstäblich über Leichen geht, und Jack gerät tief in einen Strudel aus Mord, Folter und Tod...
Mit Kandlbinder und die Vampire von München startet Christian Dörge eine Roman-Reihe um den Privatdetektiv Jack Kandlbinder, in der die Stadt an der Isar zum Schauplatz packender Noir-Krimis wird.
Christian Dörge, Jahrgang 1969.
Schriftsteller, Dramatiker, Musiker, Theater-Schauspieler und -Regisseur.
Erste Veröffentlichungen 1988 und 1989: Phenomena (Roman), Opera (Texte).
Von 1989 bis 1993 Leiter der Theatergruppe Orphée-Dramatiques und Inszenierung
eigener Werke, u.a. Eine Selbstspiegelung des Poeten (1990), Das Testament des Orpheus (1990), Das Gefängnis (1992) und Hamlet-Monologe (2014).
1988 bis 2018: Diverse Veröffentlichungen in Anthologien und Literatur-Periodika.
Veröffentlichung der Textsammlungen Automatik (1991) sowie Gift und Lichter von Paris (beide 1993).
Seit 1992 erfolgreich als Komponist und Sänger seiner Projekte Syria und Borgia Disco sowie als Spoken Words-Artist im Rahmen zahlreicher Literatur-Vertonungen; Veröffentlichung von über 60 Alben, u.a. Ozymandias Of Egypt (1994), Marrakesh Night Market (1995), Antiphon (1996), A Gift From Culture (1996), Metroland (1999), Slow Night (2003), Sixties Alien Love Story (2010), American Gothic (2011), Flower Mercy Needle Chain (2011), Analog (2010), Apotheosis (2011), Tristana 9212 (2012), On Glass (2014), The Sound Of Snow (2015), American Life (2015), Cyberpunk (2016), Ghost Of A Bad Idea – The Very Best Of Christian Dörge (2017).
Rückkehr zur Literatur im Jahr 2013: Veröffentlichung der Theaterstücke Hamlet-Monologe und Macbeth-Monologe (beide 2015) und von Kopernikus 8818 – Eine Werkausgabe (2019), einer ersten umfangreichen Werkschau seiner experimentelleren Arbeiten.
2021 veröffentlicht Christian Dörge den Giallo-Roman Das rote Trauma sowie die München Krimis um den Privatdetektiv Jack Kandlbinder.
»Ich bin froh, darüber geschrieben zu haben,
wie es in dieser Stadt aussieht. Jetzt bin ich nicht mehr so
beunruhigt, obgleich ich wirklich nicht weiß, warum.«
- Jade Mercier, Sous La Cité Nocturne
Irgendwo in München, Dezember 1984.
Sein Name war Jerome Kozcak, und sein Körper war ein einziger, tiefroter Schmerz.
Kozcak öffnete die Augen. Völlige Dunkelheit. Nahezu absolute Stille; nur das Geräusch seines Atmens.
Der Geruch von Schweiß und von Urin. Der metallische Geschmack von Blut in seinem trockenen Mund. Der Durst... war unerträglich; seine Zunge war geschwollen, die Lippen fühlten sich trocken und rissig an.
Man hatte ihn mit groben Seilen, die tief in sein Fleisch schnitten, auf einen Holzstuhl gefesselt. Keine Aussicht, sich zu befreien.
Jerome Kozcak fror entsetzlich. Die Kälte und die Schmerzen, der Durst und die Ungewissheit brachten ihn schier um den Verstand.
Er hatte jedes Zeitgefühl und die Hoffnung auf ein Ende des Schmerzes verloren.
Das Denken fiel ihm schwer, das Erinnern schien vor ihm zu fliehen. Wie war er hierher gelangt? Wer hatte ihn hierher verschleppt – und aus welchem Grund? Und wo befand sich dieses Hier überhaupt?
Keine Antworten. Keine Abkürzungen zur Wahrheit.
