Dieses Buch erklärt erstmals, wie die liberale Demokratie zum Opfer ihres im Kalten Krieg vorausgesagten Erfolgs wurde. Oberflächlich kann man eine Reihe politischer Ereignisse dafür verantwortlich machen, die die westliche Welt und ihre Werte in ihren Grundfesten erschütterten: der 11. September 2001, der zweite Irak-Krieg, die Finanzkrise 2008, die Ohnmacht des Westens gegenüber der russischen Krim-Annexion und dem Bürgerkrieg in Syrien, die Flüchtlingskrise 2015, das Brexit-Referendum und die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten. Das leuchtende Abendrot der liberalen Demokratie wurde auch vom chinesischen Wirtschaftswunder entzaubert, das einer politischen Führung zu verdanken ist, die sich unmissverständlich weder liberal noch demokratisch gibt.
Doch ein Aspekt der Geschichte wurde bisher vernachlässigt: Das Jahr 1989 läutete ein dreißigjähriges Zeitalter der Nachahmung ein. Die vom Westen dominierte unipolare Ordnung ließ den Liberalismus im Reich der moralischen Ideale unangreifbar wirken – seine Werte wurden dem Osten als Imperativ übergestülpt. Aber Menschen brauchen Wahlmöglichkeiten. Sie lassen sich nicht gerne von außen vorschreiben, wie das richtige Leben auszusehen hat – schon gar nicht, wenn derjenige, der es vormacht, in Sachen Werte und Moral auf tönernen Füßen steht. In ihrer erhellenden politischen Analyse liefern die bedeutenden Intellektuellen Ivan Krastev und Stephen Holmes neue Erkenntnisse über die wahren Gründe der weltweiten antiliberalen Revolte.
Eine Abrechnung
Aus dem Englischen
von
Karin Schuler
Ullstein
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ISBN 978-3-8437-2156-1
© 2019 Ivan Krastev und Stephen Holmes
© der deutschen Ausgabe: Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Brian Barth, nach einer Vorlage von Allen Lane, Penguin
Autorenfoto Ivan Krastev: © Nadezhda Chipeva
Autorenfoto Stephen Holmes: © privat
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Wir sind alle als Originale geboren – wie kommt es,
dass so viele von uns als Kopien sterben?
Edward Young
Gestern war die Zukunft besser. Wir glaubten, das Jahr 1989 habe »die Vergangenheit fast so klar von der Zukunft geschieden wie die Berliner Mauer den Osten vom Westen«,1 und wir konnten uns »nur schwer eine Welt vorstellen, die von Grund auf besser ist als die, in der wir leben, oder uns eine Zukunft ausmalen, die nicht demokratisch und kapitalistisch geprägt ist«.2 Heute denken wir anders. Die meisten von uns haben jetzt sogar Schwierigkeiten, sich im Westen eine Zukunft vorzustellen, die stabil demokratisch und liberal bleibt.
Nach dem Ende des Kalten Krieges war die Hoffnung groß, dass die liberale kapitalistische Demokratie weltweit Verbreitung finden werde.3 Die geopolitische Bühne schien für ein optimistisches Lehrstück wie George Bernard Shaws Pygmalion bereitet, in dem ein Professor für Sprachwissenschaften einem armen Blumenmädchen innerhalb kurzer Zeit beibringt, wie die Queen zu sprechen und sich in vornehmer Gesellschaft wie zu Hause zu fühlen.
Nachdem sie voreilig die Integration des Ostens in den Westen gefeiert hatten, erkannten interessierte Beobachter irgendwann, dass das Spektakel, dem sie gerade beiwohnten, ganz und gar nicht so ablief wie geplant.4 Statt einer Vorstellung von Pygmalion bekam die Welt eine Bühnenfassung von Mary Shelleys Roman Frankenstein zu sehen, einem pessimistischen Lehrstück über einen Mann, der beschließt, Gott zu spielen, indem er nachgebaute Körperteile zu einem menschenähnlichen Geschöpf zusammensetzt. Das entstellte Ungeheuer, das sich zu Einsamkeit, Unsichtbarkeit und Ablehnung verurteilt sieht, ist neidisch auf das unerreichbare Glück seines Schöpfers. Es wendet sich gewalttätig gegen dessen Freunde und Familienangehörige, legt ihre Welt in Schutt und Asche und hinterlässt als Vermächtnis eines fehlgeleiteten Experiments zur menschlichen Selbstreproduktion nichts als Reue und tiefen Kummer.
Dieses Buch zeigt auf, wie der Liberalismus zum Opfer seines im Kalten Krieg vorausgesagten Erfolgs wurde. Oberflächlich kann man eine Reihe politischer Ereignisse dafür verantwortlich machen, die die Welt in ihren Grundfesten erschütterten: der Angriff vom 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York; der zweite Irakkrieg; die Finanzkrise von 2008; Russlands Annexion der Krim und der Einmarsch in die Ostukraine; die Ohnmacht des Westens, als Syrien einen humanitären Albtraum erlebte; die Flüchtlingskrise 2015 in Europa; das Brexit-Referendum und die Wahl von Donald Trump. Das leuchtende Abendrot der liberalen Demokratie wurde nach dem Kalten Krieg auch vom chinesischen Wirtschaftswunder entzaubert, das einer politischen Führung zu verdanken ist, die sich ganz unmissverständlich weder liberal noch demokratisch gibt. Versuche, den guten Namen der liberalen Demokratie zu retten, indem man sie positiv von der nicht westlichen Autokratie abhebt, untergrub der Westen, indem er sinnlos liberale Normen verletzte, also etwa Gefangene folterte oder zuließ, dass seine demokratischen Institutionen ganz augenfällig versagten. Bezeichnenderweise schlagen sich liberale Wissenschaftler heute vor allem mit der Frage herum, wie Demokratien verkümmern und sterben.5
Selbst das Ideal einer »offenen Gesellschaft« hat seinen einst bejubelten Glanz verloren.6 Bei vielen desillusionierten Bürgern weckt das Stichwort Weltoffenheit heute eher Angst als Hoffnung. Als die Berliner Mauer fiel, gab es nur sechzehn Grenzzäune weltweit. Heute sind fünfundsechzig befestigte Grenzen fertiggestellt oder im Bau. Den Forschungen von Élisabeth Vallet (Quebec University) zufolge errichtet gerade fast ein Drittel aller Länder der Welt Absperrungen entlang ihrer Grenzen.7 Die drei Jahrzehnte nach 1989 erweisen sich im Nachhinein als ein Zwischenspiel, ein kurzes barrierefreies Intervall zwischen dem dramatischen Berliner Mauerfall, aufregenden utopischen Fantasien von einer Welt ohne Grenzen und einem globalen Mauerbau-Fieber, bei dem die Barrieren aus Beton und Stacheldraht existenzielle (wenn auch manchmal nur eingebildete) Ängste verkörpern.
