Roman
Forever by Ullstein
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Originalausgabe bei Forever
Forever ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
1. Auflage April 2022
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2022
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Titelabbildung: © FinePic®
Autorenfoto: © privat
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ISBN 978-3-95818-616-3
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dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Deswegen findet ihr am Ende des Buches auf Seite 411 eine Triggerwarnung. Achtung: Diese enthält Spoiler für die gesamte Geschichte. Wir möchten, dass ihr das bestmögliche Leseerlebnis habt.
Eure Jennifer Bright und das Forever-Team
Hope
»Stalkst du mich?« Mit verschränkten Armen und dem Blick, den ich meiner kleinen Schwester immer zuwerfe, wenn sie wieder mal etwas aus meinem Zimmer gestohlen hat, schiebe ich den freien Stuhl nach hinten und setze mich ihm gegenüber.
»Was?« Lees dunkle Augen werden groß, während er sein Tablet aus den Händen legt. Seine Lippen teilen sich für den Bruchteil einer Sekunde, nur um sich direkt wieder zu schließen, als müsste er meine Worte erst einmal in seinen Gedanken ordnen. Mein Blick bleibt an seinem Mund hängen, und ich frage mich, ob ich mich in einer Guinevere-Beck-Situation befinde und auf irgendeine kranke Art und Weise meinem Stalker ins Gesicht sehe.
»Hör zu. Ich habe You mindestens viermal gesehen. Staffel eins und zwei. Und du beobachtest mich in guter alter Joe-Goldberg-Manier.« Ich verschränke die Arme vor der Brust. »Seit Silvester haben wir kein Wort mehr gewechselt, bis auf die Bestellungen, die ich für dich aufnehme. Trotzdem sitzt du hier jedes Mal und glaubst, dass ich nicht merke, wie du mich beobachtest.« Ich ziehe das Zopfgummi um meinen Pferdeschwanz enger. »Ich bin gerade auch nur so direkt, weil wir hier unter Menschen sind und ich mir sicher sein kann, dass du mir nicht vor allen den Schädel einschlägst und mich bewusstlos in irgendeinen Verschlag schleifst.«
Lee sieht erst mich und dann die Leute um uns herum entsetzt an. Dabei habe ich bewusst leise gesprochen, um nicht alle Blicke auf uns zu ziehen. Ich möchte ihn auch gar nicht vorführen, nur ein klein wenig ärgern. Seine langen Finger fahren durch sein rabenschwarzes Haar, das durch das hineinfallende Tageslicht dunkelbraun leuchtet.
Es ist April, und der Frühling zeigt sich von seiner besten Seite. Alles beginnt zu blühen, und London erstrahlt in einem Meer aus Sonnenstrahlen. Seit ich denken kann, ist dies meine liebste Jahreszeit. Jeder Frühling ist wie ein Neuanfang. Die Welt wird nach langen, dunklen Monaten endlich wieder bunt und hell. Der Frühling bringt Hoffnung. Immer und immer wieder.
»Ich …« Lee umklammert die Tasse Kaffee mit beiden Händen, als wäre sie sein Rettungsanker. Es braucht all meine Beherrschung, um nicht in lautes Gelächter auszubrechen. Die Panik steht ihm ins Gesicht geschrieben. »Ich stalke dich nicht.«
Dass er kein Joe Goldberg ist, ist mir natürlich bewusst. Wobei … Man weiß nie. Hinter dem freundlichsten Gesicht kann sich der tiefste und gruseligste Abgrund befinden. Doch irgendwas an Lee lässt mich glauben, dass er keinen Funken Boshaftigkeit in sich trägt.
»Wie nennst du es dann, wenn du jemanden monatelang beobachtest?«, frage ich ihn, ohne dabei auch nur eine Miene zu verziehen.
Ich weiß schon gar nicht mehr, wann es mir das erste Mal aufgefallen ist. Es müsste meine beste Freundin Mora gewesen sein, die mich auf ihn aufmerksam gemacht hat. Seither spüre ich seine Blicke auf mir, und eigentlich sollte es mich stören. Doch das tut es nicht. Im Gegenteil. In den Momenten, in denen er in sein Tablet vertieft ist und mit dem Stift darauf herumkritzelt, beobachte ich ihn auch. Seine konzentrierten Gesichtszüge, den fokussierten Blick, den leicht geneigten Kopf.
Lee beginnt zu lächeln. »Wenn ich dir diese Frage beantworte, hältst du mich vermutlich wirklich für einen verrückten Stalker.« Er trinkt einen großen Schluck der schwarzen Brühe, die ich ihm vor einer Stunde gebracht habe und die nun schon kalt sein muss. In meinem ganzen Leben habe ich noch nie auch nur einen Schluck Kaffee probiert, auch nicht, seit ich im Cosy Corner arbeite.
»Ich bin ein ziemlich direkter Mensch und …«
»Ich weiß«, entgegnet er mir, bevor ich weitersprechen kann.
