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Chris ging voraus. Dornbüsche ragten über den Weg wie Netze, und der Untergrund bestand aus losen kleinen Steinchen. Der Durchschlupf wand und drehte sich auf unmögliche Art und Weise – führte uns manchmal im Kreis herum, verschwand in überwucherten Wasserrinnen –, aber Chris war nicht aufzuhalten. Wann immer dieser Weg endgültig aufzuhören schien, verschwand er in dem Durcheinander, bis seine Hand schließlich wieder in die Höhe fuhr:
»AH!«
Nein, sagte mein Bauchgefühl mir immer wieder. Das stimmt doch alles nicht. Warum sollte sich irgendjemand hier einen Weg bahnen, der direkt auf einen Felsblock zuführt? Oder in eine Wasserrinne hinein und wieder heraus, anstatt an ihr entlangzugehen? Ich musste mir klarmachen, dass wir der Ziegenlogik folgten. Auf Kreta bahnen einzelne Ziegen den Weg, und die Herde passt sich dem Gefühl dieses einen Tieres für die Landschaft an und folgt ihm. Sobald ich meine Zweifel an der Ziegenlogik fahren ließ, fiel mir auf, wie glatt die Steine waren, und ich erinnerte mich noch an etwas anderes: Wasser fließt immer nur in eine Richtung. Es spielte keine Rolle, wie seltsam diese Erosionsrinnen uns durch die Landschaft führten, wir mussten dabei an Höhe gewinnen. Unweigerlich arbeiteten wir uns auf dem felsigen Untergrund bergauf voran.
»Ist das nicht atemberaubend?«, sagte Chris. »Vielleicht ist seit den Tagen der deutschen Besatzungszeit hier niemand mehr gegangen. Man fühlt sich wie bei der Besichtigung einer antiken Grabstätte.«
Wenig später stapften Chris und ich mit einer steten Geschwindigkeit voran. Na ja, Chris stapfte, und ich folgte ihm. Er bahnte den Weg und ging voraus, während ich mich darauf beschränkte, dieses Tempo einfach zu halten. Ich bin zehn Jahre jünger als Chris und hielt mich für sehr viel fitter, deshalb war es sehr ernüchternd, mit der Tatsache konfrontiert zu werden, dass dieser 60-jährige Innendienstsozialarbeiter, der keinen Sport treibt und so aussieht, als würde er sich im Lehnstuhl bei der Lektüre der Sonntagszeitung am wohlsten fühlen, mich mit seiner Ausdauer und Bergwandererbeweglichkeit beschämen konnte.
»Man muss einfach ganz natürlich sein«, bemerkte Chris mit einem Schulterzucken.
War das so? Um das herauszufinden, war ich nach Kreta gekommen.
Die Völker der Antike bezeichneten Kreta als den »Splitter«, und wenn man mit dem Flugzeug anreist und die Maschine zur Landung ansetzt, ohne dass man erkennen könnte, worauf gelandet werden soll, weiß man, woher diese Bezeichnung kommt. Man macht sich darauf gefasst, dass man ins Meer plumpsen wird, dann geht der Pilot in Schräglage, und die Insel kommt in Sicht, mit Schaum an den Rändern, als wäre sie eben erst aus der Meerestiefe aufgetaucht. Hinter der Landebahn ragt am Seehafen eine düstere Festung aus Stein empor, ein aus dem 16. Jahrhundert stammendes Überbleibsel der venezianischen Zeit, das nur den Eindruck verstärkt, dass man hier ein Zeitportal durchquert und in eine Welt vorstößt, die aus der Vergangenheit zurückgeholt wurde.
Kreta hat noch einen Kosenamen – die »Insel der Helden« –, auf den ich rein zufällig gestoßen war. Ich recherchierte zu Pheidippides, dem griechischen Meldeläufer aus der Antike, der das Vorbild für den modernen Marathonlauf abgab, als mir ein seltsamer Hinweis auf einen modernen Pheidippides namens George Psychoundakis auffiel, besser bekannt als der »Clown«. Der »Clown« war eine bewundernswerte Gestalt. Als Hitlers Soldaten in Kreta einfielen, verwandelte er sich über Nacht vom Schafzüchter zum Meldeläufer, der im Dienst der Widerstandsbewegung die Berglandschaft durchquerte. Irgendwie gelang es George, Aufgaben zu meistern, die einen Olympioniken ins Wanken bringen würden: Er überwand schneebedeckte Felsen und trug dabei einen fast 30 Kilo schweren Rucksack, legte über Nacht mehr als 80 Kilometer zurück, ernährte sich dabei von einer Hungerration, die aus gekochtem Heu bestand, und überlistete ein Hinrichtungskommando der Gestapo, das ihn bereits gestellt hatte. George hatte keinerlei militärische Ausbildung vorzuweisen. Er hatte ein geruhsames, friedfertiges Hirtenleben geführt, bis zu dem Tag, an dem am Himmel über seinem Zuhause deutsche Fallschirme auftauchten.
