Buch

Jahrelang hat Emilie de la Martinières darum gekämpft, sich eine bürgerliche Existenz jenseits ihrer aristokratischen Wurzeln aufzubauen, ein Leben, das nicht von ihrer glamourösen, aber unnahbaren Mutter Valérie bestimmt wird. Doch als Valérie stirbt, lastet das Erbe ihrer Herkunft allein auf Emilies Schultern. Sie kehrt zurück an den Ort ihrer Kindheit, das herrschaftliche Château de la Martinières. Als letzter Spross der Familie ist Emilie Alleinerbin nicht nur dieses Landsitzes in der Provence, der die Gemäldesammlung und beeindruckende Bibliothek ihres vor Jahren verstorbenen Vaters beherbergt, sondern auch der umliegenden Weinberge sowie eines Stadthauses in Paris. Eine Bürde der Verantwortung für Emilie, denn das Château ist dringend renovierungsbedürftig und das Anwesen hochverschuldet. Der Zufall spielt Emilie eine Sammlung handschriftlich verfasster Gedichte in die Hände, geschrieben von ihrer Tante Sophia, deren Leben von einem tragischen Geheimnis umschattet war. Fasziniert folgt Emilie Sophias Spur bis zu dem dunkelsten Punkt in der Geschichte ihrer Familie – und zu einer verbotenen Liebe, die die Geschicke der de la Martinières seitdem bestimmt hat. Doch mit der Zeit erkennt Emilie, dass sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen kann und es für sie noch nicht zu spät ist, die Tür zu einer anderen Zukunft aufzustoßen …

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Lucinda Riley

Der
Lavendelgarten

Roman

Aus dem Englischen
von Sonja Hauser

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Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel
»The Light Behind the Window« bei Pan Books,
an imprint of Pan Macmillan,
a divison of Macmillan Publishers Limited, London.

Deutsche Erstveröffentlichung Juni 2013

Copyright © der Originalausgabe 2012

by Lucinda Riley

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Redaktion: Irmgard Perkounigg

CN · Herstellung: Str

Satz: Uhl + Massopust, Aalen


ISBN 978-3-641-09956-5
V011


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Für Olivia

»Was Sie sind, sind Sie durch den Zufall der Geburt;
was ich bin, bin ich durch mich selbst.«

Ludwig van Beethoven

Das Licht hinter dem Fenster

Endlose Nacht;

Finsternis ist meine Welt.

Schwere Last;

Kein Licht, das die Fenster erhellt.

Grauer Tag;

Eine Hand, die sich im Dunkel zu mir streckt.

Sanfte Berührung;

Wärme, die den Raum erweckt.

Dämmerstunden;

Dein Schatten löst sich aus der Nacht.

Geheime Sehnsucht;

Herz, das erwacht.

Endloses Licht;

Finsternis war meine Welt.

Helles Glühen;

Liebe zu dir mich erhellt.

Sophia de la Martinières,
Juli 1943

1

Gassin, Südfrankreich, Frühjahr 1998

Als Emilie spürte, wie der Druck auf ihre Hand nachließ, sah sie ihre Mutter an. Mit Valéries Seele schien auch der Schmerz zu verschwinden, der ihre Züge verzerrt hatte, und Emilie konnte hinter dem ausgezehrten Gesicht die frühere Schönheit ihrer Mutter erkennen.

»Sie hat uns verlassen«, murmelte Philippe, der Arzt.

»Ja.«

Er sprach leise ein Gebet. Emilie kam nicht auf die Idee einzustimmen, sondern betrachtete in morbider Faszination die schlaffe, fahle Haut der Frau, die ihr Leben dreißig Jahre lang beherrscht hatte. Fast wollte Emilie ihre Mutter aufwecken, da sie den Übergang vom Leben zum Tod angesichts der Naturgewalt, die Valérie de la Martinières gewesen war, noch nicht fassen konnte.

Obwohl sie diesen Moment in den vergangenen Wochen oft genug durchgespielt hatte, wusste sie nicht so genau, was sie empfinden sollte. Emilie wandte sich von ihrer toten Mutter ab und schaute hinaus zu den Wolken, die wie Meringues am blauen Himmel hingen. Durch das offene Fenster hörte sie den Gesang einer Lerche, der vom Frühling kündete.

Sie streckte ihre von den langen Nachtwachen steifen Beine, erhob sich und trat ans Fenster. Der frühe Morgen ließ nichts von der Schwere erahnen, die die folgenden Stunden mit sich bringen würden. Die Natur hatte ein frisches Bild gemalt wie bei jeder Morgendämmerung; die weichen provenzalischen Umbra-, Grün- und Azurtöne leiteten sanft den neuen Tag ein. Emilie blickte über die Terrasse und den französischen Garten zu den Weinbergen hinüber, die sich erstreckten, so weit das Auge reichte, ein phantastischer Ausblick, seit Jahrhunderten unverändert. Das Château de la Martinières war in ihrer Kindheit eine Zuflucht für sie gewesen, ein Ort des Friedens und der Sicherheit; seine Ruhe hatte sich unauslöschlich in ihr Gehirn eingebrannt.

Und nun gehörte es ihr – doch ob nach den finanziellen Exzessen ihrer Mutter noch etwas übrig war, um es zu halten, wusste Emilie nicht.

»Mademoiselle Emilie, ich lasse Sie jetzt allein, damit Sie Abschied nehmen können«, riss die Stimme des Arztes sie aus ihren Gedanken. »Ich gehe nach unten, um das Formular auszufüllen. Es tut mir sehr leid«, fügte er hinzu, verbeugte sich kurz und verließ den Raum.

Tut es mir leid …?

Ungebeten schoss der Gedanke Emilie durch den Kopf. Sie kehrte zu ihrem Stuhl zurück, setzte sich und versuchte, Antworten auf die zahlreichen Fragen zu finden, die der Tod ihrer Mutter aufwarf. Sie hätte sich eine klare Lösung gewünscht, gern ihre Emotionen verglichen und gegeneinander aufgerechnet, um zu einem eindeutigen Gefühl zu gelangen, doch das war natürlich nicht möglich. Die Frau, die jetzt so harmlos dalag, hatte sie zu Lebzeiten so oft verunsichert und würde in ihr immer unangenehm widersprüchliche Emotionen erzeugen.