»Woher … Ach, vergiss es. Ich möchte es lieber nicht wissen.« Bei dem Gedanken daran, was für eine absurde Unterhaltung wir gerade führen, muss ich lachen. »Mora meinte, du seist vielleicht einfach nur zu schüchtern, um mich nach einem Date zu fragen. Deshalb übernehme ich dieses Gespräch jetzt für dich und sage dir, dass ich nicht interessiert bin.«
Ich umfasse den Anhänger meiner goldenen Kette, ein kleiner Notenschlüssel, und lasse ihn am Gliederband auf- und abfahren.
»Du bist wirklich … besonders.« Er lehnt sich zurück in den Stuhl und legt die Hände in den Nacken. Das schwarze T-Shirt spannt um seine Schultern. »Aber ich möchte gar kein Date mit dir.«
»Nicht?«
»Nein.«
»Oh.« Ich rutsche auf dem Stuhl hin und her. Mora und ich waren uns so sicher, dass dies der Grund ist, weshalb er mich kaum aus den Augen lässt, wenn er hier ist.
»Ich wäre gerne mit dir befreundet.«
Ich blinzle. Einmal. Zweimal. Dreimal.
Mit einem Grinsen im Gesicht beginne ich schließlich zu nicken. Seine Worte sind genauso überraschend wie meine. Auch wenn er zurückhaltend wirkt, erkenne ich die Abenteuerlust und die Aufgeschlossenheit, die in ihm zu schlummern scheinen.
»Um ehrlich zu sein, habe ich nicht viele Freunde«, gestehe ich und denke dabei an Mora, die immer wieder versucht, mich in ihre Clique miteinzubeziehen. Es ist nicht so, dass ich Menschen verabscheue und nichts mit ihnen zu tun haben will. Na gut, manche schon. Aber viel eher möchte ich niemanden zu nah an mich heranlassen. Ich weiß, wie das klingt, aber ich weiß auch, dass es mir damit besser geht. Meine kleine Welt ist so voll und bietet nicht viel Platz für neue Menschen, neue Gefühle, neue Erinnerungen.
»Könnte an deiner direkten Art liegen.« Lee legt die Ellenbogen auf den runden Tisch und beugt sich leicht zu mir herüber. »Ich mag das.«
Dass mir etwas die Sprache verschlägt, kommt nicht häufig vor. Doch Lee hat es geschafft. Ich weiß nicht, was ich erwidern soll. Aber er weckt eine Neugier in mir, die ich die meiste Zeit über an kurzen Zügeln halte.
»Also, was sagst du?«
»Wozu?« Auch ich lehne mich etwas vor. Eine Gänsehaut breitet sich über meinen Armen aus, als meine nackte Haut die kalte Tischplatte berührt. Im Café ist es so warm, dass ich nur ein T-Shirt mit bunten Streifen trage und darüber meine liebste Jeanslatzhose.
Von außen betrachtet müssen wir ziemlich gegensätzlich aussehen. Er gedeckt in dunklen Farben, ich auffällig in bunten. Trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, dass unser Innerstes gar nicht mal so unterschiedlich ist. Ich wünschte, ich könnte erklären, wieso oder woher diese Ahnung kommt. Doch ich weiß es selbst nicht. Sie ist einfach da.
»Möchtest du mit mir befreundet sein?«
»Seit dem Kindergarten hat mich das niemand mehr gefragt.« Ich denke zurück an Liz, der ich damals unmissverständlich mitgeteilt habe, dass ich an keiner Freundschaft mit ihr interessiert bin. Sie hat mir nach jedem Mittagessen den Nachtisch geklaut und mir beim Spielen immer Sand in die Augen geworfen. Meine Entscheidung damals war also definitiv kein Verlust.
»Eigentlich schade, dass so was heutzutage keiner mehr fragt. Es kommt bestimmt nicht selten vor, dass man Menschen sieht und auf Anhieb das Gefühl hat, dass man sich gut verstehen würde.«
Meine Augen wandern wie von selbst über Lees Gesicht. Seine Haut wirkt beinahe makellos. Ein kleines, dunkles Muttermal am markanten Kiefer. Seine Nase ist weder groß noch klein. Schwarze, volle Augenbrauen, dunkle Wimpern und tiefbraune Augen.
Kurzerhand schalte ich meinen Kopf aus. Höre nicht auf die Stimme, die mir zuflüstert, dass in meinem Leben kein Platz für jemand Fremdes ist. Es ist verrückt, aber Lee wirkt speziell, auf eine gute Art und Weise. Und speziell mag ich. Also folge ich meiner Intuition und halte ihm meine Hand entgegen.
»Hi. Ich bin Hope.«
Wir lächeln uns an, als er meine Hand ergreift und sie schüttelt.
