Ursula Keller/Natalja Sharandak
Dostojewskij und die Frauen
Mit zahlreichen Abbildungen
Insel Verlag
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eBook Insel Verlag Berlin 2022
Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2022.
Originalausgabe
© Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2022
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Umschlaggestaltung: hißmann, heilmann, hamburg
Umschlagfoto: Amanda Elwell Photography/Arcangel, Malaga
eISBN 978-3-458-76875-3
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»Die Liebe ist so allmächtig, dass sie auch uns selbst verwandelt«, befand Fjodor Dostojewskij. In seinem Leben und in seinem Werk nahmen Liebesbeziehungen einen bedeutenden Platz ein. Die Frauen, die ihm im Laufe seiner Biographie innig verbunden waren, gelten als Prototypen der Frauengestalten in seinen Romanen.
In seinen späteren Jahren wusste Dostojewskij die Damenwelt mit seiner Persönlichkeit zu beeindrucken. Als junger Mann war er schüchtern und gehemmt, einmal fiel er gar in Ohnmacht, als er bei einer Abendgesellschaft einer jungen Dame mit prachtvollen Locken vorgestellt wurde.
Der erste Roman des fünfundzwanzigjährigen Leutnants a. D. und angehenden Schriftstellers, die in der Form eines Briefromans präsentierte anrührende Geschichte einer unerwiderten Liebe des kleinen Beamten Makar Dewuschkin zur jungen Waise Warenka Dobrosselowa, machte Fjodor Dostojewskij 1846 über Nacht berühmt und war sein Entreebillet in die führenden literarischen Salons Sankt Petersburgs. Dort verliebte er sich zum ersten Mal. Doch die vielumschwärmte Schönheit Awdotja Panajewa, eine der wichtigsten Salonièren jener Jahre, war für ihn unerreichbar.
Zu einigen außergewöhnlichen und starken Frauen hatte Dostojewskij eine enge freundschaftliche Beziehung – beispielsweise mit der Frauenrechtlerin Anna Filossofowa und mit Sofja Andrejewna Tolstaja, der Hausherrin eines der führenden Salons in Sankt Petersburg.
Drei Jahre nach seinem gefeierten literarischen Debüt wurde Dostojewskij vom zaristischen Regime zum politischen Schwerverbrecher erklärt. Mit zahlreichen Mitgliedern des Kreises um Michail Butaschewitsch-Petraschewskij, in dem diskutiert wurde, welches der richtige Weg zur Veränderung der sozialen Situation in Russland sei, wurde Dostojewskij 1849 zu vier Jahren Zwangsarbeit in Sibirien und anschließendem Militärdienst als gemeiner Soldat verurteilt.
In Semipalatinsk, einem entlegenen Garnisonsstädtchen in Sibirien, wo er nach seiner Entlassung aus der Katorga im Jahr 1854 als Soldat diente, lernte Dostojewskij mit über dreißig Jahren Maria Dmitrijewna Issajewa kennen. Die hübsche blonde Frau fesselte Dostojewskij mit ihrer lebendigen Art. Sie war einige Jahre jünger als er, gebildet – und verheiratet. Ihr Ehemann, ein kleiner Beamter, sprach dem Alkohol übermäßig zu und die Ehe war unglücklich.
Dostojewskij entbrannte mit aller Leidenschaft der späten ersten Liebe. Sie hingegen fühlte eher Mitleid für den vom Schicksal gebeutelten Menschen.
