Das Buch
So verstehen wir unsere Kinder endlich!
Obwohl wir alle einmal Kinder waren, können wir uns oft nur schlecht in die Gedanken und Gefühle unseres Nachwuchses hineinversetzen – zu stark und zu grundlegend ändert sich unser Gehirn, je älter wir werden. Gerade in den ersten Lebensjahren entwickeln sich die Wahrnehmung und Fähigkeiten von Kindern fast monatlich. Die psychologische Forschung hat maßgeblich dazu beigetragen, dass wir Kinder immer besser verstehen und kindgerecht behandeln. Doch die wenigsten Eltern sind studierte Entwicklungspsychologen – und wundern sich schnell über scheinbar grundlose Wutanfälle oder ihr vermeintlich unsoziales Kind, das partout seine Spielsachen nicht teilen will. Die promovierte Psychologin Elisabeth Rose stellt die zwanzig wichtigsten, interessantesten und aussagekräftigsten Experimente vor, die unser Verständnis vom kindlichen Denken revolutionierten.
Die Autorin
Dr. Elisabeth Rose studierte Psychologie in Regensburg, Berlin und Melbourne. Nach dem Studium arbeitete sie 2013 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Entwicklungspsychologie an der Universität Bamberg. Parallel dazu begann sie die Ausbildung zur Kinder- und Jugendpsychotherapeutin und arbeitet aktuell in der Kinder- und Jugendpsychiatrie im Klinikum Nürnberg Nord. Daneben lehrt sie an der FH Erfurt und der evangelischen FH Nürnberg für Studierende der Sozialen Arbeit. Elisabeth Rose lebt mit ihrem Mann und den beiden gemeinsamen Söhnen in Nürnberg.
Elisabeth Rose
Kinder denken einfach anders!
20 wegweisende Erkenntnisse der psychologischen Forschung, die das Familienleben leichter machen
Kösel
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Copyright © 2022 Kösel-Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Ralf Lay
Umschlag: zero-media.net, München
Umschlagmotiv: Julia Forsman / Stocksy United
Illustrationen: Karottenexperiment gemäß Aguiar, A., Baillargeon, R. (1999): »2.5-Month-Old Infants’ Reasoning about When Objects Should and Should Not Be Occluded.« Cognitive Psychology, 39, 116–157 und gestaltet von © PRHVG unter Verwendung des Bildmaterials von Madele/stock.adobe.com; Visuelle Klippe gemäß Gibson, E. J., und Walk, R. D. (1960): The »visual cliff«. Scientific American, 202, 64–71 und gestaltet von © PRHVG unter Verwendung des Bildmaterials von miniwide/Shutterstock.com
ISBN 978-3-641-28152-6
V001
www.koesel.de
Inhalt
Einleitung
1. Das Baby hört mit!
Experiment zum vorgeburtlichen Spracherwerb
2. Wie du mir, so ich dir
Experiment über die Fähigkeit, andere nachzuahmen
3. Babys lernen aus positiven Konsequenzen
Das Mobile-Experiment
4. Aus den Augen, aus dem Sinn?
Das Experiment zur Objektpermanenz
5. Smartphone aus – Baby an(schauen)
Das Still-Face-Paradigma
6. Wenn Mama lächelt, komme ich weiter
Das Experiment zur sozialen Bezugnahme
7. Was eine Trennung über die Eltern-Kind-Bindung aussagt – und was nicht
Der Fremde-Situations-Test
8. Nicht nur Pawlows Hund lässt sich konditionieren
Das Little-Albert-Experiment
9. Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist das Kind, das da schaut so gebannt?
Der Rouge-Test zur Entwicklung des Selbst
10. Das Kleinkind – dein Freund und Helfer?!
Die Studie über die Entwicklung von Mitgefühl
11. Ich weiß etwas, was du nicht weißt
Das Smarties-Experiment zur Perspektivenübernahmefähigkeit
12. Wer abwarten kann, ist klar im Vorteil?
Das Marshmallow-Experiment
13. Kinder lernen durch das, was wir tun
Das Bobo-Doll-Experiment zur Rolle von Vorbildern
14. Vorlesen ist super, über Geschichten sprechen noch besser
Studien zum dialogischen Lesen
15. Warum es für ein Kind spricht, wenn es eine zerstörte Tasse schlimmer findet als fünfzehn
Ein Versuch zur Moralentwicklung
16. Verringern Belohnungen die Eigenmotivation?
Der Korrumpierungseffekt zur Erklärung von Motivation
17. Vom Optimisten zum Realisten
Die Studie zum Fähigkeitsselbstkonzept
18. Fehler machen verboten?
Die Monster-Studie über die Macht der Worte
19. Was Kinder stark macht!
Die Kauai-Studie über die Entwicklung von Resilienz
20. Anstelle eines Schlussworts: Kevin oder Friedrich?
Der Rosenthal-Effekt über die innere Erwartungshaltung
Literaturverzeichnis
Über die Autorin
Nachdem mein Bruder einen Scherz gemacht hat, sagt er zu meinem damals fünfjährigen Neffen: »Ich wollte dich nur auf den Arm nehmen!« Mein Neffe streckt daraufhin seine Arme aus in der Erwartung, hochgenommen zu werden.