Valérie hatte ihrer Tochter das Leben geschenkt, sie genährt und gekleidet und Emilie ein Dach über dem Kopf gegeben. Sie hatte sie nie geschlagen oder gescholten.

Sie hatte sie einfach nicht wahrgenommen.

Valérie war – Emilie suchte nach dem passenden Wort – desinteressiert gewesen. Was sie als ihre Tochter unsichtbar machte.

Emilie legte ihre Hand auf die ihrer Mutter.

»Du hast mich nicht gesehen, Maman … du hast nicht gesehen …«

Emilie war sich schmerzlich bewusst, dass ihre Mutter sich mit ihrer Geburt widerwillig in die Notwendigkeit gefügt hatte, die Linie der de la Martinières fortzusetzen, was eher der Erfüllung einer Pflicht als der Verwirklichung eines Kinderwunsches entsprach. Als Valérie dann mit einer »Erbin«, nicht mit einem männlichen Stammhalter, konfrontiert gewesen war, hatte sie sich noch weniger für das Kind interessiert. Zu alt, um ein weiteres Mal schwanger zu werden – sie hatte Emilie mit dreiundvierzig zur Welt gebracht –, hatte Valérie ihr Leben als charmante, großzügige und schöne Gastgeberin weitergeführt. Emilies Geburt und spätere Anwesenheit waren für sie etwa so wichtig gewesen wie der Erwerb eines vierten Chihuahua. Wie die Hunde wurde Emilie aus ihrem Zimmer geholt und vor Gästen liebkost, wenn Maman Lust darauf verspürte. Die Hunde hatten wenigstens einander gehabt, dachte Emilie, während sie lange Phasen ihrer Kindheit allein verbringen musste.

Es war auch wenig hilfreich gewesen, dass sie die Züge der de la Martinières und nicht das Zierliche, Blonde der slawischen Vorfahren ihrer Mutter geerbt hatte. Sie war ein pummeliges Kind mit olivfarbener Haut und dichtem mahagonifarbenem Haar gewesen, das alle sechs Wochen zu einem strengen Bob geschnitten wurde, der Pony eine harte Linie über den dunklen Augenbrauen. – Das Erbe ihres Vaters Édouard.

»Wenn ich dich so ansehe, meine Liebe, kann ich es manchmal gar nicht glauben, dass du das Kind bist, das ich geboren habe!«, bemerkte ihre Mutter einmal vor einem Opernbesuch bei einem ihrer seltenen Ausflüge ins Kinderzimmer. »Aber immerhin hast du meine Augen.«

Manchmal hätte sich Emilie gewünscht, ihre tiefblauen Augen aus den Höhlen reißen und durch die schönen haselnussbraunen ihres Vaters ersetzen zu können. Sie fand, dass sie nicht in ihr Gesicht passten, und außerdem sah sie in ihnen jedes Mal, wenn sie in den Spiegel schaute, ihre Mutter.

Emilie hatte oft das Gefühl, ohne jede Eigenschaft zur Welt gekommen zu sein, die ihre Mutter wertschätzen konnte. Bei den Ballettstunden, die sie im Alter von drei Jahren nehmen musste, stellte Emilie fest, dass ihr Körper sich nicht wie verlangt verrenken wollte. Während die anderen kleinen Mädchen wie Schmetterlinge durchs Studio flatterten, mühte sie sich ab, Anmut zu entwickeln. Ihre kleinen, breiten Füße standen gern fest auf dem Erdboden, und jeder Versuch, sie davon zu lösen, ging unweigerlich schief. Klavierstunden hatten sich als genauso aussichtslos erwiesen, und weil sie keinerlei musikalisches Gehör besaß, war auch das Singen zum Scheitern verurteilt.

Ihr Körper brachte die femininen Kleider nicht gut zur Geltung, die sie tragen musste, wenn eine der vielen beliebten Soireen in dem herrlichen Rosengarten hinter dem Pariser Haus stattfand. Von ihrem Platz in einer Ecke aus bewunderte Emilie diese elegante, charmante, schöne Frau, die sich so anmutig und selbstsicher zwischen ihren Gästen bewegte. Bei den zahlreichen sozialen Anlässen im Pariser Haus und im Sommer im Château in Gassin fühlte Emilie sich unwohl und brachte keinen Ton heraus. Leider schien sie die gesellschaftliche Gewandtheit ihrer Mutter auch nicht geerbt zu haben.

Und doch wirkte ihre Kindheit für Außenstehende bestimmt märchenhaft – ein Leben in einem prächtigen Haus in Paris, Tochter einer französischen Adelsfamilie, deren Stammbaum Jahrhunderte zurückreichte und deren Wohlstand auch nach dem Krieg noch intakt war. Von alledem konnten viele andere junge Französinnen nur träumen.

Wenigstens hatte sie ihren geliebten Papa gehabt. Obwohl er sich aufgrund seiner Passion für seine stetig wachsende Sammlung seltener Bücher im Château nicht mehr um sie kümmerte als Maman, schenkte er Emilie die Liebe und Zuneigung, nach der sie sich so sehnte, wenn es ihr gelang, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Papa war bei ihrer Geburt sechzig gewesen und in ihrem vierzehnten Lebensjahr gestorben. Die gemeinsam verbrachte Zeit war kurz gewesen, doch Emilie wusste, dass sie einen Großteil ihrer Persönlichkeit ihm zu verdanken hatte. Édouard war ruhig und nachdenklich und zog seine Bücher und die Stille des Châteaus dem steten Strom von Mamans Gästen und Bekannten vor. Emilie hatte sich oft gefragt, wie zwei so gegensätzliche Charaktere sich überhaupt ineinander verlieben konnten. Aber Édouard, der seine jüngere Frau zu vergöttern schien, betrachtete ihre Schönheit und Beliebtheit in der Pariser Gesellschaft voller Stolz und beklagte sich nie über ihren ausschweifenden Lebensstil, obwohl er selbst bedeutend genügsamer war.

Am Ende des Sommers, wenn es für Valérie und Emilie Zeit wurde, nach Paris zurückzukehren, hatte Emilie ihren Vater oft angebettelt, bleiben zu dürfen.