Nach dem Tod Zar Nikolajs I. im Februar 1855 begann unter der Regentschaft seines Sohns, Zar Alexander II., eine Epoche der Reformen, die die Bedingungen für aufgrund politischer Verbrechen Verurteilte erleichterte. Auch Dostojewskijs Leben nahm eine positive Wendung. Nach seiner Beförderung zum Unteroffizier, durch die er zumindest gewisse Freiheiten wiedererlangte, machte er Maria Issajewa, deren Ehemann im Sommer 1855 verstorben war, einen Heiratsantrag. Sie willigte ein, zog ihr Heiratsversprechen jedoch kurze Zeit später wieder zurück, da sie einen anderen liebe. Dieses schwierige Dreiecksverhältnis, in dem Dostojewskij zunächst seiner Liebe entsagte, um dem Glück Marias mit dem jungen Lehrer Nikolaj Wergunow nicht im Wege zu stehen, verarbeitete der Schriftsteller später in seinem Roman Erniedrigte und Beleidigte (1861). Im Oktober 1856 wurde Dostojewskij zum Fähnrich befördert, was eine Verbesserung der finanziellen Situation bedeutete und ebenso die Hoffnung auf Amnestie. Maria Issajewas Gefühle für Wergunow hatten sich zur selben Zeit merklich abgekühlt, und im Februar 1857 führte Dostojewskij sie schließlich doch zum Traualtar.
Der Ehe war indes kein Glück beschieden. Die finanziell angespannte Situation belastete das Zusammenleben ebenso wie die Tatsache, dass Maria Dmitrijewna aufgrund einer fortschreitenden Tuberkulose keine Kinder bekommen konnte. Und nicht zuletzt war Dostojewskijs erste Ehefrau eine starke Persönlichkeit und nicht bereit, ihr Leben ganz ihm zu widmen. Das schriftstellerische Werk ihres Ehemannes überzeugte Maria Dmitrijewna nicht sonderlich, ihre Vorliebe galt französischen Romanen.
Zehn Jahre nach seiner Verurteilung erhielt Dostojewskij 1859 von Zar Alexander II. die »allergnädigste Zustimmung« zur Niederlassung in Sankt Petersburg und konnte in seine Wahlheimat zurückkehren. Das feuchtkalte Klima der Hauptstadt war dem Gesundheitszustand Maria Dmitrijewnas nicht zuträglich und sie musste die Herbst- und Wintermonate in Moskau oder Wladimir verbringen. Die Ehe bestand mithin nur noch auf dem Papier.
Die Reformen Zar Alexanders II. betrafen auch das Pressewesen. Neue politisch-literarische Zeitschriften entstanden, in denen die aktuellen Themen jener Jahre diskutiert und neue literarische Werke veröffentlicht wurden. Auch Dostojewskij gründete mit seinem Bruder Michail eine Zeitschrift. Die Ankündigung des Journals mit dem Titel Die Zeit (Wremja) wurde zum Manifest seiner Idee von der messianischen Rolle des russischen Volkes, die zunehmend nationalistische Züge annahm. In einigen Artikeln bezog der Schriftsteller Position zur Frauenfrage, die in der Aufbruchstimmung der Reformen Alexanders II. weithin diskutiert wurde. Frauen waren im Russischen Reich nach wie vor politisch und ökonomisch rechtlos. Die bekanntesten Kräfte des demokratischen Lagers traten leidenschaftlich für die Emanzipation der Frau ein, so etwa der Publizist Michail Michailow oder der Schriftsteller Nikolaj Tschernyschewskij. Doch auch das Lager der Gegner, die die Bestimmung der Frau in der Rolle der Ehefrau und Mutter sahen, war groß und einflussreich.
Im Gegensatz zu den Vertretern der demokratischen Position vertrat Dostojewskij die Ansicht, dass die Gleichberechtigung der Frau mit dem Mann nicht allein durch die Veränderung der wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse erreicht werden kann. Er betrachtete sie vielmehr von einem ethischen Standpunkt aus. Die Emanzipation der Frau, so war der Schriftsteller überzeugt, gehe »insgesamt einher mit der christlichen Menschenliebe«, die auch die Frau »zu beanspruchen berechtigt« sei. Wenn sich die Gesellschaft »dem Ideal der Humanität annähert«, werde sich auch die Einstellung der Frau gegenüber entsprechend verändern.
