Sobald ihr aber von diesem Baume esset, werdet ihr wissen, was gut und böse, und erkennen, daß das Leben ein Übel ist, daß ihr keine Götter seid, sondern daß euch der Böse mit Blindheit geschlagen hat und euer Dasein sich abrollt, die Götter lachen zu machen.
Strindberg.
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Ich habe vergessen, was Glück ist.
Jeremias.
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Meine Harfe ist eine Klage geworden und meine Pfeife ein Weinen.
Hiob
Ich predige die Erbärmlichkeit des Daseins, Und wenn Du vom Leben angeekelt und angewidert auf der Mittagshöhe des Unglücks angelangt bist, und Deine Seele so überladen ist, daß sie zerspringen möchte, daß Du Dir am liebsten eine Kugel durch die Schläfe jagen möchtest, um Dich in das empfindungsleere Nichts hinüberzuretten, dann lies mein Buch. Es wird Dir Trost sein, indem es Deine Qualen steigert. Du verstehst – –
J. E. Poritzky
Geschrieben im Jahre 1900
Meine Stube ist klein und niedrig und wenn mich ein hoher Gedanke bewegt, ein Gedanke, der nur in einem Tempel reif werden kann, dann habe ich das Bedürfniß, heftig auf- und niederzugehen. Ich denke dabei rascher und kühner. Aber bald wird es mir natürlich zu eng und ich muß auf die Straße.
Da begegnet mir dann immer das Sonderbarste …
Während ich ganz und gar von dem Elend der Armen erfüllt bin und mit meiner großen Idee schwanger gehe, steckt mir Jemand ein rotes Kärtchen in die Hand. Was soll ich wohl jetzt mit einer Visitenkarte anfangen, denke ich; es ist bereits Nacht und ich mache keine Besuche, Aber ich bin dennoch meiner Füße nicht mehr Herr, und während ich mit meinen Gedanken beschäftigt bin, schreite ich mächtig aus, gehe und gehe, und bald sitze ich in einem schmalen, engen Restaurant, in dem eine blaue Ampel brennt. Ich zeige meine rothe Visitenkarte und frage, ob ich hier richtig sei; man sagt »ja« und lacht.
Ich bin der einzige Gast in dem merkwürdigen Lokal und links und rechts von mir, auf einem abgebrauchten Dirnensopha, sitzt je ein Mädchen. Sie sind fremdartig kostümirt. Auf dem Kopf tragen sie vielfarbige, golddurchwirkte Turbane, und sie haben unverschämte Spitzenmieder an, hinter welchen weissgepuderte, sehr große Brüste hervorleuchten. Die Mädchen, auf raschem Wege sich die Vierzig zu holen, sind dick und fett, wie genudelte Gänse, und sie kauen etwas. Die Eine kitzelt mich in der Schooßgegend und bemüht sich, das Tier in mir aufzuregen; die Andere sagt »Prosit und trinkt etwas Schwarzes. Dann geht die, welche getrunken hat, hinaus und bringt wieder ein Glas voll desselben Getränks herein. Indeß sagt die Andere zu mir: »Du kannst heut Nacht bei mir schlafen. Wir werden uns schön amüsiren; für einen Thaler, mein Kleiner«
Und sie nimmt meine Hand und führt sie an ihre Brüste; richtige Kuheutern.
Ach, bist Du so Eine denke ich; nein, mein Täubchen, aus unserer Hochzeit wird nichts. Und ich stehe auf und lege ein Zweimarkstück auf den Tisch. Man giebt mir nichts zurück. Ich weiß, daß man mich betrügt und schäme mich. Aber ich habe nicht die Macht, zu protestiren; ich habe Mitleid mit ihnen. Mit Jedem, der mich betrügen muß, habe ich Mitleid.
Nach einer Weile bin ich wieder auf der Straße. Es hasten so viele Gesichter hurtig an mir vorüber, daß ich nicht ein einziges scharf genug beobachten kann. Das schmerzt mich, denn das ist doch noch das Schönste: Jedermanns Gedanken – mir nichts, dir nichts – aus dem Gesicht zu lesen, ohne daß der Mensch sich dagegen wehren kann, daß man seine geheimsten Seelenwinkel ausforscht.
