DAS BUCH

Dies ist die letzte Chance der Menschheit: Nachdem sie vor 600 Jahren eine interstellare Katastrophe verursacht haben, müssen die Menschen nun beweisen, dass sie zu dauerhaftem Frieden fähig sind. Denn nur dann werden sie in den Kreis der Hohen Mächte aufgenommen und erhalten Zugang zum universalen Wissen der Kosmischen Enzyklopädie. Unter der Aufsicht der »Ägide«, einer von Menschen gegründeten Organisation, die auf den von der Katastrophe betroffenen Welten Entwicklungshilfe leistet, wird der Planet Heraklon zu einem Ort des Friedens und der Diplomatie. Doch dann wird auf Heraklon ein mysteriöses Artefakt entdeckt, das den Zugang zu modernster Technologie verspricht – einer Technologie, die der Wissenschaft der Hohen Mächte ebenbürtig ist. Der Exekutor Rahil Tennerit soll das geheimnisvolle Artefakt im Auftrag der Ägide untersuchen. Eine gefährliche Aufgabe, denn es gibt immer noch mächtige Gegner, die die Aufnahme der Menschen in den Kreis der Hohen Mächte mit allen Mitteln verhindern wollen. Und einmal ist Rahil bereits gescheitert …

DER AUTOR

Andreas Brandhorst, geboren 1956 im norddeutschen Sielhorst, hat mit seinen Romanen die deutsche Science-Fiction-Literatur der letzten Jahre entscheidend geprägt. Spektakuläre Zukunftsvisionen verbunden mit einem atemberaubenden Thrillerplot sind zu seinem Markenzeichen geworden. Etliche seiner Romane wurden preisgekrönt und zu Bestsellern. Andreas Brandhorst hat viele Jahre in Italien gelebt und ist inzwischen in seine alte Heimat in Norddeutschland zurückgekehrt.

Mehr über Andreas Brandhorst und seine Romane erfahren Sie auf:

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ANDREAS

BRANDHORST

DAS

ARTEFAKT

ROMAN

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

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Copyright © 2012 by Andreas Brandhorst

Copyright © 2018 der deutschsprachigen Taschenbuchausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München unter Verwendung von Motiven von Shutterstock (Algol, zhu difeng und Evannovostro)

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN: 978-3-641-06694-9
V003

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Wie viele Gedanken passen in einen Kopf,

wie misst man ihre Größe?

Wie schwer sind Wahrheit und Lüge?

INHALT

ERSTER TEIL

IRRWEGE

DER ERSTE SCHRITT

DER ERSTE FEIND

DIE MISSION

LUCREZIA

GEDANKENSPIELE

HOHE WORTE

TIEFER FALL

INTERLUDIUM

VERGANGENE PFADE

GESTERN, VOR HUNDERT JAHREN

DER RING

DIE FLUCHT

DAS ENDE EINES WEGES

ZWEITER TEIL

HERAKLON

EIN WIEDERSEHEN

GEFRESSENE WELT

NACH NORDEN

DIE STUMMEN ZEUGEN

LAUTARET

BEGEGNUNGEN

MUNRAHA

DAS ARTEFAKT I

DAS ARTEFAKT II

EPILOG

GLOSSAR

ERSTER TEIL

IRRWEGE

Vor dem Jungen erstreckte sich die Stadt, durchzogen von wenigen breiten Straßen und vielen schmalen Gassen. Dunst hing über ihr wie ein graues Leichentuch.

»Eines Tages«, sagte der Vater des Jungen, »gehört dies alles dir. Dir und deiner Schwester. Eines Tages werdet ihr die Geschicke dieser Stadt bestimmen, und die der ganzen Welt.«

Der Knabe, erst elf Jahre alt, sah zum Himmel hoch, vorbei an den Wolkenbändern des warmen Gasriesen Cambronne, vorbei an seinen Monden, den Welten des Dutzends. Ich will weg von hier, dachte er und beobachtete die Sterne. Eines Tages werde ich bei euch sein.

Eine Wahrheit wandelt über mir

Einer Wolke gleich –

Mit unsichtbaren Blitzen trifft sie mich.

DER ERSTE SCHRITT

1

Es ist der Träumer, der sich fragt: Schlafe ich oder bin ich wach? Es ist der Lügner, der sich fragt: Verbirgt sich Wahrheit in meinen Lügen? Und ist nicht die einzige Wahrheit unser Glaube?

Es war der Kopf eines Toten – eines aus dem Jenseits Zurückgekehrten –, der diese Gedanken dachte, und es waren nicht einmal seine eigenen. Sie stammten von dem Psychomechaniker Lynton Hongeva Ayyad und waren Teil eines Mantras, das ihm, dem Wiederauferstehenden, helfen sollte, mit der Phase des Übergangs, der Rückkehr von den Toten – und auch dem Leben danach –, besser fertigzuwerden. So vage und hintergründig die Worte auch sein mochten, sie beschrieben den Zustand, in dem sich das erwachende Bewusstsein befand: nach der feinen Linie zwischen Wirklichkeit und Wirrnis suchend, um zu unterscheiden, zu kategorisieren, zu deuten und zu verstehen. Es gab zwei Welten, erinnerte sich der Träumer, mit einem wichtigen Unterschied: Die eine existierte außerhalb von ihm, und die andere war er selbst, eine Innenwelt, die einen Namen bekam, als er sich darauf konzentrierte: Rahil Tennerit. Ein Name, dachte er. Ein Name macht den Unterschied. Er zieht die Linie zwischen dem Hier und Dort; er gibt mir Identität und grenzt mich von der äußeren Welt ab. Der Name sorgt dafür, dass ich bin.

Ich bin der Träumer, dachte der Lebende. Ich erwache.

Er sah es nicht, spürte aber: Die äußere Welt war ein Uterus.

Das, so erinnerte er sich, war äußerst ungewöhnlich. Er erlebte seine Wiedergeburt, die Phase des Wachstums – er spürte, wie Rumpf und Gliedmaßen seines Körpers feinere Strukturen gewannen –, die Übertragung des Images in ein jungfräulich leeres Gehirn, das memoriale Informationen empfing und ihnen das Verknüpfungsmuster von Neuronen und Synapsen entnahm. Er hätte schlafen, ganz ein Träumer sein sollen, aber stattdessen wusste er, dass er im Innern einer Maschine steckte, dass ihn die Technik der Hohen Mächte, der Ägide zur Verfügung gestellt, ins Leben zurückbrachte.

Das Gehirn, mit dem er bereits dachte, nahm weitere Erinnerungen auf, und Rahil suchte in ihnen nach Hinweisen darauf, was ihn sein letztes Leben gekostet hatte. Es war nicht sein erster Tod gewesen; schon zum vierten Mal holte ihn die Technologie der Hohen Mächte ins Leben zurück.