Die sanften und stolzen Frauenfiguren seiner Werke rebellieren gegen die Unterdrückung durch die Gesellschaft. Nastassja Filippowna, die »stolze Schönheit« mit »verletztem Herzen« aus Der Idiot (1868-1869), die als junges Mädchen von ihrem Ziehvater sexuell missbraucht wurde, rächt sich an den Männern für ihre verlorene Unschuld und Erniedrigung, wird aber am Ende doch erneut Opfer eines Mannes, der sie in einem Anfall von Eifersucht ermordet. Auch die sanfte Sonjetschka Marmeladowa aus Schuld und Sühne/Verbrechen und Strafe (1866) begehrt auf gegen die Ungerechtigkeit und Gleichgültigkeit der Gesellschaft, die sie zwingt, sich als Prostituierte zu verdingen, da sie keine andere Arbeit findet, um ihre im Elend lebende Familie zu ernähren. Die tiefreligiöse junge Frau hat keine Angst vor der Verachtung durch die sogenannten »anständigen Bürger«, sondern sieht sich allein Gott gegenüber als »große Sünderin«. Nastassja Filippowna ist zu stolz, das Mitgefühl, das Fürst Myschkin ihr entgegenbringt, anzunehmen. Ihr Tod ist Selbstbestrafung für ihre »Sünde« und damit bewusste Entscheidung. Sonjetschka Marmeladowa indes wird durch ihre aufopferungsvolle Liebe zum Mörder Raskolnikow zu einer anderen, ebenso wie ihre Liebe Raskolnikow zu einem anderen, besseren Menschen macht.
Nach langem Kampf wurden seit Ende der 1860er Jahre in einigen Städten des Russischen Reiches höhere Kurse für junge Frauen eröffnet. Dostojewskij befürwortete das Recht auf höhere Bildung, die »eine neue, erhabene gebildete und moralische Kraft« in die Gesellschaft bringen werde und dazu beitragen könne, die gesellschaftliche Stellung der Frauen zu verbessern. Zugleich jedoch hielt er es für »moralisch falsch«, wenn Frauen ihr erworbenes Wissen verwenden, um »mit der Gesellschaft um irgendwelche neuen Rechte zu kämpfen« und sich »für die Lösung irgendeiner Frauenfrage unserer Zeit« einzusetzen. Das Ziel der Bildung für Frauen müsse es sein, der Gesellschaft »nützlich zu sein«.
Ende der 1860er und Anfang der 1870er Jahre formierte sich der Typus einer gebildeten »neuen Frau«, die sich nicht mit der traditionellen weiblichen Rolle zufriedengeben wollte und nach Unabhängigkeit und Gleichberechtigung strebte, sich jedoch nicht wie die radikalen »Nihilistinnen« in ihrem Äußeren und Auftreten von der traditionellen Auffassung von Weiblichkeit lossagten.
Nastassja Filippownas Gegenspielerin Aglaja Jepantschina aus dem Roman Der Idiot ist eine solche moderne Frau. Sie versucht, aus ihrem »Nest« in Freiheit zu gelangen und der Welt »nützlich zu sein«. Sie liebt Fürst Myschkin, den sie für »den aufrichtigsten und wahrhaftigsten Menschen« hält, und ist bereit, die Frau dieses »Sonderlings« zu werden, da sie die Vorurteile der Gesellschaft überwunden hat. Durch den Bericht im Epilog erfährt man, dass sie schließlich einen polnischen Revolutionär heiratet und ihr Leben seinem Kampf für die Befreiung seiner Heimat verschreibt. Selbstbewusste moderne Frauenfiguren sind auch Katerina Achmakowa aus dem Roman Der Jüngling (1875), eine vorzüglich gebildete Frauenpersönlichkeit, die eine gleichberechtigte Beziehung führen will, und die Kursistin Warwara Snegirewa aus Die Brüder Karamasow (1880), eine ernste und zielstrebige junge Frau, die ihren Lebensunterhalt selbst verdient, indem sie Unterricht gibt.