Dann erinnerte er sich an... ja, an einen kalten, schneeverwehten Abend, an eine kalte, schneeverwehte Nacht... auf dem Nachhauseweg in die Occamstraße. Seine Einbildungskraft zeigte ihm das wie aus Marmor geschnittene Gesicht einer Frau, zeigte ihm von Schnee umtanztes rotes Haar... und er vernahm das geflüsterte Echo einer Stimme, weit entfernt, unverständlich. Hatte ihn die Frau nach dem Weg gefragt? Nein... nein, sie hatte ihn um Feuer gebeten. Harmlos, unverbindlich. Keine Bedrohung. Doch dann... entsann sich Kozcak der Kälte, die von der wunderschönen Fremden ausging – eine nicht fassbare Eiseskälte, und irgendetwas ließ sein Herz nun angesichts der Erinnerung schneller schlagen.
Jerome Kozcak weigerte sich, die Abkürzung zur Wahrheit zu nehmen.
Sie hatten ihn nicht geknebelt. Man schien sich seiner sehr sicher zu sein.
Kozcak wollte schreien, doch instinktiv wusste er, dass kein Geräusch diesen dunklen Raum verlassen würde.
Er fragte sich, ob er vielleicht... blind war. Nein. Nein. Es gab schlicht nichts zu sehen außer lichtloses Dunkel. Was mochte jenseits dieser Dunkelheit liegen? Ein schmutziger, verwinkelter Keller irgendwo in einem Abbruchhaus? Eine x-beliebige Industrie-Ruine oder ein einsamer, verlassener Hof auf dem Land? Hatte man ihn hier zum Sterben zurückgelassen?
Merkwürdigerweise kamen ihm in diesem Augenblick Zeilen aus einem Brief, den er schreiben würde, in den Sinn: Ich schrieb Dir so oft. Wo meine Briefe wohl blieben? Ich bin nicht gestorben. Schon morgen würde ich mich auf den Weg zu Dir machen... Bitte schreib' mir, ich habe nur noch Dich. Er dachte an Fiona, an die Frau, die er so sehr liebte, an ihr langes, im Sonnenlicht glänzendes schwarzes Haar...
Kozcak spürte eine Welle hilflosen Zorns. Alles geriet in Unordnung. Die Angst und der Schmerz betäubten die Substanz der Logik.
Dann verlor Jerome Kozcak das Bewusstsein.
*
Als er wieder zu sich kam, hatte sich etwas verändert. Unmerklich fast – und doch real. Ein Geruch. Ein Duft, der das schmutzige Dunkel erträglicher werden ließ. Der makellose Duft von Jasmin und Sandelholz.... Ein Damen-Parfum. Fragmentierte Erinnerungen und abstrakte Ideen, umgesetzt in einem Parfum.
Schlagartig war Jerome Kozcak hellwach. Es gab keinen Zweifel mehr: Er war nicht mehr allein in dem dunklen, kalten Raum.
»Ist da jemand?« Die Frage war kaum mehr als ein heiseres Flüstern. Seine Stimme klang stumpf und fremd; selbst der Hall des Raumes schien sich Kozcaks Stimme zu verweigern.
»Hallo?« Die Frage war flüchtig, und Leben und Tod lagen in ihren ausgestreckten Händen. »Wer sind Sie?«
Als sie sah, dass ich ganz allein war, kam sie auf mich zu, warf sich in meine Arme und küsste mich. Kozcak stöhnte gequält auf.
Plötzlich ertönte ein scharfes Klick!, und die Flamme eines Gasfeuerzeugs zuckte auf. Mit einem stummen Schrei wandte Kozcak sich ab, schloss reflexartig die Augen, denn die Flamme – kaum größer als sein kleiner Finger und mindestens zwei Meter von ihm entfernt – hatte für ihn das Ausmaß und die Helligkeit einer Supernova. So gesellte sich ein neuer Schmerz – wenn auch nur für einen kurzen Moment – zu jenem Schmerz, der Kozcak bereits peinigte, hinzu.
Blinzelnd öffnete er die Augen und wandte den Kopf in die Richtung, in der die Flamme aufgezuckt war. Die Flamme war verschwunden. Stattdessen schwebte ein glühender Lichtpunkt in der Dunkelheit, der sich behutsam, beinahe gleichgültig zu bewegen schien, mal stärker und mal schwächer leuchtend.
