31. August 1999. Sengende Hitze liegt über Bodenstein, dem Heimatkaff des 15-jährigen Pascal. Es sind die großen Ferien, und eigentlich könnte der Junge den Sommer genießen. Den Skatepark. Die Partys der Oberstufler. Das Freibad mit den besten Pommes des Planeten. Doch seit er nicht mehr schwimmen kann, mag Pascal den Sommer nicht mehr. Warum das so ist, das kann er nicht erzählen. Ebensowenig, wieso ihn alle Krüger nennen. Und erst recht nicht, warum er sich unter keinen Umständen verlieben darf. Lieber träumt er vor sich hin und schreibt Geschichten. Dann kracht Jacky in seine Welt. Ein geheimnisvolles Mädchen aus dem Zirkus. Mit roten Haaren, wasserblauen Augen und keiner Angst vor nichts. Zusammen verbringen sie einen flirrenden, letzten Sommertag, der alles für immer verändert und an dessen Ende unter einem weiten Sternenhimmel eine Freundschaft, eine Liebe und ein Tod stehen.
Für Isabella
»ALTER, WARUM REDET die wie ein Kreuzworträtsel?« Viktor stieg auf sein Rennrad.
»Ich glaube, Frau Berger ist einfach viel alleine«, sagte ich und schwang mich in meinen Sattel. »Da wird man ein bisschen eigen.«
»Ja genau. Eigen«, hatte Viktor noch gemurmelt, dann waren wir aufgebrochen.
Damals hatte ich mich von der alten Frau seltsam verstanden gefühlt. Ertappt und durchschaut. Und dass ich mir die Erzählung mit den Löwen und der Kriegerin merken musste, da war ich mir nach dieser Begegnung sicher gewesen.
Bis zum Festplatz, wo das Zirkuszelt stand und wo die Zirkusleute ihre Wohnwagen-Siedlung aufgebaut hatten, war es weit. Der Platz lag außerhalb der Stadtgrenzen.
Wir fuhren über den Marktplatz vorbei am Müller, ließen das Freibad und den Skatepark hinter uns und bogen ab auf den Fahrradweg, der parallel zur Landstraße verlief. Meine Casio zeigte 14:00 Uhr, als wir das Ortsschild passierten und Bodenstein verließen. Das Thermometer musste längst die Dreißig-Grad-Marke gesprengt haben. Die Sonne brannte vom endlos strahlenden Himmel.
Während wir radelten, versuchte ich mir ins Gedächtnis zu rufen, wann ich das letzte Mal so richtig weggekommen war aus Bodenstein. Beim Skikurs vor zwei Jahren musste das gewesen sein.
Ganz früher, als mit meinem Vater noch alles in Ordnung gewesen war, waren wir als Familie dauernd weggefahren. Zum Bummeln nach München, auf den Christkindlmarkt nach Nürnberg, zu den Schwimmturnieren nach Regensburg. Sogar an einen Urlaub konnte ich mich erinnern. Italien. Mit dem überhitzten Fiat ohne Schiebedach über den Brenner, und es war das Paradies gewesen. Feiner Sand zwischen den Zehen, der so glühend heiß war, dass man rennen musste, bis man den in den Strand eingelassenen Holzpfad erreichte, der runter ans Meer führte. Dann die schäumende Adria, die rauschenden Wellen, das Salz in der Nase. Tauchen, bis die Augen feuerrot und die Finger schrumplig waren. Spaghetti und Pizza und Gelato, Gelato, Gelato.
Doch als mein Vater dann allabendlich die dritte Flasche Wein entkorkte und meine Mutter erst spaßeshalber und dann vehementer dagegen protestierte, da hatte man schon gemerkt, dass etwas in ihm brodelte.
Ich trat fester in die Pedale. Der Radweg machte nun eine lang gezogene Kurve, die einen Hang hinaufführte. Dahinter lag der Festplatz in einer Senke.
Ich sah das Zirkuszelt zuerst. Es war kleiner, als es vom Dach des Parkhauses aus gewirkt hatte. Wie eine abgeranzte Version der Plakate, die an den Litfaßsäulen in der Innenstadt hingen. Die gelb-roten Streifen der Zeltwände waren vom Wetter ausgebleicht, die Fahnen, die über die Kuppel gespannt waren, waren fransig. MONDO INTERO stand auf den Stoffen. Hier werden Träume Wirklichkeit!
Was meine Aufmerksamkeit jedoch mehr erregte als das Zelt selbst, war das chaotische Treiben, das auf dem Areal herrschte.
Ein Junge scheuchte ein Pony über den Platz. Eine Frau mit Kreolen, groß wie die Ringe des Saturn, trug eine Kiste Äpfel, während ein hünenhafter Glatzkopf mit Schnauzbart an einem qualmenden Generator herummontierte. Ein Kind bretterte auf einer Motocross-Maschine.
Alles und jeder war in Bewegung.
Wir hatten unsere Räder an eine Leitplanke geschlossen, und mit Betreten des Festgeländes realisierten wir, dass wir die einzigen Besucher waren. Es war gerade keine Vorstellung, und von außerhalb war noch niemand willkommen.
Wie Spione beäugten uns die Zirkusleute, ohne von ihrem Tun abzulassen.
Eigentlich hatte ich einen klaren Plan gehabt: das Mädchen finden, ihr meinen Rucksack mit meinem Notizbuch und das Nokia für Viktor abnehmen und abhauen wie der Roadrunner vor dem Kojoten. Doch jetzt überlegte ich, direkt auf dem Absatz kehrtzumachen.