Im April 1864 starb Dostojewskijs Ehefrau, Maria Dmitrijewna. »Ungeachtet dessen, dass wir miteinander recht unglücklich waren«, erinnerte sich der Schriftsteller später, »konnten wir doch nicht aufhören, einander zu lieben.« Maria Dmitrijewna beschäftigte sein Denken weiterhin und in den Protagonistinnen seiner Werke lässt sich ihr Abbild finden – etwa in der Natascha aus Erniedrigte und Beleidigte, in Katerina Iwanowna aus Schuld und Sühne/Verbrechen und Strafe sowie in der Nastassja Filippowna aus Der Idiot.
Noch zu Lebzeiten Maria Issajewas begann Dostojewskij eine leidenschaftliche Affäre mit Apollinaria Suslowa, seiner »unerquicklichen Muse«. Suslowa war fast zwanzig Jahre jünger als er und eine typische Vertreterin der neuen Generation von Frauen. Sie war literarisch ambitioniert und schrieb einige Erzählungen, die in der von Dostojewskij und seinem Bruder Michail herausgegebenen Zeitschrift Die Zeit erschienen. Die Beziehung war für beide qualvoll und wurde durch Dostojewskijs Spielsucht, die in jenen Jahren begann, zusätzlich belastet. Suslowa war nicht bereit, sich auf die ihr von ihm zugewiesene Rolle als Frau und Geliebte reduzieren zu lassen, was zu ständigen Konflikten führte. Trotz zweier Heiratsanträge des Schriftstellers ging die Beziehung 1865 schließlich unter gegenseitigen Vorwürfen unversöhnlich auseinander.
Dostojewskij war folglich auf Freiersfüßen und hoffte darauf, »ein Herz zu finden«, das seine Liebe beantwortete. Einige Zeit war er von der jungen Abenteurerin Marfa Brown fasziniert, die mit sechzehn von zu Hause ausgerissen war und ohne jegliche finanziellen Mittel auf der »Jagd nach Eindrücken« Europa bereist hatte. Dann begeisterte er sich für Anna Korwin-Krukowskaja, die Schwester von Sofja Kowalewskaja, die 1884 als weltweit erste Professorin für Mathematik an die Universität Stockholm berufen wurde. Wie Apollinaria Suslowa war Anna Korwin-Krukowskaja eine emanzipierte junge Dame mit literarischen Ambitionen. Der Schriftsteller war angetan von ihrer Schönheit und ihrem Verstand, doch sie spürte schon bald, dass er nicht bereit war, ihr jene Freiheiten zu geben, die sie verlangte. »Er braucht eine ganz andere Frau als mich«, erklärte sie der Schwester, nachdem sie seinen Heiratsantrag abgelehnt hatte. »Seine Ehefrau muss sich ihm ganz und gar widmen.«
Die wohl wichtigste Frau im Leben Dostojewskijs war seine zweite Ehefrau, Anna Dostojewskaja. Im Gegensatz zu Anna Korwin-Krukowskaja war sie bereit, sich dem Schriftsteller und Menschen Dostojewskij ganz zu verschreiben, zugleich jedoch vermochte sie es, ihre geistige Unabhängigkeit zu bewahren. Auch Dostojewskaja war geprägt von den emanzipatorischen Ideen ihrer Zeit. Sie gehörte zur ersten Frauengeneration in Russland, die eine systematische Gymnasialausbildung genossen hatte. Nach dem Schulabschluss hatte sie, um ihr »eigenes Brot zu verdienen« und »durch die eigene Arbeit« materielle Unabhängigkeit zu erlangen, einen Beruf erlernt und war die beste Schülerin des Stenographie-Theoretikers Pawel Olchin.