Mein vierjähriger Sohn schläft ausnahmsweise länger als gewöhnlich, weshalb ich mit folgenden Worten an sein Bett komme: »Heute hast du aber lange geschlafen. Bis sieben Uhr!«
Er antwortet vollkommen ernst: »Dann bin ich jetzt ein Siebenschläfer!«
»Es regnet, weil die Wolken weinen.«
»Sind der Osterhase und das Christkind Freunde?«
Ich bin mir sicher, alle Eltern können diese Beispiele um eine ganz persönliche, ebenso unterhaltsame Anekdote ihrer Kinder ergänzen. Denn wer kennt sie nicht, diese Momente, in denen uns unsere Kinder zum Schmunzeln bringen? Momente, in denen sie uns vor Augen führen, dass sie grundlegend anders denken als wir!
Während meines Psychologiestudiums habe ich unzählige Theorien und Studien darüber gehört, wie Kinder die Welt begreifen. Mittlerweile bin ich diejenige, die Studierenden die wichtigsten Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie vermittelt. Seit ich selbst Mama bin, fasziniert es mich dennoch immer wieder aufs Neue, wie grundlegend anders Kinder denken. Begebenheiten, über die sich Erwachsene »keinen Kopf mehr machen«, nehmen unsere Kleinen wörtlich. Sie hinterfragen vieles oder nehmen Dinge schlichtweg vollkommen anders wahr. Sie denken lange Zeit nicht logisch, sondern magisch – in Bildern und Gefühlen statt in Worten. Bedeutende Wissenschaftler wie Jean Piaget kamen durch ihre Beobachtungen zu der Schlussfolgerung: »Kinder denken nicht wie kleine Erwachsene, sie denken anders!« – ein Zitat, das die Inspiration für den Titel dieses Buches lieferte.
Es gibt aber auch Momente, in denen ich nicht staune, weil meine Söhne eine so grundlegend andere Sicht auf die Welt haben, sondern weil ich viele meiner Eigenheiten in meinen Kindern wiedererkenne. Neben Piagets Sichtweise zieht sich deshalb auch Albert Banduras Theorie wie ein roter Faden durch dieses Buch. Seine wegweisenden Studien machten ihn zu einem der berühmtesten Psychologieprofessoren und zu meinem persönlichen Lieblingswissenschaftler, denn er zeigte eindrücklich: »Kinder lernen nicht durch das, was wir sagen, sondern durch das, was wir tun!« Es sind nicht die gut gemeinten Belehrungen, die unsere Kinder prägen. Vielmehr sind es die Gewohnheiten, die wir ihnen vorleben. Als Eltern sind wir unseren Kindern Vorbilder – in der Art, wie wir Konflikte lösen, mit Ängsten umgehen und Beziehungen zu unseren Mitmenschen gestalten.
In meiner Arbeit als Psychotherapeutin für Kinder und Jugendliche habe ich gelernt, dass Eltern häufig auf der Suche nach Erklärungen sind, es aber die wohl komplexeste Frage überhaupt ist, warum ein Mensch zu dem wird, wie er ist. Es ist unfassbar schwer zu erklären, warum sich das eine Kind zu einem widerstandsfähigen, glücklichen und sozial kompetenten Erwachsenen entwickelt, während ein anderes mit vielen Selbstzweifeln hadert oder ausgesprochen ängstlich auf neue Situationen reagiert. Auf der Suche nach Antworten untersuchen Wissenschaftler seit Jahrzehnten unzählige Einflussfaktoren und deren Wechselspiel und sind dennoch bis heute zu keiner allgemeingültigen Antwort gekommen – denn diese gibt es einfach nicht.
Dennoch, so habe ich bemerkt, ist es zumindest ein wichtiger Punkt unter zahlreichen anderen, dass vielen Eltern das Wissen über das kindliche Denken und somit über deren Bedürfnisse fehlt und sie sich oft nicht der Bedeutung ihrer Vorbildfunktion bewusst sind. Häufig ist es meine Aufgabe, Eltern die Perspektive ihrer Kinder zu »übersetzen«. Ich erkläre ihnen die wichtigsten Grundbedürfnisse von Kindern und verdeutliche, dass Kinder nicht mit böser Absicht, sondern aus Mangel an anderen Strategien »ausrasten« oder dass Eifersucht häufig ein Ausdruck ist, dazugehören zu wollen, und die Suche nach Zuwendung spiegelt. Außerdem verdeutliche ich Eltern, dass sie selbst das wichtigste Vorbild für ihre Kinder sind. Wenn sie Konflikte durch Schreien lösen oder Situationen aus Angst vermeiden, warum sollten es ihre Kinder anders tun? In vielen Fällen ist Wissen der Schlüssel, der Eltern Sicherheit im Umgang mit ihren Kindern gibt und das Familienleben leichter macht. Durch das Wissen darüber, wie Kinder denken und fühlen und was sie brauchen, kann Eltern eine verständnisvollere Beziehung zu ihnen gelingen, welche die Kleinen in ihrer Entwicklung stärkt.