Wie seltsam das doch ist Ich weiß, was in den Menschen vorgeht, wenn ich ihnen in die Augen schaue. Es spiegelt sich in ihnen etwas, das ihr ganzes Wesen ausmacht. Ich sehe hinab bis auf ihren Seelengrund und irgend eine Kraft flüstert mir zu, was sie denken. Ich strenge mich nicht dabei an, Es fliegt mir zu, gleichsam wie Ahnungen …
Der Eine denkt an seinen leeren Magen und zählt in Gedanken das Geld im Beutel eines Andern. Man sieht ihm an, daß er im Geiste die ganze feiste Bourgeoisie niedermetzelt und schreckliche Attentate verübt.
Ein Anderer denkt an sein Kind zu Hause, das an der Diphtheritis zu ersticken droht. Er sieht, wie der Arzt den Hals seines Kindes auspinselt und wie er das röchelnde Kind foltert. Er stößt den Arzt wuchtig zur Seite, nimmt das Kind aus dem Korbe und wiegt es auf seinen harten Händen – eine Stunde … zwei Stunden … endlich stirbt es in seinen Armen … Das erschaut er im Geiste und er eilt wie ein Gehetzter heimwärts. Die Frau ist an Allem schuld, denkt er. Er hätte nie ein Kind gezeugt, wenn sie in schwülen Nächten ihn nicht gereizt hätte. Und nun gelobt er sich hoch und heilig, nie wieder ein Kind ins Leben zu rufen. Aber er glaubt sich seinen Eid nicht. Er sieht sich eines Abends abgerackert aus der Fabrik kommen und hört sich schimpfen – auf Gott und die Welt. Und die Frau sucht ihn zu trösten, indem sie ihn küßt und ihm Liebe schenkt – – und so wird ihm ein neues Kind geboren werden … das wird wieder Diphtheritis haben – wieder eine Beerdigung – ach –
Wieder ein Anderer spielt mit dem Schweinchen, das an seiner Uhrkette baumelt und denkt an die Unterröcke der Chansonette, deren Düfte er heute Abend im Tingel-Tangel einathmen wird. Er wird sich tief herabbeugen, wenn die Chansonette ein Bein über die Schulter werfen wird. Der Moment wird zwar kurz, aber himmlisch sein und – hol's der Teufel – er wird schon was sehen. Im Vorgefühl des hohen Genusses wird ihm fast schwindlig; er fährt rasch mit der einen Hand in seine Hosentasche und kratzt vor Wollust seinen Oberschenkel und liebkost seine Geschlechtsteile. Er sieht, daß man ihn beobachtet und er klappert mit den Schlüsseln.
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O, ich freue mich wie ein Satan in mich hinein, wenn ich den Menschen auf der Straße ihre kleinen Geheimnisse entlockt habe. Aber dann befällt mich, wie immer, ein Ekel vor der ganzen Welt, vor diesem großen Narrenhaus mit seiner schmutzigen Bestialität, daß ich mich irgendwo verstecken möchte, wo kein Leben hindringt, wo ich meine Scham ausweinen könnte … aber ich finde keinen solchen Ort, wo der Mensch mit seiner Verlogenheit und seinen unterjochten Sinnen nicht ist, und ich flüchte wieder in mein Zimmer zurück und vergrabe mich in einer Sophaecke. Ich möchte vor Schande zusammenschrumpfen zu einem Wurm und mich im kleinsten Schneckenhaus verkriechen. Und ich denke und denke und denke – – –
Es dauert nicht lange, dann kommt Boris Tumarkin und zeigt mir seine grellfarbige Cravatte für neunzig Pfennig und schwätzt los; er kommt von Einem ins Tausendste, und wenn er bei seiner Cravatte beginnt, hört er sicher bei Iwan dem Schrecklichen auf oder bei dem Ding an sich.