Zudem gehen die meisten Europäer und Amerikaner heute davon aus, dass das Leben ihrer Kinder weniger gedeihlich und erfüllt sein wird als ihr eigenes.8 Das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Demokratie sinkt drastisch, etablierte Parteien brechen auseinander oder werden von amorphen politischen Bewegungen und populistischen Machthabern verdrängt, die die organisierten politischen Kräfte und ihre Bereitschaft, in Krisenzeiten für das Überleben der Demokratie zu kämpfen, infrage stellen.9 Vom Gespenst umfangreicher Migrationsbewegungen verschreckt, fühlt sich die Wählerschaft in Teilen Europas und Amerikas immer stärker zu fremdenfeindlicher Rhetorik, autoritären Führern und militärisch aufgerüsteten Grenzen hingezogen. Die Menschen glauben nicht mehr an eine bessere Zukunft durch die vom Westen ausgehenden liberalen Ideen; sie fürchten vielmehr, dass die Millionen Menschen, die in den Westen strömen, die Geschichte des 21. Jahrhunderts belasten werden.10 Den einst als ein Bollwerk gegen die Tyrannei gepriesenen Menschenrechten wirft man heute in schöner Regelmäßigkeit vor, sie beschränkten die Demokratie in ihren Möglichkeiten, den Terrorismus zu bekämpfen. Die Sorge um das Überleben des Liberalismus ist so akut, dass für politische Kommentatoren im Jahr 2016 der Verweis auf William Butler Yeats’ Gedicht »Die Wiederkunft«, geschrieben 1919 nach einem der entsetzlichsten Konflikte der Menschheitsgeschichte, zu einem geradezu obligatorischen Refrain wurde.11 Ein Jahrhundert nachdem Yeats sie schrieb, sind diese Worte weltweit das Mantra besorgter Verteidiger der liberalen Demokratie geworden: »Zerfall ringsum, das Zentrum hält nicht stand / Die Anarchie ist losgelassen in die Welt.«
Barack Obamas engster Berater und persönlicher Freund Ben Rhodes bekennt in seinen Memoiren mit dem Titel Im Weißen Haus, Obama habe, als er das Weiße Haus verließ, vor allem eines beschäftigt: »Was, wenn wir uns geirrt haben?«12 Er dachte nicht: »Was ist schiefgegangen?«, oder: »Wer hat etwas falsch gemacht?« Auch Hillary Clintons What Happened war nicht das drängendste Rätsel, das er lösen wollte. Viel beunruhigender war für Obama die Frage: »Was, wenn wir uns geirrt haben?«, sprich: Was, wenn die Liberalen diese Ära, nachdem der Kalte Krieg zu Ende gegangen war, grundsätzlich falsch gedeutet hatten? »Was, wenn wir uns geirrt haben?« ist die richtige Frage, und in diesem Buch suchen wir nach Antworten darauf.
Für uns beide ist diese Frage auch eine zutiefst persönliche. Der Ältere von uns, Amerikaner, kam ein Jahr nach Beginn des Kalten Krieges zur Welt und lernte in der Schule, dass die gerade errichtete Berliner Mauer der Inbegriff von Intoleranz und Tyrannei sei. Der Jüngere, Bulgare, wurde etwa vier Jahre nach dem Mauerbau auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs geboren und wuchs in dem Glauben auf, dass das Niederreißen von Mauern ein Weg zu politischer und individueller Freiheit sei.
Auch wenn unsere Hintergründe so verschieden sind, lebten wir doch beide jahrelang im Schatten der Mauer, deren im Fernsehen in seiner ganzen Dramatik gezeigter Fall sich als der entscheidende Moment unseres politischen und intellektuellen Lebens entpuppte, das eben erst von der Berliner Mauer und später von ihrer Abwesenheit tief geprägt war. Auch wir teilten die Illusion, dass mit dem Ende des Kalten Krieges das Zeitalter des Liberalismus und der Demokratie beginnen werde.
Mit diesem Buch wollen wir nicht nur verstehen lernen, warum wir uns diese Illusion damals so gern zu eigen gemacht haben. Wir wollen auch über eine Welt nachdenken, über die jetzt so unheilvoll eine Flutwelle illiberaler und anti-demokratischer »Anarchie« hinwegschwappt.