»Hallo, Hope. Ich bin Lee.«
Hope
Meine Fingerspitzen brennen bereits. Als ich den Bogen ein letztes Mal über die Saiten streifen lasse, verstummt die Musik mit einem letzten Echo um mich herum und hinterlässt eine erschreckende Stille. Doch in meinem Kopf höre ich noch immer Caprice No.24 von Niccolò Paganini. Die Melodie, die mich beinahe schon mein gesamtes Leben begleitet, in der ich aufblühe und gleichzeitig untergehe. Die Melodie, aus der sowohl meine Träume als auch meine Albträume gemacht sind. Musik ist viel mehr als aneinandergereihte Noten. Sie ist der Motor, der mich am Laufen hält.
Das Spielen ist für mich wie Atmen. Ich tue einfach nur das, was mein Herz höherschlagen lässt. Mit sechs Jahren nahm ich das erste Mal eine von Dads Geigen in die Hand. Meinen ersten Unterricht bekam ich mit sieben. Wenn ich das Leuten in meinem Umfeld erzähle, sind sie felsenfest davon überzeugt, dass meine Eltern mich dazu gezwungen hätten. Welches kleine Kind wünscht sich, solch ein klassisches Instrument zu lernen? Haben deine Eltern Druck auf dich ausgeübt? Würdest du nicht viel lieber den ganzen Tag mit deinen Freundinnen spielen?
Dabei habe ich es geliebt. Von der ersten Sekunde an habe ich die Melodien gespürt und gelebt.
Ich atme tief ein und muss mich regelrecht zwingen, meine Geige, die ich liebevoll Poppy nenne, in ihrem schwarzen Geigenkoffer zu verstauen und mich der Realität zu stellen. Heute ist der zwanzigste April. Mein zwanzigster Geburtstag, und früher war das mein Lieblingstag. Ich habe all meine Freunde eingeladen, und gemeinsam haben wir mit meiner Familie in unserem riesigen Garten unter einem bunten Pavillon gefeiert. Heute wäre der Pavillon zu groß. Denn mittlerweile sind beide geschrumpft: mein Freundeskreis und meine Familie.
Da sind so viele schöne Erinnerungen, die niemals verblassen werden. Sie werden immer so farbenfroh bleiben, wie ich sie erlebt habe, und das gibt mir Hoffnung. Hoffnung, nicht in einem Meer aus Grau zu ertrinken. Vielleicht ist genau das der Grund, warum meine Kleidung nie schlicht ist, warum ich alle möglichen Farben miteinander kombiniere, um nicht matt zu wirken. Ausgeblichen. Um nicht so auszusehen, wie ich mich fühle.
»Hippie-Hope?« Daisy, meine kleine Schwester, stürmt zur Tür herein und hüpft auf den Schaukelsitz, der von der Zimmerdecke hängt. Den Spitznamen hat sie mir verpasst, als sie vor einem Jahr mit Dad auf der Couch saß und im Fernsehen irgendwas über Hippies lief. Sie meinte, ich sehe genauso aus wie die Leute in der Flimmerkiste.
»Papa sagt, ich soll dich holen kommen, dir aber nicht verraten, dass er stundenlang in der Küche stand, um dir einen Kuchen zu backen.« Ihre grünen Augen, die sie von Mum hat, werden mit einem Mal doppelt so groß. Sie presst ihre kleine Hand auf den Mund. »Upsi.«
Ein Lächeln breitet sich auf meinen Lippen aus, während in meinem Kopf die Worte von Mora widerhallen, ob ich nicht langsam ausziehen wollen würde und dass ein Zimmer in ihrer WG frei wäre. Manchmal würde ich gerne aus diesem Stadthaus inmitten von South Kensington verschwinden, nur um mich direkt wieder daran zu erinnern, dass das nicht geht. Dass ich Daisy hier nicht allein lassen kann. Noch vor wenigen Jahren hätte ich das komplett anders gesehen. Mein Plan war es, nach meinem Jahr in Lima in Peru zurück nach London zu kommen und noch vor Beginn meines Studiums in eine WG zu ziehen. Doch seit unsere große Schwester Manon verstarb, ist in diesem Haus nichts mehr, wie es einst war. Ich würde es niemals übers Herz bringen, Daisy allein zu lassen.
Oft liege ich nachts wach und frage mich, wie ich Manons Tod verarbeitet habe, bis mir klar wird, dass ich es nie getan habe. Ich verdränge. Tag für Tag. Und darin bin ich verdammt gut. Ein Stück weit aus Egoismus und Selbstschutz. Ein viel größeres Stück aber, um für Daisy stark zu sein. Jetzt bin ich die Älteste. Die große Schwester. Die Schulter, an die sie sich immer anlehnen kann. Die Person, die immer auf sie aufpassen wird. Ich möchte für sie all das sein, was Manon für mich war. Der Mittelpunkt meines Universums und der Mensch, den ich immer am meisten bewundert habe.