Bis dahin hatte ich gedacht, die Geheimnisse, die Helden der Antike wie Pheidippides umgaben, seien entweder zur Hälfte Mythen oder im Dunkel der Geschichte verloren gegangen, aber nun hatte ich es mit einem normalen Menschen zu tun, der 2500 Jahre danach vergleichbare Taten vollbrachte. Und er war nicht allein. George selbst erzählte die Geschichte von einem Hirtenkollegen, der ganz auf sich allein gestellt die Frauen und Kinder eines Dorfes vor einem Massaker von der Hand der Deutschen bewahrte. Die waren gekommen, um den Ort nach Waffen zu durchsuchen, und misstrauisch geworden, als sie bemerkten, dass die Männer alle fehlten und die Frauen nicht redeten. Der deutsche Kommandeur hatte die Frauen in einer Reihe zur Exekution antreten lassen. In dem Augenblick, da er den Feuerbefehl geben wollte, explodierte sein Kopf. Ein Schäfer namens Costi Paterakis war den verbliebenen Dorfbewohnern durch die Wälder zu Hilfe geeilt und gerade noch rechtzeitig eingetroffen, um aus einer Entfernung von 400 Metern den entscheidenden Schuss abzufeuern. Die überlebenden Deutschen verteilten sich, um Deckung zu suchen – und liefen dabei genau ins Fadenkreuz der Widerstandskämpfer, die unmittelbar nach Costi eintrafen.
»Für mich ist das heute noch einer der spektakulärsten Augenblicke des gesamten Krieges«, sagte ein britischer Agent mit Kontakten zur Widerstandsbewegung, dem die tapferen Frauen durch ihr Schweigen das Leben gerettet hatten. Die Geschichte ist so bewegend, dass man darüber leicht vergisst, welcher Eigenschaften es für ein solches Geschehen tatsächlich bedarf. Costi musste sich ohne Rücksicht auf sein eigenes Leben erheblicher Gefahr aussetzen. Er musste einige Kilometer in unwegsamem Gelände in höchster Geschwindigkeit zurücklegen, ohne dabei ins Stolpern zu geraten. Er musste Zorn, Panik und Erschöpfung rasch überwinden und dabei seinen Puls senken, um einen sicheren Schuss ansetzen zu können. Das war nicht nur eine mutige Tat – es war ein Triumph intuitiven Heldentums und körperlicher Selbstüberwindung.
Je gründlicher ich mich mit Kreta in der Zeit des Widerstandes gegen die Besatzung beschäftigte, desto mehr Geschichten dieser Art begegneten mir. Kämpfte tatsächlich ein amerikanischer Highschoolschüler Seite an Seite mit den Rebellen hinter den deutschen Linien? Wer war der halb verhungerte Häftling, der aus einem Kriegsgefangenenlager floh und sich zu einem Meister der Vergeltung entwickelte, den man unter dem Kampfnamen der »Löwe« kannte? Und vor allem: Was ist damals wirklich geschehen, als ein bunt zusammengewürfelter Haufen versuchte, einen deutschen General und Divisionskommandeur von der Insel zu entführen? Selbst die Deutschen begriffen, dass sie sich mit der Landung auf Kreta auf eine ganz andere Art des Kampfes eingelassen hatten. Der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, gab an dem Tag, an dem er wegen seiner Kriegsverbrechen zum Tod verurteilt wurde, nicht den Nürnberger Richtern die Schuld an seinem Schicksal. Er kritisierte nicht seine Soldaten, weil sie den Kampf verloren hatten, und auch nicht Hitler, weil er ihn im Stich gelassen hatte. Er gab dem Widerstand auf der Insel der Helden die Schuld.
Und nirgendwo in Griechenland war der Widerstand einfallsreicher, unmittelbarer und ausdauernder als auf Kreta. Aus welchen Quellen schöpften diese Menschen ihre Kraft?