Vor drei Jahrzehnten, im Jahr 1989, fasste ein Beamter des US-Außenministeriums den Zeitgeist in eine prägnante Formulierung: Ein paar Monate bevor die Deutschen fröhlich auf den zertrümmerten Resten der Berliner Mauer tanzten, erklärte er den Kalten Krieg für faktisch beendet. Ein Jahrzehnt wirtschaftlicher und politischer Reformen, in China angestoßen von Deng Xiaoping und in der Sowjetunion von Michail Gorbatschow, hätten den umfassenden Sieg des Liberalismus über den Kommunismus besiegelt. Die Eliminierung der »marxistisch-leninistischen Alternative zur liberalen Demokratie«, so Francis Fukuyama, signalisiere »die totale Erschöpfung gangbarer systemischer Alternativen zum westlichen Liberalismus«. Der Kommunismus, von den Marxisten zum Höhepunkt der »Geschichte« im hegelschen Sinn gekrönt, wurde plötzlich zur Belanglosigkeit degradiert, zu »Geschichte« im amerikanischen Sinn. Die »westliche liberale Demokratie« galt unter diesen Prämissen als »der Endpunkt der ideologischen Entwicklung der Menschheit«. Nach dem Sturz der »faschistischen und kommunistischen Diktaturen dieses Jahrhunderts«, fuhr Fukuyama fort, »behauptet sich am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts allein die liberale Demokratie«. Weil »die Grundprinzipien des liberal-demokratischen Staates absolut« seien »und nicht weiter verbessert werden konnten«, bleibe liberalen Reformern nur mehr die Aufgabe, »diese Prinzipien räumlich auszubreiten, so dass die verschiedenen Bereiche menschlicher Kultur auf das Niveau ihrer am weitesten fortgeschrittenen Vorposten gehoben wurden«. Fukuyama behauptete, der Liberalismus werde »seinen Siegeszug durch die ganze Welt antreten«. Aber eigentlich ging es ihm darum, dass danach keine »Ideologien« mehr aufkommen könnten, »die von sich behaupteten, höher entwickelt zu sein als der Liberalismus«.13
Und in der Praxis? Was bedeutete es, die kapitalistische Demokratie als Endstufe der politischen Entwicklung der Menschheit zu feiern? Fukuyama wich dieser Frage aus, doch aus seiner Argumentation ergab sich zweifelsfrei, dass die liberale Demokratie westlichen Stils das einzige lebensfähige Ideal sei, das Reformer in aller Welt anstreben sollten. Wenn er schrieb, das letzte »Leuchtfeuer für illiberale Kräfte« sei von chinesischen und sowjetischen Reformern ausgelöscht worden, meinte er, dass allein Amerikas liberales Leuchtfeuer der Menschheit den Weg in die Zukunft weise.14
Dieser klare Ausschluss einer weltweit attraktiven Alternative zum westlichen Modell erklärt, warum Fukuyamas These damals nicht nur selbstverliebten Amerikanern, sondern selbst Dissidenten und Reformern auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs nur allzu überzeugend erschien.15 Nicht einmal ein Jahr zuvor, 1988, hatten einige der glühendsten Verfechter des demokratischen Pluralismus in der Sowjetunion eine Aufsatzsammlung unter dem Titel Inogo ne dano herausgebracht,16 was man etwa mit »Es gibt keinen anderen Weg« übersetzen kann. Auch diese Bibel des sowjetischen Reformismus ging davon aus, dass es keine existenzfähigen Alternativen zur westlichen kapitalistischen Demokratie gebe.
In unsere Begrifflichkeit übersetzt, läutete 1989 ein dreißigjähriges Zeitalter der Nachahmung ein. Die vom Westen dominierte unipolare Ordnung ließ den Liberalismus im Reich der moralischen Ideale unangreifbar wirken. Nachdem die anfänglich großen Hoffnungen beim Import des westlichen Politik- und Wirtschaftsmodells verblassten, verbreitete sich allerdings ein Widerwille gegen die Nachahmungspolitik. Ein antiliberaler Gegenschlag war wohl eine unausweichliche Reaktion auf eine Welt, der es an politischen und ideologischen Alternativen gefehlt hatte. Das antiwestliche Ethos, das heute in den postkommunistischen Gesellschaften herrscht, kann man unserer Meinung nach viel besser mit diesem Mangel an Alternativen erklären als etwa mit der Anziehungskraft einer autoritären Vergangenheit oder einer historisch verwurzelten Abneigung gegen den Liberalismus.17 Schon die arrogante Feststellung, dass »es keinen anderen Weg gibt«, lieferte der Welle aus populistischer Fremdenfeindlichkeit und reaktionärem Nativismus, die sich in Mittel- und Osteuropa aufschaukelte, ein eigenständiges Motiv. Dass eine plausible Alternative zur liberalen Demokratie fehlte, stimulierte eine Revolte, denn »Menschen brauchen Wahlmöglichkeiten oder zumindest die Illusion, eine Wahl zu haben«.18
Populisten rebellieren nicht nur gegen einen bestimmten (liberalen) Politiktyp, sondern auch dagegen, dass die kommunistische durch die liberale Rechtgläubigkeit ausgetauscht wird. Linke wie rechte Aufstandsbewegungen vermitteln die Botschaft, dass die »Friss oder stirb«-Mentalität des Establishments falsch sei und dass die Dinge anders sein könnten, vertrauter und authentischer.
Natürlich kann ein einzelner Faktor nicht erklären, warum in so vielen, ganz unterschiedlich situierten Ländern im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts gleichzeitig ein autoritärer Antiliberalismus auftritt. Dennoch hat unserer Ansicht nach die Tatsache, dass die Menschen den kanonischen Status der liberalen Demokratie und der Nachahmungspolitik nicht mehr anerkannten, ganz allgemein eine entscheidende Rolle gespielt, nicht nur in Mitteleuropa, sondern auch in Russland und den Vereinigten Staaten. Um dies zu begründen, wollen wir zunächst einmal zwei der schärfsten Kritiker des Liberalismus in Mitteleuropa in den Zeugenstand rufen. Ryszard Legutko, polnischer Philosoph und konservatives Mitglied des Europaparlaments, zürnt, dass »wir immer stärker einer demokratisch-liberalen Allgegenwart ausgesetzt sind«, dass sie »der einzige anerkannte Weg und die einzige Methode der Organisation des gemeinschaftlichen Lebens schlechthin« geworden sei und dass »es Liberalen und liberalen Demokraten gelungen (ist), fast alle alternativen politischen Vorstellungen und nichtliberalen Ideen zu marginalisieren und ihre Vertreter mundtot zu machen«.19
Eine einflussreiche ungarische Historikerin stimmt dem zu: »Wir wollen nicht kopieren, was die Deutschen oder die Franzosen machen«, verkündete Mária Schmidt, Viktor Orbáns Vordenkerin. »Wir wollen unsere eigene Lebensart fortführen.«20 Beide Aussagen lassen vermuten, dass ein hartnäckiger Widerwille, Fukuyamas »totale Erschöpfung gangbarer systemischer Alternativen zum westlichen Liberalismus« anzuerkennen, mit dafür verantwortlich ist, dass sich die weiche Macht des Westens, zur Nachahmung anzuregen, in Schwäche und Angreifbarkeit statt in Stärke und Autorität verwandelte.