Ich höre ihm nicht zu; ich bin mit meinen Gedanken wo anders … ganz wo anders …
Wenn das ist mein großes Räthsel. Ich verachte die Menschen und liebe sie dennoch. Und meine Liebe kann zuweilen so stürmisch werden, daß ich jedes Menschenkind jauchzend in meine Arme schließen möchte, um es mit meiner großen Liebe zu durchsonnen, mit meiner Liebe, die fähig ist, die ganze Welt zu erwärmen. Und denjenigen, den das Leben herb und rauh angepackt hat, der auf den Straßen ziellos umherwandert, der wie eine von allem Leben losgerissene Planke im Menschenmeere planlos dahintreibt, dem die Welt in Trümmer ging, der sich der Gesellschaftskette nicht mehr eingliedern kann, dem Unsteten und Heimathlosen, dem Erniedrigten und Gekränkten, dem Gebrandmarkten und Geknechteten, dem laufe ich bettelnd nach, daß er mich mit seinen Leiden peinige. Und jedes bittere Wort, das er spricht, thut mir tief im Herzen weh und ich möchte es ihm vergelten mit all meiner Innigkeit. Schlage mich, möchte ich ihm sagen, und nimm Rache an mir für all die Unbill, die Dir die Menschen zugefügt.
Ich verachte ihn aber auch. Ja, ich bin aristokratisch und dumm genug, ihn um seiner Leiden willen zu verachten. Ach, er besitzt eben nicht die Fähigkeit, sich den Zeitverhältnissen anzupassen, denke ich; hol' ihn der Teufel. Es giebt in jeder Weltstadt zehntausend gute Tafeln zu fünfzehn oder zwanzig Gedecken und von diesen Gedecken ist keines für ihn bestimmt und er hat buchstäblich nichts zu essen; hol' ihn doch der Teufel. Tausend kleine talent- und verdienstlose Schöngeisterchen, tausend kleinliche, widrige Creaturen, tausend platte Intriguanten sind gut gekleidet; nur er geht wie eine elende Vogelscheuche umher; er kann seine Blöße nicht einmal decken; ach, hol' ihn doch der Teufel!
Immer noch glaubt er, die Menschen werden ihn nicht untergehen lassen. Er kennt sie noch nicht, die Gesellschaften, in denen die Gemeinplätze ihre ewige Wiedergeburt feiern; wo jeder Mensch, der seinen Mund öffnet, einem Uhrwerk gleicht und zwischen den uralten, vermoderten Phrasen hin- und herpendelt; wo jedes Gehirn zu einem Speicher der Dummheit wird, dessen Träger möglichst geräuschvoll seine hehren, heiligen, hohen Nichtigkeiten über uns ausschüttet; wo man hingeht, um zu essen und zu schwätzen und sich anzugeilen; wo man nie einen Menschen trifft, der, angewidert von der Leere dieses Vergnügens, angeekelt von der Hohlheit der Vollbäuche, sich geistig erbricht über all diesen zerstreuungssüchtigen, langeweilefürchtenden, armseligen Köpfen.
Dränge Dich vor, schmeichle, lüge, heuchle, schwöre, krieche, und Du wirst aufgenommen in die Horden der menschlichen Gesellschaft. Magst Du Dir aber nicht den Stempel der normalen Gemeinheit und der gebilligten Verworfenheit aufdrücken lassen, – hol dich doch dann wirklich der Teufel!
In Dir schlummert ein Genie? Dann brich Dir selber Bahn!
Dir mangelt der Sinn für die Brutalität, die man praktisches Leben nennt? Dann gehe unter!
Schon viele Herrlichen vor Dir haben die zweibeinigen Fünfhufer zertreten und dennoch sagen sie: das Genie ringt sich durch. Begreifst Du es nicht, daß sie ein Interesse daran haben, eine mächtige, geistig vorwärtstreibende Kraft zu knebeln? Und sie knebeln sie immer. Denn sie sind das Vieh, das immer die Majorität hat, die Majorität, die allemal Recht hat und gegen die selbst die Götter vergebens ankämpfen.