Viktor allerdings setzte einen selbstbewussten Blick auf. Wo wir ein rothaariges Mädchen finden könnten, fragte er den Riesen mit dem Schnauzer, der sein öliges Werkzeug am Unterhemd abwischte, bevor er sich kommentarlos wieder der Maschine widmete. Auch die Frau mit den Äpfeln wollte uns nicht helfen. Sie schüttelte die Ohrringe und tat, als spräche sie unsere Sprache nicht.
Also überquerten wir den Festplatz und gingen zum hinteren Teil des Feldes, zur Siedlung mit den abgestellten Wohnwagen, Containern und Käfigen.
Dort war es ruhiger. Wäscheleinen waren zwischen den Wagen gespannt. Eine Gruppe Kinder spielte Fangen.
»Na, gucken wir mal.« Viktor spitzelte in den ersten Wohnwagen, wobei er sich auf die Zehenspitzen stellte und die Hände an dem fettigen Glas zu einem Sichttunnel formte. »Da drinnen sieht’s aus, Alter«, sagte er, »aber das Mädchen oder dein Rucksack sind hier nicht. Nimm du die linke Seite. Ich such rechts.«
Er bog ab, und ich linste in den nächsten Trailer. Ein durchgesessenes Sofa, eine Herdplatte mit umgestülptem Geschirr. Schnapsflaschen und Kippenstummel, die wie Schaben in einem überquellenden Aschenbecher steckten. Kein Mädchen, kein Rucksack. Im Wohnmobil daneben das Gleiche. Dann ein aufgeräumteres. Puppen lagen in einer Kiste, ein aufgeschlagenes Buch auf einem Tisch, eine Zimmerpflanze wartete darauf, gegossen zu werden. Auch hier wurde ich nicht fündig.
Als ich plötzlich ein Klopfen hörte, hielt ich inne. Es klang, als würde jemand mit einem Beil in einen Baumstamm schlagen.
Ich bewegte mich, die Wohnwagen hinter mir lassend, langsamer.
In einem Gehege standen zwei Lamas im Schatten eines aufgespannten Lakens und tranken aus einem Bottich. In einem weiteren schnarchten Schweine, alle viere von sich gestreckt.
Das Holzschlagen, das ich vernahm, war rhythmisch, in schneller Abfolge. Eins, zwei, drei. Kurze Pause. Dann von vorne. Eins, zwei, drei. Pause. Zack, zack, zack. Pause. Was war das? Wo kam das her? Von irgendwo hinter den Tieren? Das Schlagen setzte sich fort. Ich blickte in den nächsten Käfig und fuhr erschrocken zurück. Da saß, direkt an den Gitterstäben, ein Panther. Sein schwarzes Fell schimmerte, seine grünen Augen waren geschliffene Smaragde. Panisch blickte ich auf die Käfigtür, doch diese schien Gott sei Dank verschlossen. Zack, zack, zack im Hintergrund. Einen Panther hatte ich bisher nur in Naturdokus gesehen. Die Pupillen zu Schlitzen verengt, fixierte mich das Tier, starrte direkt auf meine Kehle und fauchte mich dann an, dass all meine Instinkte »Flucht« brüllten. Ein einziger Biss würde mich töten, das wusste ich.
Zack, zack, zack.
Unvermindert schlug es weiter in das Holz. Die gespitzten Ohren der Raubkatze wanderten in die Richtung, aus der das Geräusch kommen musste, und wiesen mir den Weg hinter den großen Lastwagenanhänger.
Zack, zack, zack.
Zögerlich wandte ich mich dem Schlagen zu und passierte den Panther, wobei ich dessen stechende Augen weiter in meinem Nacken spürte.
Das Holzschlagen wurde lauter. Ich ging in die Hocke, um unter dem Anhänger durchzuspähen, und erblickte in einiger Entfernung … zwei schlanke Beine in Jeansshorts. Ein schwarzes Longsleeve. Rote Strähnen wippten in und aus meinem Sichtfeld. Das war sie! Da war das Mädchen mit den roten Haaren!
Wie hypnotisiert kroch ich unter den Hänger. Dass mir die auf dem dreckigen Boden verstreuten Schottersteine spitz in Knie und Ellbogen stachen, spürte ich kaum. Doch was das Schlagen war, erkannte ich jetzt. Es war kein Beil, das in einen Baumstamm gehackt wurde. Es waren Messer. Wurfmesser. In schneller Abfolge schleuderte das rothaarige Mädchen die Klingen in eine Holzplatte, auf der die Silhouette eines Körpers aufgezeichnet war, wie man es von Tatorten aus Filmen kannte.
Zack, zack, zack. Mit fließenden Bewegungen trieb sie die Messer in das Holz. Exakt an die Markierung. Dann zog sie die Klingen heraus, bevor sie die Waffen wieder in das Brett schnellen ließ.
»Krüger?« Viktors gedämpfte Stimme drang zu mir in mein Versteck. Mein Kumpel suchte mich.
»Hier unten«, signalisierte ich und sah Viktor, der mir triumphierend entgegenglotzte.
»Was ist?«, fragte ich leise.
»Ich hab ihn«, platzte es aus ihm heraus. »Komm vor da. Ich hab deinen Rucksack. War in einem der …
Fuck!«
Viktor war zu mir unter den Anhänger gehechtet. Erst hatte ich gedacht, er hätte sich wie ich vor dem Panther erschreckt. Doch dann wurde mir klar, wovor Vik in Deckung gegangen war. Am Eingang der Zirkussiedlung standen die beiden Polizisten, die zu dem Vorfall im Müller gerufen worden waren, und daneben, wie ein aufgeblasener Hilfssheriff, stakste der Nazi-Filialleiter.