Der Duft des Parfums mischte sich mit dem starken Geruch von Zigarettenrauch.
»Bitte«, flehte er, und er spürte, wie Tränen in seine Augen stiegen, »sagen Sie doch was. Irgendwas!« Das letzte Wort hätte er geschrien, doch ihm fehlte die Kraft. Ein amerikanischer Tourist hatte mich mit dem Auto angefahren, als ich noch ein Kind gewesen bin. Kozcak rang keuchend nach Luft.
Ein Mund atmete Rauch aus.
Dann:
»Jerome.« Ein einziges Wort, doch es schien sich im ganzen Raum auszubreiten. Gesprochen von einer Frau – eine betörend schöne Stimme, dabei voller Bitternis, ohne den Klang vieler Jahre voller Musik, Gesang und Lachen. Eine Stimme, die nur deswegen jene ins Dunkel verbannte Einsamkeit zerstreute, weil keine andere Stimme existierte, die Kozcaks Einsamkeit mit ihm hätte teilen können.
»Jerome.« Es folgte etwas wie ein spöttisches Seufzen.
»Wer... wer sind Sie?«
»Habe ich Dir Angst gemacht?« Es folgte eine kurze Pause. »Menschen spazieren auf dem Mond umher, und du kannst ihn nicht einmal sehen, Jerome...«
Kozcak stutzte. Er kannte diese Stimme, er war sich ganz sicher. Es war die Stimme jener rothaarigen Schönheit, die ihn auf dem Heimweg angesprochen hat vor... vor wie vielen Stunden oder wie vielen Tagen eigentlich?
»Wer sind Sie?«, wiederholte er schwach. »Wo bin ich? Warum haben Sie mich hierhergebracht?«
Der Lichtpunkt glühte auf. Ein kurzes Einatmen, ein langes Ausatmen.
»Meinst du, ich wäre hier, um deine Fragen zu beantworten?« Ein seltsam fernes Lachen in der Dunkelheit. »Wo bliebe denn da der Spaß?«
»Spaß?« Jetzt war es Kozcak, der lachte, doch dieses Lachen glich eher einem angestrengten Krächzen.
Schritte. Schritte, die sich näherten. Einmal, zweimal. Das Klack-Klack hoher Absätze. Der Sturm ist vorbei, und der Himmel ist klar. Der Duft von Jasmin und Sandelholz und der Geruch der Zigarette – eine starke, beinahe agressive Marke – wurden intensiver.
»Du bist übrigens nicht der erste Besucher bei mir.« Zwei weitere Schritte. Sie war jetzt ganz nah bei ihm. Wie ein nächtlicher Windhauch beugte sich die Frau zu ihm herunter. Übelkeit stieg in Kozcak auf.
»Ich kann's nicht genau beschreiben«, hauchte sie in sein Ohr. »Sie sind jedes Mal anders... aber das Gefühl scheint das gleiche zu sein, obwohl...« Ein Anflug von Wärme schlich sich in ihre Stimme. »Es ist wirklich unangenehm.«
Die Fremde entfernte sich drei Schritte von ihm. Die Übelkeit blieb – und eine unsichtbare Hand schien gegen Kozcaks Brust zu drücken.
Ihre Worte ergaben kaum einen Sinn für Kozcak. Seine Hände verkrampften sich um die Lehnen des Stuhls, auf dem er so brutal gefesselt saß. »Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen«, resignierte er.
»Was ich will, was ich will...?« Es war beinahe ein Singen. »Ich will, dass du dich erinnerst, Jerome. Das ist alles, was ich von dir will.«
»Erinnern? Aber woran? Kenne ich Sie?« Er konnte fast körperlich fühlen, wie ihre Augen ihn fixierten, wie er entblößt und entmenschlicht vor ihr saß.