Elend bist Du und arm, Deine Gedanken gehen andere Wege, und eben deshalb tödten sie Dich.
Schwimme mit ihnen auf dem Ocean der Nichtigkeiten und laß Dich tragen von den Wogen der Gemeinheit. Dann fürchte nimmer den Sturm Wenn er daherbraust über die Wellenköpfe und sie schleudert an den cyklopischen Fels, sie zerstieben wohl, aber sie vergehen nicht. Die Staubatome des Wassers, sie sammeln sich rasch zu Wellen und wieder schaukeln sie sich auf dem Ozean der Nichtigkeiten. Dummheit vergeht nicht und Staub ist ewiglich.
Wo Gott ist, der Dich rettet aus diesem Meere?
Gestorben ist er aus Ekel vor seinen Geschöpfen und obenan thront der Teufel, der Herr des Drecks und der Läuse …
Ich könnte Dir eine Geschichte erzählen – Ja, ich will sie sogar erzählen …
Ich muß etwas weit ausholen … aber ich werde meine Behauptung mit überzeugenden Bildern illustriren, die ich meiner eigenen Entwicklungsgeschichte entnehme … Ich wuchs in einem Hause auf, in dem die Armuth ihren Thron aufgeschlagen hatte. Der Vater verdiente fast nichts; die Mutter quälte sich mit einer Gänsemästerei ab. Man war nie im Stande, mir die kleinste jener Freuden zu verschaffen, die sich der Kindesseele so tief einprägen und die aus dem Knaben einst einen dankbaren Mann machen. Dagegen fehlte es nie an Prügeln, und wenn ich in meinen Erinnerungen wühle und mir im Geiste noch einmal alle die Ohrfeigen geben lasse, die ich von meinem Vater erhalten, so sehe ich meines Vaters Hand als eine große, rothe vor mir und fühle sie als eine harte, starkknochige in meinem Antlitze brennen, eine Tyrannenhand, die nicht geschaffen ist zu liebkosen oder Runzeln fortzuglätten. Die Hand meiner Mutter aber war immer im Stande, die Unmuthswolken, die auf der Stirn des Kindes brüteten, hinwegzustreicheln. Die Hand, so klein sie war, gab groß und gern, und das Fluidum, das von ihr ausströmte, wirkte auf die Kinder segensvoll. Die Hand war von tausend Quer- und Kreuzlinien durchfurcht, unschön, zerarbeitet, welk – aber gerade darum muß sie einmal herrlich gewesen sein. Wenn eine Königin neben einer Bäuerin die gleich harte Arbeit verrichtet, wird die königliche Hand rasch ihre feinen Formen und ihre prächtige Weisse verlieren, die der Bäuerin aber wird kaum an ihrem Aussehen etwas eingebüßt haben. Und so waren mir die Hände meiner Mutter immer ein Beweis ihres hohen empfänglichen Herzens, und aus diesen Händen verstand ich – als ich älter ward – sehr wohl die Leidensgeschichte meiner Mutter zu lesen. Das Kind ahnte nur, daß es nicht der einzige Mensch war, der vom Vater gepeinigt wurde. Da drückte sich jeder in einen muffigen Winkel und brütete stumm in sich hinein, und da die Stubenwände kahl und poesielos waren, so ward die Phantasie des Kindes frühe rege. Ich zwang mein Gehirn oft, die herrlichsten Paläste zu bauen; ich schweifte in Höhlen umher und tödtete Bären; ich kletterte auf Felsen und köpfte Riesen; ich ehelichte Prinzessinnen und ward König in einem kupfernen Schloß; ich hielt Zwiesprach mit Elfen und ritt mit nackten Hexen auf Besen durch die Lüfte; über wilde Stoppelfelder, auf denen das Mondlicht schlief, fuhr ich in feurigem Wagen; ich ward Henker und schwang über Menschen das blutige Schwert. Und weil bei uns zu Hause jedweder Glanz fehlte, nach dem ich mich so sehnte, als ich ihn in den Wohnungen der Spielkameraden einmal geschaut hatte, ward ich hingedrängt zur