Viktor, der mir meinen Rucksack zugeschoben hatte, wies in Richtung der rothaarigen Messerwerferin. »Ist sie das?«, flüsterte er. Ich nickte. »Der Nazi und die Bullen wollen die einkassieren.«
»Ganz stark kombiniert, Sherlock«, flüsterte ich zurück, und Viktor boxte mir im Liegen in die Niere, dass ich mich kurz krümmte.
»Wäre auch nicht so geil, wenn die uns durchsuchen und den Jolly in deinem EastPak finden würden, oder Krüger?«, sagte er. Da hatte er recht. »Und das geklaute Nokia in der Rucksackvordertasche macht jetzt auch nicht gerade den besten Eindruck.«
»Du hast das Nokia …?«
»Pssst!«
Die Beamten versuchten offenbar, etwas aus den Zirkusleuten herauszubekommen, und hatten dabei ähnlich viel Erfolg wie wir. Gerade ließ der Mechaniker mit dem Schnauzbart eine Rußwolke aus dem Generator in das Gesicht eines der Uniformierten steigen, der schimpfend einen Sprung nach hinten machte, wobei das Pistolenhalfter an seinem Gürtel schwang.
Schließlich stellten die Polizisten den Filialleiter oben an der Straße als Wachposten ab und schritten auf die Wohnwagen-Anlage zu. Direkt auf die Stelle zu, wo das rothaarige Mädchen ihre Messer warf. Mein Kopf raste.
In Gedanken spielte ich blitzschnell durch, was gleich passieren konnte:
Die Polizisten finden das Mädchen. Sie schreien sie an. Nimm gefälligst die Messer runter! Das Mädchen erkennt, dass ihm der Weg abgeschnitten ist. Die Polizisten haben sie, die Pistolen gezogen, im Visier.
Lass die Messer fallen, jetzt! Mach keinen Blödsinn, du Drecksgöre! Im Rücken der Polizisten wirft sich der Panther wütend gegen die Gitterstäbe. Einer der Polizisten schreckt zusammen. Ein Schuss löst sich. Die Klingen fallen zu Boden. Der Lauf der Pistole raucht. Fassungslos blickt das Mädchen an sich herab, presst die Hand auf ihren Bauch, auf die Stelle, an der die Kugel das Fleisch durchschlagen hat. Jemand kreischt. Der Polizist ist kreidebleich. Der Nazi-Filialleiter lacht dreckig. Blut suppt durch ihre Kleidung, als das rothaarige Mädchen auf dem Festplatz zusammenbricht.
Das durfte nicht passieren. Ich wollte nicht, dass das passierte. Aber was sollte ich tun? Ich schaute zu Viktor. Ich musste eine Entscheidung treffen. Eine Millisekunde überlegte ich fieberhaft, wobei ich bemerkte, wie meine Fingerkuppen in meiner Hosentasche nervös über die Oberfläche meines Feuerzeugs glitten. »Pfeif!«, flüsterte ich endlich. Und als Viktor nicht reagierte, nochmals eindringlicher: »Vik. Pfeif! Pfeif die her! Jetzt!«
Und Viktor pfiff. Gellend. Sein Pfeifen zerschnitt die Luft. Achtung!, hieß der Pfiff. Das Mädchen blickte auf, erfasste die Situation, entdeckte uns und die Polizisten, bevor diese sie entdecken konnten, sprintete hinter einen Truck und rutschte nur ein paar Augenblicke später wie ein Baseballspieler zwischen Viktor und mich unter den Anhänger.
Sie atmete flach. Ich war unfähig, mich zu bewegen. Ihre blauen Augen leuchteten mich zwischen unzähligen Sommersprossen an. Viktor wollte etwas sagen, doch das Mädchen legte sich den Zeigefinger auf die rosa Lippen. Stumm, herausfordernd wies sie auf meinen Rucksack. Ich wollte ihr den Mittelfinger zeigen, doch mein Arm war aus Blei. Hilflos verzog ich die Mundwinkel, was aussehen musste wie eine Gesichtslähmung nach der Zahnarztnarkose. Ich fürchtete, ein Spuckefaden würde mir über das Kinn tropfen. Was war nur los mit mir?
Das Zirkusmädchen blickte nach vorne. Wir machten keinen Mucks, als die beiden Polizisten über den Stellplatz stapften und ein paar Meter von uns entfernt stehen blieben. Das Mädchen griff nach dem Rucksack, den ich an einem der Gurte hielt. Wie bei einem lautlosen Tauziehen zog sie den EastPak zu sich, ich versuchte, so gut ich konnte, dagegenzuhalten, doch sie war stärker. Gerade als mir der Gurt aus den Fingern zu rutschen drohte, ließ sie los. Ich schnellte zurück und konnte nur mit größter Selbstbeherrschung geräuschlos liegen bleiben. Sie zwinkerte mir zu. Und ich guckte wieder wie nach einer Wurzelbehandlung. Dann deutete das Mädchen auf Viktor und mich und hob fragend die Augenbrauen. Wir verstanden. Vik zeigte erst auf sich und formte seinen Namen mit dem Mund: Viktor. Anschließend wies er auf mich und machte dasselbe: Krüger.
Das Mädchen nickte. Tonlos wiederholte sie, wie wir hießen. Viktor. Krüger. Dann nahm sie meine Hand, die ich zur Faust verkrampft hatte.
Ich war so perplex, dass ich es nicht schaffte, mich ihrem Griff zu entziehen. Mühelos drückte sie mir die Finger auseinander. Mit ihrem Zeigefinger, der gerade noch an ihren Lippen gelegen und mit dem sie uns eben noch signalisiert hatte, still zu sein, schrieb sie mir die einzelnen Buchstaben auf die Handfläche. Sie schrieb ihren Namen:
J A C K Y
WIR SCHLÜPFTEN DURCH das schwere Tor der Steinmetzerei, schlichen durch die Werkstatt in den Garten und streiften die verzweigten Gänge des Pflanzenlabyrinths entlang. Wir durchschritten die Spaliere der Engel, der Olympioniken und der betenden Männer und Frauen aus Granit und Marmor. So leise wie möglich folgten wir den Kurven und Geraden, vorbei an den Grabsteinen und Säulen.