Es gab eine Zeit, in der diese Frage keine Rätsel aufgeworfen hätte. Die Kunst des Heldentums wurde während eines großen Teils der menschlichen Geschichte nicht dem Zufall überlassen. Sie war ein viele Lebensbereiche betreffendes Unterfangen, das mit optimaler Ernährung, herausragender Körperbeherrschung und geistiger Konditionierung zu tun hatte. Die Fähigkeiten des Helden wurden erlernt, geübt und perfektioniert und anschließend von den Eltern an die Kinder und vom Lehrer an den Schüler weitergegeben. In der Kunst des Helden ging es nicht um Tapferkeit; es ging darum, so kompetent zu sein, dass Tapferkeit gar nicht erst zum Thema wurde. Man sollte nicht unbedingt für eine gute Sache sterben; das Ziel bestand eher darin, möglichst lang am Leben zu bleiben. Achilles und Odysseus und all die anderen Helden der antiken Mythologie hassten es, an den Tod zu denken, und hingen an jeder Sekunde Leben. Die große Chance des Helden auf Unsterblichkeit bestand darin, dass man sich seiner Meisterschaft erinnerte, und Meister sterben nicht dumm. Alles hing von der Fähigkeit ab, enorme Ressourcen an Kraft, Ausdauer und (geistiger) Beweglichkeit freizusetzen, deren Vorhandensein vielen Menschen gar nicht bewusst ist.
Helden lernten, wie sie ihr eigenes Körperfett als Energiequelle nutzen konnten, anstatt nur auf Kohlenhydrate zu setzen, wie wir das heutzutage fast alle tun. Etwa ein Fünftel unseres Körpergewichts besteht aus eingelagertem Fett; das ist eine erstklassige Energiequelle, jederzeit abrufbar und reichhaltig genug, um einen Menschen ohne einen Bissen Nahrung einen Berg hinauf- und auch wieder hinuntersteigen zu lassen – wenn man weiß, wie diese Quelle angezapft werden kann. Fett als Energiequelle ist ein fast in Vergessenheit geratenes Geheimnis von Ausdauerathleten, aber wenn es wiederbelebt wird, führt es zu erstaunlichen Resultaten. Mark Allen, der erfolgreichste Triathlet der Sportgeschichte, schaffte den Durchbruch, als er eine Methode entdeckte, bei der die Verbrennung von Körperfett die Kohlenhydrate ersetzte. Das revolutionierte seine Herangehensweise an diese Sportart und führte zu sechs Ironman-Titeln, einem Platz unter den ersten drei bei nahezu jedem Rennen seiner Laufbahn und der Anerkennung als »fittester Mann der Welt« im Jahr 1997.
Helden legten sich auch keine großen Muskelpakete zu. Sie verließen sich lieber auf die magere, effiziente Kraft ihrer Faszien, des starken Bindegewebes, das den Körper wie ein Gummiband zusammenhält. Bruce Lee war ein unauffälliger Kampfsportler, bis er sich für Wing Chun begeisterte, die einzige von einer Frau entwickelte Kampfkunst. Wing Chun setzt nicht auf Muskelkraft, sondern auf Schnappbewegungen der Faszien. Lee wusste die Kraft seiner Faszien so geschickt einzusetzen, dass er den Ein-Zoll-Schlag perfektionierte, einen Hieb mit einer sich kaum bewegenden Faust, mit dem er einen doppelt so schweren Mann quer durch den Raum befördern konnte. Die Kraft der Faszien ist eine egalitäre und nahezu unerschöpfliche Ressource. Sie ist der Grund dafür, dass Massai-Krieger bei ihren Sprungzeremonien bis zur Kopfhöhe eines erwachsenen Mannes springen können, und sie macht den Kernbestand sowohl des griechischen Pankrations (»Allkampf«) als auch des brasilianischen Jiu-Jitsu aus, zwei der tödlichsten Selbstverteidigungsstile, die jemals entwickelt wurden.
Helden mussten Meister des Unvorhersagbaren sein. Sie trainierten ihre Amygdalae, indem sie »natürliche Bewegungen« praktizierten, die einzige Bewegungsart, mit der wir einst vertraut waren. Menschen mussten mit fließenden Bewegungen durch die Landschaft gleiten, wenn sie überleben wollten, sie mussten ihren Körper über und um jedes Hindernis herumwinden können, das ihnen im Weg war, sie mussten ohne Angst springen und präzise landen können. Ein französischer Marineoffizier namens Georges Hébert (1875–1957) widmete sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts dem Studium natürlicher Bewegungen. Er beobachtete Kinder beim Spielen – beim Laufen, Klettern und spielerischen Rangeleien – und erkannte die Bedeutung von Spontaneität und Improvisation. Héberts Zöglinge, die nach der natürlichen Methode unterwiesen worden waren, erreichten bei späteren Tests in den Bereichen Kraft, Geschwindigkeit, Beweglichkeit und Ausdauer Ergebnisse, die denen von Weltklassezehnkämpfern entsprachen.