Die Weigerung, vor dem liberalen Westen die Knie zu beugen, ist zum Markenzeichen der illiberalen Konterrevolution überall in der kommunistischen Welt und darüber hinaus geworden. Eine solche Reaktion kann man nicht einfach mit der banalen Feststellung vom Tisch wischen, dass es für nicht westliche Staatenlenker ein Leichtes sei, dem Westen die Schuld in die Schuhe zu schieben, um nicht die Verantwortung für die eigene gescheiterte Politik übernehmen zu müssen. Die Sache ist sehr viel komplizierter und interessanter. Es geht – unter anderem – darum, wie der Liberalismus zugunsten einer Hegemonie den Pluralismus aufgegeben hat.
Im Kalten Krieg trennte das weltweit folgenreichste politische Schisma Kommunisten von Demokraten. Der Globus war aufgeteilt zwischen dem totalitären Osten und der freien Welt des Westens, und die Gesellschaften an der Peripherie des Hauptkonflikts hatten das Recht und die Entscheidungsmacht, eine Seite zu wählen – oder glaubten dies zumindest. Nach dem Fall der Mauer veränderte sich diese Konstellation. Von da an wiederum trennte der folgenreichste Riss am geopolitischen Firmament Nachahmer von Nachgeahmten, etablierte Demokratien von Ländern, die sich bemühten, den Übergang zur Demokratie zu schaffen. Die Ost-West-Beziehungen verwandelten sich von einer Pattsituation zwischen zwei feindlichen Systemen im Kalten Krieg zu einer belasteten Beziehung zwischen Vorbildern und Nachahmern innerhalb eines einzigen, unipolaren Systems.
Das Bemühen ehemals kommunistischer Länder, nach 1989 dem Westen nachzueifern, ist mit den verschiedensten Bezeichnungen belegt worden – Amerikanisierung, Europäisierung, Demokratisierung, Liberalisierung, Erweiterung, Integration, Harmonisierung, Globalisierung und so weiter –, doch es ging im Kern immer um Modernisierung durch Nachahmung und um Integration durch Assimilierung. Der oben zitierte polnische Philosoph hat, die Einstellung vieler seiner Landsleute nach 1989 verhöhnend, auch geschrieben:
In Wahrheit sollte kopiert und adaptiert werden. Je mehr wir kopiert und adaptiert hatten, umso selbstzufriedener wurden wir. Institutionen, Bildung, Recht, Medien, Sprache und Sitten, fast alle Bereiche wurden zu unvollkommenen Kopien des Originals, das auf dem Weg des Fortschritts weit vor uns war.21
Diese nervenaufreibende Asymmetrie zwischen jenen, die moralisch fortgeschritten waren, und jenen, die moralisch hinterherhinkten, wurde nach 1989 zu einem ebenso prägenden wie neuralgischen Kennzeichen der Ost-West-Beziehungen.
Nach dem Fall der Mauer galt eine pauschale Nachahmung des Westens weithin als der effektivste Weg, zuvor nicht demokratische Gesellschaften zu demokratisieren. Auch wegen der implizierten moralischen Asymmetrie ist diese arrogante Haltung inzwischen zu einer vorrangigen Zielscheibe populistischer Wut geworden.
Nachahmung ist im sozialen Miteinander allgegenwärtig. Gabriel de Tarde, ein bekannter französischer Sozialtheoretiker und Kriminologe des 19. Jahrhunderts, verkündete sogar: »Gesellschaft ist Nachahmung«.22 Er sprach auch von »ansteckender Nachahmung« als einer Art »Somnambulismus«, womit er meinte, dass Menschen, ohne dazu gezwungen zu werden, einander spontan imitieren und dabei anders als bei kriminellen Nachahmungstaten keinen strategischen Plan verfolgen.23
Wenn die Populisten Mitteleuropas gegen einen vermeintlichen Nachahmungsimperativ als das unerträglichste Merkmal der Hegemonie des Liberalismus nach 1989 wettern, meinen sie ganz offensichtlich etwas weniger Allgegenwärtiges und politisch Provokanteres. Die hier zur Debatte stehende Form der groß angelegten institutionellen Nachahmung umfasst erstens eine anerkannte moralische Überlegenheit des Nachgeahmten gegenüber seinen Nachahmern, zweitens ein politisches Modell, das behauptet, alle existenzfähigen Alternativen beseitigt zu haben, drittens eine Erwartung, dass die Nachahmung bedingungslos und nicht an lokale Traditionen angepasst sein wird, und viertens den anmaßenden Anspruch der Vertreter der zu imitierenden Länder, den Fortschritt der nachahmenden Länder dauerhaft beobachten, überwachen und bewerten zu dürfen. Ohne die Analogie zu weit treiben zu wollen, ist doch die Beobachtung interessant, dass der Stil der Regime-Nachahmung, der nach 1989 Einzug hielt, eine schaurige Ähnlichkeit mit den Wahlen der Sowjetzeit aufweist, bei denen die Wähler, von Parteifunktionären beaufsichtigt, so taten, als würden sie den einzigen Kandidaten »wählen«, der sich um ein Amt bewarb.