In die wuchernden Ranken waren Stränge von Lichterketten gezogen. Ein paar montierte Strahler, in deren Schein Insektenschwärme wogten, spendeten zusätzliche, wenn auch spärliche Helligkeit. Niemand bemerkte uns. Wir hatten uns nicht abgesprochen, wohin unser Weg uns führen sollte, und wussten es doch beide genau.
»Spürst du das auch?«, sagte Jacky. Ich nickte.
Wir spürten es beide. Dieses andere Klima. »Hier hat man das Gefühl, bleiben zu können«, sagte sie noch, während hinter uns die Musik der Party leiser und leiser wurde.
Schließlich erreichten wir die Stelle, zu der wir uns hingezogen gefühlt hatten. Den Platz, an dem ich Jacky und die alte Frau Berger belauscht hatte und wo die Szenerie mit den Löwen von der Steinmetzin neu arrangiert worden war.
Reihen aus Lampions überspannten die Konstellation, schaukelten leicht, was einen durch Schemen und Schatten im ersten Moment glauben ließ, dass die Statuen sich bewegten.
Jacky ging zwischen den Skulpturen auf und ab und strich über die Rüstung der Kriegerin.
»Die alte Berger hat das umgestellt, nachdem du mit ihr gesprochen hattest«, sagte ich. Ich ließ mich auf einem Felsblock nieder. »Sie wollte die Erzählung ändern. Wegen dir. Ich durfte mir dafür eine Figur aussuchen.«
»Jetzt sieht es nicht mehr aus, als würden die Löwen ein Opfer reißen«, nickte Jacky.
»Nein. So ist es auch nicht mehr.«
Jacky wirkte zufrieden. Es freute mich, dass ihr gefiel, was sie sah, und es machte mich glücklich, sie so zu sehen. Umso mehr fürchtete ich mich davor, was ich nun tun würde.
»Dir die neue Anordnung der Statuen zu zeigen«, sagte ich, »war aber nicht der Grund, warum ich mit dir hier rüber wollte.«
»So?« Jacky stand nun mit dem Rücken zu den Skulpturen.
Ich bemerkte, wie unsicher ich klang. Jacky hatte die Augenbrauen gehoben. Ich hatte mehr Zeit alleine mit ihr gewollt, und die hatte ich jetzt. Wie in Zeitlupe öffnete ich das hintere Fach meines Rucksacks. Mit schweißnassen Fingern zog ich mein Notizbuch hervor.
»Das ist kein Tagebuch«, sagte ich.
»Okay.« Jacky wirkte gelassen, aber voller Erwartung, was nun geschehen würde.
»In das Buch schreibe ich Sachen«, fuhr ich fort. »Geschichten. Was ich so träume und mir vorstelle und so.«
»Oh.«
»Das habe ich noch nie jemandem erzählt. Wirklich niemandem. Dir wollte ich das erzählen.«
Jacky betrachtete mich aufmerksam. Langsam setzte sie sich neben mich auf den Felsblock. Sie hatte ihre Ärmel über ihre Handballen geschoben. Ich fühlte, dass sie mich nicht unterbrechen wollte. Wenigstens hatte sie mich für mein Geständnis bis jetzt noch nicht ausgelacht.
Ich will das, dachte ich. Und ein Zurück gab es nun ohnehin nicht mehr. »Ich hab was geschrieben, was ich dir vorlesen will«, sagte ich und zog das Gummiband vom Umschlag des Buches. Ich blätterte durch die zerfledderten Seiten. Durch die Träume und Gedanken.
Einen Sekundenbruchteil zweifelte ich. Zögerte ich. Kurz und heftig war da nochmals der Drang, das Buch wieder zu schließen. Vielleicht sogar für immer. Dann begann ich, die Geschichte zu lesen, die ich auf dem Zirkusplatz geschrieben hatte. Die Geschichte für Jacky:
DAS MÄDCHEN UND DIE LÖWEN
Als das Mädchen erwacht, sind ihre Finger klamm.
Das Feuer in ihrem Unterschlupf, der Höhle in dem Hang, in der sie sich die Nacht über verkrochen hat, hatte sie mit Einbruch der Dunkelheit gelöscht. Damit der Rauch sie nicht verriet.
Seit dem Schwarzen Millennium ist die Welt eine andere. Um Mitternacht war alles auf null gesprungen und Chaos geworden.
Als die Bomben fielen, die die Städte und die Leben zerstörten, schafften es nur wenige hinaus. Zwei Winter ist das Schwarze Millennium her, und drei Tage, seit das Mädchen von ihrer Familie aufgebrochen ist.
Das Mädchen streckt sich. Der Morgen schiebt sich grau den Berg hinauf. Sie schüttelt die Glieder, lockert die Zehen in den immer geschnürten Stiefeln.
Dies ist eine Welt, in der man in Bewegung bleiben muss. Doch sie erstarrt. Ein Geräusch.
Die Löwen müssen sie gewittert haben.
Hektisch sieht das Mädchen sich um. Ihre roten Haare fliegen, als sie den Kopf nach links und rechts bewegt. Nicht hier!, denkt sie.