Wer oder was hatte ihn umgebracht? Das Image, das jetzt zu seiner Identität wurde, ein Back-up seines Bewusstseins, enthielt Erinnerungen an die Vorbereitungen für den Einsatz auf Heraklon, an eine Mission, die das Artefakt im hohen Norden des Friedensplaneten betraf. War er dort gestorben, auf dem Planeten, der zeigen sollte, dass die Menschheit es sechshundert Jahre nach dem Ereignis verdiente, in den Kreis der Hohen Mächte aufgenommen zu werden und Zugang zur Kosmischen Enzyklopädie zu erhalten? Mentale Kontinuität schien es nicht zu geben; zumindest hatte er noch keine Erinnerungen an den Einsatz. Das bedeutete: Man hatte seine Leiche nicht rechtzeitig – oder gar nicht – gefunden.

Der Gedanke an die Enzyklopädie und ihr unentschlüsselbares Lied weckte in ihm eine seltsame, fast erschreckend intensive Sehnsucht. Er begriff, dass diese Sehnsucht (die Betonung lag auf der zweiten Silbe des Wortes) einer der Gründe war, warum er in seinen vorherigen Leben die Hilfe des Psychomechanikers Ayyad in Anspruch genommen hatte. Ein anderer, noch wichtigerer war …

Jazmine.

Der Name erschien in der Welt, die er selbst war, begleitet von einem Schmerz, so intensiv, dass sich Rahil zerrissen und zerfetzt glaubte. Aus dem anderen Universum, dem äußeren, kam eine Taubheit, die er als Schutzfunktion des Uterus erkannte – die Sensoren der Bioschmiede hatten einen hohen Stressfaktor festgestellt, und die Maschine, die ihn gebar, agierte mit selektiver neuronaler Stimulation – wie eine Rüstung oder Femtomaschinen – und versuchte, ihm den Schmerz zu nehmen.

Er sitzt zu tief, dachte Rahil. Er sitzt so tief, dass es nicht einmal Lynton Hongeva Ayyad, der beste Psychomechaniker der Ägide, geschafft hatte, die Wurzeln auszureißen.

Eine Zeit lang blieb es in allen Wahrnehmungsspektren »dunkel« – die Nervenverbindungen zwischen Sinnesorganen und Hirn schienen noch nicht komplett zu sein oder einer internen Interdiktion zu unterliegen, vielleicht als Bestandteil der Schutzmaßnahmen, mit denen der Uterus Rahils Schmerz dämpfte. Dann drang eine Stimme an Ohren, die genug Struktur gewonnen hatten, um sie wahrzunehmen.

»Sie sollten mich jetzt hören können, Rahil Tennerit.«

Der wiederauferstandene Rahil wollte sprechen, und er sprach: »Dies ist nicht normal.«

»Nein.«

Weitere Nervenverbindungen entstanden, und er begann, Teile seines Körpers zu spüren. Ein leichtes Stechen ging von ihnen aus, fast unangenehm. Die psychische Taubheit blieb, wie eine Mauer, hinter der die mit dem Namen verbundenen Erinnerungen auf der Lauer lagen. Ayyad hatte angeboten, sie ihm zu nehmen und durch etwas anderes zu ersetzen, durch eine falsche Vergangenheit ohne Schmerz. Rahil hatte abgelehnt, weil er nicht auf einen wichtigen Teil seines Lebens verzichten wollte.

»Sind Sie der Schmied?«, fragte Rahil. »Was ist geschehen?«

»Der Schmied ist tot«, kam die Stimme aus dem scheinbaren Nichts, das Rahil umgab. »Wie alle anderen Besatzungsmitglieder der Station. Übrig sind nur ich und der Wartende an Bord des Schiffes. Dies ist ein Notfall. Der Uterus, in dem Sie sich befinden, arbeitet im beschleunigten Modus. Ich bedauere die Unannehmlichkeiten für Sie.«

In den Zehenspitzen – Rahil vermutete zumindest, dass es die Zehenspitzen waren – brannte ein Feuer. Er versuchte Einzelheiten seiner Umgebung zu erkennen, konnte aber nicht einmal feststellen, ob seine Augen geöffnet waren oder ob er in dieser Phase der Wiederherstellung bereits funktionierende Augen hatte. Um ihn herum blieb alles grauschwarz, und er hörte seinen Herzschlag – das Herz schlug, er fühlte es! – wie das Pochen eines mechanischen Metronoms.

»Wir müssen uns beeilen«, fuhr die Stimme fort. »Der Angreifer könnte zurückkehren.« Es folgte eine kurze Pause. »Vielleicht befindet er sich noch immer an Bord. Sie müssen so schnell wie möglich in den Einsatz zurückkehren.«

»Was ist geschehen?«, wiederholte Rahil mit etwas mehr Nachdruck. »Und wer sind Sie?«

»Ich bin der Kurator dieser Ägide-Station, die sich in der Nähe von Ganska befindet. Hilfe ist unterwegs, aber vielleicht trifft sie nicht rechtzeitig vor der nächsten Aktion des Angreifers ein. Deshalb erleben Sie diese Phase bei Bewusstsein; so können wir auf die Weckphase verzichten. Ich habe den Dämpfer aktiviert, um Ihnen Desorientierung zu ersparen.«

Der Dämpfer des Uterus mochte die Erinnerungen in Schach halten, mit denen Rahil seit Jahrzehnten rang, und vielleicht bewahrte er ihn in dieser Phase auch vor geistiger Zersplitterung, die so stark werden konnte, dass sie ein Trauma hinterließ. Aber etwas anderes war ebenso tief in ihm verwurzelt wie die Erinnerungen, etwas, an dem er sich all die Jahre festgehalten hatte: die Pflicht, der Dienst für die Ägide, die feste Entschlossenheit, den Gefallenen Welten dabei zu helfen, einen besseren Weg in die Zukunft zu finden und das zu vermeiden, was er damals, als Kind, im Dutzend erlebt hatte. In gewisser Weise war es dieser Dienst, der ihm seine Identität verlieh, und dass er sich hier befand, in diesem Uterus, in dieser Bioschmiede, offenbar unter ganz besonderen Umständen, bedeutete vielleicht …

»Wie bin ich ums Leben gekommen?«, fragte er das grauschwarze Nichts. Das Brennen in seinen Zehenspitzen wanderte, etwas weniger heiß, nach oben, erreichte Schienbeine und Knie.