Um besser zu beschreiben, was auf dem Spiel steht, müssen wir im Vorfeld ein paar Abgrenzungen vornehmen. So müssen wir etwa unterscheiden zwischen der vollumfänglichen (aber nicht aufgezwungenen) Nachahmung eines einzelnen orthodoxen Modells, kontrolliert von voreingenommenen Ausländern, und dem normalen Lernen, durch das Staaten indirekt von den Erfahrungen der anderen profitieren.24 Nur Ersteres erzeugt Widerwillen, Letzteres, gewöhnlich der Demonstrationswirkung von vermeintlichen Erfolgen und Misserfolgen zugerechnet, nicht.
Zweitens und noch wichtiger sollten wir die Nachahmung der Mittel von der Nachahmung der Ziele trennen. Ersteres nennen wir eher entleihen als nachahmen. Eine klassische Formulierung dieser Unterscheidung stammt von Thorstein Veblen, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts schrieb, die Japaner hätten »die industriellen Fertigkeiten« des Westens entliehen, nicht aber dessen »geistige Anschauung« oder seine »Verhaltensprinzipien und ethischen Werte«.25 Die Entleihung technischer Mittel wirkt sich nicht auf die Identität aus, zumindest nicht kurzfristig, während das Kopieren moralischer Ziele tiefer geht und einen sehr viel radikaleren Transformationsprozess anstoßen kann, der einer »Bekehrungserfahrung« nahekommt. Beim Umbau ihrer Gesellschaften nach 1989 strebten die Mitteleuropäer danach, die Lebensweisen und moralischen Haltungen zu kopieren, die sie im Westen beobachteten. Die Chinesen dagegen schlugen einen Weg ein, der dem von Veblen beschriebenen ähnelt: Sie übernahmen westliche Technologien, um das Wirtschaftswachstum anzukurbeln und das Ansehen der Kommunistischen Partei zu steigern – ausdrücklich mit dem Ziel, dem Sirenengesang des Westens zu widerstehen.
Das Nachahmen moralischer Ideale hat, anders als das Entleihen von Technologien, zur Folge, dass man demjenigen, den man bewundert, ähnlich wird. Gleichzeitig führt es aber auch dazu, dass man sich selbst unähnlicher wird, und das zu einem Zeitpunkt, an dem die persönliche Einzigartigkeit und die Loyalität zur eigenen Gruppe im Zentrum des Bemühens um Würde und Anerkennung stehen. Der vorherrschende Kult der Innovation, Kreativität und Originalität – Kernbestandteile liberaler Modernität – bedeutet, dass selbst Einwohner wirtschaftlich erfolgreicher Länder wie Polen das Projekt, unter westlicher Aufsicht ein westliches Modell zu adaptieren, als eine Art Eingeständnis ihres Versagens empfinden: Sie haben es nicht geschafft, der historischen Unterordnung Mitteleuropas unter ausländische Lehrer und Inquisitoren zu entkommen.
Diese sich selbst widersprechende Anforderung, gleichzeitig Original und Kopie zu sein, musste psychischen Stress auslösen. Das Gefühl, respektlos behandelt zu werden, wurde noch verstärkt durch etwas, das man durchaus als die zentrale Ironie der postkommunistischen Demokratieförderung im Kontext der europäischen Integration sehen kann: Um die Bedingungen für eine EU-Mitgliedschaft zu erfüllen, wurden die mittel- und osteuropäischen Länder im Zuge des angeblichen Demokratisierungsprozesses dazu gedrängt, politische Strategien umzusetzen, die nicht gewählte Bürokraten aus Brüssel oder internationale Kreditanstalten gestaltet hatten.26 Die Polen und Ungarn bekamen gesagt, welche Gesetze sie erlassen und welche Politik sie machen sollten, während sie gleichzeitig so tun sollten, als würden sie sich selbst regieren. Wahlen ähnelten immer stärker »Fallen für Narren«, wie Rudyard Kipling gesagt hätte. Die Wähler tauschten die Amtsinhaber zwar regelmäßig aus, doch die – von Brüssel vorgegebene – Politik änderte sich nicht substanziell. Es war schon schlimm genug, dass sie so tun mussten, als regierten sie sich selbst, während sie doch eigentlich von westlichen Strippenziehern regiert wurden. Das Fass zum Überlaufen brachten dann Besucher aus dem Westen, die ihnen vorwarfen, nur pro forma Demokratie zu spielen, wo doch die politischen Eliten der Region der Ansicht waren, dass man genau das von ihnen verlangt habe.
Der Zusammenbruch des Kommunismus stieß eine psychologisch problematische, ja sogar traumatische Transformation der Ost-West-Beziehungen an, weil er aus verschiedensten Gründen die Erwartung in die Welt setzte, Länder, die sich vom Kommunismus lossagten, müssten nicht Mittel, sondern Ziele imitieren. Die politischen Anführer des Ostens, die dem Import westlicher Vorbilder in diesem starken Sinne den Weg bahnten, legten großen Wert darauf, dass ihre Mitbürger die Ziele und Vorlieben des Vorbilds ganzheitlich und nicht unsystematisch oder stückweise internalisierten. Die zentrale Klage, die alle antiliberale Politik in der Region heute motiviert, lautet, der Versuch, die ehemals kommunistischen Länder zu demokratisieren, habe auf eine Art kulturelle Bekehrung gezielt, eine Bekehrung zu Werten, Gewohnheiten und Einstellungen, die man im Westen als »normal« betrachtete. Anders als es beim Aufpfropfen einiger weniger fremder Elemente auf einheimische Traditionen der Fall ist, setzte diese politische und moralische »Schocktherapie« die ererbte Identität aufs Spiel. Weil der nachgeahmte Liberalismus unweigerlich unvollständig und schief war, erlebten sich viele ursprüngliche Befürworter der Veränderungen als kulturelle Hochstapler – ein schlechtes Gefühl, das wiederum politisch ausnutzbare Sehnsüchte nach einer verloren gedachten Authentizität weckte.