Zwei Löwenmännchen, während des Schwarzen Millenniums aus dem Zoo entflohen, herrschen über dieses Gebiet, reißen sich, was sie wollen, im Schutz der Schatten, immer heimtückisch aus dem Hinterhalt. Das Mädchen tastet nach ihrem Messer in ihrer Tasche. Doch sie weiß, dass sie chancenlos wäre. Einer der Löwen würde sie immer von hinten angreifen können. Wenn die Löwen sie kriegen, werden sie sie in Stücke reißen. Sie spürt, dass die Tiere nicht mehr weit entfernt sind, dass sie sich bereits anpirschen, um die Höhle zur Falle werden zu lassen.
»Von mir bekommt ihr keinen Tropfen Blut«, knurrt das Mädchen, lässt die Klinge zuschnappen, packt ihre Jacke und springt hinaus aus der Höhle.
Schnell. Im Lauf erkennt sie mächtige Mähnen. Mit langen Schritten rennt sie das Hangstück weiter hinauf in den Wald, schiebt Zweige auseinander, die schnalzen wie Peitschen, in ihrem Rücken gieriges Schnaufen und ausgefahrene Krallen.
Sie hat einen Vorsprung. Sie dreht sich nicht um. Löwen halten hohe Geschwindigkeiten nicht lange durch, das weiß sie. Sie weiß viel über Löwen. Sie rennt und rennt. Ein wütendes Brüllen verschafft ihr schließlich Gewissheit, dass ihre Häscher von ihr abgelassen haben. Für jetzt. Doch sie werden es wieder versuchen.
Unter der Jacke, geschützt vor Wind und Wetter, hält das Mädchen eine Zeichnung. Detaillierte Bleistiftumrisse und Schattierungen auf einfachem Papier. Ihr Gesicht.
Ihre Familie hat das gezeichnet. Als Geschenk. Jede und jeder einen Teil. Die ebene Stirn, die funkelnden Augen, die wilden Haare. Täuschend echt.
»Halt still, sonst wird das nichts«, hatten sie gesagt. Und das Mädchen hatte stillgehalten. Zumindest bis die Umrisse und Schattierungen fertig waren. Länger hatte sie es nicht geschafft. »Die Farbe fehlt noch«, hatte ihre Familie gesagt. Aber das Mädchen hatte einfach nicht mehr stillhalten können.
»Können wir morgen machen«, hatte sie entgegnet.
Doch vor Sonnenaufgang, als ihre Familie noch geschlafen hatte, hatte sie sich am Wachposten vorbei aus dem Lager geschlichen.
Die Zeichnung ist das Einzige, was sie außer ihrem Messer und Proviant mitgenommen hat. Mehr wird sie nicht brauchen, da ist sie sicher.
Nur noch ein paar Höhenmeter trennen sie nun noch von ihrem Ziel: Sie will ganz nach oben. Auf das Plateau.
Und schließlich ist sie da. Auf der Klippe, wo die große Steinskulptur mit den zwei Gesichtern steht. Hoch über dem Fluss, der von einer dicken Eisschicht überzogen ist. Hier wollte sie hin. Welcher Ort wäre für ihren Plan besser geeignet als jener mit der zweigesichtigen Statue?
Denn nicht die Löwen jagen das Mädchen.
Das Mädchen jagt die Löwen.
Die Löwen terrorisieren ihre Familie, seit sie die Herrschaft über das Gebiet übernommen haben. Heimtückisch greifen sie immer wieder an, wissend, dass ihnen niemand etwas entgegenzusetzen hat. Dass sie keine Feinde und nichts zu fürchten haben. Jede Nacht bringen die Löwen Verderben und Schrecken.
Sie beißen Lämmern die Kehle durch, zerfleischen Hühner, zerstören die Zelte. Und es ist nur eine Frage der Zeit, bis ihnen jemand aus der Familie zum Opfer fällt. Die Löwen drohen, die Familie zu zerstören. So lange konnte das Mädchen nicht abwarten.
Vor drei Tagen ist sie aufgebrochen. Sie hatte gewusst, dass die Löwen sie für eine leichte Beute halten und sie verfolgen würden. Sie hatte die Löwen weggelockt, den langen Weg, den Marsch bis hinauf auf die Klippe.
Nun schreitet das Mädchen auf die Statue zu, die sich riesenhaft gegen den Abgrund erhebt. Ein Gesicht der imposanten Figur blickt über das Wasser in die Ferne, das zweite, das in den Hinterkopf gemeißelt ist, sieht zurück über den Wald. Hier wird es gehen, denkt das Mädchen. Das ist der Ort.
Sie beginnt mit ihrem Plan.
Sie dreht ihre Jacke um, sodass ihre Kapuze vorne ist. Mit ihrem Messer schlitzt sie zwei winzige Löcher in die Kapuze. Sie nimmt die Zeichnung mit ihrem Gesicht.
Doch plötzlich zweifelt sie. Wird das reichen? Etwas fehlt dem Bild. Zwar ist das Weiß des Papiers mit den Tupfern nicht unähnlich ihrer Haut mit den Sommersprossen, doch ohne Rot in ihrem Haar wird die Illusion nicht halten.
Im Unterholz vernimmt sie ein Knacken.
Als sie aufblickt, haben die Löwen beinahe die Anhöhe erreicht. Mit gefletschten Zähnen kommen sie näher, ihr Atem in Dampfwolken vor ihren Mäulern wie ein Hauch von Tod. Sie können das Mädchen riechen. Doch noch haben sie sie nicht gesehen.
»Von mir bekommt ihr keinen Tropfen Blut«, raunt sie.
Und nun weiß sie, was zu tun ist.
Sie nimmt ihr Messer und schneidet sich in die Hand. Schneidet an der Herzlinie entlang. Der Linie für Freundschaft, Liebe, Tod.