Märchenwelt und es gab wohl kein Kind, das diese Geschichten, bei denen mir Verzückung und Wonne durch die Adern floß, so gierig in sich aufnahm und sie gleichzeitig so haarklein in Wirklichkeit umsetzte, wie ich. Um so entsetzlicher war es für mich, als ich aus diesem Traumleben erwachte und gefunden hatte, daß die Welt draußen nicht so war, wie die Märchenwelt in mir. Da verletzte mich jedwed Ding und kein Haar blieb mir ungekrümmt. Die Welt stieß mich ab … sie war so trist und traurig. Ich weiß noch genau, daß ich mich einst, angeekelt von aller Wirklichkeit, in den Keller verkroch, trotzdem mir vor den todten Spinnen, die in ihren dickbestaubten Geweben vermoderten, graute, daß ich dort dann niederkniete, ein altes Schwert emporhob und eine schöne Fee feierlichst beschwor, mich fortzuführen in ihren duftigen Wald und mich bald zu erlösen von dem heimathlichen Gefängniß. O, und Flügel wünschte ich mir Denn etwas ganz Weltunberührtes in mir, wollte immer bei den Sternen sein. Meine Gebete, an die Feen und Zwerge gerichtet, blieben aber unerhört und ich wurde skeptisch gegen das ganze Geistergesindel.
Ich muß noch erzählen, daß ich die Märchen nur in jenem Raume las, der dem Deus crepitus geweiht ist, in einem dörfischen Abort ohne Wasserabguß, wo es athembeklemmend stank und wo mir die Mücken, trotz Wehren und Sträuben unablässig ins Gesicht flogen. Denn in der Wohnstube durfte ich nie lesen. Dafür stellte ich aber die Geduld der Bedrängten auf harte Proben und ließ sie oft vier, fünf Mal pochen, indeß ich glückfiebernd weiter las. Ehe ich mein pestendes Kämmerchen verließ, schob ich das Buch unter meine Weste, daß man es nicht entdecken konnte. Man fragte mich, warum ich so oft und so lange in jenem Häuschen säße; ich mußte wieder lügen, beständig lügen, entschuldigte mich mit »Durchfall« und war dann gezwungen, mehrere Tassen eines widerlichen stopfenden Getränks zu leeren. So oft ich meiner Heuchelei wegen diese Medizin einnehmen mußte, roch ich aus dem Munde wie ein Wiedehopf und verfluchte mein Leben und meine Peiniger. Wenn der Vater mich mit einem deutschen Buche betraf, riß er es mir aus der Hand und verbrannte es meist oder er zerrupfte es wohl auch in seine einzelnen Bogen und schnitt es für den Closettgebrauch zurecht. Jeder Lump konnte meine Märchenwelt mit jener Materie besudeln, die die Felder fruchtbar macht und die nur der gute Aristophanes auf die Bühne gebracht hat. Diese also vernichteten Bücher bedeuteten aber meine ganze Welt, und dann, sie waren von Kameraden erborgt, die mich schonungslos und mit der Freude, welche die Jugend an Prügeleien hat, durchwalkten, wenn ich sie nicht mehr abliefern konnte. Ich war dann genötigt, die Freunde zu belügen und meine Phantasie nach dieser Richtung hin anzustrengen. Außerdem mußte das Buch natürlich wieder ersetzt werden, was denn die Mutter bezahlte. Und da sie immer gar knapp bei Geld war, entstanden durch mich, also indirekt durch meine Leselust, zwischen den Eltern gewöhnlich häßliche Dispute, die – ich erinnere mich so qualvoll deutlich daran – stets mit unerhörten Flüchen des Vaters endigten. Und ich bekam dann Prügel und außerdem wurde ich noch wacker durchgeschimpft:
»Ein Feuer soll Dich verbrennen« polterte es dann über mir; »man zerbreche Dir den Kopf Achtzig finstere Jahre über Dich Getaufter Hund Musst Du diesen Dreck lesen, heidnischer Bankert?