Seit ich selbst Kinder habe, begann ich nicht nur, mich auf einer ganz neuen Ebene mit den Bedürfnissen von Kindern auseinanderzusetzen, vielmehr erkannte ich auch, dass viele Eltern möglichst alles richtig, am liebsten sogar »perfekt« machen wollen, durch die vielen verschiedenen Ratschläge aber gleichzeitig zunehmend verunsichert sind. Tipps und Tricks werden heutzutage in den meisten Elternratgebern nicht lediglich genannt, sondern oft durch wissenschaftliche Befunde untermauert. Dank Erkenntnissen aus Pädagogik, Psychologie und den Neurowissenschaften wird erklärt, weshalb kleine Kinder noch nicht gern teilen oder warum sie ab einem gewissen Alter wütend werden, etwa wenn sie sich nicht allein anziehen dürfen – eigentlich eine positive Entwicklung.
Gleichzeitig scheint mit jeder neuen Information der Druck zu wachsen, eine perfekte Mutter oder ein perfekter Vater sein zu müssen. Wissenschaftliche Studien helfen Eltern nicht immer, sie können auch beunruhigen. Das liegt nicht selten daran, dass manchmal voreilige und pauschale Rückschlüsse aus den Forschungsergebnissen gezogen werden.
Die Durchführung psychologischer Versuche ist jedoch eine sehr komplexe Angelegenheit. Gerade wenn es um die Entwicklung von Babys und Kindern geht, braucht es sehr ausgeklügelte Ideen, um einer Forschungsfrage nachzugehen, und viel Fachwissen, um die Ergebnisse richtig zu interpretieren. Daher das Wichtigste vorneweg: Keine, wirklich keine Studie kann irgendetwas »beweisen«! Studien lassen meistens nur den Rückschluss zu, dass Kinder im Durchschnitt diese oder jene Fähigkeit in einem gewissen Alter erwerben. Doch jedes Kind ist einzigartig und geht seinen Weg zu seiner Zeit! Immer häufiger dachte ich daher, ein für Eltern verständlich geschriebenes Fachbuch müsste her!
Hier ist es – ein Buch, das Wissen vermitteln, den Blick auf unsere Kinder verändern und dadurch das Familienleben leichter machen soll. Mit diesem Buch möchte ich Eltern eine Möglichkeit bieten, ihre Kinder besser kennen- und verstehen zu lernen. Die Erkenntnisse zwanzig faszinierender Forschungsarbeiten renommierter Entwicklungspsychologen liefern Einblicke in die wichtigsten Entwicklungsaufgaben unserer Kinder – von der Sprachentwicklung über die Entwicklung von Mitgefühl bis hin zur Impulskontrolle – und leisten einen großen Beitrag, um das Verständnis dafür zu schärfen, wie Kinder denken, fühlen und handeln, und vor allem, was sie für eine gesunde Entwicklung brauchen.
Kinder können sich noch nicht in die Lebenswelt ihrer Eltern versetzen. Wir Eltern aber können uns dank der entwicklungspsychologischen Forschung in die Lage unserer Kinder einfühlen und sie dadurch kompetent und gelassen in ihrer Entwicklung begleiten.
Jedes der zwanzig Kapitel folgt im Prinzip dem gleichen Aufbau. Nach einer Kurzzusammenfassung über den Inhalt des Kapitels folgt eine detaillierte, aber dennoch für Laien verständliche Beschreibung eines prominenten Experiments beziehungsweise einer ausgewählten Studie der Entwicklungspsychologie im Abschnitt »Das Forschungsteam nahm«. Das heißt, in jedem Kapitel bildet die jeweilige Studie die Grundlage, um einen kindlichen Entwicklungsbereich genauer zu beleuchten und daraus alltagspraktische Impulse und Inspirationen für das Leben mit Kindern abzuleiten. In diesem ersten Teil eines jeden Kapitels (der Beschreibung der Studie) werden Fragen thematisiert wie diese: »Wie gingen Wissenschaftler vor, etwa um die Sprachentwicklung von Babys zu erforschen, die noch nicht sprechen können?« Oder: »Wie lässt sich überhaupt herausfinden, dass sich kleine Kinder noch nicht in die Lage anderer versetzen können (die Entwicklung der Fähigkeit zur Perspektivenübernahme)?« Aber auch: »Warum sollten manchmal weder die Eltern noch die Kinder wissen, welchen Zweck eine Studie beabsichtigt?« Und: »Vor welche Herausforderungen werden Forscherinnen gestellt, wenn sie Kinder über einen längeren Zeitraum begleiten?«
Im Internet finden sich zu einigen Studien Videos über den genauen Versuchsablauf. Diese können durch Scannen eines QR-Codes, der dem Kapitel beigefügt ist, angesehen werden. Die entsprechenden Links sind zudem im Literaturverzeichnis aufgeführt.
»Worum geht’s?«: Nach der Beschreibung eines jeden Experiments wird erklärt, welcher Aspekt der kindlichen Entwicklung mithilfe der jeweiligen Studie erforscht wurde, und es folgt spannendes Hintergrundwissen zu den verschiedenen Entwicklungsbereichen wie Impulskontrolle, Einfühlungsvermögen, der Fähigkeit zur Perspektivenübernahme, der Motivation oder der Entwicklung des Selbstkonzepts von Kindern.