»Bitte verrate Papa nichts.« Sie läuft auf mich zu, nimmt mir den Geigenkoffer aus der Hand, der neben ihr viel zu groß wirkt, und legt ihn behutsam auf den Boden. Dann schlingt sie ihre Arme um meinen Körper und drückt ihren Kopf gegen meinen Bauch.
»Schokolade?«, frage ich Daisy und wuschle ihr durch das hellbraune Haar. Mit Schokolade kann man mich immer glücklich machen. Ich kann mich an keinen Geburtstag erinnern, an dem es keine Schokotorte gab, bis auf den einen. Doch dieser Tag zählt nicht. Diesen einen Geburtstag vor zwei Jahren haben wir alle aus unserem Gedächtnis radiert. Zumindest reden wir uns das ein.
Sie nickt, nimmt meine Hand und zieht mich hinter sich her. Wann ist sie so groß geworden? Ich erinnere mich an die Zeit, in der sie noch Windeln getragen hat, als wäre es gestern gewesen, und heute ist sie bereits acht. Mum sagt immer, dass ich das schwarze Schaf der Familie sei. Während Manon und Daisy ruhige Kinder waren, war ich laut und hatte schon damals einen Dickkopf. Sie hat es nie böse gemeint, aber der Ton ihrer Stimme verriet mir stets, dass es ihr in gewisser Weise doch ein Dorn im Auge war und noch immer ist.
Als Daisy und ich gerade Hand in Hand mein Zimmer verlassen wollen, werfe ich noch einen kurzen Blick in den Spiegel. Ich bin das Ebenbild von Mum. Braune, wilde Locken, die spitze Nase, das ovale Gesicht, die vollen Lippen. Das Einzige, das ich optisch von Dad geerbt habe, sind die blauen Augen. Manon und Daisy hingegen kommen ganz nach ihm, nur dass die zwei die grünen Augen von Mum haben.
Gerade als ich die Tür hinter uns schließen möchte, macht sich mein Handy durch ein lautes Vibrieren bemerkbar. Ich beuge mich zu meiner Schwester hinunter und gebe ihr einen Kuss auf den Scheitel. »Gehst du schon einmal vor? Ich komme sofort und tue so, als wäre ich ganz überrascht von der Schokoladentorte. Versprochen.«
»Aber beeil dich, sonst hast du gleich keine Kerzen mehr zum Auspusten«, erwidert sie und rennt aus meinem Zimmer.
Barfuß laufe ich zu meinem Schreibtisch und erkenne auf dem Display eine eingehende WhatsApp-Nachricht von Lee. Die erste, seit wir Nummern ausgetauscht haben. Ich kann noch immer nicht glauben, dass ich sie ihm einfach so gegeben habe, als wäre es kein großes Ding. Normalerweise gebe ich nicht jedem x-Beliebigen meine Nummer.
Von: Lee
Happy Birthday. Hoffe, du hast einen schönen Geburtstag und genießt die Sonne. PS: Bin gerade im Cosy Corner, und Mora hat mir verraten, dass du heute Geburtstag hast. Bevor du wieder denkst, ich sei ein Stalker.
Erst als ich das Display wieder ausschalte, fällt mir in der schwarzen Spiegelung auf, dass ich ein breites Lächeln auf den Lippen trage. Mora glaubt vermutlich immer noch, dass Lee auf mich steht. Noch bin ich nicht dazu gekommen, ihr von unserem gestrigen Gespräch zu berichten. Sie wird Augen machen, wenn ich ihr sage, dass Lee mich gefragt hat, ob ich mit ihm befreundet sein möchte. In ihrer Vorstellung haben wir uns sicher zu einem Date verabredet.
Den ganzen gestrigen Abend über lag ich mit offenen Augen im Bett und habe den weißen mit Lichterketten beleuchteten Betthimmel über mir angestarrt. Unser Gespräch ging mir dabei unentwegt durch den Kopf. Auch wenn ich früher einen großen Freundeskreis hatte, so habe ich mich trotzdem stets schwergetan, neue Freundschaften zu schließen.
Obwohl es keine dreißig Sekunden dauern würde, mich bei ihm zu bedanken, beschließe ich trotzdem, mich später bei ihm zu melden. Ich möchte jetzt erst einmal den Tag hinter mich bringen, der mich vermutlich für den Rest meines Lebens an meine tote Schwester erinnern wird. Wieso? Wir haben am selben Tag Geburtstag. Heute wäre sie zweiundzwanzig geworden. Nur ist unser Geburtstag mittlerweile auch ihr Todestag.
Keiner in unserer Familie verbindet den zwanzigsten April noch mit etwas Positivem. Das Leben ist ein Arschloch und das Schicksal sein großer Bruder. Wieso sonst würde es einem Menschen an ein und demselben Datum das Leben schenken und dann wieder nehmen?