»Das wissen wir nicht. Alles deutet darauf hin, dass Sie ermordet worden sind und Ihr Tod mit dem Artefakt in Zusammenhang steht.«

»Ich bin auf Heraklon ums Leben gekommen?«

»Ja.«

»Bevor ich meinen Auftrag erfüllen konnte?«

»Ja.«

Da war die Furcht, trotz des Dämpfers, und die Antworten des Stationskurators schienen sie zu bestätigen. »Habe ich … versagt?«

»Niemand zweifelt daran, dass Sie Ihr Bestes gegeben haben.«

»Aber vielleicht war es nicht gut genug.«

Wieder folgte eine kurze Pause, und Rahil fragte sich, ob sie objektiver oder subjektiver Natur war. Ich darf nicht versagen, dachte er. Er hatte einmal versagt, vor vielen Jahren, fast vor einem Jahrhundert, und auch Ayyad hatte ihn nicht von der Bürde der Schuld befreien können. Sie lastete auf seiner Seele, schwer wie ein Berg, solange er keine Rüstung trug, und auch wenn Ayyad von »Überkompensation« gesprochen hatte: Der feste Wille, seiner Verantwortung als Missionar der Ägide gerecht zu werden und alle seine Aufträge erfolgreich abzuschließen, gab ihm die Kraft, dem Druck standzuhalten, mit ihm fertigzuwerden.

»Ich registriere eine starke emotionale Reaktion«, sagte die Stimme. »Ich bin kein Schmied, aber vielleicht sollte ich die Dämpfung erhöhen, obwohl sie den Image-Transfer behindert.«

»Nein! Ich will wissen, was geschehen ist!«

»Bitte beruhigen Sie sich. Ihre Erinnerungen sind noch destrukturiert. Der Körper wächst schneller als die mentale Integrität. Aber in einer Stunde öffnet sich das Kickout, und dann müssen wir bereit sein. Dann müssen Sie bereit sein. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Die Lage auf Heraklon spitzt sich zu. Und die Krise betrifft nicht nur Heraklon, sondern einen großen Teil der Gefallenen Welten.«

Erinnerungen kehrten zurück, während Rahils Gehirn weitere Image-Daten aufnahm. Die Mission, die wichtigste von allen. Vor sechshundert Jahren, nach dem Ereignis, hatten die Hohen Mächte der Menschheit eine letzte Chance gegeben: sechs Jahrhunderte, um zu beweisen, dass sie fähig war, zu Frieden und Reife zu finden. Als Lohn winkte Zugang zur Kosmischen Enzyklopädie, zum Wissen und zur Technik der Primären, der ältesten Zivilisationen des Universums. Heraklon, zur Welt des Friedens und der Diplomatie geworden, hatte diesen Beweis erbringen sollen, aber dann war das Artefakt erschienen, ein seltsames Objekt, offenbar mit primärer Technik ausgestattet, das Begehrlichkeiten bei den Autokraten und Despoten der Gefallenen Welten weckte. Rahil erinnerte sich nun: Er war als Missionar der Ägide nach Heraklon geschickt worden, um dort festzustellen, was es mit dem rätselhaften Artefakt auf sich hatte und wie die Gefahren, die es heraufbeschwor, neutralisiert werden konnten. Er erinnerte sich auch daran, ein direktes Eingreifen der Ägide vorgeschlagen zu haben, wie auch schon bei anderen Gelegenheiten, aber das Kuratorium hatte abgelehnt und war bei seiner Politik der Nichteinmischung geblieben, an der sich zwischen Rahil und seinen Einsatzleitern oft Konflikte entzündet hatten.

Die wichtigste aller Missionen; von ihrem Erfolg oder Misserfolg hing die Zukunft der Menschheit ab.

Und ich bin auf Heraklon gestorben, dachte Rahil. Jemand hat mich dort umgebracht, um zu verhindern, dass ich die Mission erfülle.

Er zweifelte nicht daran, dass es einen Zusammenhang mit dem Angreifer gab, von dem der Kurator gesprochen hatte. Jemand wollte ihn töten, bevor er wieder richtig lebendig wurde. Jemand wollte, dass er nicht nach Heraklon zurückkehrte. Vielleicht verstand er mehr, wenn er alle memorialen Daten des Image empfangen hatte.

»Sie schicken mich zurück, Kurator?«

»In einer Stunde, Rahil Tennerit. Wenn es mir gelingt, die Wiederherstellung weiterhin stabil zu halten. Leider fehlen mir die Kenntnisse eines Schmieds. Ihre starken emotionalen Aktivitäten bedrohen die Integrität des Datenstroms zwischen Image und Uterus. Ich empfehle Ihnen dringend, sich auf neutrale Gedanken zu besinnen. Vielleicht wäre eine vollständige Dämpfung doch besser …«

»Nein!« Eine Stunde, dachte Rahil. Dann kann ich mich ganz auf den Einsatz konzentrieren. Bis dahin, bis ich eine Rüstung bekomme und damit die Möglichkeit, meine Emotionen unter Kontrolle zu bringen, muss ich mich ablenken. Nicht zu denken ist falsch; an etwas zu denken ist besser. »Habe ich Augen? Lassen Sie mich sehen!«

»Was möchten Sie sehen?«

»Das Kickout«, sagte er. »Bitte zeigen Sie mir das Fraktal des Kickouts, während ich auf das Ende der Wiederherstellung warte.«

2

Draußen, in schwarzer Totenstille, öffnete sich eine goldene Blume mit einem Durchmesser von hundertfünfzigtausend Kilometern, ihre Blütenblätter wie benetzt von fraktalem Tau, voller Muster, die wie dünnes Eis glänzten und sich im Kleinen wie im Großen ständig wiederholten. Neben dieser sich langsam entfaltenden Blume hing ein Schiff im All, klein im Vergleich mit dem Fraktal, das eine über viele Lichtjahre reichende Verbindung herstellte, aber riesig nach menschlichen Maßstäben: ein Polarisator der Leskovar – Sekundäre, die zu den Hohen Mächten zählten –, mit fast hundert Kilometern Länge ein Gigant und viel größer als die Station der Ägide am Rand des Schwerkrafttrichters, den Ganska und seine Monde mehrere Lichtsekunden entfernt ins Gewebe der Raumzeit stanzten. Wenn Rahil sich konzentrierte, sah er die gekrümmten Linien der Gravitationsfelder wie Seile, die Raum und Zeit zusammenhielten und durch den brodelnden Quantenschaum führten, in dem das Fraktal wurzelte, durch das Chaos aus Materie und Energie, die sich gegenseitig vernichteten und neu erschufen. Myriaden Blasen bildeten sich dort und platzten, wie von der Flamme der Schöpfung erhitzt, jede von ihnen kleiner als das, was man einst Planck-Länge genannt hatte, noch viel, viel kleiner als die Femtomaschinen, die, vom primären Uterus geschaffen, bereits in dieser Wiederherstellungsphase zu Millionen in Rahils Körper unterwegs waren, Zellverbände verstärkten und Organe mit Zusatzfunktionen ausstatteten. Jede einzelne Blase in diesem Schaum, der das Fundament alles Existierenden bildete, war ein eigenes Universum, durch eine interne inflationäre Phase aufgebläht. Ich sehe Geburt und Tod ganzer Kosmen, dachte Rahil mit einer Ergriffenheit, die ihn an seine Anfangszeit bei der Ägide erinnerte, und gleichzeitig fragte er sich, ob es seine eigenen, von den Femtomaschinen der Primären verbesserten Sinne waren, die den Quantenschaum sahen, oder ob der Kurator seine Wahrnehmung mit den Systemen der Station und des Uterus stimulierte.