»Papa, mir gefällt es hier auf dem Land bei dir. Im Ort gibt es eine Schule … Die könnte ich besuchen. Du bist doch sicher einsam, so ganz allein im Château.«

Édouard hatte dann zärtlich ihr Kinn angehoben und den Kopf geschüttelt. »Nein, meine Kleine. So lieb ich dich habe: Du musst zurück nach Paris, für die Schule lernen und eine Dame werden wie deine Mutter.«

»Aber Papa, ich will nicht mit Maman zurück, ich will bei dir bleiben, hier …«

Und dann, als sie dreizehn gewesen war … Emilie blinzelte die Tränen weg, weil es ihr immer noch schwerfiel, an den Moment zu denken, an dem aus dem Desinteresse ihrer Mutter Gleichgültigkeit geworden war. Unter den Folgen hatte sie den Rest ihres Lebens zu leiden.

»Wie konntest du nicht mitbekommen und dir nichts daraus machen, was mit mir passiert ist, Maman? Ich war doch deine Tochter!«

Plötzlich zuckte eines von Valéries Augen, und Emilie bekam es mit der Angst zu tun, dass Maman noch am Leben war und ihre Worte gehört hatte. Sie fühlte Valéries Puls und ertastete keinen. Es war nur ein Nachhall des Lebens, als sich Valéries Muskeln im Tod entspannten.

»Maman, ich werde versuchen, dir zu vergeben und dich zu verstehen, aber momentan weiß ich nicht, ob ich glücklich oder traurig über deinen Tod bin.« Emilie spürte, wie ihr Atem schwerer ging, eine Reaktion auf den Schmerz, den es ihr bereitete, die Worte laut auszusprechen. »Ich habe dich so sehr geliebt, so sehr versucht, dir alles recht zu machen, deine Liebe und Aufmerksamkeit zu gewinnen, mich als deine Tochter würdig zu erweisen. Mein Gott, ich habe wirklich alles getan!« Emilie ballte die Hände zu Fäusten. »Du warst meine Mutter

Der Klang ihrer eigenen Stimme, die in dem riesigen Schlafzimmer widerhallte, ließ sie verstummen. Ihr Blick fiel auf das Familienwappen der de la Martinières, das zweihundertfünfzig Jahre zuvor auf das imposante Kopfteil des Betts gemalt worden war. Inzwischen waren die beiden ineinander verkeilten wilden Eber, die allgegenwärtige bourbonische Lilie und das Motto »Sieg ist alles« verblichen und kaum noch zu erkennen.

Trotz der Wärme im Raum erschauderte Emilie. Die Stille im Château war ohrenbetäubend. Das Haus, früher so voller Leben, nun eine leere Hülle, beherbergte nur noch die Vergangenheit. Sie betrachtete den Siegelring am kleinen Finger ihrer rechten Hand, auf dem das Familienwappen in Miniatur prangte. Emilie war der letzte lebende Spross der de la Martinières.

Plötzlich spürte Emilie die Last der Jahrhunderte auf ihren Schultern und die Traurigkeit darüber, dass eine große, vornehme Linie sich auf eine unverheiratete, kinderlose Dreißigjährige reduziert hatte. Die Familie hatte Jahrhunderte der Zerstörung überdauert, doch nach dem Zweiten Weltkrieg war nur noch ihr Vater übrig gewesen.

Wenigstens würde es nicht die üblichen Erbstreitigkeiten geben. Aufgrund eines alten napoleonischen Gesetzes erbten alle Geschwister das Hab und Gut ihrer Eltern zu gleichen Teilen. Viele Familien hatte es an den Rand des Ruins gebracht, wenn ein Kind sich weigerte, seinen Anteil zu veräußern. In ihrem Fall war sie die einzige héritière en ligne directe.

Emilie seufzte. Gut möglich, dass sie verkaufen musste, doch mit dem Gedanken würde sie sich ein andermal beschäftigen. Jetzt war die Zeit des Abschiednehmens.

»Ruhe in Frieden, Maman.« Sie drückte einen leichten Kuss auf Valéries fahle Stirn und bekreuzigte sich. Dann erhob sie sich müde, verließ den Raum und schloss die Tür hinter sich.

2

Zwei Wochen später

Emilie trat mit Café au lait und Croissant durch die Küchentür in den Lavendelgarten hinter dem Haus. Das Château ging direkt nach Süden, so dass sich die Morgensonne hier am besten genießen ließ. Es war ein lauer Frühlingstag, mild genug, um sich im T-Shirt draußen aufzuhalten.

Bei der Beerdigung ihrer Mutter in Paris achtundvierzig Stunden zuvor hatte es unaufhörlich geregnet. Während des Empfangs hinterher – der auf Valéries Wunsch im Ritz stattfand – hatte Emilie Beileidsbezeigungen von den Großen und Wichtigen erhalten. Die Frauen, meist im Alter ihrer Mutter, hatten alle Schwarz getragen und Emilie an einen Schwarm Krähen erinnert. Altmodische Hüte hatten ihr licht gewordenes Haar verborgen, als sie an ihrem Champagner nippten, die Körper vom Alter ausgezehrt, das Make-up maskenähnlich auf ihrer faltigen Haut.

In ihrer Blütezeit waren sie die schönsten und mächtigsten Frauen von Paris gewesen, doch die Zeit hatte frisches Blut hervorgebracht. Die alten Frauen warteten nur noch auf den Tod, hatte Emilie traurig gedacht, als sie das Ritz verließ und ein Taxi heranwinkte, das sie zurück zu ihrer Wohnung bringen sollte. In ihrem Kummer hatte sie bedeutend mehr Wein getrunken als sonst und war am folgenden Morgen mit einem Kater aufgewacht.

Immerhin war das Schlimmste vorbei, tröstete Emilie sich, als sie einen Schluck Kaffee nahm. In den vergangenen beiden Wochen war wenig Zeit gewesen, sich auf etwas anderes als die Organisation der Beisetzung zu konzentrieren. Ihr war klar, dass sie ihrer Mutter zumindest den Abschied schuldete, den Valérie selbst so perfekt arrangiert hätte. Emilie hatte sich dabei ertappt, wie sie sich Gedanken machte, ob sie Cupcakes oder Petits fours zum Kaffee reichen sollte und ob die cremefarbenen Rosen mit den riesigen Blüten, die ihre Mutter so geliebt hatte, dramatisch genug für die Tischdekoration waren. Solche Entscheidungen hatte Valérie jede Woche getroffen. Dafür zollte ihr Emilie im Nachhinein widerwillig Respekt.