»Was heißt das jetzt für Eltern?«: Im letzten Abschnitt teile ich nicht nur meine Erfahrungen als Psychologin und Therapeutin für Kinder und Jugendliche, sondern vor allem die als Mama – und zwar als eine absolute good enough mother. Ich bin eine Mutter, die nicht alles »richtig« macht, auch wenn sie vieles »theoretisch« besser weiß. Eine ganz normale Mutter, die ihre Kinder mal kurz vor dem Fernseher parkt, ab und an mit Süßigkeiten lockt und schon das ein oder andere Mal die Fassung verlor und lauter wurde, als sie wollte. Ich bin eine Mutter, die ihren Kindern kein perfektes Vorbild ist, dafür aber ein authentisches, das Fehler macht und diese zumindest meistens als Chance betrachtet, um daraus zu lernen. Ich bin eine Mutter, die gelernt hat, sich selbst und die Bedürfnisse ihrer Kinder zu verstehen und ernst zu nehmen – und genau das möchte ich Ihnen mit auf den Weg geben.
Anhand vieler Alltagsbeispiele zeige ich, wie wissenschaftliche Studien dazu beitragen, ein besseres Verständnis für die Welt unserer Kinder zu bekommen. Mithilfe psychologischer Forschung erkläre ich, weshalb Kinder in einem bestimmten Alter Angst bekommen, wenn ihre Eltern den Raum verlassen, oder warum Wutanfälle auf dem Weg zur Selbstständigkeit dazugehören. Außerdem ist es mir wichtig aufzuzeigen, welche Folgerungen sich anhand der dargestellten Experimente nicht ableiten lassen. Wissenschaftliche Studien verfolgen nicht das Ziel, Eltern zu verunsichern, sondern sollten eher zu Gelassenheit verhelfen, wenn ein Kind nicht »dem Durchschnitt« entspricht. In erster Linie soll dieses Buch daher Denkanstöße geben und zeigen, was uns wissenschaftliche Studien vor dem Hintergrund des heutigen Zeitgeistes für die Erziehung unserer Kinder vermitteln können – ganz ohne erhobenen Zeigefinger und »So-wird’s-gemacht«-Unterton. An der ein oder anderen Stelle gibt es trotzdem ein paar konkrete Tipps und Lifehacks, etwa bezüglich Konfliktlösestrategien oder wohldosierten Lobs. Deshalb habe ich am Ende jedes Kapitels meine persönliche Kernbotschaft der jeweiligen Studie als Take-Home Message zusammengefasst.
Achtung! Wer nun denkt: »Prima, dann mache ich den Versuch doch direkt mit meinem Kind nach, oder?«, dem sei gesagt: Darum geht es nicht! Dieses Buch soll definitiv keine Anleitung für die Durchführung von »Kinderexperimenten« sein. Es ist wenig hilfreich, anhand der vorgestellten Studien zu prüfen, was das eigene Kind schon kann, um vielleicht entsetzt festzustellen, was es noch nicht kann. Vor allem aber ist davon abzuraten, die Fähigkeiten verschiedener Kinder miteinander zu vergleichen und zu bewerten. Eltern sind keine Wissenschaftler, die ein Versuchslabor besitzen und jegliche Störvariable kontrollieren können. Studien, die nicht nach den Standards wissenschaftlicher Praxis durchgeführt wurden, sind nicht viel wert – auch das lehrt dieses Buch.
Sollte die Lektüre dennoch Ihren Forschergeist geweckt haben, dann bieten sich dafür zwei kleine Versuche an. Sowohl der Rouge-Test (Kapitel 9) als auch das Smarties-Experiment (Kapitel 11) bergen keinerlei »Risiken«. Sie beginnen mit »Für das Experiment nehme man«, denn sie sind leicht nachzumachen und zeigen, dass Kinder wirklich anders denken als Erwachsene! Einjährige erkennen sich weder selbst im Spiegel, noch können Dreijährige die Perspektive anderer einnehmen.
Als wir Eltern von heute selbst Kinder waren, wurde eine wichtige Trendwende in der Erziehung eingeläutet. Der autoritative Erziehungsstil war ein klarer Fortschritt gegenüber der autoritären Erziehung. Beiden ist gemeinsam, dass sie durch klare Regeln und Grenzen gekennzeichnet sind – doch wie diese umgesetzt werden, ist entscheidend! Der autoritäre Erziehungsstil wird durch ein hohes Maß an elterlicher Kontrolle und Bestrafungslernen umgesetzt. Bei der autoritativen Erziehung hingegen erklären Eltern und Pädagogen den Kindern nachvollziehbar und in liebevoller Beziehung den Sinn einer Regel und vermitteln ihnen dadurch ein Gefühl von Halt, Sicherheit und Verlässlichkeit. Zahlreiche Publikationen belegen, dass der autoritative Erziehungsstil im Gegensatz zur autoritären Erziehung dazu beiträgt, dass Kinder zu selbstständigen und sozial kompetenten Erwachsenen heranwachsen.