Versuche der Schwächeren, die Starken und Erfolgreichen zu imitieren, sind unter Staaten und Nationen natürlich nicht ungewöhnlich. Allerdings ähnelt eine solche Nachahmung gewöhnlich eher geistlosem Nachgeplapper als einer echten, psychisch und sozial aufreibenden Umgestaltung. Das Frankreich Ludwigs XIV. als Vormacht Europas im 17. Jahrhundert inspirierte viele solcher oberflächlichen Nachahmer. Der Politikwissenschaftler Ken Jowitt hat gezeigt, dass in Deutschland, Polen und Russland Nachbildungen von Versailles entstanden; die französische Lebensart breitete sich aus, Französisch wurde die Sprache der europäischen Eliten. Im 19. Jahrhundert rückte das britische Parlament in den Fokus oberflächlicher und unausgegorener Nachahmung, während »nach dem Zweiten Weltkrieg in Osteuropa von Albanien bis Litauen etliche stalinistische Regime entstanden, alle geprägt von identisch hässlicher stalinistischer Architektur – politisch wie physisch«.27 Oberflächlich nachahmendes Verhalten tritt im politischen Leben vor allem deshalb so häufig auf, weil es den Schwachen stärker aussehen lässt, als er eigentlich ist – eine nützliche Form der Mimikry, um in feindlicher Umgebung zu überleben. Sie macht die Nachahmer zudem besser für die Augen jener lesbar, die ihnen widrigenfalls helfen, oder aber sie verletzen beziehungsweise an den Rand drängen würden. Nicht westliche Eliten konnten nach dem Kalten Krieg ihren mächtigen westlichen Gesprächspartnern nicht nur die Befangenheit nehmen, sondern ihnen gegenüber auch wirtschaftliche, politische und militärische Ansprüche geltend machen, indem sie »Englisch lernten, mit Ausgaben der Federalist Papers herumliefen, Anzüge von Armani trugen, Wahlen abhielten« – und, um Jowitts Lieblingsbeispiel zu nennen, »Golf spielten«.28 Die mimikryhafte Imitation der Mächtigen erlaubte einem schwachen Land zur Zeit Ludwigs XIV., indirekt an der gewaltigen Größe und dem Prestige eines echten »Versailles« teilzuhaben, ohne zu einem Quell nationaler Demütigung oder zu einer schweren Bedrohung der nationalen Identität zu werden.
Wenn wir von den unbeabsichtigten Folgen des unipolaren Zeitalters der Nachahmung sprechen und einen vermeintlichen Nachahmungsimperativ nach 1989 als wichtigen Grund dafür beschreiben, warum sich der liberale Traum in einen liberalen Albtraum verwandelte, beziehen wir uns auf Muster nachahmenden Verhaltens und Modelle einer »Nachahmungsvergiftung«, die emotional anspruchsvoller und tiefgreifender sind als geistloses Nachplappern. Es geht um eine Art politischer Runderneuerung, die zwar nicht auf Befehl des Westens, aber doch »unter den Augen des Westens« umgesetzt wurde und die nicht nur Gefühle der Scham und der Verbitterung weckte, sondern auch die Angst vor kultureller Auslöschung schürte.
Die einflussreichsten politischen Anführer Mittel- und Osteuropas sahen unmittelbar nach 1989 in einer imitierenden Verwestlichung den kürzesten Weg zur Reform. Nachahmung wurde als eine »Rückkehr nach Europa« und damit als eine Rückkehr zum vermeintlich authentischen Selbst der Region gerechtfertigt. In Moskau war das natürlich anders. Dort hatte man den Kommunismus nie als Fremdherrschaft wahrgenommen, weshalb man die Nachahmung des Westens auch nicht überzeugend als Wiederherstellung der unverstellten nationalen Identität des Landes präsentieren konnte.
Doch unabhängig davon, wie ernsthaft oder unaufrichtig man sich die westlichen Vorbilder anfangs auch zu eigen machte – eine Reform nach liberal-demokratischen Grundsätzen fühlte sich aus verschiedenen Gründen bald nicht mehr so gut an. So konnten selbst die wohlwollendsten westlichen Berater die implizite Überlegenheit des Vorbilds gegenüber dem Nachahmer nicht verhehlen, und auswärtige Förderer politischer Reformen im Osten hielten weiterhin an einem idealisierten Bild der liberalen Demokratie fest, obwohl die Anzeichen ihrer innenpolitischen Probleme bald nur allzu offensichtlich waren. In diesem Kontext versetzte die globale Finanzkrise von 2008 dem guten Ruf des Liberalismus den Todesstoß.
In mehreren Werken hat der französische Philosoph René Girard seine Ansicht dargelegt, dass Historiker und Sozialwissenschaftler die zentrale Bedeutung der Nachahmung für das Menschsein ebenso fälschlich wie fahrlässig vernachlässigt hätten. Er widmete sich immer wieder der Frage, wie Nachahmung psychische Traumata und soziale Konflikte erzeugen kann. Dies passiere vor allem dann, wenn das nachgeahmte Vorbild zu einem Hindernis für die Selbstachtung und die Selbstverwirklichung des Nachahmenden wird.29 Besonders hoch ist das Risiko für Unmut und Konflikt laut Girard bei der Nachahmung von Wünschen.