»Du kannst immer noch behaupten, du hättest die Gefahr nicht erkannt, dass du nicht begreifen konntest...« Erneut entfernten sich die Schritte. »Dir sollte klar sein: Du kannst mir nicht entkommen.«
Kozcak öffnete den Mund, um zu sprechen, zu fragen. Er unterließ es. Die Frau würde ihr Motiv nicht entschleiern.
Der glühende Punkt fiel zu Boden, kleine Funken flogen handbreit in die Höhe. Ein Damenschuh senkte sich auf die Zigarette und trat sie aus.
»Sie müssen jetzt aufstehen, Jerome.« In den fahlblauen Augen der Frau lag ein wilder, flackernder Ausdruck. Der Wind peitschte den Regen über die Planken. Die Flut schob sich lautlos am Schiffsrumpf empor. Der dunkle Fährmann mit seiner Laterne ruderte vorüber und sang das Lied vom Tod.
In diesem Moment wusste Jerome Kozcak, dass er sterben würde.
München – Schwabing, in der Moltkestraße.
Freitag, 11. Januar 1985, 23.10 Uhr.
Dunkelheit.
Tiefe, sprachlose Finsternis, wie sie nur auf einer Stadt lasten kann, die in Kälte, Eis und Schnee erstarrt. Bis auf das leuchtkäfergleiche Aufblitzen von Autos, die mit verhüllten Scheinwerfern an den verglasten Fensterhöhlen der Schwabinger Häuserfronten vorbeihuschten, war nahezu alles in schwere, bedrückende, durchdringende Düsterkeit getaucht. Eine Ausnahme bildete das diffuse Licht einer Straßenlaterne – ein verschmutztes Echo der 50er Jahre –, unter der ich stand und... wartete.
Zu allem Überfluss hatte es auch noch zu schneien begonnen, und ich gebe zu: Ich hasse den Winter den München, ich kann ihn einfach nicht ausstehen. Alles verwandelt sich in unansehnliches Grau in Grau, die Menschen haben es immerzu eilig, und es ist so kalt, dass Frösteln zum Dauerzustand wird. Wer könnte ausgerechnet daran schon Gefallen finden?
Sie mögen sich zurecht fragen, aus welchem Grund ich mich bei diesem miesen Wetter (und zudem: mitten in der Nacht!) überhaupt draußen herumtrieb, anstatt wie jeder anständige Bürger zuhause vor dem Fernseher zu sitzen oder den Abend in angenehmer Begleitung in einer Kneipe – einer Boazn, wie es in München heißt - zu verbringen. Die Antwort ist einfach: Es ist mein verdammter Job. Und mein Job ist es, völlig Fremden hinterherzuspionieren, in ihr Privatestes einzudringen, kurzum: Licht in ein Dunkel zu bringen, das sich normalerweise nicht allzu gut mit Licht verträgt. Ich bin Privatdetektiv – einer von vielen in München. Ein Schnüffler, wie die Kollegen von der Polizei sagen würden, einer, der sich ungefragt einmischt und ohne Einladung auf Partys aufkreuzt. Das mag interessant klingen, aber ich versichere Ihnen: meist ist es das nicht. Der Job trägt zu viel demi-monde in sich, zu viel Unerfreuliches und Triviales.
Ich beschäftige mich also mit den erbärmlichen Existenzen erbärmlicher Mitmenschen, mit ihren pathetischen Tragödien, mit ihrer Furcht und ihrem tiefen, häufig ungesunden Misstrauen. Mir gefällt oft nicht, was ich zu sehen bekomme, und die meisten Fälle, die ich – erfolgreich oder nicht – abschließe, fügen dem Puzzle des inneren Egal ein weiteres Teil hinzu. Warum ich den Job dennoch mache? Na ja, irgendwer muss es ja tun, könnte ich jetzt behaupten, aber die Wahrheit ist: Es ist das einzige, was ich wirklich gut kann. Meine Vater pflegte stets zu sagen: »Hättest du was G'scheites gelernt...« Natürlich lag er damit goldrichtig (obwohl ihm diese Einsicht meinerseits zwei Meter unter dem Westfriedhof auch keine Genugtuung bringen dürfte), aber mit meinen 38 Jahren fängt man nicht von Jetzt auf Gleich nochmal neu an. Komm schon, es sind die 80er, und man kann froh sein, überhaupt einen Job zu haben, über den man sich beklagen kann! Und ich lasse mich für diesen Job weiß Gott gut bezahlen.