Rahil blinzelte, und das verwirrende Brodeln sowie die Linien des Gerüstes von Raum und Zeit verschwanden. Nur der Polarisator war zu sehen. Es befanden sich keine anderen Raumschiffe in der Nähe, weder in niedrigeren Umlaufbahnen um den Planeten noch in den Sprungsektoren des Sonnensystems. Hatten die Sekundären eine Interdiktionszone geschaffen, um weiteren Angriffen auf die Station der Ägide vorzubeugen?

»Öffnen die Leskovar das Fraktal für mich allein?«, fragte er.

»Ja«, bestätigte der Kurator.

Rahil dachte an den Energieaufwand. Die Leskovar jonglierten dort draußen mit energetischen Ressourcen, die ausgereicht hätten, den Energiebedarf so mancher Gefallenen Welt auf Jahre hinaus zu decken. Und das alles nur für ihn.

Nicht für mich, korrigierte er sich in Gedanken. Für die Mission der Ägide, die nicht scheitern darf.

Seine Gedanken, noch unkontrolliert von Femtomaschinen und Rüstung, bewegten sich wieder in eine Richtung, die stärkere Emotionalität hervorrief. Eine Stunde, dachte er. »Ich möchte das Lied der Kosmischen Enzyklopädie hören«, sagte er. »Es beruhigt mich«, fügte er hinzu, was zumindest teilweise der Wahrheit entsprach.

Etwas veränderte sich in seiner Wahrnehmung, und ein oder zwei Sekunden später drang ein melodisches Summen an Rahils wiederhergestellte Ohren, entfaltete fast sofort eine Komplexität, von der eine hypnotische Faszination ausging. Dies war der Gesang des Wissens, der von der Technik und den Erkenntnissen der Hohen Mächte erzählte, aber so gut codiert und verschlüsselt, dass es niemandem – weder den Experten und Maints von Ägide und Bruch-Gemeinschaft noch den Volontären, die sich hier und dort zu Dechiffrierungsgruppen zusammengeschlossen hatten – gelungen war, auch nur den Dateninhalt eines einzelnen Tons freizulegen.

Rahil hörte die Klänge und dachte: Bald fällt die Entscheidung, ob wir Zugang zur Enzyklopädie und damit zu den kolossalen Wissensschätzen der Hohen Mächte bekommen. Ein zweiter, warnender Gedanke lautete: Wenn man diese Melodie zu oft hört, kann man süchtig danach werden.

Die Aura des Planeten Ganska und seiner Monde bildete kein Schreien vor der kosmischen Hintergrundstrahlung, die das Lied in sich trug, und vor den Markierungsrufen der Bojen in den Sprungsektoren des Sonnensystems, aber ein lautes Flüstern, bestehend aus mehreren Billionen raunenden Stimmen – so viele smarte Geräte, Apparate, Instrumente, Maschinen und Maschinenintelligenzen sprachen dort miteinander, tauschten Meinungen und Bewertungen aus, analysierten Daten, schufen daraus neue Informationen, die ihrerseits Analysen erforderten, sondierten und philosophierten. Mit den Systemen der Station verbunden, hätte Rahil über die Femtomaschinen in seinem Innern jeder einzelnen dieser Stimmen lauschen können, und sie alle zusammen bildeten die Daten- und Kommunikationswolke, die den Planeten und seine Monde wie ein elektromagnetischer Schleier umgab. Aber so dicht und komplex die Aura auch sein mochte: Das Lied der Kosmischen Enzyklopädie war noch weitaus komplexer. Es beschränkte sich nicht auf eine Welt oder ein Sonnensystem, nicht einmal auf eine Galaxie – die Ägide vermutete, dass der Melodiencode der Enzyklopädie den ganzen Virgo-Superhaufen betraf, was bedeutete, dass man das Lied in etwa zweihundert Galaxienhaufen hörte, verstreut in einem Raumgebiet von über zweihundert Millionen Lichtjahren. Wie viele Welten gab es dort draußen, wie viele Zivilisationen, und wie viele – oder wie wenige – gehörten zu den Hohen Mächten, mit vollem Zugang zu dem Jahrmilliarden alten Wissen, das fast bis in die Zeit des Urknalls reichte?

Rahils Herz schlug noch etwas schneller, als ihm diese Gedanken durch den Kopf gingen und so viel Platz einnahmen, dass für die anderen, vor denen er sich fürchtete, kein Platz mehr blieb. Dies ist richtig, dachte er. Dies lenkt ab, bis ich meine Erinnerungen wieder unter Kontrolle habe. Er wies seine inzwischen programmierbar gewordenen Femtomaschinen an, ihm einen direkten Zugang zum Lied zu ermöglichen, und nur eine Sekunde später hallten ätherische Klänge durch die wachsenden Gewölbe seines Bewusstseins.

»Ein direkter Kontakt ist gefährlich«, warnte der Kurator.

Rahil achtete nicht darauf. Darum geht es seit fast sechshundert Jahren, dachte er, beobachtete mit den Sensoraugen der Station das blühende Fraktal des Kickouts und hörte das von den Femtomaschinen übertragene Lied. Darum ging es seit dem Ereignis und der Gründung der Ägide. Um ein kosmisches Lied, das alle hören konnten, die richtigen Instrumente vorausgesetzt; doch nur die Hohen Mächte verstanden die Botschaft in ihren Tönen. Als Rahil zur Ägide gekommen war, kurz nach Jazmines Tod – nicht daran denken! –, hatte es sein Instruktor folgendermaßen ausgedrückt:

»Denk an die Bibliothek von Vandar, Rahil. Wir sind durch ihre virtuellen Säle gewandert, erinnerst du dich?«

»Wie könnte ich das vergessen?«, erwiderte Rahil, der Schmerz frisch in ihm, die Wunde in seiner Seele noch offen. »Die berühmte Bibliothek der sekundären Hosprit, entstanden zu einer Zeit, als sie noch nicht zu den Hohen Mächten gehörten. Ein großer Teil der in ihr lagernden Informationen ist analoger Natur.«

Der Instruktor, ein vogelartiger Chormiki, nickte und klapperte kurz mit dem rudimentären Schnabel. »Bevor sie zu den Hohen aufstiegen, unternahmen die Hosprit weite Reisen durch unsere Galaxis, besuchten fremde Völker, primitive ebenso wie hoch entwickelte, und sammelten Informationen aller Art: Geschriebenes, in Stein geritzt, auf Holz gemalt und auf Papier gedruckt, Worte und Bilder, in magnetischen Speichern, Kristallen und quantenmechanischen Gittern abgelegt. Sie wollten das Wissen des Lebens zusammentragen und bewahren.«

»Damals wussten sie noch nichts von der Enzyklopädie«, sagte der junge Rahil.