Aber jetzt – Emilie hielt das Gesicht in die wärmende Sonne – musste sie an die Zukunft denken.

Gerard Flavier, der notaire der Familie, der sich um die juristischen Belange und das Grundeigentum der de la Martinières kümmerte, war auf dem Weg zum Château. Solange er ihr nicht dargelegt hatte, wie es finanziell um das Anwesen bestellt war, hatte es keinen Sinn, Pläne zu schmieden. Emilie hatte sich einen Monat für die Erledigung der komplexen und zeitaufwendigen Aufgaben freigenommen. Sie hätte sich Geschwister gewünscht, damit die Last auf mehreren Schultern verteilt gewesen wäre; Finanzen und juristische Finessen waren nicht ihre Stärke. Verantwortung machte ihr Angst.

Als Emilie weiches Fell an ihrem nackten Knöchel spürte, schaute sie hinunter und sah, wie Frou-Frou, der letzte verbliebene Chihuahua ihrer Mutter, sie mit traurigem Blick betrachtete. Sie nahm das altersschwache Hündchen auf den Schoß und kraulte es hinter den Ohren.

»Scheinen nur noch du und ich übrig zu sein, Frou«, murmelte sie. »Wir werden wohl oder übel aufeinander aufpassen müssen.«

Der ernste Ausdruck in Frou-Frous halbblinden Augen ließ Emilie schmunzeln. Sie hatte keine Ahnung, wie sie sich in Zukunft um den Hund kümmern sollte. Obwohl sie davon träumte, irgendwann viele Tiere um sich zu haben, waren ihre winzige Wohnung im Quartier Marais und ihre langen Arbeitszeiten nicht gerade dazu angetan, sich eines Schoßhündchens anzunehmen.

Beruflich kümmerte sie sich jedoch um Tiere. Emilie lebte für die Patienten, die ihr nicht sagen konnten, wie sie sich fühlten oder was ihnen wehtat.

»Wie traurig, dass meine Tochter sich lieber mit Tieren als mit Menschen zu umgeben scheint …«

Dieser Satz fasste Valéries Einstellung Emilies Lebensweise gegenüber zusammen. Als Emilie verkündet hatte, sie wolle Veterinärmedizin studieren, hatte Valérie verächtlich den Mund verzogen. »Ich begreife nicht, wieso du dein Leben damit verbringen willst, arme kleine Tiere aufzuschneiden und dir ihr Innenleben anzuschauen.«

»Maman, das ist der Versuch, sie zu heilen, kein Selbstzweck. Ich liebe Tiere, ich möchte ihnen helfen«, hatte sie sich verteidigt.

»Wenn schon ein Beruf, warum dann nicht in der Modebranche? Ich habe eine Freundin bei Marie Claire, die dir bestimmt eine Stelle besorgen kann. Sobald du verheiratet bist, wirst du sowieso nicht mehr arbeiten wollen und nur noch Ehefrau sein.«

Obwohl Emilie ihrer Mutter die überkommenen Vorstellungen nicht verübeln konnte, hätte sie sich gewünscht, dass Valérie ein wenig stolz auf die Leistungen ihrer Tochter gewesen wäre. Immerhin hatte diese die Universität als Jahrgangsbeste abgeschlossen und anschließend sofort in einer bekannten Pariser Veterinärpraxis angefangen.

»Vielleicht hatte Maman recht, Frou-Frou«, sagte Emilie seufzend. »Möglicherweise sind Tiere mir tatsächlich lieber als Menschen.«

Als Emilie das Knirschen von Reifen auf Kies hörte, setzte sie Frou-Frou auf den Boden und ging vors Haus, um Gerard zu begrüßen.

»Emilie, wie geht es Ihnen?« Gerard küsste sie auf beide Wangen.

»Gut, danke«, antwortete Emilie. »Hatten Sie eine angenehme Reise?«

»Ich bin nach Nizza geflogen und habe dort einen Wagen gemietet«, erklärte Gerard, als er den riesigen, der geschlossenen Fensterläden wegen dunklen Eingangsbereich betrat. »Es freut mich, von Paris wegzukommen und einen meiner Lieblingsorte in Frankreich aufsuchen zu können. Frühling im Var ist immer etwas Besonderes.«

»Ich habe mir gedacht, dass es das Beste ist, wenn wir uns hier im Château treffen«, pflichtete Emilie ihm bei. »Die Papiere meiner Eltern befinden sich im Schreibtisch in der Bibliothek. Die wollen Sie bestimmt einsehen.«

»Ja.« Gerard schritt über die ausgetretenen Marmorfliesen und betrachtete einen feuchten Fleck an der Decke. »Das Château könnte ein wenig Zuwendung gebrauchen, stimmt’s?« Er seufzte. »Es wird älter, wie wir alle.«

»Sollen wir in der Küche einen Kaffee trinken?«, fragte Emilie.

»Genau das, was ich jetzt brauche«, antwortete Gerard lächelnd, als er ihr in den hinteren Teil des Hauses folgte.

»Setzen Sie sich doch.« Emilie deutete auf einen Stuhl an dem langen Eichentisch, während sie selbst zum Herd ging, um Wasser heiß zu machen.

»Sehr viel Luxus bietet das Château nicht gerade«, stellte Gerard fest und sah sich in dem karg und zweckmäßig eingerichteten Raum um.

»Nein«, bestätigte Emilie. »Die Küche wurde nur von den Bediensteten genutzt, um für unsere Familie und Gäste Essen zuzubereiten. Ich bezweifle, dass meine Mutter je einen Teller gespült hat.«

»Wer kümmert sich jetzt um das Château und den Haushalt?«, erkundigte sich Gerard.

»Margaux Duvall, die Haushälterin, seit mehr als fünfzehn Jahren. Sie kommt jeden Nachmittag aus dem Ort her. Nach dem Tod meines Vaters hat Maman allen anderen gekündigt und ist nicht mehr wie früher jeden Sommer hergekommen. Ich glaube, sie war lieber auf der Jacht, die sie gemietet hatte.«

»Ihre Mutter hat jedenfalls gern Geld ausgegeben«, bemerkte Gerard, als Emilie den Kaffee auf den Tisch stellte. »Für die Dinge, die ihr wichtig waren«, fügte er hinzu.