Ich schlug den Kragen meines beige-farbenen Trenchcoats hoch – gewiss: ein Klischee. Der Schnee auf der schmalen Straße hatte sich in grauen Schneematsch verwandelt, das Weiß auf dem Bürgersteig wurde rutschig... und meine schwarz lackierten 44er schienen den Schmutz des Winters geradezu magisch anzuziehen; das machte die Sache keineswegs besser.
Was also trieb mich in dieser Winternacht ausgerechnet in eine spärlich beleuchtete Straße in Schwabing? Des Rätsels Lösung ist ein weiteres Klischee: ein Anruf am Abend – zu einer Uhrzeit, die sich nur Menschen erlauben, denen entweder fad' ist oder die mich in Schwierigkeiten bringen wollen. Hier traf wohl letzteres zu: Der Anruf einer ebenso wortkargen wie geheimnisvollen Frau ohne Namen, die ganz offensichtlich mich mit Phil Marlowe und München mit Los Angeles verwechselte, deutete unzweifelhaft auf Schwierigkeiten hin.
Es war also um kurz nach 20.00 Uhr gewesen, ich hatte mir gerade ein Glas Tagesschau-Jack-Daniel's eingegossen, als nebenan aufdringlich das Telefon klingelte. Nebenan heißt hier: in meinem Büro. Daher lag die Wahrscheinlichkeit nahe: Es ging um den Job – ein Anruf von Judy, Babsi oder von der strengen Johanna, die mir vielleicht die Feierabendstunden versüßen wollten, konnte ich daher ausschließen. Einen Moment lang hatte mich der Gedanke an Johannas runden, weißen Hintern abgelenkt, allein: Das Telefon klingelte unerbittlich weiter.
Also hatte ich mich seufzend erhoben, hatte das Whisky-Glas mit mir genommen und war eine Tür weiter ins Büro geschlurft, wo auf dem dunkelbraunen Schreibtisch neben allerlei Akten, Photos, Kaffeetassen und leeren Camel-Schachteln das Telefon stand und schrillte. Einen Whisky-Schluck später hatte ich den Hörer abgehoben und ein »Ja?« gebrummt.
Am anderen Ende vernahm ich ein kurzes Rauschen, dann fragte die Stimme einer Frau: »Spreche ich mit Jack Kandlbinder?«
Ludwig Kandlbinder, dachte ich, nur meine Freunde nennen mich Jack. Laut ließ ich vernehmen: »Erraten.« Das war exakt die Art von Höflichkeit, zu der ich nach Feierabend im Büro in der Lage war.
»Herr Kandlbinder«, fuhr die Frau fort (ich vermochte ihr Alter nach dem Klang der Stimme erstaunlicherweise nicht abzuschätzen), »ich fürchte, wir haben ein gemeinsames Problem, und das würde ich gern mit Ihnen persönlich erörtern.«
Erörtern? Ich war beeindruckt. »Ein gemeinsames Problem?« Meine Neugier war tatsächlich geweckt. »Könnten Sie das bitte präzisieren?«
»Nicht am Telefon«, erwiderte meine Gesprächspartnerin erwartungsgemäß. »Sie treffen mich um 23.15 Uhr in der Moltkestraße, Ecke Löwithstraße. Ich erwarte, dass Sie pünktlich sind, Jack.«
Ich hatte gerade den linken Zeigefinger gehoben und wollte zu einer Antwort ansetzen, da hatte die Dame bereits aufgelegt.
Ich erwarte, dass Sie pünktlich Jack. Das war fast schon ein wenig unverschämt gewesen. Unhöflich war es mit Sicherheit. Und das gefiel mir ganz und gar nicht.