»Nein. Sie erfuhren erst davon, als sie ihre Bibliothek gebaut hatten. Wie groß ist sie, Rahil?«

»Sie bedeckt einen ganzen Kontinent auf Vandar. Manche Gebäudeteile sind so hoch, dass sich unter ihren Dächern Wolken bilden. In einigen Flügeln mussten Wetterkontrollen installiert werden.«

»Die Bibliothek von Vandar ist die größte analog-digitale Bibliothek in dieser Galaxis«, sagte der Instruktor. »Wie viele Bücher gibt es in ihr, Rahil?«

Er blies die Wangen auf. »Viele. Ich meine, wirklich viele. Vermutlich Milliarden. Es dürften mehr Bücher sein, als es früher Menschen auf der Erde gab, vor dem Ereignis

»Es gibt dort mehr Bücher als damals im ganzen Sol-System, zu seiner besten Zeit. Von den übrigen analogen und auch den digitalen Datenträgern ganz zu schweigen. Stell dir jetzt einen Buchstaben in einem der dicksten Bücher der Bibliothek von Vandar vor.«

Rahil nickte. »Ja«.

»Welchen Buchstaben stellst du dir vor?«, fragte der Instruktor.

»Ein J«, sagte der junge Rahil und dachte, von Schatten und Schmerz begleitet: J wie Jazmine.

»Stell dir nun ein Farbpigment dieses Buchstabens vor.«

»Ein einzelnes Pigment, ja.«

»Und jetzt stell dir ein Atom dieses Pigments vor, und die Quanten in diesem Atom, und die Strings unter ihnen. Denkst du an sie, Rahil?«

»Ja«, sagte er. »Ich denke an sie.« Aber er dachte auch an Jazmine und seine Schuld.

»Denk jetzt an ein Fraktal, wie die Kickouts der Leskovar«, sagte der Instruktor. Seine Federn raschelten. »Stell dir vor, dass die Bibliothek von Vandar tausendmal in einen solchen String passt, den du gerade vor deinem inneren Auge gesehen hast, und stell dir weiter vor, dass sich dieses Muster aus Bibliothek, dickstem Buch, Buchstabe, Pigment, Atom, Quanten und String tausendmal innerhalb des einen Strings wiederholt. Wie viele Bibliotheken würde ein einzelner Buchstabe des dicksten Buches enthalten?«

Der junge Rahil zögerte. »Ich weiß nicht, ob es eine Zahl gibt, die dafür groß genug ist.«

Der Instruktor nickte bedächtig. »Das ist die Kosmische Enzyklopädie der Hohen Mächte«, sagte er. »Eine Bibliothek mit Milliarden von jenen Büchern, in denen jeder einzelne Buchstabe, jedes Farbpigment und jedes Atom so viele Informationen enthält, dass man ihre Zahl gar nicht nennen kann.«

Unendliches, unbegrenztes Wissen, darauf lief es hinaus. Die ersten Zivilisationen, die vor Jahrmilliarden im Universum entstanden waren, die Primären, hatten begonnen, Wissen zu sammeln wie später, viel später die Hosprit, und auf diese Weise war die Kosmische Enzyklopädie entstanden, als Erfahrungsschatz allen intelligenten Lebens in Zehntausenden von Galaxien. Dieses intellektuelle Manna und die Möglichkeit, Antwort auf alle Fragen zu bekommen, Zugriff auf alle Technologien zu erhalten, auch auf jene, die wie pure Magie anmuteten, lockten die aufstrebenden jungen Zivilisationen, denn dieses Wissen versprach die Lösung aller Probleme.

Darum geht es, dachte Rahil. Um die Pforten des technologischen Paradieses, die sich auch für uns öffnen könnten. Erneut hörte er die Stimme seines Instruktors aus einer Zeit, als er noch voller Illusionen gewesen war.

»Als vor fast sechshundert Jahren die Ägide gegründet wurde, kurz nach dem Ereignis, bekam sie Kandidatenstatus. Die Primären sagten uns: Wir helfen euch. Wir helfen euch dabei, den anderen zu helfen, jenen Teilen von euch, die den falschen Weg beschritten …«

»Damit meinten sie die Gefallenen Welten, nicht wahr?«, vernahm Rahil seine eigene Stimme, die Worte des jungen Rahils.

»Ja«, bestätigte der Instruktor und fügte ein kurzes Klappern mit den Schnabelrudimenten hinzu. »Die verwüstete Erde und all die anderen vom Ereignis betroffenen Welten, insgesamt zweihundertdrei in neunundachtzig Sonnensystemen, Opfer der Zweiten Phase beziehungsweise der Diaspora. Die dreizehn Systeme diesseits des Sagittariusbruchs waren von der Katastrophe verschont geblieben und bewahrten sich ihr Entwicklungsniveau, während die Gesellschaften auf über zweihundert Welten, oder ihre Überreste, in die Barbarei zurückfielen. Wir, die Bruch-Gemeinschaft und die Sieben Völker…«

Die Stimme des Chormiki wurde leiser, verlor sich schließlich im Lied der Kosmischen Enzyklopädie. Fast sechshundert Jahre, dachte Rahil, hat die Ägide hart gearbeitet und gehofft, und jetzt droht alles zu scheitern. Dort saßen die erlauchten Völker der Hohen Mächte am Tisch und tranken den Wein der Erkenntnis, während die Menschheit am Rand der Wüste ausharrte, den sie nach sechs Jahrhunderten der Restauration erreicht hatte. Hunger leidend und halb verdurstet hockte sie dort an einem eigenen Tisch, klein und wacklig, darauf nichts weiter als trockenes Brot und Wasser.

Aufnahme in den Kreis der Hohen Mächte und Zugang zur Kosmischen Enzyklopädie, das war das Ziel. Ein Platz am Tisch, auf dem es alles gab, das man sich wünschen konnte, direkt in Reichweite – man brauchte nur die Hand danach auszustrecken.

Aber dann war das Artefakt erschienen.

Es hat mich getötet, dachte Rahil und beobachtete, wie das Kickout der Leskovar seine stabile Phase erreichte – es war für den Transit bereit. Wegen des Artefakts hat mich jemand auf Heraklon getötet, damit ich meine Mission nicht beenden konnte. Ich habe versagt.

Zeit verging, während das Lied des Wissens flüsterte.

»Die Wiederherstellung ist beendet«, sagte der Kurator schließlich.

Rahil seufzte, schlug die Augen auf und sah Zerstörung.