Alle bösen Geister über Dich Nicht gedacht soll Deiner werden, Du freches Schweinegesicht Ein böses Ende für Dich Geschwollen sollst Du liegen Die Cholera ergreife Dich Man spalte Dir die Stirn Stück Mist, der Teufel fange Dich«
Und dies Alles um der Lectüre eines deutschen Buches willen.
Ich begreife das heute sehr gut; ich muß sogar gestehen, daß mir diese spezifisch russischjüdischen Schimpfe durch die Kraft des Ausdrucks und die Originalität des Inhalts Bewunderung abzwingen; aber das Kind konnte sich die grausame Brutalität des Vaters nicht erklären, ward von solcher Art vergiftet, ward schweigsam, zog sich in sich zurück, wünschte dem Vater von ganzem Herzen einen jähen Tod, der Mutter dagegen ein ewiges, herrliches Leben. Die Art des Vaters, mit mir zu reden, übte auf mich eine um so nachhaltigere Wirkung aus, als sie mit der Weise meiner Umgebung, besonders dem Tone der Mutter, disharmonirte. An die Mutter schloß ich mich an mit dem ganzen Bedürfniß eines mißverstandenen, ungeliebten Kindes, und die Mutter begriff das Alles, und da sie mir die Liebe ersetzen wollte, die der Vater mir verweigerte, verweichlichte sie mich.
Der Vater haßte mich, denn ich war nicht seines Schlages; ich war ihm überflüssig, ein Esser mehr im Hause, wissensdurstig und wenn auch klein, ein großer Frager.
»Vater, wo ist der liebe Gott?«
»Was sind das für Fragen? Er ist im Himmel«
»Dort oben?«
»Ja, Kaffer; dort oben.«
»Wann sieht man ihn?«
»Solche Schweine, wie Du, sehen ihn nie. Nur die Frommen sehen ihn.«
»Siehst Du ihn?«
»Halt Dein Maul – laß mich essen.«
»Bin ich denn nicht fromm?«
»Nein, Du Brigant, Du bist nicht fromm. Du betest nicht gern. Du liest lieber diesen deutschen Dreck. Aber warte nur, warte nur In jener Welt drüben wird man Dir dafür schon den Hintern vergerben.«
»Aber ich muß doch lesen, Vater.«
»Nein, das mußt Du nicht. Wirf Deine ekelhaften Bücher weg Ins Feuer mit den Schmierereien Bete, das ist klüger. Dann wird Dich Gott lieb haben. Sonst aber verachtet er Dich wie einen krätzigen Hund.«
Soviel war mir aber der liebe Gott nicht werth und wenn er so kleinlich sein konnte, weil ich nicht den ganzen Tag vor ihm auf den Knieen lag, so brauchte ich ihm auch nicht meine Märchenbücher zu opfern …
Denn was in den Märchenbüchern stand, wußte ich. Das war Alles so wunderbar und so groß. Was aber in den Sternen stand, konnte ich nicht wissen. Gott war mir nur ein Name, »leerer Schall und Rauch«; etwas, das beständig auf der Lauer lag, um Einen für jede Kleinigkeit zu bestrafen; eine Wolke, von der man sich aber keine rechte Vorstellung bilden konnte. Und erst als Jüngling wurde er mir von Bedeutung, glaubte ich an ihn, als an einen persönlichen …
Daher kam es unzählige Male zu denselben Scenen. Der Vater kannte alle meine Verstecke und entdeckte meine Bücher. Er scharrte sie mit einem Knüttel unter dem Schrank, unter dem alten Wachstuchsopha hervor, und wenn er sie hatte, besah er die farbigen Bilder, die ihm viel Spaß machten, bat mich, ihm die Illustrationen zu deuten, und wenn ich es mit großer, hingebender Freude gethan hatte, belohnte er mich, indem er das Buch in den Ofen warf. Er ließ mich fortwährend seine Übermacht fühlen; er war beständig mein Feind. Wenn er sah, daß ich darüber weinte, war er froh. Durch diese Tyrannei hoffte er selig zu werden.