Ich hatte das Glas abgestellt und war grübelnd zurück ins Wohnzimmer gegangen. Wir haben ein gemeinsames Problem. Das mochte auf vieles zutreffen. Auf einen aktuellen Fall, auf eine verschmähte Ehefrau, deren Seitensprünge ich auftragsgemäß dokumentiert hatte, auf...
Ich würde es nur herausfinden, wenn ich die Behaglichkeit meiner Wohnung mit der Kälte des Münchner Winters eintauschte und mich mit der Dame traf – stets darauf hoffend, dass es sich bei ihr eben nicht um eine rachsüchtige Ehefrau handelte.
Sollte ich den Anruf ignorieren? Nein, das war unmöglich. Ein wesentlicher Antrieb für einen Privatdetektiv ist die Neugier. Und ich hatte heute Abend sowieso nichts Besseres vor.
Ich hatte es nicht weit; die Moltkestraße befand sich gewissermaßen um die Ecke von meinem Büro.
Also ließ ich mir Zeit.
*
Ob ich bewaffnet bin, wollen Sie wissen? Selbstverständlich; ich gehe niemals ohne Waffe auf die Straße: ein .45er Colt Mark IV ist die Pistole meiner Wahl, gepflegt, geölt und in tadellosem Zustand, um unerfreuliche Löcher in unerfreuliche Zeitgenossen zu schießen, sollte es die Situation erfordern. Nun bin ich keineswegs schießwütig; ich bin nur gern vorbereitet. Und das hatte mir schon einige Male buchstäblich den Arsch gerettet.
Wie gesagt, es sind die 80er.
Und selbstverständlich war ich pünktlich. Sogar überpünktlich. Ich schaute auf die Uhr: 23.12 Uhr. Irgendwo ein paar Stockwerke über mir dudelte ein Unverdrossener Do they know it's Christmas?, ein Euphemismus für mein nächtliches Warten und Erwarten.
Ich zündete mir eine Zigarette an und blies den Rauch in die immer dichter fallenden Schneeflocken. Kein Mensch war um diese Zeit und bei dem Wetter in der Moltkestraße unterwegs; auch in der Löwithstraße regte sich rein gar nichts. Alles, was ich sah, war herumwirbelnder Schnee und die rechts von mir geparkten Autos, die mehr und mehr eingeschneit wurden.
Dann – den Blick auf die Uhr konnte ich mir sparen, denn es war fraglos Punkt 23.15 Uhr – erkannte ich nur wenige Meter vor mir auf dem Bürgersteig einen Schatten, der sich mir näherte; der Schnee dämpfte das Geräusch der Schritte nahezu vollkommen.
Ich blinzelte in den Dämmerschein.
Der Schatten trat aus dem Zwielicht hinein in den matten Schein der Straßenlaterne – und der Schatten entpuppte sich als schlanke, hochgewachsene Frau. Sie trug einen schwarzen Nerzmantel mit Kapuze, der ihr bis kurz über die Knie reichte und auffallend gut zu ihren anthrazitfarbenen Seidenstrumpfhosen passte. Die Schneeflocken schmolzen auf der Seide wie im Schein einer Sonne, die niemals erlosch.
Was mich wirklich faszinierte, war ihr wunderschönes, blasses Gesicht – umrahmt von rotem Haar, das wie exakt berechnet trotz der Kapuze sichtbar war. Die Schönheit dieser Frau war im wahrsten Wortsinne makellos; allerdings stand das liebliche und nette Lächeln ihres dunkelrot geschminkten, sinnlichen Mundes in unübersehbarem Kontrast zum Fahlblau ihrer spöttischen Augen. Sie war sich ihrer Attraktivität mehr als bewusst.
Ich hatte den sonderbaren Eindruck, die Frau sei der Mittelpunkt der Nacht, dass die Dunkelheit auf sie zuströmte, als ob schwarzes Wasser endlos in einen Abgrund hinabstrudelte: Ihre Gegenwart schien alles verschwimmen zu lassen.
Eine düstere Märchenlady, beschloss ich dessen ungeachtet. Eine erwachte Schönheit aus einem Schloss im Eis, die das Licht aufsaugt. Für einen kurzen Moment war ich versucht, die strenge Johanna zu vergessen. Aber nur für die Dauer eines wirklich kurzen Moments.