3

Der Uterus tief im Innern der Station hatte sich geöffnet, und in der Wand jenseits der offenen Luke klaffte ein Loch, wie geschaffen von der Faust eines zornigen Riesen. Rahil beobachtete und fühlte, wie sich die letzten Verbindungen von Bauch, Brust und Kopf lösten, stand auf und trat vorsichtig durch die Öffnung. Der fehlende direkte Kontakt mit den Systemen der Station schränkte seinen Wahrnehmungshorizont ein, aber dafür standen ihm nun die Sinne des neuen Körpers zur Verfügung. Nackt, physisch jung und ohne einen einzigen Kratzer blieb er vor dem Loch in der Wand stehen und betrachtete die zerschmetterten Reste eines Aggregats, das eine monochrome Schmiede gewesen sein musste. Viel war nicht davon übrig, aber Rahil hatte genug Schmieden gesehen, um einige der übrig gebliebenen Komponenten zu identifizieren.

»Wir haben Glück gehabt«, erklang eine Stimme. »Die Schmiede wurde zerstört, nachdem sie den Uterus geschaffen und ihm Ihr Image übertragen hatte. Andernfalls stünden Sie jetzt nicht hier.«

Rahil drehte sich um und sah einen hageren, älteren Mann. Ein kaum wahrnehmbares Flimmern – eigentlich nur erkennbar, wenn man wusste, wonach es Ausschau zu halten galt – wies darauf hin, dass es sich um eine semimaterielle Projektion handelte. Es war keine Person aus Fleisch und Blut, sondern ein Avatar in einer blaugrünen Uniform, am Kragen ein Abzeichen mit dem Symbol der Ägide.

»Ich habe Ihnen dies mitgebracht.« Der Mann – der Avatar – reichte Rahil ein kleines Bündel, bestehend aus einem mehrfach gefalteten Gewebefladen.

Rahil nahm ihn entgegen und drückte ihn an die nackte Brust, woraufhin sich die Konsistenz des Fladens veränderte. Er wurde zu einer zähflüssigen Masse, die mehr grau als braun an Rahil hinabfloss und emporkletterte, in Penis und After kroch und binnen weniger Sekunden Funktionen für die Wiederaufbereitung aller Ausscheidungen bereitstellte. Nach einigen weiteren Sekunden und nachdem Rahil erst den einen und dann auch den anderen Fuß gehoben hatte, bildete die Gewebemasse eine zweite Haut auf dem Leib und begann damit, auf der Grundlage eines autoadaptativen Programms ihre molekulare Struktur zu verändern. Die Außenseite verwandelte sich in etwas, das nach gewöhnlicher Kleidung aussah, während die Innenseite Kontaktstellen für die Femtomaschinen schuf.

»Die Rüstung ist ein Modell Empirion«, sagte der Avatar. »Sie enthält alle aktuellen Informationen und die notwendigen Einsatzprogramme. Ich bringe Sie zum Schiff.«

Angenehme Ruhe breitete sich in Rahil aus, als die Funktionen von Femtomaschinen und Rüstung sich gegenseitig ergänzten. Die zahllosen winzigen Maschinen in seinem Innern dienten in erster Linie dazu, Zellschäden zu reparieren sowie die metabolische und organische Leistungsfähigkeit zu erhöhen. Sie gewährten relative Unsterblichkeit, ermöglichten begrenzte emotionale Kontrolle und beschleunigtes Denken. Die Rüstung, in diesem Fall ein Empirion, schützte vor Verletzungen, stellte dem Träger ein gewisses Regenerationspotenzial zur Verfügung und enthielt externe Gedächtnismodule, Datenbanken sowie zerebrale Schaltkreise, die Wahrnehmung und Denken erweiterten. Als der Datenfluss zwischen Femtomaschinen und Rüstung in voller Bandbreite funktionierte, rückten Rahils zuvor wild durcheinandergewirbelte Gedanken und Erinnerungen an ihren Platz, während Gefühle, die diese neue Ordnung beeinträchtigen konnten, in den mentalen Hintergrund wichen. Er erreichte den geistigen Zustand, den die Missionare der Ägide »ruhige, entschlossene Einsatzbereitschaft« nannten. Nichts lenkte ihn ab, nicht einmal die Erinnerungen an Jazmine.

»Sie sind der Kurator?«, fragte Rahil, als er dem Avatar durch das Loch in der Wand in einen halbdunklen Korridor folgte.

Der hagere Mann in der Ägide-Uniform vor Rahil zögerte kurz, und das kaum sichtbare Flimmern, wie ein leichtes Verschwimmen der Konturen, schien für den Bruchteil einer Sekunde etwas stärker zu werden. »Die von mir repräsentierte Maint dieser Station, ja. Ich habe überlebt, obwohl der Angreifer eine Logikbombe gegen meine Systeme eingesetzt hat.«

Sie wichen einem Trümmerstück aus, das wie ein kleiner Berg vor ihnen aufragte und aus der Wand gebrochen war. Es sah aus, als hätte sich etwas mit roher Gewalt einen Weg durch die Station gebahnt, ohne sich von Siegeltüren und Wänden aufhalten zu lassen, und das Ziel schien ihr Zentrum gewesen zu sein, der am besten geschützte Ort, wo sich Schmiede und Uterus befanden.

Rahil griff auf die Erinnerungen zu, die Teil des überspielten Images waren, und wertete mithilfe der zerebralen Schaltkreise innerhalb von nur ein oder zwei Sekunden alle relevanten Daten aus. Es gab viele Maints mit dem Status von Kuratoren, aber die meisten von ihnen befanden sich in großen planetaren Stationen oder Orbitalbasen, in direkter Verbindung mit einer Aura, wenn sie nicht gar ihren Mittelpunkt oder zumindest eins ihrer Zentren bildeten. In einer relativ kleinen Station wie dieser – über die Kommunikationssysteme der Rüstung hatte Rahil Zugriff auf die freigegebenen Datenspeicher der Station und eine schematische Darstellung mit Leistungsspezifikationen heruntergeladen –, noch dazu ein ganzes Stück von Ganska und seiner Informationsaura entfernt, lag der größte Teil der Kapazität einer Maschinenintelligenz brach; smarte Systeme hätten vollkommen ausgereicht.

»Es erfolgen keine Instruktionen?«, fragte Rahil.

»Rufen Sie die Einsatzprogramme auf, wenn Sie an Bord des Schiffes sind«, erwiderte der Avatar. »Die Leskovar sagen, dass die Routen geeignet sind, und die Zeit drängt. Sie müssen so schnell wie möglich nach Heraklon.«

Sie erreichten einen Gang, in dem es zu einer Explosion gekommen war, und Rahil beobachtete eine glitzernde Wolke aus Femtomaschinen, die geborstenen Synthmetallen und Polymeren neue Struktur gaben – die Station reparierte sich. Ein autonomes Reparaturmodul schwebte ihnen entgegen, auf einem wie heiße Luft flirrenden Krümmungsfeld und einen silbergrauen Schweif hinter sich herziehend. Offenbar handelte es sich um eine Minischmiede, auf die Produktion spezialisierter Femtomaschinen programmiert. Der Angriff, überlegte Rahil, konnte noch nicht lange zurückliegen, denn sonst wäre zumindest die Schmiede als wichtigste Komponente der Station repariert gewesen.