Noch immer barfuß laufe ich die Treppen hinunter. Unser gesamtes Haus ist sehr hell. Weiße Wände und Türen, helles Holz, helle Grautöne und sehr viel Beige. Im Bereich der Treppe und des Flures hängen unsere Familienfotos, und es wundert mich, dass wir es jeden Tag schaffen, an ihnen vorbeizulaufen, ohne in ein Meer aus Tränen auszubrechen.
Im Garten steht meine Familie, oder das, was noch davon übrig ist, mit dem Rücken zu mir. Dad hat seinen Arm um Mums Schultern gelegt, während ich Daisys rosafarbenes Kleid zwischen ihnen erkennen kann.
Ich schließe die Augen und sehe meine große Schwester vor mir. Wie sie tanzend auf mich zukommt. Ihre kurzen braunen Haare mit den blond gefärbten Spitzen hüpfen in der Luft auf und ab. Sie trägt das schönste Lächeln, das die Welt je gesehen hat. Sobald sie einen Raum betrat, war es, als würde alles leuchten.
Tief atme ich ein, stelle mir vor, ich könnte ihr blumiges Parfüm riechen, und beginne zu seufzen. Ein leichter Windzug streift mein Gesicht, und ich bin mir sicher, dass sie heute hier ist. Bei mir. Bei uns. Langsam öffne ich wieder die Augen, gewöhne mich blinzelnd an das helle Sonnenlicht, das durch die großen Fenster und die geöffnete Schiebetür von draußen in den geräumigen Wohnbereich fällt.
»Nichts von dir wird jemals verloren gehen. Nicht dein Mut. Nicht deine Kraft und auch nicht deine Unbeschwertheit. Ich halte alles ganz fest. Halte dich ganz fest. Du bleibst ewig«, flüstere ich und wische mir die Träne aus dem Gesicht, bevor sich noch jemand umdreht und mich sieht.
Ich setze das strahlende Lächeln auf, das ich in den letzten zwei Jahren perfektioniert habe, und verdränge mein schmerzendes Herz und die Dunkelheit, die sich über meine Gedanken legt und mich betäubt. Ich bin eine Meisterin darin, so zu tun, als ginge es mir gut. Darin, alle glauben zu lassen, dass ich glücklich bin und mich nicht in manchen Nächten weinend unter meiner Bettdecke verstecke und mir wünsche, aus diesem Albtraum aufzuwachen. Mir wünsche, endlich wieder richtig atmen zu können, ohne diesen Schmerz zu spüren, der mich beinahe zerreißt.
Gerade als ich mich in Bewegung setze, dreht Dad sich um und beginnt damit, mir ein Geburtstagslied zu singen, in das Mum und Daisy sofort mit einstimmen. Einer nach dem anderen nimmt mich in den Arm, bevor wir uns alle an den gedeckten Tisch im Garten setzen, der mit Blumen und Konfetti geschmückt wurde. Dads Schokoladentorte steht in der Mitte, und obwohl mir der reine Anblick bereits das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt, ist meine Aufmerksamkeit auf den leeren und dennoch gedeckten Platz neben mir gerichtet.
Seit Manons Tod deckt Mum bei jedem Familienessen für sie mit, als würde sie jeden Augenblick durch die Tür spaziert kommen und sich zu uns setzen. Ich weiß, wie sehr Dad unter dem Anblick dieses leeren Platzes leidet, und doch würde es ihm niemals in den Sinn kommen, Mum darum zu bitten, dies nicht mehr zu tun. Wir wissen eben alle, dass wir unterschiedlich trauern. Der eine leise, die andere laut. Der eine ruhig, die andere wütend.
Hope
»Er wollte dich nicht auf ein Date einladen? Ich hätte meinen letzten Penny darauf verwettet, dass er an dir interessiert ist.« Mora greift sich in das volle schwarze Haar und bindet es im Gehen zu einem Dutt. Durch den gemauerten Torbogen betreten wir den Strand Campus des King’s College, der sich am Nordufer der Themse befindet und die Kunst- und Wissenschaftsfakultäten beherbergt.
Nachdem wir gestern meine Geburtstagstorte aufgegessen hatten, musste Mum zur Arbeit. Es war nicht anders zu erwarten. Für ein oder zwei Stunden wurde der Schein einer funktionierenden Familie gewahrt, bis sie sich wieder zurückgezogen und uns die kalte Schulter gezeigt hat. Doch davon möchte ich mir jetzt nicht die Laune verderben lassen und schiebe den Gedanken daran beiseite.
Die Sonne küsst meine nackte Haut an den Armen und hinterlässt eine angenehme Wärme. Ich danke der Wetterfee dafür, dass wir Ende April solche Temperaturen haben und ich endlich wieder meine farbenfrohen Shirts und lockeren Kleider aus dem Schrank holen kann. Der Winter war viel zu grau, kalt und stürmisch.