Nach dem plötzlichen Tod seines Bruders Michail im Juli 1864 und der Einstellung der gemeinsam herausgegebenen Zeitschrift war Dostojewskijs finanzielle Lage desaströs. Er hatte einen Berg Schulden geerbt und sah keine andere Möglichkeit, als einen Vertrag über die Veröffentlichung einer dreibändigen Gesamtausgabe zu schließen, um wenigstens den drängendsten Teil davon zu begleichen. Diese sollte einen bisher unveröffentlichten Roman beinhalten, den Dostojewskij bis zu einer bestimmten Frist vorzulegen hatte. Als der Abgabetermin näher rückte, unterbrach Dostojewskij die Arbeit an seinem ersten großen Roman, Schuld und Sühne/Verbrechen und Strafe, und schrieb mit Unterstützung der jungen Stenographin Anna Snitkina im Oktober 1866 den Roman Der Spieler in weniger als einem Monat nieder. Schon vier Monate später wurde Anna im Februar 1867 Dostojewskijs zweite Ehefrau.
Kurze Zeit darauf trat das Ehepaar eine Reise nach Westeuropa an. Sie flohen vor den zahlreichen Gläubigern, die auf Rückzahlung der Schulden drängten. Doch im Ausland lauerte eine womöglich noch größere Gefahr – die Spieltische in den Casinos, deren Glücksverheißungen Dostojewskij immer wieder erlag. Die Spielsucht ihres Ehemannes bekam Anna Dostojewskaja buchstäblich am eigenen Leibe zu spüren. Er versetzte oft das gesamte Geld, und das neuvermählte Paar lebte unter misslichsten Bedingungen. Dostojewskij verpfändete die Kleidung seiner Ehefrau und alle Wertsachen – bis auf die Trauringe. Mit Hilfe der selbstlosen Unterstützung Anna Dostojewskajas gelang es dem Schriftsteller schließlich, seine Spielsucht zu besiegen. »Das ganze Leben lang werde ich mich daran erinnern und jedes Mal Dich, meinen Engel, segnen«, schreibt er ihr dankbar.
Drei Monate sollte die Reise dauern, doch erst 1871 kehrten die Dostojewskijs nach Russland zurück. Während des Aufenthalts entstanden wichtige Werke wie Der Idiot (1868-69) sowie erste Kapitel des Romans Die Dämonen/Böse Geister (1871-72), zwei Töchter erblickten das Licht der Welt, die erste starb kurz nach der Geburt.
Nach der Rückkehr ins heimatliche Russland begann die wohl glücklichste Zeit in Dostojewskijs Leben. Anna umgab ihn mit häuslicher Geborgenheit, die er für sein Schaffen brauchte, sie übernahm die Finanzen, verhandelte mit den Gläubigern und stellte sich und ihr Leben in den Dienst des Schriftstellers. Sie stenographierte seine Romane und übertrug dann in ihrer gut lesbaren, fast kalligraphischen Handschrift die Manuskripte, die Dostojewskij nochmals durchsah. Sie las die Druckfahnen Korrektur, übernahm ab 1873 eigenständig die Herausgabe von Dostojewskijs Werkausgaben und wurde so zur ersten russischen Verlegerin.
In der Aufgabe als Stenographin, Korrektorin und Verlegerin ihres Ehemannes sah Anna Dostojewskaja ihre Berufung. Sie war unmittelbar am Entstehen seiner vier großen philosophischen Romane beteiligt und deren erste Kritikerin. »Anna ist wahre Helferin und Trösterin für mich«, bekannte der Schriftsteller. Und ihr, seiner »wahren Helferin« widmete Dostojewskij dann auch seinen letzten Roman, Die Brüder Karamasow (1880), der sein Vermächtnis wurde.
Nach seinem unerwarteten Tod am 28. Januar/9. Februar 1881 stellte seine Witwe ihr Leben weiterhin in den Dienst seines literarischen Schaffens und gab als Verlegerin seine Werke heraus. In ihren letzten Lebensjahren schrieb sie ihre Erinnerungen nieder, deren Veröffentlichung im Jahr 1925 ein großer Erfolg war und die in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden.