»Warum ausgerechnet ich?«, fragte Rahil. »Mein Tod auf Heraklon bedeutet, dass ich identifiziert worden bin. Außerdem ist Ganska mehr als fünftausend Lichtjahre von Heraklon entfernt. Bestimmt sind andere Missionare der Ägide dem Planeten näher als ich.«

Seltsamerweise antwortete der Avatar nicht sofort. Er blieb an den Resten einer zerstörten Siegeltür stehen, den Kopf wie horchend zur Seite geneigt. Knirschende Geräusche kamen aus der Finsternis, und in der Dunkelheit flackerte ein defektes Leuchtelement. Rahil erinnerte sich an den Hinweis, dass der Angreifer vielleicht noch immer an Bord war. Die Sensoren der Rüstung nahmen keine verdächtigen Aktivitäten wahr, aber das hatte nicht viel zu bedeuten, wenn primäre Technik zum Einsatz kam.

Der Avatar setzte den Weg fort, durch einen intakten peripheren Korridor. Ein seltsamer Geruch lag in der Luft.

»Wir sind sicher, dass Sie vor Ihrem Tod ein Image angefertigt oder zumindest Ihre Erinnerungen gespeichert haben, vermutlich zusammen mit wichtigen Informationen über das Artefakt«, sagte der Avatar. »Wir wissen nicht, wie die Daten gespeichert sind, aber auf Heraklon unterliegt Technik oberhalb der vierten Stufe der Interdiktion. Es gibt sie nur in Ausnahmezonen wie unserer dortigen Botschaft und den Konsulaten. Deshalb müssen wir davon ausgehen, dass Image oder Gedächtnisinhalt nicht in einem dauerhaften Speicher abgelegt sind. In einigen Wochen oder Monaten könnten die Daten unbrauchbar sein. Dann wäre Ihr früheres Leben endgültig verloren, Rahil Tennerit.«

»Aber wie soll ich meine Erinnerungen finden? Ich weiß nichts mehr von meinem Einsatz auf Heraklon. Dieses Image ist wie alt?«

»Ein Jahr.«

»Ein ganzes Jahr!«, entfuhr es Rahil.

»Ein aktuelleres stand leider nicht zur Verfügung«, sagte der Avatar in einem bedauernden Tonfall. Sie traten durch ein offenes Schott, und der sonderbare Geruch wurde stärker. »Es wird keine Rolle spielen, sobald Sie Ihre Erinnerungen auf Heraklon gefunden haben. Sie werden nicht als einfacher Missionar dorthin zurückkehren, Rahil Tennerit. Diesmal brechen Sie mit Exekutor-Privilegien auf. Sie sind bereits bei unserer Botschaft akkreditiert, und Sie erhalten einen Assistenten, der Ihnen helfen wird.«

Dieser Hinweis ließ Rahil nicht unbeeindruckt. Exekutoren waren Sonderbeauftragte der Ägide, dazu befugt, sich über Regeln und Vorschriften hinwegzusetzen, wenn es die Situation erforderte. Seine aktuellen Erinnerungen an Heraklon waren ein Jahr alt; in der Zwischenzeit musste sich die Situation auf dem Planeten zugespitzt haben, denn das Kuratorium verlieh Exekutor-Privilegien nicht ohne Grund.

Entschlossenheit erfüllte Rahil, nicht nur geschaffen von Femtomaschinen und Rüstung. Existierte eine wichtigere Mission als die, der Menschheit das Tor in die Zukunft zu öffnen? Dies gab seinem Leben einen Sinn: Er konnte den wichtigsten aller Dienste leisten, und wenn er Erfolg hatte, tilgte er damit einen Teil seiner Schuld. Überkompensation? Und wenn schon. Hauptsache, es half.

»Die Frist, die uns die Hohen Mächte vor sechshundert Jahren gesetzt haben, geht in einigen Monaten zu Ende. Finden Sie Ihre auf Heraklon gespeicherten Erinnerungen und lösen Sie das Rätsel des Artefakts. Als Exekutor können Sie auf alle Ressourcen zurückgreifen, die Sie brauchen.«

Als Exekutor war er auch nicht mehr an die Nichteinmischungsprinzipien gebunden, an denen die Ägide noch immer festhielt, trotz allem. Es war ein verlockender Gedanke.

»Wie wir hörten, haben die Krion die gegenwärtigen Entwicklungen zum Anlass genommen, sich im Gremium der Evaluatoren erneut dagegen auszusprechen, der Menschheit und den mit ihr assoziierten Sieben Völkern den Status von Sekundären zu geben und uns Zugang zur Kosmischen Enzyklopädie zu gewähren«, sagte der Avatar.

»Die Krion waren immer gegen uns«, sagte Rahil und fragte sich noch immer, was der seltsame Geruch bedeutete.

Der Avatar zog eine Siegeltür auf. »Die Gesserat und Feazelle stehen uns ebenfalls skeptisch gegenüber, vor allem wegen des vom Dutzend begonnenen Krieges, an dem vor einigen Jahrhunderten auch die Polymorphen von Heraklon beteiligt waren.«

Rahil erinnerte sich gut daran; es war Teil seiner Familiengeschichte.

»Umso wichtiger ist Ihre Mission, Exekutor Tennerit.« Der Avatar trat durch die Tür, und es wurde hell im Raum. Im selben Moment identifizierte Rahil den scharfen Geruch.

Es war der Geruch des Todes.

Kryo-Zellen waren an den Wänden aufgereiht, insgesamt neunzehn an der Zahl, jeweils zweieinhalb Meter lang und neunzig Zentimeter breit – die Standardmodule der Ägide. Jede Schmiede verfügte über ein entsprechendes Programm, denn solche Kryo-Einheiten konnten, im All oder auf einer der Gefallenen Welten, über Leben oder Tod entscheiden. In diesem Fall brauchte keine solche Entscheidung getroffen zu werden, denn allein die sichtbaren Verletzungen der Körper in den Zellen deuteten darauf hin, dass keine Schläfer in ihnen ruhten, sondern Leichen.

Der erste Behälter enthielt den Leichnam des Stationsschmieds, eines gläsernen Ippakao. Die kristallenen Elemente seines schmächtigen, fragilen Körpers hatten sich getrübt; Bruchlinien durchzogen die Kapillargefäße in ihnen. Das nur zehn Zentimeter breite Gesicht war zerschmettert, der aus Muskel- und Mineraliensträngen bestehende Hals zerfetzt.