»Er möchte einfach mit mir befreundet sein.« Ein Grinsen schleicht sich auf meine Lippen, während ich an das Gespräch mit Lee denke. Niemals hätte ich damit gerechnet, dass er so was sagt. Auf der Silvesterparty bei Aidans Tante haben wir uns alle wirklich blendend verstanden und viel Spaß gehabt. Aber wirklich kennengelernt haben Lee und ich uns dort nicht. Doch ab diesem Abend fiel mir auf, dass seine Blicke länger als gewöhnlich an mir klebten.
»Kenne ich. Diese Situation, in der man auf jemanden zugeht und fragt, ob die Person mit einem befreundet sein will. Ganz normal«, meint Mora, und ihr lautes Lachen, das immer alle Aufmerksamkeit auf sich zieht, bringt mich dazu, mit einzustimmen. Zwischen ihr Gelächter mischen sich leise Grunztöne von ihr, was mich jedes Mal nur noch mehr zum Lachen bringt.
»Vor allem …« Sie hält kurz inne und stützt ihre Hand auf meiner Schulter ab, während sie versucht, nach Luft zu schnappen. »Dass ausgerechnet du darauf eingegangen bist. Das gleicht einem Wunder. Seit wann schließt du neue Freundschaften?«
»Das ist eine sehr gute Frage. Ich weiß auch nicht, welches Pferd mich geritten hat, als ich zugestimmt und ihm dann auch noch meine Handynummer gegeben habe.« Durch die dunkle Holztür betreten wir den Eingangsbereich unserer Fakultät, und ich nicke einigen Studierenden zu, mit denen ich gemeinsame Kurse habe. Mora weiß genauso gut wie ich, dass ich an der ganzen Universität nur eine Freundin habe. Und diese steht gerade neben mir.
»Vielleicht die dunklen Welpenaugen, umrahmt von diesen wirklich tollen Wimpern? Oder doch eher das perfekte Lächeln? Nein, warte. Es waren die schätzungsweise ein Meter neunzig Körpergröße, die dich dazu gebracht haben?« Sie zwinkert mir zu, als hätte sie ein Geheimnis gelüftet, von dem nur wir beide wissen. Dabei glaube ich, sie redet eher von sich selbst. Immerhin ist sie diejenige, die mir seit Silvester damit in den Ohren liegt, wie attraktiv Lee doch ist.
»Ich glaube, es war der Gedanke daran, euch zwei zu verkuppeln.« Ich gehe seitlich die Steintreppen nach oben und zwinkere Mora ebenfalls zu.
»Bloß nicht. Die Sache mit James ist noch immer nicht beendet, und selbst wenn es das wäre, habe ich keinen Nerv für einen neuen Typen.« Die Worte kommen nur sehr zaghaft über ihre Lippen, und ich weiß ganz genau, wieso. Sie wollte schon letzte Woche mit James Schluss machen, nachdem er sich mal wieder einen glorreichen Fehltritt erlaubt hatte. Zu sagen, dass ich ihre Beziehung nicht verstehe, wäre noch untertrieben.
»Wieso nicht? Mora!« Ich hasse es, wenn meine Stimme diesen belehrenden Ton annimmt. Er lässt mich jedes Mal kurz zusammenzucken, weil er mich so sehr an Mum erinnert. »Dieser Kerl verarscht dich nach Strich und Faden. Und das nicht zum ersten Mal. Wo soll das hinführen? So darfst du dich nicht behandeln lassen, und das weißt du auch.«
Obwohl Mora meine beste Freundin ist, steht es mir nicht zu, mich in ihre Beziehung einzumischen. Aber in diesem Fall geht es nicht anders. James und Mora führen eine On-off-Beziehung, und selbst in On-Phasen hält ihn dies nicht davon ab, sich auf Partys zu betrinken und mit anderen Frauen rumzumachen. Ich ertrage es nicht, wie er ihr jedes Mal aufs Neue das Herz bricht.
Oben angekommen lehnt sich Mora mit dem Rücken gegen die Wand und sieht mich aus ihren dunklen Augen an. Sie schiebt sich die große Brille, die ihrem Gesicht schmeichelt und es noch mehr zur Geltung bringt, hoch auf den Nasenrücken. Eine ihrer vielen Angewohnheiten, wenn sie nach den richtigen Worten sucht.
»Es ist so dämlich. Ich weiß das alles. Wirklich. Aber wenn ich vor ihm stehe und er sich bei mir zum hundertsten Mal entschuldigt, vergesse ich irgendwie all die Tränen und den ganzen Stress, den ich wegen ihm habe.« Sie zieht an dem Saum ihres eng anliegenden weißen Shirts und vergräbt die Hände in den Taschen ihrer Jeans.
Obwohl ich Mora keine Sekunde um ihre Beziehung mit James beneide, frage ich mich doch manchmal, wie es sich anfühlt, verliebt zu sein. Es ist nicht so, dass ich noch nie jemanden gedatet hätte. Im Gegenteil, ich hatte auch bereits die ein oder andere Schwärmerei und Sex. Aber echte Gefühle kamen bei mir nie auf. Ich habe mich nie mit jemandem verbunden gefühlt. Hatte nie Schmetterlinge im Bauch oder Herzklopfen bei jeder noch so zarten Berührung.