Dennoch gerät die autoritative Erziehung zunehmend in die Kritik. In immer mehr Ratgebern liest man stattdessen inzwischen vom bedürfnis- oder bindungsorientierten Beziehungsstil. Bedürfnisorientierung wird beispielsweise folgendermaßen dargestellt: Diese Form der Elternschaft (das Wort »Erziehung« wird gern vermieden) entspreche einem freien Spiel, bei dem alle Familienmitglieder so lange auf Augenhöhe miteinander kommunizieren, bis ein Kompromiss gefunden wird. Primäres Ziel ist es, die Bedürfnisse aller Beteiligten zu beachten – zweifelsfrei ein guter Grundgedanke! Der autoritative Erziehungsstil wird im Vergleich dazu teilweise fast abwertend als angeleitetes, regelbasiertes Spiel beschrieben. Die Eltern sind Trainer, die auf die Einhaltung der Regeln und Fairness achten und dadurch eine höhere Position innehaben.
Was hier nach einem klaren Widerspruch zwischen autoritativer Erziehung und bindungsorientierter Elternschaft klingt, lässt sich in meinen Augen nicht strikt trennen. Können wir uns nicht von beiden Stilen eine Scheibe abschneiden und daraus das weltbeste Sandwich machen? Ich bin der Meinung, das funktioniert! Ich gehe sogar einen Schritt weiter und behaupte: Das machen viele von uns längst!
Bindungsorientierte Elternschaft ist ein wunderbarer Weg, um sich mit den Grundbedürfnissen von Babys und Kindern auseinanderzusetzen. Wissenschaftliche Studien können dazu beitragen, den Weg für eine gelungenen Eltern-Kind-Bindung zu ebnen, indem sie das Verständnis für die Bedürfnisse, das Denken und Fühlen kleiner Kinder verbessern und dadurch helfen, die Signale von Babys und Kindern zu entschlüsseln und feinfühlig auf sie zu reagieren. Außerdem heben gute Ratgeber der bindungsorientierten Elternschaft auch hervor, dass Eltern bei aller Orientierung an den kindlichen Bedürfnissen ihre eigenen Wünsche und Ziele nie aus den Augen verlieren sollten. Eltern, die auf ihre eigenen Bedürfnisse achten und diese kommunizieren, sind wichtige Vorbilder für ihren Nachwuchs.
Wenn Kinder dem Säuglings- und Kleinkindalter entwachsen, braucht es meiner Meinung nach aber auch ein gutes Maß an autoritativer Erziehung. Dieser Erziehungsstil schließt den Fokus auf Bindung keineswegs aus, sondern erweitert ihn eher. Autoritative Erziehung ist ebenfalls durch eine positive und wertschätzende Beziehung zwischen Eltern und ihren Kindern gekennzeichnet, in der die Bedürfnisse aller Beteiligten erkannt und benannt werden. Kinder haben nicht nur ein enormes Grundbedürfnis nach Liebe und Geborgenheit, sondern auch nach Sicherheit und Verlässlichkeit sowie der Möglichkeit, sich im haltgebenden Rahmen ausprobieren zu dürfen. Genau diese Grundbedürfnisse werden durch liebevolle Grenzen, faire Regeln, wohldosiertes Lob und wiederkehrende Routinen erfüllt, die Kindern ein Gefühl von Sicherheit und Verlässlichkeit vermitteln. Es ist fraglich, ob kleine Kinder wirklich im selben Team spielen wollen wie ihre Eltern. Jesper Juul, einer der renommiertesten Familientherapeuten und Autor zahlreicher Elternratgeber, spricht sich dafür aus, den Kindern ein erfahrener »Leitwolf« zu sein, denn liebvolle Führung ist auch auf Augenhöhe möglich. Dr. Eliane Retz spricht im bedürfnisorientierten Kontext ebenfalls bewusst von Erziehung, um die »leitende Funktion« der Eltern hervorzuheben.
Dieser Haltung möchte ich mich anschließen. Bindungsorientierung und autoritative Erziehung sind auch in meinen Augen nicht zweierlei Paar Stiefel, sondern der Schlüssel für eine gute und beständige Beziehung zwischen Eltern und ihren Kindern:
Erst kommt die Bindung.
Es folgt die Erziehung.
Dann bleibt die Beziehung.
Wie wäre es daher, eine neue Trendwende einzuleiten? Etwa Bindung + Erziehung = Beziehung. Oder ist das sogar überflüssig, da wir ohnehin die ganze Zeit von zwei Seiten derselben Medaille sprechen?
Erica Reischer, US-amerikanische Psychologin und Bestsellerautorin, fasste autoritative Erziehung als »Balance zwischen den Wünschen der Kinder und fairen Grenzen« zusammen. Nora Imlau, ebenfalls Bestsellerautorin und Vertreterin der bedürfnisorientierten Bewegung, definierte diese Form der Elternschaft als »Balance & Boundaries – eine gesunde Balance elterlicher und kindlicher Bedürfnisse und klare Grenzen«.
Dann sind wir uns doch einig.