Munraha ist der zweitgrößte von neunzehn Nationalstaaten auf Heraklon

Rahil erinnerte sich an einige Worte des Avatars, denen er kaum Beachtung geschenkt hatte, weil er zu sehr von seinen neuen Exekutor-Privilegien überrascht gewesen war. Sie erhalten einen Assistenten, der Ihnen helfen wird.

»Ich arbeite allein«, sagte er. Seit fast hundert Jahren war er für die Ägide tätig und in dieser Zeit zu einem ihrer besten Missionare geworden. Deshalb hatte ihn das Kuratorium vor zwei Jahren für die Heraklon-Mission ausgewählt. Er hatte sich das Recht erworben, seine Vorgehensweise zu bestimmen und eventuelle Helfer selbst auszuwählen.

»Diesmal nicht«, erwiderte der Avatar. Seine Gestalt flackerte kurz, und ein Grollen kam aus dem Innern der Station.

Der Polymorphe zuckte zusammen und wich einen Schritt zurück. »Was war das?«, zischte er.

»Das energetische Herz der Station ist bedroht«, sagte der Avatar. »Starten Sie, Rahil Tennerit. Ich kümmere mich um den Angreifer.« Er ging durch den Korridor zur Rampe. »Sie waren in Munraha, als Sie starben. Sammaccan ist Sohn der Ersten Mutter, und das gibt ihm im Gegensatz zu den anderen Männern die Möglichkeit, sich dort frei zu bewegen. Er ist Ihr …« Der Kurator blinzelte, und Rahils Komm-Systeme empfingen das Wort Eintrittskarte, während der Avatar den begonnenen Satz mit »Assistent« beendete.

Die Schlangenaugen des Polymorphen schienen plötzlich zu leuchten. »Ich bin sein Assistent? In den Diensten der Ägide?«

Der Avatar nickte. »So hat es das Kuratorium beschlossen.«

Sammaccan atmete tief durch, und seine Brust schwoll so sehr an, dass sie den oberen Teil der Kleidung füllte. »Es ist mir eine … große Ehre. Ich werde mein Bestes geben! Ich werde …«

Der Avatar des Kurators trat aus dem Schiff. »Bevor ich es vergesse, Exekutor. Vor einigen Wochen erfuhren wir von unserem Missionar auf Kattinga, dass die Großen Familien des Dutzends einen Ascar auf Sie angesetzt haben. Es könnte einen Zusammenhang mit Ihrem Tod auf Heraklon geben. Seien Sie doppelt vorsichtig.« Der hagere, ältere Mann winkte und verschwand. Sofort schloss sich die Luke.

Ein Ascar?, dachte Rahil. Nach all der Zeit? Nach fast einem Jahrhundert? Für einen Moment sah er das Gesicht seines Vaters vor sich, Zorn in den grauen, kalten Augen, aber sein Vater lebte längst nicht mehr. Auf den Welten des Dutzends gab es nicht die Möglichkeit, ein Bewusstseinsimage anfertigen und einen neuen Körper erschaffen zu lassen.

Eine dünne Falte bildete sich mitten in seiner glatten Stirn. Bevor ich es vergesse? Maint-Kuratoren vergaßen nichts. Es sei denn, man zerstörte ihre Speicher. Und selbst in dem Fall gab es genug redundante Verzweigungen, um wichtige Informationen – und dies war eine wichtige Information – zu bewahren.

Eine Sekunde war verstrichen, mehr nicht. Sammaccan schien Rahils Zögern nicht einmal bemerkt zu haben.

»Zur Pilotenkanzel«, sagte Rahil und ging mit langen Schritten. Eine leichte Vibration, für gewöhnliche taktile Sinne kaum wahrnehmbar, wies ihn darauf hin, dass der Shifter durch den Ätmosphärenschild fiel, der die Startmulde vom All trennte.

Sammaccan folgte ihm und versuchte an seiner Seite zu bleiben. »Was muss ich tun? Wie gehen wir vor? Bekomme ich einen offiziellen Status? Ich meine, einen ganz offiziellen? Kann ich als Missionar nach Hrkln zurückkehren? Was meine Mutter dazu sagen wird! Und all die anderen …« Es folgte ein Wort, das die Kommunikationssysteme der Rüstung mit »Xanthippen« übersetzten.

Rahil antwortete nicht und fällte ein erstes Urteil, auf der Grundlage von Körpersprache, Ausdrucksweise und allgemeinem Verhalten. Sammaccan, Polymorpher von Heraklon, war ein dummer, eingebildeter, unreifer Narr.

»Ich werde es ihnen allen zeigen!«, fuhr der junge Reptilienmensch voller Eifer fort, als sie die Pilotenkanzel betraten. »Ich werde ihnen zeigen, was in mir steckt! Ich werde auf den Stufen des Mutterhauses stehen, in dieser Uniform der Ägide, nein, in einer noch schöneren, mit vielen Abzeichen und glänzenden Medaillen, und mein Ruhm wird heller strahlen als die Sonne am Himmel, und die Mütter werden sich vor mir verbeugen …« Er unterbrach sich, schnappte nach Luft und rief: »Es frisst uns!«

Rahil saß bereits im Sessel des Piloten und vergewisserte sich, dass sie auf Kurs waren und alle Systeme des Shifters wie vorgesehen funktionierten. Vor ihnen wuchs das Kickout der Leskovar, eine riesige goldene Blume, die sich anschickte, eine kleine silberne zu verschlingen.

»Es ist ein Transitfraktal«, sagte Rahil und fragte sich, wie viel beziehungsweise wie wenig, dieser Idiot, der sein Helfer sein sollte, von der Ägide und allem anderen wusste. »Es bringt uns nach Heraklon.«

Die zentrale Öffnung des Fraktals nahm den Shifter auf und schickte ihn mit einem Vielfachen der Lichtgeschwindigkeit durch den M-Raum. Rahil Tennerit, zum vierten Mal von den Toten wiederauferstanden, schloss die Augen, blendete die Stimme des Polymorphen aus und dachte an die Mission auf Heraklon und seinen Tod auf jener Welt. Es gab, so wurde ihm klar, bei dieser Sache auch eine sehr persönliche Komponente: Er wollte sein letztes Leben zurückhaben – die Erinnerungen daran – und den Mörder finden, der es ihm genommen hatte.

Nur hunderttausend Kilometer über dem Kickout, das sich zusammenzufalten begann, kroch ein kleines Kontinuumschiff der Krion, dunkel wie die Nacht zwischen den Sternen, aus einer Raumfalte, in der es sich verborgen hatte. Es schenkte der sich langsam um ihre eigene Achse drehenden Station der Ägide ebenso wenig Beachtung wie dem Planeten Ganska und seinen Monden, führte ein nicht länger als eine Nanosekunde dauerndes Datengespräch mit dem Polarisator der Leskovar und glitt dann dem Fraktal entgegen, das es ebenso aufnahm wie zuvor die silberne Blume des Shifters.