»Wozu dieses Château nicht gehörte«, stellte Emilie fest.

»Stimmt«, pflichtete er ihr bei. »Nach allem, was ich bisher über ihre Finanzen weiß, scheint sie den Freuden des Hauses Chanel den Vorzug gegeben zu haben.«

»Ja, Maman liebte Haute Couture.« Emilie setzte sich mit ihrem Kaffee ihm gegenüber. »Sogar letztes Jahr, als sie schon sehr krank war, hat sie noch die Modenschauen besucht.«

»Valérie war tatsächlich eine eigenwillige Person – und berühmt. Ihr Dahinscheiden hat zahlreiche Kolumnen in den Zeitungen inspiriert. Natürlich überrascht mich das nicht. Die de la Martinières zählen zu den bekanntesten Familien von Frankreich.«

»Ich weiß.« Emilie verzog das Gesicht. »Die Zeitungsberichte habe ich auch gelesen. Ich scheine ein Vermögen zu erben.«

»Ihre Familie war früher tatsächlich sehr reich. Aber leider haben sich die Zeiten geändert, Emilie. Der vornehme Name Ihrer Familie existiert noch, nicht aber das Vermögen.«

»Das hatte ich mir schon fast gedacht.«

»Ihnen dürfte aufgefallen sein, dass Ihr Papa kein Geschäftsmann war«, fuhr Gerard fort, »sondern ein Intellektueller, den Geld nicht sonderlich interessierte. Meine Versuche, ihn zu zukunftsträchtigen Investitionen zu bewegen, waren leider nicht von Erfolg gekrönt. Vor zwanzig Jahren hat das keine Rolle gespielt – da war das Vermögen noch groß genug. Aber aufgrund des mangelnden Interesses Ihres Vaters und der Schwäche Ihrer Mutter für schöne Dinge ist das Vermögen beträchtlich geschrumpft.« Gerard seufzte. »Tut mir leid, wenn ich schlechte Nachrichten überbringe.«

»Das hatte ich schon erwartet, und es ist mir nicht wichtig«, versicherte Emilie ihm. »Ich möchte hier nur das Nötige organisieren und dann zu meiner Arbeit nach Paris zurückkehren.«

»Bedauerlicherweise ist das nicht so einfach. Wie eingangs erwähnt habe ich bisher noch nicht die Zeit gehabt, mich in die Einzelheiten zu vertiefen, doch so viel steht fest: Es gibt Gläubiger, sogar ziemlich viele. Die Schulden müssen so schnell wie möglich beglichen werden. Ihre Mutter hat das Haus in Paris mit fast zwanzig Millionen Francs beliehen. Darüber hinaus hatte sie zahlreiche andere Außenstände.«

»Zwanzig Millionen Francs?«, wiederholte Emilie entsetzt. »Wie konnte das passieren?«

»Ganz einfach. Als die Mittel versiegten, hat Valérie sich nicht eingeschränkt und viele Jahre auf Pump gelebt. Bitte, Emilie …«, Gerard sah ihren Gesichtsausdruck, »… geraten Sie nicht in Panik. Diese Schulden lassen sich leicht begleichen, etwa durch den Verkauf des Pariser Hauses, der meiner Ansicht nach um die siebzig Millionen Francs erbringen dürfte, sowie zahlreicher Wertgegenstände. Dazu gehören die prächtige Schmucksammlung Ihrer Mutter, die in einem Banksafe ruht, und die Gemälde und wertvollen Kunstobjekte im Gebäude. Glauben Sie, Emilie, Sie sind keineswegs arm, doch es müssen Entscheidungen getroffen werden, um den Verfall zu stoppen und die Weichen für die Zukunft zu stellen.«

»Verstehe. Sie müssen verzeihen, Gerard, aber in dieser Hinsicht komme ich nach meinem Vater. Ich habe wenig Interesse an und Erfahrung mit der Verwaltung von Finanzen.«

»Ich weiß. Ihre Eltern haben Ihnen eine schwere Last aufgebürdet, die ausschließlich auf Ihren Schultern ruht.« Gerard hob die Augenbrauen. »Erstaunlich ist nur, wie viele Verwandte Sie plötzlich zu haben scheinen.«

»Wie meinen Sie das?«

»Nach solchen Todesfällen beginnen immer die Aasgeier zu kreisen. Bisher sind bei mir mehr als zwanzig Briefe eingegangen von Leuten, die behaupten, in irgendeiner Weise mit den de la Martinières verwandt zu sein. Vier bis dato unbekannte Geschwister, die Ihr Vater außerhalb der Ehe gezeugt haben soll, zwei Cousins, ein Onkel und eine Pariser Hausangestellte Ihrer Eltern aus den sechziger Jahren, die schwört, dass Ihre Mutter ihr einen Picasso versprochen hat.« Gerard lächelte. »Das alles kommt nicht unerwartet, doch leider muss nach französischem Recht jeder dieser angeblichen Ansprüche überprüft werden.«

»Glauben Sie, dass irgendeiner davon berechtigt ist?«, fragte Emilie mit großen Augen.

»Das wage ich zu bezweifeln. Falls Sie das tröstet: Das ist noch bei jedem von der Öffentlichkeit wahrgenommenen Todesfall so gewesen, mit dem ich bisher zu tun hatte.« Er zuckte mit den Achseln. »Überlassen Sie das mir, und machen Sie sich keine Gedanken. Konzentrieren Sie sich lieber auf das Château. Wie gesagt: Die Schulden Ihrer Mutter lassen sich leicht durch die Veräußerung des Pariser Hauses und seines Inhalts begleichen. Dann bleibt noch dieses prächtige Anwesen, das, soweit ich das beurteilen kann, dringend saniert werden muss. Egal, zu welchem Entschluss Sie gelangen: Sie sind und bleiben eine wohlhabende Frau. Wollen Sie das Château verkaufen?«

Emilie seufzte tief. »Offen gestanden wäre es mir am liebsten, wenn sich diese Fragen einfach in Luft auflösen würden, Gerard. Wenn jemand anders die Entscheidung für mich träfe. Und was ist mit den Weinbergen? Wirft die cave etwas ab?«