Viele der bahnbrechenden Experimente der Entwicklungspsychologie stammen aus dem letzten Jahrtausend. Teilweise war es sogar die Generation unserer Eltern, welche die Kinder der Studien gewesen sein könnten. Aufgrund des damaligen Rollenbildes wurden in den Studien fast ausschließlich Mütter befragt und die Interaktion zwischen Müttern und ihren Kindern beobachtet, weshalb ich beim Ablauf der Originalstudie fast immer von Kindern und ihren Müttern sprechen muss. Dennoch richtet sich dieses Buch genauso an Väter, die im Leben ihrer Kinder eine ebenso wichtige Rolle einnehmen. Ich sehe es als eine riesengroße Chance für die Generation unserer Kinder, dass wir uns von den klassischen Rollenklischees befreien und Väter heute in der Erziehung eine gleichwertige Rolle einnehmen. Mir war es daher wichtig, einen Eltern- und keinen Mütterratgeber zu schreiben.
Obwohl ich als Mutter in einer »modernen« Familie lebe, in der sich beide Elternteile gleichberechtigt um die Kinder kümmern, kann ich nur meine persönlichen Erfahrungen einer »klassischen« Vater-Mutter-zwei-Kinder-Familie teilen. Jedoch ist es mir eine Herzensangelegenheit, mit diesem Buch alle denkbar möglichen Familienformen anzusprechen. Eltern sind nach meinem Verständnis all jene wichtigen Bezugspersonen, die Verantwortung und Fürsorge für ein Kind übernehmen – ob in einer Pflege-, Patchwork- oder Regenbogenfamilie. Um allen Familienformen gerecht zu werden, schreibe ich an einigen Stellen bewusst von Bezugspersonen oder Elternteil anstelle von Müttern oder Vätern.
Experiment zum vorgeburtlichen Spracherwerb
Die Studienteilnehmer dieses Experiments waren ungeborene Babys, denen die werdende Mutter zweimal täglich immer wieder die gleiche Geschichte vorlas. Wenige Wochen nach der Geburt wurden die Neugeborenen und ihre Mütter in ein Forschungslabor eingeladen. Die Wissenschaftler dieser Studie zeigten mittels eines einfallsreichen Versuchsaufbaus, dass die Babys nach der Geburt genau diese aus dem Mutterleib vertraute Geschichte wiedererkannten. Das Ergebnis liefert wichtige Hinweise über den Spracherwerb und die frühen Merkfähigkeiten im Säuglingsalter. Es zeigt aber auch, mit welchen Tricks sich Babys beruhigen lassen.
Das Forschungsteam nahm hochschwangere Frauen und ein Buch. In unserem ersten beeindruckenden Experiment sollten die werdenden Mütter Passagen eines Kinderbuches laut vorlesen. Warum? Weil Babys bereits im Mutterleib mithören und diese Geschichte nach der Geburt wiedererkennen. Diese verblüffende Tatsache erforschten Anthony DeCasper und Melanie Spence bereits im Jahr 1986. Dafür wurden Babys beobachtet, deren Mütter in den letzten sechs Wochen der Schwangerschaft zweimal täglich laut aus einem Kinderbuchklassiker vorgelesen hatten.
Nun wird es allerdings etwas anspruchsvoller, denn: Wie um alles in der Welt soll ein Neugeborenes mitteilen, dass es die Geschichte »wiedererkennt«? Außer schlafen, schreien und trinken können Babys doch noch nicht viel, oder? Weit gefehlt! Das werden uns diese sowie weitere Studien aus diesem Buch eindrücklich beweisen. Was Babys allemal können, und darüber sind wir uns jetzt schon einig: am Schnuller nuckeln. Denn sie haben ein angeborenes Saugbedürfnis. Und genau dies machten sich DeCasper, Spence und weitere kluge Köpfe unter den Entwicklungspsychologen zunutze. Was nun folgt, ist ein cleverer Versuchsaufbau, dem wir so einige Erkenntnisse der Säuglingsforschung zu verdanken haben. Psychologinnen nennen dies »das Habituations-Dishabituations-Paradigma«. Es beschreibt, wie schnell sich Babys an einen bestimmten Reiz gewöhnen.
Das Habituations-Dishabituations-Paradigma
Dieses Paradigma der Psychologie wurde entwickelt, um Fähigkeiten im Säuglingsalter zu erforschen. Hierbei werden Säuglingen Reize so lange gezeigt, bis eine Reizgewöhnung eintritt, die Habituation. Sobald ein anderer Reiz präsentiert wird, kommt es für diesen neuen Reiz zu einer erneuten Steigerung der Aufmerksamkeit, sprich der Dishabituation. In diesem Experiment spielt eine Unterform des Habituations-Dishabituations-Paradigmas eine Rolle, und zwar die High-amplitude-sucking-Methode. Zur Erforschung akustischer Reize (in unserem Beispiel die von der Mutter vorgelesene Geschichte) nutzen Säuglingsforscher das Saugverhalten als Indikator dafür, ob ein Baby Interesse an dem Reiz hat, der ihm präsentiert wird. Je größer das Interesse an einem Reiz ist, desto länger und stärker saugen Babys am Schnuller (desto länger ist also auch die Zeitspanne, bis es habituiert und seine Saugstärke abnimmt).
Mithilfe dieser Methode zeigten DeCasper und Spence, dass die Mehrzahl der Säuglinge bei einer ihnen bekannten Geschichte stark am Schnuller nuckelte, sodass sie sie möglichst lange zu hören bekam. Die vertraute Geschichte schien ihr besonderes Interesse zu wecken. Babys, deren Mütter in der Schwangerschaft keine Geschichte vorgelesen hatten – dies nennen Psychologinnen »die Kontrollbedingung« –, saugten deutlich kürzer und fanden die für sie unbekannten Geschichten wenig interessant. Daraus schlussfolgerten die beiden Forscher, dass Säuglinge eine Geschichte, die sie im Mutterleib mehrmals gehört haben, wiedererkennen können.