Ganz still hält sie dabei. Ganz ruhig bleibt sie. Blut fließt aus der Wunde. Und sie lässt das rote Blut auf die Zeichnung tropfen, damit es sich in die Schattierung ihrer Haare saugt. Ihre Haare sind jetzt rot.
Mit einer Kordel bindet sie sich die Zeichnung an den Hinterkopf und schlägt die Kapuze über ihr Gesicht. Gerade noch rechtzeitig.
Die Löwen haben sie erspäht. Für die Löwen sieht es mit der umgedrehten Jacke aus, als würde das Mädchen mit dem Rücken zu ihnen stehen.
Sie dreht sich um. Die Löwen blicken in ihr aufgezeichnetes Gesicht. Für die Löwen vermeintlich rückwärts stolpert sie auf den Rand der Klippe zu.
»Hilfe!«, ruft sie. Das Brüllen der Löwen klingt beinahe wie Gelächter.
Direkt über dem Abgrund kauert sich das Mädchen auf den Boden, wendet ihr gezeichnetes Gesicht ab von den Löwen, scheint auf den Tod zu warten. Doch durch die Schlitze in der hochgezogenen Kapuze beobachtet sie die Löwen genau.
Diese sind nun ganz nah. Sie setzen zum Sprung an, um sich auf das Mädchen, auf ihre Beute, zu stürzen. Doch sie verharren. Ahnen sie etwas? Das Mädchen hat den Drang, aufzuspringen. Zu kämpfen.
Bleib ruhig, sagt sie sich. Halt still.
Dann springen die Löwen. Ruckartig rollt sich das Mädchen hinter die Statue. Überrascht von der reflexartigen Bewegung, straucheln die Löwen. Ihre scharfen Krallen verpassen ihr Opfer, ihre schnappenden Mäuler beißen ins Nichts. Und mit ihrem ungebremsten Schwung treten ihre Pranken ins
Leere.
Ein Jaulen ist zu hören, als die beiden Löwen über den Rand der Klippe in die Tiefe stürzen, gefolgt von splitternden Knochen auf knackendem Eis, als ihre Leiber auf dem gefrorenen Fluss zerschellen.
Warm rinnt Blut über die Hand des Mädchens, wärmt ihre klammen Finger, als sie den Heimweg antritt.
Ende
Ich klappte mein Notizbuch zu und schaute unbewegt auf den abgewetzten Einband. Aufzublicken traute ich mich nicht. Zu viel Angst hatte ich, in ein spöttisches oder, noch schlimmer, in ein mitleidsvolles Gesicht zu sehen.
Jacky schwieg. Ich hielt weiterhin den Blick gesenkt. War es ein Fehler gewesen, so offen zu sein?
Stumpf waberte der Lärm der Party zu uns herüber, abgedämpft durch die Mauern und Pflanzen, nicht mehr als ein breiiges Dröhnen. Von der anderen Stra-
ßenseite. Und hätte nicht weiter von uns entfernt sein können.
Jacky schien einen Frosch im Hals zu haben.
Endlich begann sie zu sprechen: »Du kennst mich jetzt einen Tag. Und das weißt du alles von mir? So genau siehst du hin? Und so siehst du mich?«
Ich atmete flach.
Ihre Stimme klang belegt, aber sanft. In ihr eine Mischung aus Stolz und Rührung. »So mutig? Wie eine Heldin?«, fügte sie an. »Wie die Kriegerin?«
Ich nickte. »Du bist so selbstbewusst, so zielstrebig und so unfassbar mutig. Du stürzt dich so in alles. Mitten rein. Während ich immer … befürchte zu stürzen.«
»Du sollst ja auch nicht stürzen. Du sollst dich fallen lassen«, sagte Jacky, und ich hörte, dass sie lächelte.
Nun wagte ich es, langsam den Kopf zu heben. Jacky sah klein aus, wie sie da neben mir saß. Ihre Augen waren feucht. Aber nicht traurig. In ihnen lag etwas Liebevolles.
»Der Janus … die Klippe«, sagte sie, »das klingt wirklich nach einem guten Ort. Wenn man dort Löwen besiegen kann, meine ich. Gehen wir da noch hin?«
»Ja.«
»Versprochen? Egal, was passiert? Bevor ich morgen weg bin?«
»Versprochen. Egal, was passiert. Bevor du morgen weg bist«, sagte ich und fühlte einen Stich in meinem Brustkorb. Morgen war sie weg. Und ich wollte nicht, dass sie morgen weg war. Ich wollte überhaupt nicht, dass sie jemals wieder weg war. Ich wollte, dass sie blieb. Bei mir. Mit mir! Das war mir jetzt klar. Doch das war utopisch, das wusste ich. Das alles hier war utopisch.
Ich fühlte mich mehr wie in einem Traum als in der Wirklichkeit, und gleich würde ich aufwachen. Und bringen würde es ja ohnehin nichts, wenn sie blieb. Ganz im Gegenteil. Ich hatte Jacky die Geschichte vorlesen wollen, die ich über sie geschrieben hatte. Das hatte ich gemacht. Und jetzt war es auch wieder gut.
Die andere Geschichte konnte ich ihr nämlich unter keinen Umständen vorlesen. Die einzige Geschichte, die ich je über mich geschrieben hatte. Mein Geheimnis. Die Geschichte, wieso ich mich nicht verlieben durfte. Und nichts machte Sinn, bis ich diese Geschichte erzählen konnte.
»Ich wünschte, es wäre so gewesen«, sagte Jacky jetzt.
Ich war erleichtert, dass sie das Gespräch wiederaufgenommen hatte. »Was meinst du?«, entgegnete ich.
»Das mit den Löwen.«
»Wie war es denn?«, fragte ich zu schnell, und ihr Lächeln verrutschte.