Aus diesem Grund warteten die Griechen nicht einfach darauf, dass neue Helden auftauchten. Sie schufen sie sich selbst. Sie vervollkommneten eine Heldendiät, die den Hunger zügelt, die Kraft aufbaut und Körperfett in Bewegungsenergie umwandelt. Sie entwickelten Techniken, mit denen sich Angst und Adrenalinschübe kontrollieren lassen, und sie lernten, wie sich die bemerkenswerte verborgene Kraft des elastischen Gewebes, das sehr viel kräftiger und effektiver ist als die Muskeln, mobilisieren lässt. Vor mehr als 2000 Jahren beschäftigten sie sich ernsthaft mit der Frage, wie sich der Held, der in uns allen steckt, aktivieren lässt. Und dann verschwanden sie.
Oder auch nicht. Als ein Mittelschullehrer namens Rick Riordan in San Antonio, Texas, über die unruhigen Kinder in seiner Klasse nachdachte, hatte er einen schrägen Einfall. Vielleicht waren die wilden Gesellen gar nicht hyperaktiv; vielleicht waren sie einfach nur Helden am falschen Ort. In früheren Zeiten wäre nämlich genau das Benehmen, das man inzwischen mit Ritalin und disziplinarischen Strafregistern sanktioniert, ein Merkmal von Größe gewesen, das frühe Aufblühen eines wahren Champions. Riordan spielte den Gedanken durch und malte sich verschiedene mögliche Alternativen aus. Wie wäre es, wenn man starken, durchsetzungsfähigen Kindern eine andere Richtung weisen würde, anstatt sie zu entmutigen? Wie wäre es, wenn es einen eigenen Ort für sie gäbe, ein Outdoor-Trainingslager, das wie ein Spielplatz anmutete, wo sie all diesen natürlichen Instinkten ihren Lauf lassen und rennen, ringen, klettern, schwimmen, sich erproben und Entdeckungen machen konnten? Man könnte es »Camp Half-Blood« nennen, »Trainingslager für Halbgötter«, beschloss Riordan, weil das ihrem wirklichen Wesen entspricht – halb Tier und halb höheres Wesen, wobei unklar bleibt, wie das Gleichgewicht zu halten ist. Riordan begann zu schreiben und ersann ein Problemkind aus einer kaputten Familie namens Percy Jackson, das in ein Lager im Wald kommt und sich vollkommen wandelt, als der Olympionike, der in ihm steckt, offenbart, geformt und angeleitet wird.
Riordans Fantasievorstellung von einer Heldenschule gibt es wirklich – stückweise, in kleinen Teilen, über den ganzen Globus verstreut. Diese Fertigkeiten sind in kleine Stückchen zerlegt worden, aber wenn man nur lange genug sucht, findet man sie alle. In einem öffentlichen Park in Brooklyn flitzt eine ehemalige Ballerina ins Gebüsch und kommt mit einer Einkaufstasche voller hochwertiger Lebensmittel zurück, auf die einst schon die alten Griechen setzten. In Brasilien verhilft ein ehemaliger Strandverkäufer der vergessenen Kunst der natürlichen Bewegung zu neuem Leben. Und in einem abgelegenen, staubigen Nest namens Oracle in Arizona verschwand ein stilles Genie in der Wüste, nachdem dieser Mann zuvor ein paar großartige Athleten – seltsamerweise auch Johnny Cash und die Red Hot Chili Peppers – das uralte Geheimnis gelehrt hatte, wie man Körperfett in Energie umwandelt.
Aber das beste unter all diesen Lernlaboren war eine Höhle auf einem Berg hinter den feindlichen Linien, eine Höhle, in der während des Zweiten Weltkriegs eine Gruppe von griechischen Hirten und jungen britischen Agenten plante, es mit gut 40 000 deutschen Soldaten aufzunehmen. Sie waren weder muskelbepackt noch bis an die Zähne bewaffnet oder für ihren Mut berühmt. Sie wurden gejagt, und ihnen drohte die sofortige Hinrichtung. Aber mit ihren Hungerrationen blühten sie auf. Sie wurden stärker, als man sie jagte und verfolgte. Sie wurden zu derart starken, geborenen Helden, dass sie beschlossen, dem Beispiel des Odysseus, des größten aller Helden, zu folgen und es mit ihrer eigenen Version des Trojanischen Pferdes zu versuchen.
Es war ein Himmelfahrtskommando – aber nur für diejenigen, die eine bestimmte, uralte Kunst nicht beherrschten.