Auf Grundlage von Erinnerungen, Briefen, Tagebüchern und neuen biographischen Forschungen beleuchtet die vorliegende Schriftstellerbiographie, wie unterschiedliche Frauen Dostojewskijs Leben, seine Ansichten und die weiblichen Figuren in seinen Werken beeinflusst haben.
Bei einem Besuch Anfang Oktober 1866 trifft der Literat Alexander Miljukow seinen Freund Fjodor Dostojewskij in bedrückter Stimmung an. Ein Jahr zuvor hatte sich der Schriftsteller gezwungen gesehen, einen Knebelvertrag mit dem für sein unlauteres Geschäftsgebaren bekannten Verleger Fjodor Stellowskij abzuschließen. In die Enge getrieben von den unablässigen Forderungen seiner zahlreichen Gläubiger, die dem säumigen Schuldner mit Pfändung seines Besitzes und Gefängnis drohten, hatte Dostojewskij, immerhin einer der bekanntesten Schriftsteller seiner Zeit, für 3000 Rubel die Rechte an all seinen bisher erschienenen Werken für eine dreibändige Gesamtausgabe an den Verleger abgetreten. Darüber hinaus hatte er sich verpflichtet, bis zum 1. November 1866 einen neuen Roman im Umfang von mindestens zehn Druckbogen, also knapp 200 Seiten, vorzulegen. Für den Fall, dass er diese Frist nicht einhalte, fielen, so war vertraglich vereinbart, die Rechte an sämtlichen Werken des Schriftstellers für die Dauer von neun Jahren an Stellowskij. Bis zu diesem folgenschweren Tag bleibt gerade einmal ein Monat.
»Haben Sie denn schon viel von diesem neuen Roman geschrieben?«, erkundigt sich Miljukow. Dostojewskij winkt erregt ab. »Nicht eine Zeile«, erwidert er deprimiert. »Dann diktieren Sie den Roman jemandem, der Stenographie beherrscht«, empfiehlt Miljukow. »Ich glaube, in einem Monat wäre es so zu schaffen, den Roman fertigzustellen.« Und er verspricht, ihm einen Stenographen zu vermitteln.
26 Tage vor Ablauf der im Vertrag genannten Frist klingelt am 4. Oktober 1866 kurz vor zwölf Uhr am Mittag eine bescheiden gekleidete junge Dame am Haus Ecke Malaja Meschtschanskaja Uliza (Kleine Kleinbürgerstraße) und Stoljarnyj Pereulok (Tischlergasse), in dem der Schriftsteller wohnt. Die zwanzigjährige Anna Grigorjewna Snitkina ist eine der besten Schülerinnen der Stenographiekurse von Professor Pawel Olchin. Eine betagte Bedienstete öffnet und führt Anna ins Arbeitszimmer des Schriftstellers, der sie bereits erwartet. »Die Einrichtung des Kabinetts war vollkommen gewöhnlich«, bemerkt sie erstaunt.