»Damit muss ich mich noch eingehender beschäftigen«, antwortete Gerard. »Falls Sie beschließen sollten, das Château zu verkaufen, ließe sich der Weinhandel als laufendes Geschäft inkludieren.«

»Das Château verkaufen …«, wiederholte Emilie Gerards Worte. Sie laut ausgesprochen zu hören verdeutlichte ihr, wie groß ihre Verantwortung war. »Dieses Haus befindet sich seit zweihundertfünfzig Jahren im Besitz unserer Familie. Und nun soll ich so eine Entscheidung treffen.« Sie seufzte. »Ich habe keine Ahnung, was das Beste ist.«

»Das kann ich mir denken. Es ist schwierig, weil Sie allein sind.« Gerard schüttelte den Kopf. »Leider können wir es uns nicht immer aussuchen. Ich versuche, Ihnen zu helfen, wo ich kann, Emilie, weil ich weiß, dass Ihr Vater das unter den gegebenen Umständen von mir erwartet hätte. Ich mache mich jetzt frisch, und später könnten wir zum Weinberg hinübergehen und mit dem Verwalter sprechen.«

»Gut«, antwortete Emilie müde. »Ich habe die Fensterläden in dem Zimmer links von der Haupttreppe aufgemacht. Von dort aus hat man einen sehr schönen Blick. Soll ich es Ihnen zeigen?«

»Nein, danke. Wie Sie wissen, bin ich nicht das erste Mal hier. Ich finde mich schon zurecht.«

Gerard stand auf, nickte Emilie zu und verließ die Küche. Auf halber Höhe der Treppe blieb er stehen und betrachtete das verblichene Gesicht eines Vorfahren der de la Martinières. So viele der französischen Adelsfamilien starben aus, ohne nennenswerte Spuren zu hinterlassen. Gerard fragte sich, wie der große Giles de la Martinières auf dem Porträt – Kriegsherr, Adeliger und, wie manche behaupteten, Geliebter von Marie Antoinette – sich fühlen würde, wenn er wüsste, dass die Zukunft seines Geschlechts auf den schmalen Schultern einer einzelnen jungen Frau ruhte. Einer Frau, die Gerard immer merkwürdig gefunden hatte.

Während seiner zahlreichen Besuche bei den de la Martinières hatte Gerard ein schüchternes, selbstgenügsames Kind kennengelernt, das nicht auf Zuneigung von ihm oder anderen reagierte. Ein Kind, das distanziert, fast schon mürrisch wirkte. Gerard war der Meinung, dass seine Arbeit als notaire nicht nur den Umgang mit Zahlen umfasste, sondern auch die Fähigkeit, die Gefühle seiner Mandanten zu ergründen.

Emilie de la Martinières war ihm ein Rätsel.

Bei der Beerdigung ihrer Mutter hatte ihre Miene nichts über ihre Emotionen verraten. Immerhin war sie als Erwachsene deutlich attraktiver als in ihrer Kindheit. Doch selbst jetzt, da sie mit dem Verlust ihrer Mutter sowie mit einer ganzen Reihe schwieriger Entscheidungen konfrontiert war, erlebte Gerard sie nicht verletzlich. Das Leben, das sie in Paris trotz ihrer adeligen Herkunft führte, hätte sich nicht stärker von dem ihrer Vorfahren unterscheiden können.

Gerard stieg, ein wenig verärgert über ihre zurückhaltende Reaktion, weiter die Treppe hinauf. Irgendetwas machte sie unerreichbar. Er hatte keine Ahnung, wie er an sie herankommen sollte.

Als Emilie sich erhob und die Kaffeetassen in die Spüle stellte, öffnete sich die Küchentür, und Margaux, die Haushälterin des Châteaus, trat ein. Ein Strahlen ging über ihr Gesicht.

»Mademoiselle Emilie!« Margaux drückte sie. »Ich wusste gar nicht, dass Sie kommen! Sie hätten Bescheid sagen sollen. Dann hätte ich alles für Sie vorbereitet.«

»Ich bin gestern spät von Paris eingetroffen«, erklärte Emilie. »Schön, Sie zu sehen, Margaux.«

Margaux trat einen Schritt zurück, um Emilie zu mustern. »Wie geht es Ihnen?«

»Ich komme zurecht«, antwortete Emilie ehrlich, weil der Anblick von Margaux, die sich um sie gekümmert hatte, wenn Emilie als junges Mädchen den Sommer im Château verbrachte, ihr die Kehle zuschnürte.

»Sie sind dünn. Essen Sie genug?«

»Natürlich, Margaux! Es ist eher unwahrscheinlich, dass ich verhungere.« Emilie ließ lächelnd die Hände über ihren Körper gleiten.

»Sie haben eine gute Figur – kein Vergleich zu mir!« Margaux deutete schmunzelnd auf ihre eigenen Rundungen.

Emilie betrachtete ihre wässrig blauen Augen und die blonden, von grauen Strähnen durchzogenen Haare. Fünfzehn Jahre zuvor war Margaux noch eine schöne Frau gewesen. Emilie wurde traurig bei dem Gedanken, wie die Zeit alles zerstörte.

Da öffnete sich erneut die Küchentür, und herein kam ein kleiner, schmaler Junge, dessen riesige blaue Augen sein zartes Gesicht beherrschten. Er sah Emilie überrascht an und wandte sich unsicher seiner Mutter zu.

»Maman? Ist es in Ordnung, dass ich hier bin?«, fragte er Margaux.

»Haben Sie etwas dagegen, wenn Anton bei mir im Château ist, während ich arbeite, Mademoiselle Emilie? Wir haben Osterferien, und ich möchte ihn nicht allein zu Hause lassen. Er beschäftigt sich normalerweise still mit einem Buch.«

»Kein Problem«, antwortete Emilie und schenkte dem Jungen ein beruhigendes Lächeln. Margaux hatte ihren Mann acht Jahre zuvor bei einem Autounfall verloren und zog ihren Sohn seitdem allein auf. »Hier ist doch Platz für uns alle, nicht wahr?«

»Ja, Mademoiselle Emilie. Danke«, sagte Anton und ging zu seiner Mutter.