»Wie hat sich unser Gesprächsthema jetzt nur von einem so tollen Kerl wie Lee zu einem solchen Arschloch wie James gewandelt?« Mora verdreht die Augen.
»Gute Frage.« Ich lasse meine Schulter sinken und spüre, wie der Gurt meines Geigenkoffers über meine Haut hinabgleitet, bis der Koffer in meinen Händen liegt und ich ihn an meine Brust drücke. »Aber mal ganz abgesehen davon, woher willst du wissen, dass Lee ein toller Kerl ist?«
»Hm …« Mora legt ihren Daumen unters Kinn und fährt sich mit dem Zeigefinger über die Lippen. »Das spüre ich einfach.«
»Wegen seines Dackelblicks, ja?«, ziehe ich sie auf.
Ich möchte mir selbst nicht eingestehen, dass ich dieses Gefühl auch habe. Dass ich glaube, Lee sei ein guter Mensch, ohne ihn überhaupt zu kennen. Vielleicht liegt es wirklich an diesen Augen, die zwar beinahe schwarz, aber gleichzeitig auch unglaublich warm wirken. Dabei ist es für mich eher die Aura, die ihn umgibt und mich neugierig gemacht hat. Sie ist dafür verantwortlich, dass ich mich tatsächlich mit ihm anfreunden möchte. Er strahlt dieselbe Offenheit aus, wie es meine Schwester Manon immer getan hat.
»Ach, hör doch auf.« Mora schüttelt den Kopf und geht an mir vorbei. Hier trennen sich unsere Wege. Während ich Musik studiere, hat sie sich damals für Digital Humanities entschieden, und ähnlich wie ich, weiß auch sie noch nicht, was sie später mal damit anfangen möchte oder in welche Richtung es sie verschlagen wird. »Bleibst du nach deinem Kurs noch?«
»Ja, ich wollte noch ein wenig proben«, antworte ich ihr und ziehe den Geigenkoffer dabei noch enger an meine Brust, als müsste ich meinen Worten Ausdruck verleihen.
»Wozu? Du kannst jedes erdenkliche Stück im Schlaf spielen.«
»Red keinen Unsinn«, entgegne ich. Okay, vielleicht brauche ich gerade nicht zu proben, weil ich schon seit Tagen an dem erforderlichen Stück arbeite, aber ich möchte proben. In jeder freien Minute will ich spielen.
Ich liebe es, andere im Geigespielen zu unterrichten und ihnen das Talent zu entlocken, das in ihnen schlummert. Aber mein Herz schlägt auch höher, wenn ich auf der Bühne stehe und für ein Publikum spiele. So stelle ich mir vor, wie es ist, verliebt zu sein. Dieses nervöse Kribbeln im Bauch, das klopfende Herz, das vor lauter Vorfreude beinahe aus der Brust springt, und das Glücksgefühl, das einen überkommt, sobald der erste Ton die Stille durchbricht.
Mora zieht mich in eine kurze Umarmung. »Dann sehen wir uns spätestens morgen im Cosy Corner. Spiel dir die Finger nicht blutig.« Ich höre ihr stummes schon wieder zwischen den Zeilen.
Wir verabschieden uns voneinander, und während sie links abbiegt, gehe ich den Gang weiter geradeaus und freue mich schon auf den Kurs, der in wenigen Minuten beginnt und bei dem ich wie die größte Streberin ganz vorn sitzen werde. Wie immer.
Während ich mich in meiner Schulzeit manchmal dabei erwischt habe, wie ich mich für den Streberstempel geschämt habe, trage ich ihn inzwischen mit Stolz. Es interessiert mich nicht, wenn mich jemand dumm anschaut, weil ich mal wieder die Antwort auf eine Frage weiß und nicht damit zögere, meinen Arm zu heben. Ich habe für all das hart gearbeitet. Ja, vielleicht wurde ich mit dem Segen geboren, die Musik nicht nur zu hören, sondern sie auch zu fühlen. Doch das bedeutet nicht, dass ich weniger übe als andere und nicht auch meine Kindheit und Jugend damit verbracht habe, immer besser und besser werden zu wollen.
»Hallo, Hopeless Hope.« Gabriel Dixton. Weit davon entfernt, mein fester Freund zu sein, aber auch weit davon entfernt, ein Niemand für mich zu sein. Irgendwas zwischen Kumpel und One-Two-Three-Night-Stand.
Die blonden Locken fallen ihm in die Stirn, während er dabei ist, sich die Ärmel des karierten Hemdes hochzuschieben.