Seiner Ansicht nach wollen Menschen etwas nicht, weil es ansprechend oder erstrebenswert ist, sondern nur, weil jemand anderes es auch will. Diese Hypothese kann man an zwei Kleinkindern in einem Zimmer voller Spielzeug überprüfen: Das »begehrenswerteste« Spielzeug hat immer gerade das andere Kind in der Hand.30 Die Ziele anderer nachzuahmen ist natürlicherweise, so Girard, mit Rivalität, Feindseligkeit und Bedrohungen der persönlichen Identität verbunden. Je mehr Vertrauen die Nachahmer in ihre Vorbilder setzen, desto weniger Vertrauen haben sie bezeichnenderweise in sich selbst. Das nachgeahmte Vorbild ist unweigerlich ein Rivale und greift das Selbstbewusstsein an. Dies gilt besonders, wenn das Modell, an dem man sich orientieren soll, nicht Jesus Christus im Himmel ist, sondern der Nachbar im Westen.
Etymologische Argumente sind bekanntermaßen meist schwach, und doch ist es vielleicht sinnvoll, sich ins Gedächtnis zu rufen, dass »nachahmen« ursprünglich nicht nur unterwürfige Bewunderung, sondern durchaus auch Wettbewerb meinte. Der Sohn will wie sein Vater sein, doch der Vater sendet die unterschwellige Botschaft aus, dass das ehrgeizige Ziel des Jungen unerreichbar ist, was den Sohn dazu bringt, den Vater zu hassen.31 Das entspricht schon fast dem Muster, das wir in Mittel- und Osteuropa beobachten, wo es den Populisten zufolge durch den vom Westen inspirierten Nachahmungsimperativ quasi die Bestimmung dieser Länder zu sein schien, ihre geheiligte Vergangenheit abzulegen und eine neue liberal-demokratische Identität anzunehmen, die ehrlich gesagt niemals ganz und gar ihre eigene sein würde.
Girards Einsicht in die beharrliche Neigung der Nachahmung, Verbitterung zu erzeugen, gründet zwar fast ausschließlich auf der Analyse literarischer Texte, ist aber dennoch überaus hilfreich, um zu verstehen, warum in der postkommunistischen Welt, ausgehend vor allem von Ungarn, ein ansteckender Aufstand gegen die liberale Demokratie ausbrach.32 Indem er die Aufmerksamkeit auf die konfliktbelastete Natur der Nachahmung lenkt, hilft er uns, die Demokratisierung nach dem Kommunismus in einem völlig anderen Licht zu sehen. Seiner Theorie zufolge sind die Probleme, vor denen wir heute stehen, weniger auf einen natürlichen Rückfall in schlechte Gewohnheiten der Vergangenheit zurückzuführen, sondern sie entstanden vielmehr als Gegenreaktion auf einen vermeintlichen Nachahmungsimperativ. Während Fukuyama davon ausging, dass das Zeitalter der Nachahmung endlos langweilig werden würde, erahnte Girard klugerweise dessen Potenzial, jene Form existenzieller Scham auszubrüten, die in der Lage ist, einen explosiven Aufstand zu entfachen.
Die These, die wir hier untersuchen und verteidigen möchten, lautet: Die Ursprünge der heute weltweit stattfindenden antiliberalen Revolte liegen in drei parallel verlaufenden, miteinander verbundenen und durch Verbitterung befeuerten Reaktionen auf den vermeintlich kanonischen Status westlicher Politikmodelle nach 1989. Wir wissen natürlich, dass sie einseitig und unvollständig ist und empirische Schwachstellen hat, aber wir wollen keine umfassende und abschließende Zusammenschau der Ursachen und Folgen des zeitgenössischen Antiliberalismus liefern. Vielmehr geht es uns darum, einen bestimmten Aspekt der Geschichte hervorzuheben und zu beleuchten, der bisher nicht die Aufmerksamkeit bekommen hat, die er verdient. Die drei Fälle von reaktionärem Nativismus und Autoritarismus, die uns interessieren, weisen Ähnlichkeiten auf, die zuweilen versteckt sind. Um sie sichtbar zu machen, haben wir auf ein flexibel gegliedertes und zugegebenermaßen spekulatives, aber hoffentlich doch kohärentes und aufschlussreiches Konzept der politischen Nachahmung zurückgegriffen.
Zunächst untersuchen wir den intoleranten Kommunitarismus mitteleuropäischer Populisten, deren Wortführer Viktor Orbán und Jarosław Kaczyński sind. Es geht darum, zu erklären, wie es dazu kam, dass in Ländern, in denen noch kürzlich eine liberale Elite die Nachahmung westlicher Vorbilder als den schnellsten Weg zu Wohlstand und Freiheit akzeptierte, ein erheblicher Teil der Wählerschaft plötzlich in ebendieser Nachahmung einen Weg ins Verderben sieht. Wir wollen nachvollziehen, wie durch die Monopolisierung der Symbole nationaler Identität, die im Zuge der »Harmonisierung« mit den postnationalen Standards und Verordnungen der Europäischen Union vernachlässigt oder entwertet worden waren, in der Region eine antiwestliche, meist in der Provinz verwurzelte Gegenelite entstand und beachtliche Unterstützung beim Volk fand – vor allem außerhalb der global vernetzten urbanen Zentren. Und wir zeigen, wie der nach dem Mauerfall einsetzende Entvölkerungsprozess in Mittel- und Osteuropa33 diesen populistischen Gegeneliten dabei half, die Vorstellungskraft ihrer jeweiligen Öffentlichkeit zu vereinnahmen, indem sie den Universalismus der Menschenrechte und den Liberalismus der offenen Grenzen als etwas hinstellten, das zeige, wie indifferent der Westen gegenüber den nationalen Traditionen und dem Erbe ihrer Länder sei.34 Wir behaupten ganz sicher nicht, dass die mitteleuropäischen Populisten unschuldige Opfer des Westens seien oder der Widerstand gegen das, was sie als Nachahmungsimperativ wahrgenommen haben, ihre Agenda bereits vollständig fülle. Wir denken auch nicht, dass ihr Illiberalismus die einzig mögliche Reaktion auf 2008 und andere Krisen im Westen war. Und wir sehen durchaus, wie heldenhaft der illiberale Populismus in der Region bekämpft wird. Nein, wir wollen aufzeigen, dass der politische Aufschwung des Populismus nicht ohne den weitverbreiteten Unmut erklärt werden kann, der eine Reaktion auf die Art und Weise darauf ist, wie der (aufgezwungene) alternativlose Sowjetkommunismus durch den (erwünschten) alternativlosen westlichen Liberalismus ersetzt wurde.