»Gerard Flavier, unser notaire, ist oben. Er bleibt über Nacht, Margaux«, teilte Emilie der Haushälterin mit. »Wir wollen zum Weinberg hinüber, zu Jean und Jacques.«

»Dann richte ich sein Zimmer her, während Sie weg sind. Soll ich etwas zu Abend kochen?«

»Nein, danke. Zum Essen gehen wir später in den Ort«, sagte Emilie.

»Da wären einige Rechnungen fürs Haus, Mademoiselle. Darf ich Ihnen die geben?«, fragte Margaux verlegen.

»Ja, natürlich.« Emilie seufzte. »Es gibt ja keinen sonst, der sie zahlen könnte.«

»Nein. Mein Beileid, Mademoiselle. Es muss schwer sein für Sie, so allein. Ich weiß gut, wie sich das anfühlt.«

»Danke. Wir sehen uns später, Margaux.« Emilie nickte Mutter und Sohn zu und verließ die Küche, um sich zu Gerard zu gesellen.

Am Nachmittag begleitete Emilie Gerard zum Weinkeller. Der Weinberg der de la Martinières war klein, umfasste gerade einmal zehn Hektar und warf zwölftausend Flaschen sehr hellen Rosé-, Rot- und Weißwein pro Jahr ab, der hauptsächlich an örtliche Läden, Lokale und Hotels verkauft wurde.

Im Innern der cave war es dunkel und kühl, und in der Luft lag der Geruch des in den riesigen russischen Eichenfässern gärenden Weins.

Als sie eintraten, erhob sich Jean Benoit, der Verwalter des Weinkellers, von seinem Stuhl hinter dem Schreibtisch.

»Mademoiselle Emilie! Was für eine Freude, Sie zu sehen!« Jean begrüßte sie herzlich mit Küsschen auf beide Wangen. »Papa, schau, wer da ist!«

Jacques Benoit, der trotz seiner über achtzig Jahre und seiner vom Rheuma steifen Glieder noch jeden Tag an einem Tisch in der cave saß und sorgfältig jede Flasche Wein in lilafarbenes Papier wickelte, hob lächelnd den Blick. »Mademoiselle Emilie, wie geht es Ihnen?«

»Gut, danke, Jacques. Und Ihnen?«

»Nun ja, auf die Eberjagd wie früher mit Ihrem Papa könnte ich heute nicht mehr.« Er schmunzelte. »Aber immerhin wache ich noch jeden Tag auf.«

Emilie freute sich über die herzliche Begrüßung. Ihr Vater war mit Jacques befreundet gewesen, und Emilie war oft mit dem acht Jahre älteren Jean, den sie damals sehr erwachsen fand, zum Schwimmen an den nahe gelegenen Strand von Gigaro geradelt. Manchmal hatte Emilie sich ausgemalt, er sei ihr großer Bruder, der sie beschützte. Er hatte seine Mutter Francesca in jungen Jahren verloren und war dann von Jacques allein aufgezogen worden.

Vater und Sohn waren wie ihre Vorfahren in dem kleinen, dem Weinkeller angeschlossenen Häuschen aufgewachsen. Jean verwaltete den Weinberg, eine Aufgabe, die er von seinem Vater übernommen hatte, nachdem dieser davon überzeugt gewesen war, sein ganzes Wissen an Jean weitergegeben zu haben.

Gerard stand mit verlegenem Gesichtsausdruck hinter ihnen.

»Das ist Gerard Flavier, der notaire der Familie«, stellte Emilie ihn vor.

»Ich glaube, wir sind uns vor Jahren begegnet, Monsieur«, sagte Jacques und reichte ihm seine zitternde Hand.

»Ja, und ich habe noch in Paris den feinen Geschmack Ihres Weins auf der Zunge«, bemerkte Gerard mit einem Lächeln.

»Sehr freundlich, Monsieur«, bedankte sich Jacques. »Aber ich glaube, mein Sohn beherrscht die Kunst, provenzalischen Rosé herzustellen, noch besser als ich.«

»Ich vermute, Sie sind hier, um die finanzielle Lage unserer cave zu beurteilen, nicht die Qualität unserer Erzeugnisse, Monsieur Flavier?« Jean wirkte unsicher.

»Natürlich würde mich interessieren, ob der Weinkeller finanziell profitabel ist«, bestätigte Gerard. »Ich fürchte, Mademoiselle Emilie wird einige Entscheidungen treffen müssen.«

»Ich habe das Gefühl, dass ich im Moment hier nicht viel tun kann«, sagte Emilie. »Also werde ich einen kleinen Spaziergang durch die Weinberge machen.« Sie nickte den Männern zu und verließ die cave.

Draußen merkte sie, wie unangenehm es ihr war, dass ihre Beschlüsse die Familie Benoit gefährden konnten, deren Lebensstil jahrhundertelang praktisch unverändert geblieben war. Sie wusste, dass besonders Jean sich Sorgen machte, weil ihm klar war, was passieren würde, wenn sie verkaufte. Der neue Eigentümer würde möglicherweise einen anderen Verwalter einsetzen und Jean und Jacques zwingen, ihr Zuhause zu verlassen. Eine solche Veränderung konnte sie sich kaum vorstellen, weil die Benoits so fest mit der heimischen Erde verwurzelt waren.

Die Sonne stand bereits tief, als Emilie über den steinigen Boden zwischen den Rebstöcken dahinschlenderte. In den folgenden Wochen würden sie wie Unkraut wuchern und die dicken, süßen Früchte hervorbringen, die im Spätsommer bei der vendanges für den nächsten Jahrgang geerntet wurden.

Sie wandte sich mit einem verzweifelten Seufzen zum Château um, das in etwa dreihundert Metern Entfernung lag. Die hellen, rötlichen Mauern, die traditionell in Hellblau gehaltenen Fensterläden, die hohen Zypressen zu beiden Seiten – all das verschmolz im milden Licht des Sonnenuntergangs. Das schlichte, im Einklang mit der ländlichen Umgebung entworfene Gebäude spiegelte die bescheidene, aber vornehme Linie, deren letzter Spross Emilie war.

Wir sind als Einzige noch übrig …

Plötzlich empfand Emilie eine merkwürdige innere Verbundenheit mit dem gleich ihr verwaisten Gemäuer, das sich, in seinen Grundbedürfnissen vernachlässigt, auch in schweren Zeiten eine Aura anmutiger Würde bewahrte.