Der Hausherr wirkt angegriffen, mürrisch und leicht gereizt. Um die Fähigkeiten seiner jungen Besucherin, deren Namen er immer wieder vergisst, zu prüfen, diktiert er ihr einen Abschnitt aus seinem Roman Schuld und Sühne/Verbrechen und Strafe, der seit einigen Monaten in Fortsetzungen in der Zeitschrift Russischer Bote (Russkij westnik) erscheint, und ist ungehalten, als sie ihn unterbricht, weil er viel zu schnell diktiert. Dann beginnt Dostojewskij zu rauchen und bietet der jungen Frau eine Papirossa an, was diese durchaus als beleidigend empfinden könnte, steht es doch einer jungen Dame aus gutem Hause nicht an, zu rauchen. Auch dies ist eine Art Prüfung, die die zukünftige Mitarbeiterin mit Bravour besteht. Sie rauche nicht und empfinde es als peinlich, Frauen in der Öffentlichkeit rauchen zu sehen, erklärt Anna Grigorjewna. Wie zahlreiche seiner Zeitgenossen blickt der Schriftsteller skeptisch auf junge Frauen, die ihren Lebensunterhalt selbst verdienen, denn es gilt in jenen Jahren für Damen der Gesellschaft als anstößig, einen Beruf auszuüben. Dostojewskij befürchtet, die ihm empfohlene Stenographin sei womöglich eine jener radikal gesinnten »neuen Frauen« der 1860er Jahre, eine »Nihilistin«, wie sie damals genannt werden, die ihrem Streben nach Gleichberechtigung der Geschlechter nicht zuletzt dadurch Ausdruck verleihen, dass sie sich durch ihr Gebaren gegen die vorgegebenen gesellschaftlichen Normen auflehnen. Dass seine junge Besucherin die angebotene Papirossa so entschieden ablehnt, beruhigt ihn.
Da er nicht in der Lage sei, sogleich mit der Arbeit zu beginnen, bittet er seine neue Stenographin, ihn um acht Uhr am Abend noch einmal aufzusuchen. Als Zeichen der Gewogenheit macht er ihr zum Abschied ein scherzhaftes Kompliment:
»Ich bin froh, dass Olchin mir eine junge Frau und keinen jungen Mann geschickt hat. Und wissen Sie auch, warum?«
»Nein, warum?«
»Nun, ein Mann hätte sicher früher oder später angefangen zu trinken, aber Sie werden das doch sicher nicht tun, hoffe ich?«
»Sie können sicher sein, dass ich ganz bestimmt nicht zu trinken anfangen werde«, antwortete die zukünftige Mitarbeiterin, die ihr Lachen kaum unterdrücken kann.
Als sie am Abend wieder die Stufen im heruntergekommenen Treppenhaus zu der Wohnung des Schriftstellers im zweiten Stock hinaufsteigt, ist Anna Snitkina nicht sicher, ob dieser befremdlich wirkende Mensch ihr nicht vielleicht mitteilen würde, dass er ihre Assistenz nun doch nicht benötige. Aber sie findet den Hausherrn verändert vor. Er ist umgänglicher als zuvor und erzählt ihr aus seinem Leben »mit solchen Einzelheiten, derart aufrichtig und vertraut«, dass Anna erstaunt ist. Am selben Abend beginnen sie mit der Arbeit.
Die Stenographin tritt in einer Zeit des Umbruchs in Dostojewskijs Leben. Mit Mitte vierzig will er es endlich in geordnete Bahnen bringen und nicht mehr »unter der Knute« der ständigen Geldnot arbeiten. Die gesamten ersten Tage ihrer Zusammenarbeit erzählt Dostojewskij aus seinem Leben und zieht Bilanz. Er beginnt, was seine junge Mitarbeiterin besonders erstaunt, mit dem schwärzesten Augenblick seiner Biographie, nämlich mit der Verurteilung zum Tode gemeinsam mit anderen Mitgliedern des sozialistisch gesinnten Kreises um Michail Petraschewskij. Am 22. Dezember 1849 sollte die Hinrichtung vollzogen werden, die sich als eine von Zar Nikolaj I. inszenierte grausame Farce erwies.
Weder Dostojewskij noch Anna Snitkina ahnen an jenem Tag, dass diese Begegnung ihrer beider Schicksal bestimmen wird. Dem von Geldsorgen geplagten Schriftsteller steht der Sinn nicht nach zärtlichen Gefühlen, und die junge, befangene Stenographin ist einzig daran interessiert, einen guten Eindruck bei ihrem Arbeitgeber zu hinterlassen, »um den großen Schritt von der Schülerin oder Kursistin zur selbständigen Frau in der von mir gewählten Tätigkeit zu machen«.