Ich nicke ihm zu und setze wie immer ein Lächeln auf, das nicht einmal ansatzweise meine Augen erreicht. Was nicht daran liegt, dass ich Gabriel nicht leiden kann. Wäre dies der Fall, hätte ich nicht ein einziges Mal mit ihm geschlafen. Auch wenn das zwischen uns nie etwas Ernstes war oder sein wird, könnte ich trotzdem nicht über einen schlechten Charakter hinwegsehen, nur, weil er augenscheinlich verdammt heiß aussieht. Er hat diesen Surfer-Boy-Vibe, den man eher am Byron Bay in Australien vermuten würde als inmitten von London.
Von Mr Crawford werden wir immer das unschlagbare Duo genannt. Gabriel am Klavier, ich an der Geige. Nicht nur unsere Melodien harmonieren miteinander, was wohl auch der Grund dafür ist, weshalb ich mich mehrmals auf eine Nacht mit ihm eingelassen habe.
»Möchtest du hier noch weiter wie der größte Checker an der Wand gelehnt stehen, oder hast du vielleicht vor, mir den Weg frei zu machen, damit ich pünktlich zu Musikalische Analyse komme?« Ich mache einen Schritt zur Seite, um an ihm vorbeizugehen. Er reagiert so schnell, dass ich mit meiner Stirn volle Kanne gegen seine Brust renne. »Du bist so eine Nervensäge«, schnaube ich, hake mich bei ihm unter und ziehe ihn hinter mir her.
Leider, oder vielleicht auch zu meinem Glück, da er der Einzige in meinem Studienfach ist, mit dem ich mich super verstehe, haben wir alle Kurse gemeinsam.
Das dritte Trimester des zweiten Studienjahres ist gerade angebrochen, und ich muss zugeben, dass ich mir wünsche, das Studium würde länger gehen. Ich liebe es. Jeden Kurs, jeden Dozenten und jede Dozentin, jedes Musikinstrument und jede noch so trockene Theorie. Während wir im ersten Jahr noch Pflichtmodule hatten, konnten wir im zweiten frei wählen, solange wir unsere hundertzwanzig Credits erreichen. Ich habe mich für Kompositionsstudien, Musikalische Analyse, Ethnografische Methoden in der Musikwissenschaft und für Musikalische Darbietung entschieden.
»Sag mal. Sucht diese ultrareiche Familie in Kensington noch immer einen Klavierlehrer für ihre Tochter?«, möchte Gabriel wissen, während wir den langen Flur entlangeilen, um nicht zu spät zu kommen.
»Wieso? Hast du deine Meinung etwa geändert?« Es ist nicht einmal zwei Wochen her, seit ich ihm davon erzählt habe und er abgelehnt hat. Mittlerweile gebe ich dem kleinen Nicholas bereits seit einem Jahr Unterricht im Geigespielen. Die Johnsons sind eine freundliche und respektvolle Familie, und als ich gehört habe, dass Nicholas’ große Schwester Louise gerne Klavier lernen würde, habe ich sofort an Gabriel gedacht, der aber direkt verneinte.
»Deine Schwärmerei von der Familie hat mich eventuell umstimmen können.«
»Aber du meintest doch, du willst auf gar keinen Fall für irgendwelche reichen Schnösel arbeiten und hast sowieso mit dem Job im Diner genug zu tun?«, erinnere ich ihn an seine eigenen Worte. Innerlich freue ich mich jedoch darüber, weil Louise einen hervorragenden Klavierlehrer bekommen wird. Ich kann nur hoffen, dass die Johnsons nicht schon jemand anderes für ihre Tochter gefunden haben.
»Ich habe im Diner gekündigt. Und ohne die Kohle bin ich echt aufgeschmissen. Meine Eltern haben einfach nicht die Mittel, mich all-inclusive durch das Studium zu bringen.«
Auch wenn ich selbst mit diesem Thema nicht konfrontiert bin, trifft mich diese Ungerechtigkeit des Lebens immer wieder aufs Neue, wenn ich sie so knallhart vor Augen geführt bekomme. Wie kann es sein, dass Bildung so unfassbar viel kostet und für einige erst gar nicht zugänglich ist?
»Ich werde ein gutes Wort für dich einlegen.« Meine Finger gleiten zu Gabriels Unterarm, und ich drücke sanft zu. »Louise wird dich lieben.«
»Wie alt war sie noch gleich?« Aus seinen grünen Augen sieht er mich schmunzelnd an, und ich kann nicht anders, als laut loszulachen.
»Zu jung für dich. Viel zu jung, du Casanova.«
Eine Traube Menschen versammelt sich vor der riesigen Tür zum Hörsaal und quetscht sich nach und nach hindurch. Ich presse meine Geige mit beiden Händen fest an mich, wodurch sie mir beinahe die Luft abschnürt. Nichts gegen Menschen, echt nicht, aber so viele auf einem Haufen müssen nun wirklich nicht sein.
Mit der Geige als Schutzschild lässt mir Gabriel den Vortritt, und alles, worauf ich mich jetzt noch konzentrieren werde, ist die Musik. Mit all ihren Facetten, wozu eben auch die eher trockene musikalische Analyse gehört.