»Sorry, ich wollte nicht …«
»Schon gut«, unterbrach sie mich. Sie hüstelte leise. »Ich freue mich wirklich über deine Erzählung, Krüger. Die bleibt jetzt für immer. Für die Ewigkeit aufgeschrieben. Das bedeutet mir wirklich viel. Danke dir.«
»Danke dir« , erwiderte ich.
»Für was?« Sie wirkte verwirrt.
Dafür, dass es dich gibt, dachte ich und sagte: »Dafür, dass du mich nicht für einen Loser hältst. Das bedeutet mir nämlich wirklich viel.« Jacky lachte, dass ihre Sommersprossen tanzten. Dann sah sie mir direkt in die Augen.
»Ich halte dich absolut nicht für einen Loser, Krüger«, sagte sie. Und ich hielt den Blick und drehte mich nicht weg. Ihre Pupillen waren weit, umspült vom Wasserblau der Iris. Mein Gott, diese Augen, dachte ich. Und eigentlich dachte ich inzwischen nur noch das. Bis zu diesem Tag hatte ich nicht gewusst, dass es solche Augen gab. Ein tiefer Strudel, von dem ich mich einsaugen lassen wollte, bis ich vollends darin unterging.
»Um ehrlich zu sein«, sprach sie weiter, »ich mag dich, Krüger.«
Ich sagte nichts. Was? Ich konnte nichts sagen. Was?! Ich wollte mich kneifen. Sie mochte mich! Ich wollte jubeln. Sie mochte mich! Und ich wollte weg, weil sie mich mochte. Ich blieb.
Wir saßen jetzt nur noch ein paar Zentimeter auseinander. Hatte sie sich bewegt? Ich mich nämlich auf gar keinen Fall. Ich spürte ihren warmen Atem, konnte die Hitze ihres Körpers fühlen. Eine Strähne ihrer feuerroten Haare berührte meine Schulter. Dieser Duft von Apfel und Honig … Nein! Das ging nicht! Das hier ging alles nicht! Alles in mir schrie »Flucht«. Alle Instinkte. Doch ich rührte mich nicht. Ihr Kopf näherte sich meinem, ihre Lippen bewegten sich auf meine zu. Und ich zuckte nicht zurück, als Jacky mich küsste.
Ich war nicht zurückgezuckt, als wir die Linie überschritten zwischen Traum und Wirklichkeit und noch etwas anderem.
PLÖTZLICH WAR ICH WACH.
Ich drehte mich weg von der Raufasertapete, von der Mauer meines Zimmers, an die mein Bett geschoben stand, und blickte in der Düsternis mit hämmerndem Puls auf meine Armbanduhr. Keine halbe Stunde hatte ich im Dämmerschlaf dagelegen. Die Zeit war mit einem Fingerschnippen vergangen, doch es war noch nicht zu spät.
Ich setzte mich auf. Ich wusste nun, was ich tun musste. Ich durfte meine Zeit nicht mehr verschwenden. Ich musste zu Jacky!
Sie mochte mich. Wegen mir. So, wie ich war. Weil ich ich war.
Ich sprang in meine Klamotten, griff meinen Rucksack, packte mein BMX und rannte, zwei Stufen auf einmal nehmend, das Treppenhaus hinunter. Auf der Straße hielt ich inne.
Wo würde ich Jacky finden können? In der Nähe der Party war sie mit Sicherheit nicht mehr. Auch dass sie in der Steinmetzerei war, war unwahrscheinlich. Wenn sie zurück zu ihren Zirkusleuten gegangen war und ich sie nicht an ihrem Wohnwagen antraf, würde es schwer werden, jemandem zu entlocken, wo sie sich aufhielt. Zumal es mitten in der Nacht war. Und vor allem, wenn sie dies nicht wollte. Sie wurde immer noch von der Polizei gesucht, und es war gut möglich, dass Nikolai jemanden losgeschickt hatte, sie abermals wegen des gestohlenen Armreifs zu verhören. Oder um ihr Schlimmeres anzutun.
Bei jedem dieser Gedanken schnürte sich meine Kehle zusammen. Ich musste mich für eine Richtung entscheiden.
Die Möglichkeiten waren unendlich.
Doch eine Chance hatte ich.
Für einen Moment schloss ich die Augen. Dann stieß ich mich ab, rollte los und fuhr. So schnell ich konnte, fuhr ich. Kilometerweit. Bis mir die Oberschenkel brannten. Bis meine Lunge stach. Bis meine Halsschlagadern pumpten. Ich raste die Straßen entlang. Der Dynamo an meinem Vorderrad wetzte, und die kleine Lampe an meinem Lenker warf funzeliges Licht auf den Teer, der sich vor mir zu einer schier endlosen dunklen Bahn zu ziehen begonnen hatte. Alles war ein schwarzer Tunnel, in den meine kleine Lampe stach wie ein Funken Hoffnung.
Wir hatten es uns in der Steinmetzerei versprochen.
Wohin wir zusammen gehen würden.
Endlich schoss ich auf den Radweg, trat weiter, ohne aus dem Rhythmus zu kommen, bog am Ausflugsparkplatz ab, ließ mein Fahrrad fallen und sprintete das letzte Stück den Weg nach oben. Nach oben zu der Stelle, an der Jacky sein musste. Nach oben zu dem Ort, an dem man Löwen besiegen konnte. Nach oben zum Janus.
DIE ZWEITE KUGEL, die Dave abgefeuert hatte, hatte meinen Oberkörper durchschlagen. Ein glatter Durchschuss zwischen Schlüsselbein und Schulter hatte mich umgeworfen.