Die Kontrollbedingung
Zu den Standards guter wissenschaftlicher Praxis gehört es, neben der Versuchsbedingung auch eine Kontrollbedingung zu etablieren. Nur durch den Vergleich zwischen Kontroll- und Versuchsbedingung lassen sich Rückschlüsse darauf ziehen, ob es auch wirklich einen Unterschied im beobachteten Verhalten gibt. In unserem Fall zeigte sich ein Unterschied im Saugverhalten zwischen den Babys, welche die Geschichte aus dem Mutterleib kannten, und denen, welche die gleiche Geschichte zum ersten Mal hörten.
Dieses Experiment gehört nicht zu denen, die wir als werdende Eltern mal eben schnell nachmachen können – doch darum geht es in diesem Buch auch nicht. Für die Replikation würde man eine ganze Menge Equipment, wenn nicht sogar ein kleines Versuchslabor benötigen (Minikopfhörer, Schnuller, welche die Saugfrequenz messen, eine Umgebung ohne viele Störfaktoren und so weiter). Doch auch ohne es selbst durchgeführt zu haben, lehrt dieses Experiment einiges: Neugeborene lernen schon vor der Geburt und sind von Natur aus bestens auf den Spracherwerb vorbereitet.
Säuglinge lernen bereits im Mutterleib. Neugeborene können schon sehr viel – und das haben sie unter anderem ihren Erfahrungen im Mutterleib zu verdanken. Babys lernen vor der Geburt, was man »pränatales Lernen« nennt. Dank ihres Hörsinnes, der um die 28. Schwangerschaftswoche ausgereift ist, nehmen sie Geräusche aus ihrer Umwelt wahr. Man kann sich das so vorstellen, als würden wir in der Badewanne liegen und mit dem Kopf unter Wasser einem Gespräch folgen wollen, während der Nachbar von nebenan rhythmisch hämmert (was dem Herzschlag entspricht) und die Rohre lautstark gluckern (vergleichbar den Magen- und Darmgeräuschen).
Ab etwa der 32. Schwangerschaftswoche ist das Gehirn weit genug ausgereift für Lern- und Gedächtnisleistungen des Ungeborenen. Experimente belegen, dass Föten bereits vor der Geburt zu Lern- und Gedächtnisleistungen fähig sind und etwa um die 32. Schwangerschaftswoche bei einer Vielzahl von Reizen habituieren. So wurde auch erforscht, dass Neugeborene schon verschiedene sprachliche Laute unterscheiden können. Sie sind folglich sehr sensibel für den Klang des gesprochenen Wortes – eine enorm wichtige Voraussetzung für den Spracherwerb.
Säuglinge sind kleine Sprachgenies. Babys sind kleine Talente, wenn es darum geht, so etwas Komplexes wie die menschliche Sprache zu lernen. Jeder, der eine Fremdsprache halbwegs gut beherrscht, weiß, was man alles lernen und leisten muss, bevor man sie auch nur ansatzweise sprechen kann. Und dies gelingt unseren Kindern anscheinend ganz nebenbei. Weil sie die besten Voraussetzungen dafür bereits im Mutterleib haben und es ihnen möglich ist, sich schon vor der Geburt mit den Merkmalen ihrer Muttersprache auseinanderzusetzen. Sie können fremde von vertrauten Wörtern, Sprachen oder Stimmen unterscheiden und sich an verschiedene Geschichten (klanglich, nicht inhaltlich) erinnern.
Das bedeutet auch, dass bereits Neugeborene über eine beeindruckende Gedächtnisleistung verfügen. Doch dazu an späterer Stelle mehr.
Die Quintessenz dieses Experiments ist, dass Säuglinge die besten Voraussetzungen mitbringen, um ihre Muttersprache zu lernen. Bereits vor der Geburt nehmen Babys die Stimme und Sprache ihrer Mama wahr und werden mit ihr vertraut – und mit der ihres Papas, ihrer Oma oder ihrer Geschwister. Das alles passiert ohne unser aktives Zutun. Ziel dieser Studie war es, grundlegende Erkenntnisse über pränatale Voraussetzungen des Spracherwerbs zu erlangen, nicht aber, ob und wie man den Spracherwerb am besten schon vor der Geburt aktiv fördert.
Ungeborene lernen im Mutterleib – ganz ohne »Frühförderung«. Die Studienergebnisse zeigen nicht, dass Kinder in ihrer Sprachentwicklung profitieren, wenn ihnen bereits vor der Geburt vorgelesen wird. Dieses Kapitel ist daher kein Plädoyer dafür, das pränatale Lernen bewusst einzusetzen. Es gibt keine eindeutigen wissenschaftlichen Belege dazu, ob Kinder sprachlich fitter werden, wenn die Mutter in der Schwangerschaft laut vorliest. Ebenso wenig ist belegt, ob es die Musikalität oder gar die Intelligenz eines Kindes fördert, wenn wir in der Schwangerschaft besonders häufig klassische Musik hören oder das Baby einer Fremdsprache aussetzen. Der Fötus »verschläft« ohnehin einen Großteil seiner Zeit im Mutterleib und soll dies auch in Ruhe tun dürfen. Experten raten daher sogar davon ab, das pränatale Lernen bewusst zur Leistungssteigerung einzusetzen.