»Einen schönen guten Abend, Jack«, sagte die Fremde, als sie etwa einen Meter vor mir stehenblieb. »Ich freue mich, dass Sie meiner Einladung entsprochen haben.«
Perfektes Hochdeutsch, dachte ich. Vermutlich keine Münchnerin.
Ich nickte knapp. »Sie haben augenscheinlich meine Neugier geweckt. Normalerweise kommen Klienten in mein Büro.«
Sie lachte spitzbübisch auf. »Aber wer sagt Ihnen denn, dass ich eine Klientin bin?«
Ich überging ihre Erheiterung. »Sie werden mir also vermutlich nicht Ihren Namen verraten?«
»Jack – Namen!« Sie verdrehte ironisch die Augen. Dann flüsterte sie: »Du wirst kein Bild erhalten. Nicht von mir.«
Ich stutzte. Fast hätte ich mich jetzt über Do they know it's Christmas? gefreut. Ich räusperte mich. »Also kein Name. Auch gut«, fügte ich schulterzuckend hinzu.
Die Frau schien zufrieden. Vermutlich sah sie mir an, dass ich nicht erneut nachfragen würde.
»Sie erwähnten am Telefon, wir hätten ein gemeinsames Problem?«
Ihre Augen fixierten mich mit glühender Eindringlichkeit. »Das Leben, Jack, ist eine Reise voller Überraschungen. Leider haben Sie die Absicht, mein Leben zu komplizieren.«
Ich hob die Augenbrauen (eine meiner besseren Bogart-Imitationen). »Sie werden verstehen, dass ich mir dessen nicht bewusst bin. Wie kann ich Ihr Leben komplizieren, ohne Ihnen jemals zuvor begegnet zu sein?« Ich nahm einen letzten Zug von der Zigarette und schnippte sie dann betont lässig in den Schnee. »Glauben Sie mir, an Sie würde ich mich bestimmt erinnern.«
»Selbstverständlich würden Sie das.« Und erneut wurde es – merkwürdig. »Ich habe den Traum erschaffen, Jack, und ich kann ihn jederzeit zerstören.«
»Hören Sie...« Ich atmete hörbar aus. »Es ist kurz vor Mitternacht, es ist saukalt, und ich verschwende nur ungern meine Zeit. Sagen Sie mir doch einfach, was Sie von mir wollen. Um diese Zeit... ist mir nicht nach Orakel-Sprüchen zumute.«
Die Frau bewegte sich weitere zehn, fünfzehn Zentimeter auf mich zu. Durch den fallenden Schnee wehte ein Duft nach Jasmin und Sandelholz auf mich zu.
»Ein Mann, der weiß was er will«, konstatierte sie. »Gut, gut.«
»Also?«
Das Lächeln der Frau gefror zu freudlosem Rot. Dann flüsterte sie zwei Worte: »Fiona Kozcak.«
Für einen Moment überkam mich das gleiche mulmige Gefühl, das ich jedes Mal erlebte, wenn mir die Dinge zu entgleiten drohten. Die Welt verdüsterte sich, alle Dunkelheit schien erneut auf einen bestimmten Punkt zuzufließen, doch dieses Mal war dieser Punkt meine Magengegend. Mir wurde ein wenig schwindelig.
Ich trat einen Schritt zurück, und meine Schuhe verursachten ein Geräusch, als würde ein Graphitstift über Papier schaben. Hoffentlich bemerkte die Frau meinen Anflug von Schwäche nicht, aber ich bezweifelte das. Nichts würde ihr entgehen.
»Was spielen Sie für ein Spiel?«, wollte ich wissen.
»Oh, ich spiele nicht, Jack. Wie ich bereits sagte: Sie sind dabei, mein Leben zu komplizieren. Unsere Pfade haben sich in den letzten Wochen mehrfach gekreuzt.« Ihre Stimme nahm einen schadenfrohen Klang an. »Mir ist natürlich bewusst: Sie haben davon nicht die geringste Ahnung.«