Geistesgegenwärtig hatte Jacky die Ruder gegriffen und mich ans andere Ufer geschafft, wo Streifen- und ein Krankenwagen standen. Viktor hatte sie, ebenso wie die Beamten, die auf der gegenüberliegenden Flussseite Dave, Nikolai und Ewald dingfest machten, von der Klippe aus mit dem Telefon gerufen, das noch in meinem Rucksack gesteckt hatte.
Mein Zustand war kritisch gewesen.
Ich hatte viel Blut verloren.
Und für zehn Sekunden hatte mein Herzschlag ausgesetzt. Der Zeitpunkt des Herzstillstandes war im Polizeibericht mit 03:47 Uhr angegeben.
Eine Kopie dieses Berichts besitze ich noch immer.
In einer mehrstündigen Notoperation hatten die Chirurgen mich retten können. Drei Monate hatte ich im Krankenhaus bleiben müssen, mit endlosen Infusionen, Reha und Physio. Doch jeden Tag hatte mein Zustand sich verbessert. Jeden Tag war es aufwärtsgegangen.
Und jeden Tag der restlichen Sommerferien, immer wenn er sich irgendwie hatte wegschleichen können, hatte Viktor an meinem Bett gesessen. Auch in dem Moment, als ich aufgewacht war.
An das Aufwachen selbst konnte ich mich kaum erinnern. Nur dass ich irgendwann das Gefühl gehabt hatte, mit zwei kräftigen Schwimmzügen durch eine Wasseroberfläche brechen zu können. Und das hatte ich getan.
Viktor und Jacky hatten die erste Nacht auf dem Krankenhausgang durchwacht, bis die Ärzte ihnen mitgeteilt hatten, dass ich die Operation überstanden hätte. Ich hätte einen starken Lebenswillen, hatten sie gesagt.
Als die Polizei die beiden dann zur Vernehmung gerufen hatte, war Jacky verschwunden gewesen. Sie hatte verschwinden müssen.
Und als die Sommerferien vorbei waren, war schließlich auch Viktor nicht mehr zu mir auf die Station gekommen. Sein Vater, der Sergeant, hatte ihn in ein festungsgleiches Internat am Genfer See gesteckt und ihn, wenn Viktor mal über ein Wochenende nach Bodenstein kommen durfte, mit Hausarrest weggesperrt.
Viktor und ich hatten fast täglich telefoniert.
Er hatte mir vom strengen Leben in der Schweizer Lehranstalt erzählt, dass er nicht in den traditionellen Schützenverein der Schule eingetreten war, sondern stattdessen einen Zeichenkurs belegte, was seinen Vater schier zur Weißglut brachte.
Ich hatte ihm von der Physiotherapie berichtet und dass ich wieder in eine Schwimmmannschaft wollte, wenn ich wieder ganz gesund wäre. Ich erwähnte sogar einmal, dass ich überlegte, später mal irgendwas mit Schreiben zu machen.
Fand Viktor null verpicht.
Auch als ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde und meine Mutter und ich aus Bodenstein wegzogen – in die Nähe von Bonn, wo ihr ein besserer Job angeboten worden und sie nicht die Schlagzeile in der Lokalzeitung war –, hatten wir uns immer noch häufig gegenseitig angerufen.
Dann wurden unsere Telefonate weniger, bis sie schließlich ganz ausblieben und wir uns höchstens noch ab und zu eine SMS schickten.
Viktor und ich hatten versucht, beste Freunde zu bleiben, bis wir es nicht mehr waren und uns aus den Augen verloren.
Natürlich hatte ich versucht, Jacky zu finden. Es war mir sogar gelungen, den Zirkus Mondo Intero ausfindig zu machen, der zu dem Zeitpunkt sein Lager in der Nähe von Tirol aufgeschlagen hatte. Doch niemand dort wusste etwas von Jacky.
Was mir von diesem Tag und dieser Nacht, dem 31. August 1999, geblieben ist, passt in eine Metallbox. Darin sind auch mein Sturmfeuerzeug und Jackys Klappmesser, die Gegenstände, die Viktor am nächsten Tag für mich aus der Asche der Plantage gegraben hatte. Das Messer würde Jacky mir schenken, hatte Vik gesagt. Sie brauche es nicht mehr. Ebenso wie das Nokia 3210. Und das Foto von uns dreien. Das Polaroid-Bild von Jacky, Viktor und mir aus dem Colorado, auf dessen Rückseite Jacky eine mit Kugelschreiber geschriebene Nachricht für mich hinterlassen hatte.
Ein Tag wie ein Leben, Pascal.
Und so viele Tage liegen noch vor uns. So viel Leben.
Ich muss weiter. Zirkusleute sind immer in Bewegung, wie du weißt.
Aber, Pascal:
In 15 Jahren, am 31. August, klingelt das Nokia.
Am letzten Tag des Sommers.
Ich rufe dich an, und du wirst mir erzählen, dass du nie wieder einen Sommer – nie wieder auch nur einen Tag – verschwendet hast.
Das musst du mir versprechen. Bis dann.
In Liebe
Jacky
SONGTEXTE
S. 21: »Danke, Gut«, Einszwo; Musik & Text: Daniel Ebel, Thomas Jensen, Ill Will, Mario von Hacht © Universal Music Group.
S. 42: »Superman«, Goldfinger; Musik & Text: John William Feldmann © Universal Music Group.
S. 166: »Hold On«, Written by Kathleen Brennan & Tom Waits. Published by Jalma Music.
S. 225: »Ain’t Got Time to Waste«, Aim; Musik & Text: Andrew Turner, Anthony de Shawn Hill © ATIC Records.
S. 301: »Moment of Truth«, Gang Starr; Music & Text: Christopher E Martin, Keith Elam © EMI April Music Inc / Kobalt Music Publishing. Mit freundlicher Genehmigung der EMI Music Publishing Germany GmbH.