Wer sich also unwohl fühlt, seinem Ungeborenen vorzulesen oder als werdender Vater aktiv mit einem »dicken Bauch« zu sprechen, kann sich beruhigt zurücklehnen. DeCasper und Spence zeigten, dass Babys bestens auf den Spracherwerb vorbereitet sind. Sie reagieren auch ohne aktives Zutun sensibel auf den sprachlichen Input ihrer Umgebung. Wir können das Vorlesen gut und gern auf die Zeit nach der Geburt vertagen.
Der beste Weg, um Neugeborene zu beruhigen, ist die Stimme ihrer Eltern. Dennoch zeigt uns dieses Forschungsergebnis einen Weg, wie Eltern ihr Neugeborenes beruhigen können: Babys lieben die Stimme ihrer Eltern! Sie ist ihnen bereits aus dem Mutterleib vertraut. Weitere Studien verdeutlichen etwa, dass Säuglinge nicht nur den Klang einer ihnen bekannten Geschichte gegenüber einer ihnen unbekannten Geschichte bevorzugen, sondern vor allem die Stimme der Mutter gegenüber der einer Fremden. Das gilt selbst, wenn die Fremde das Gleiche und in einem ähnlichen Tonfall sagt.
Und: Auch an die Stimme des anderen Elternteils erinnert sich das Neugeborene aus seiner Zeit im Mutterleib, ganz egal, ob dieser schon bewusst mit dem Ungeborenen gesprochen oder sich »nur« mit dem schwangeren Elternteil unterhalten hat.
Obwohl Neugeborene noch nicht antworten können, beruhigen sie sich häufig, wenn die wichtigsten Bezugspersonen mit ihnen sprechen. Ganz egal, worüber. Hauptsache, die Stimme klingt vertraut und ruhig. Übrigens: Wer auf säuselnde Art mit seinem Baby spricht, macht intuitiv alles richtig (»Schhh … schhh … alles guuut«). Nicht ohne Grund hat die Psychologie hierfür ein Fachwort parat: Die sogenannte Ammensprache oder baby talk lieben alle Säuglinge. Im ersten Lebensjahr dürfen die Bezugspersonen daher gern besonders langsam, in hoher Stimmlage, mit ausgedehnten Pausen und deutlicher Betonung sprechen. Diese Ammensprache sollte im zweiten Lebensjahr allerdings etwas reduziert und durch das Sprechen mit vielen Wortbenennungen und Fragen ersetzt werden. Aber auch diese stützende Sprache nutzen die meisten Eltern intuitiv richtig.
Und nicht nur Worte, sondern auch Melodien können beruhigend auf Babys wirken. Das Vorsingen kann gleich mehrere positive Effekte haben. Mithilfe von vertrauten Liedern lassen sich viele Babys schnell beruhigen, und sie lieben es als Einschlafritual. Unmusikalischen Eltern sei an dieser Stelle gesagt, dass sie sich keine Sorgen machen müssen, falls sie nicht den richtigen Ton treffen. Das ist Babys völlig egal, denn es geht ihnen in erster Linie um die vertraute Stimme der Eltern, die beim Singen automatisch ruhiger und gleichmäßiger wird.
Übrigens, zu singen oder ruhig zu sprechen hat noch einen zusätzlichen positiven Effekt – und zwar für die (werdende) Mutter. Beides setzt Glückshormone frei und lässt Stresshormone sinken. Und das spürt der Bauchbewohner oder das weinende Baby allemal!
Take-Home Message
Obwohl Kinder bereits vor der Geburt über die besten Voraussetzungen zum Sprechenlernen verfügen und sehr sensibel auf das menschliche Wort reagieren, lebt der Spracherwerb von Interaktion! Nur zwischenmenschliche Kommunikation geht auf die Bedürfnisse des Kindes ein, etwa durch die Anpassung der Tonlage (Ammensprache) oder das aktive Zeigen auf und Benennen von Gegenständen (stützende Sprache). Hörspiele oder der Fernseher können dies nicht ersetzen. Auch wenn Babys noch nicht antworten können, sollten wir unbedingt mit ihnen sprechen – von Geburt an! Schön ist es etwa, wenn Eltern alle Schritte benennen, die sie gerade tun (»Oh, du hast eine volle Windel. Na, dann gehen wir jetzt mal zum Wickeltisch … So, ich ziehe dir jetzt die Hose und die Windel aus und mache dich sauber … Jetzt bist du wieder frisch und bekommst eine neue Windel …«). Babys verstehen zwar noch nicht den Inhalt des Gesagten, doch eine vertraute Stimme ruft ein positives Gefühl bei ihnen hervor und vermittelt ihnen Sicherheit und Geborgenheit. Verständlich also, dass sich Babys besonders gut beruhigen lassen, wenn wir sanft mit ihnen sprechen oder ihnen etwas vorsingen.