»Wie kann ich dir geben, was du brauchst?«, flüsterte sie dem Château zu. »Was soll ich mit dir anfangen? Mein Leben spielt sich anderswo ab, ich …« Emilie seufzte. Da hörte sie, wie jemand ihren Namen rief.

Gerard, der sich zu ihr gesellte, folgte ihrem Blick zum Château.

»Schön, nicht?«, fragte er.

»Ja. Aber ich habe keine Ahnung, was ich damit machen soll.«

»Dazu könnte ich Ihnen auf dem Rückweg ein paar Gedanken unterbreiten«, schlug Gerard vor.

»Danke.«

Zwanzig Minuten später, als die Sonne ganz hinter dem Hügel mit der mittelalterlichen Ortschaft Gassin verschwand, hörte Emilie sich Gerards Ausführungen an.

»Der Weinberg wirft nicht so viel ab, wie er könnte, weder was die Produktionsmenge noch was den Profit anbelangt. In den vergangenen Jahren ist die internationale Nachfrage nach Rosé stark gestiegen. Er wird nicht mehr als der kleine Bruder seiner weißen und roten Geschwister angesehen. Jean rechnet für den Fall, dass das Wetter in den kommenden Wochen hält, mit einer Rekordernte. Und nun zum Wesentlichen, Emilie: Die cave ist für die de la Martinières nie mehr als ein Hobby gewesen.«

»Das weiß ich.«

»Jean – der mich übrigens sehr beeindruckt – sagt, seit dem Tod Ihres Vaters vor sechzehn Jahren sei nicht mehr in den Weinberg investiert worden. Er wurde seinerzeit aufgebaut, um das Château mit hausgemachtem Wein zu versorgen. In seiner Blütezeit, als Ihre Vorfahren im damals üblichen großen Stil Gesellschaften gaben, wurde der Löwenanteil des Weins von ihnen und ihren Gästen getrunken. Jetzt ist das natürlich anders, doch der Weinberg wird immer noch geführt wie vor hundert Jahren.«

Als Gerard auf eine Reaktion Emilies wartete, aber keine erhielt, fuhr er fort.

»Was die cave braucht, um ihr Potenzial auszuschöpfen, ist eine Geldspritze. Jean sagt zum Beispiel, dass genug Grund vorhanden wäre, um die Ausdehnung des Weinbergs zu verdoppeln. Er benötigt außerdem moderne Ausrüstung zur Ankurbelung der Weinproduktion, damit sie Gewinn abwerfen kann. Die Frage ist«, fasste Gerard zusammen, »ob Sie den Weinberg und das Château in die Zukunft führen wollen. Bei beiden handelt es sich um zeitintensive, kostspielige Projekte.«

Emilie lauschte in die Stille. Nicht der leiseste Windhauch war zu spüren. Zum ersten Mal seit dem Tod ihrer Mutter empfand sie so etwas wie innere Ruhe.

»Danke für Ihre Hilfe, Gerard. Ich glaube nicht, dass ich Ihnen schon eine Antwort geben kann«, erklärte sie. »Wenn Sie mich vor zwei Wochen gefragt hätten, wäre ich wohl der Meinung gewesen, dass ich verkaufen will. Aber jetzt …«

»Verstehe.« Gerard nickte. »Ich kann Sie nicht emotional beraten, Emilie, nur finanziell. Vielleicht beruhigt es Sie, wenn ich Ihnen sage, dass der Verkauf des Pariser Hauses und der Dinge darin sowie des Schmucks Ihrer Mutter nicht nur die Kosten für die Sanierung des Châteaus decken, sondern darüber hinaus genug abwerfen würde, um Ihnen den Rest Ihres Lebens ein beträchtliches Einkommen zu sichern. Außerdem wäre da noch die hiesige Bibliothek«, fügte er hinzu. »Ihr Papa hat sich nicht sonderlich für die Erhaltung seiner Häuser interessiert; sein wahres Erbe steckt darin. Er hat auf einer bereits bestehenden Sammlung seltener Bücher aufgebaut. Nach einem Blick in seine Unterlagen glaube ich behaupten zu können, dass er den Bestand verdoppelt hat. Ich kenne mich nicht mit alten Büchern aus, nehme jedoch an, dass die Sammlung sehr wertvoll ist.«

»Davon würde ich mich nie trennen«, erklärte Emilie mit für sie selbst überraschend fester Stimme. »Sie sind das Lebenswerk meines Vaters. Als Kind habe ich viele Stunden mit ihm in der Bibliothek verbracht.«

»Es gibt auch keinen Grund, warum Sie sich davon trennen sollten. Aber falls Sie das Château nicht behalten wollen, müssten Sie sich vermutlich einen geräumigeren Ort als Ihre Pariser Wohnung suchen, um die Bibliothek unterzubringen.« Gerard schmunzelte. »Ich habe Hunger. Begleiten Sie mich zum Abendessen nach Gassin? Ich breche morgen früh auf und muss, mit Ihrer Erlaubnis, die Papiere im Schreibtisch Ihres Vaters durchgehen, um mich weiter über die finanzielle Lage zu informieren.«

»Gern«, sagte Emilie.

»Zuerst werde ich einige Anrufe erledigen«, entschuldigte er sich. »Wir sehen uns in einer halben Stunde unten.«

Emilie sah Gerard nach, wie er im Haus verschwand. Obwohl sie ihn ihr ganzes Leben lang kannte, fühlte sie sich in seiner Gegenwart befangen. Als Kind war sie mit ihm umgegangen wie mit jedem Erwachsenen. Die direkten Gespräche mit ihm waren eine neue, ungewohnte Erfahrung.

Als sie ebenfalls ins Haus ging, wurde Emilie klar, dass sie sich bevormundet fühlte, obwohl sie wusste, dass Gerard ihr nur helfen wollte. Manchmal erkannte sie in seinem Blick etwas, das sie nur als Ressentiments deuten konnte. Vielleicht hatte er das Gefühl – wer konnte ihm das verübeln –, dass sie nicht in der Lage war, das Erbe der de la Martinières mitsamt dem Ballast der Geschichte anzutreten. Emilie war sich schmerzlich bewusst, dass sie nicht den Glamour ihrer Vorfahren besaß. Obwohl sie in eine außergewöhnliche Familie hineingeboren worden war, hatte sie nur den Wunsch, ganz normal zu erscheinen.