Im nächsten Schritt wenden wir uns Russlands Verbitterung zu, entstanden angesichts einer weiteren Runde der verordneten Verwestlichung – so jedenfalls sah es die russische Seite. Für den Kreml signalisierte der Zerfall der Sowjetunion den Verlust des Supermacht-Status, und damit büßte er auch die Augenhöhe mit dem amerikanischen Feind ein. Praktisch über Nacht verwandelte sich Russland von einem angsteinflößenden gleichwertigen Rivalen zum Problemfall, der um Unterstützung betteln und die Ratschläge wohlmeinender, aber schlecht vorbereiteter amerikanischer Berater entgegennehmen musste, wobei es noch Dankbarkeit zu heucheln galt. Russland hat Nachahmung und Integration nie als Synonyme erlebt. Anders als Mittel- und Osteuropa stellte dieses Land keinen ernsthaften Kandidaten für eine Aufnahme in die NATO oder die Europäische Union dar. Es war zu groß, besaß zu viele Nuklearwaffen und war sich seiner eigenen »historischen Größe« bewusst, was mit einer Position als Juniorpartner in einem westlichen Bündnis unvereinbar war.
Die erste Reaktion des Kreml auf die globale Überlegenheit des Liberalismus war eine Art Simulation
35Spiegelneinen Spiegel vorzuhalten
In den 1990er-Jahren simulierte der Kreml also die Verantwortlichkeit von Politikern gegenüber ihren Bürgern. Heute hat er sein Interesse an demokratischen Scharaden weitgehend verloren. Statt so zu tun, als imitierten sie Amerikas innenpolitisches System, imitieren Putin und sein Gefolge lieber die Art, wie sich Amerika rechtswidrig in die Innenpolitik anderer Länder einmischt. Allgemeiner gesagt, will der Kreml Amerika einen Spiegel vorhalten, in dem dieses Land betrachten kann, wie sehr es dazu neigt, ebenjene internationalen Regeln zu verletzen, die es angeblich respektiert. Und das macht er sehr herablassend, um die Amerikaner zu demütigen und sie auf ein Normalmaß zurechtzustutzen.
Trump hat sowohl die Unterstützung der breiten Masse wie auch der Geschäftswelt gewonnen, indem er erklärte, die Vereinigten Staaten seien der größte Verlierer der weltweiten Amerikanisierung. Damit wich er signifikant vom prahlerischen Mainstream der amerikanischen politischen Kultur ab, und es ruft nach einer Erklärung, warum er dafür eine so augenfällige öffentliche Akzeptanz fand. Weil Russen und Mitteleuropäer die Nachahmung als etwas ablehnen, das schlecht für die Nachahmer und gut nur für das imitierte Modell sei, klingt es zunächst verwirrend, dass einige Amerikaner die Nachahmung offenbar als schlecht für die Vorlage und gut nur für die Kopie verwerfen. Tatsächlich wirkt Trumps Groll auf eine Welt voller Länder, die Amerika nacheifern, abnorm, bis wir uns klarmachen, dass für seine amerikanischen Unterstützer Nachahmer eine Bedrohung verkörpern, da sie versuchen, das Vorbild, das sie imitieren, zu ersetzen. Diese Angst, ersetzt und enteignet zu werden, hat zwei Quellen: einerseits die Immigranten, andererseits China.
Dieses einleitende Beispiel zeigt, wie dem Vorbild und nicht nur dem Mimen Nachahmungspolitik übel aufstoßen kann und wie sogar der Führer des Landes, das die liberale Weltordnung schuf, beschließen konnte, alles zu tun, um ebendiese Weltordnung wieder einzureißen.
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Der atemberaubende Aufstieg Chinas legt nahe, dass die Niederlage der kommunistischen Idee 1989 letztendlich doch nicht als einseitiger Sieg der liberalen Idee zu verbuchen ist. Hingegen stellte sich heraus, dass die unipolare Ordnung für den Liberalismus weitaus weniger günstig war, als irgendjemand hätte vorhersagen können. Einige Kommentatoren haben behauptet, die Ereignisse von 1989 hätten das Projekt der Aufklärung – in seiner liberalen ebenso wie in seiner kommunistischen Verkörperung – ernsthaft beschädigt, indem sie die Konkurrenz des Kalten Krieges zwischen zwei rivalisierenden universalen Ideologien beseitigten. Der ungarische Philosoph G. M. Tamás ging noch weiter und erklärte, »die liberale wie die sozialistische Utopie« seien 1989 »besiegt« worden, und dies signalisiere »das Ende« des »Projekts der Aufklärung«.37 So fatalistisch sind wir nicht. Schließlich besteht immer noch die Chance, dass amerikanische und europäische Führungspersönlichkeiten auftauchen, die in der Lage sind, den Niedergang des Westens vernünftig über die Bühne zu bringen. Vielleicht findet sich ja noch ein gangbarer Weg zu einer liberalen Genesung auf gleichermaßen vertrauten wie neuartigen Grundlagen. Gegenwärtig scheint die Chance auf eine solche Erneuerung gering. Und doch können sich die antiliberalen Regime und Bewegungen, über die wir hier sprechen, als kurzlebig und historisch folgenlos erweisen, vielleicht gerade weil ihnen jede allgemein ansprechende ideologische Vision fehlt. Bekanntlich ist die Geschichte eine Invasion des Unbekannten. Doch was immer die Zukunft auch bereithält – wir können wenigstens versuchen, nachzuvollziehen, wie wir dorthin gekommen sind, wo wir heute stehen.