Der Autor

Drangsal, bürgerlich Max Gruber, *1993, ist ein deutscher Sänger, Songschreiber und Multiinstrumentalist. Aus der pfälzischen Heimat hatte es ihn nach Berlin verschlagen, als ihm mit seinem Debüt-Album Harieschaim (2016) ein fulminanter Auftritt auf die deutsche Musikbühne gelang. Nach Zores (2018) folgt mit Exit Strategy im August 2021 das dritte Drangsal-Album. Außerdem moderiert Gruber gemeinsam mit dem Musiker Casper den Podcast Mit Verachtung.

Das Buch

EIN LITERARISCHES DEBÜT ZWISCHEN FAKT UND FIKTION


Mit Sinn fürs Kuriose schneidet Drangsal Erinnerungen und Beobachtungen aus und arrangiert sie neu: vom Aufwachsen in der pfälzischen Provinz, von der Musik, von einsamen Figuren, die irgendwo zwischen Wachsein und Traum ihren obsessiven Unternehmungen frönen.


»Drangsal verwandelt seine wackelige Identifikation mit sich selbst in schöne, unheimliche, abseitige Poesie, in Erzählungen und autobiografische Stücke.«
Rolling Stone

Drangsal (Max Gruber)

Doch

Ullstein

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© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2022
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Titelmotiv: © Nikolay Tolmachev
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ISBN 978-3-8437-2722-8

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Autorenfoto

© Gerald von Foris

Die Zunge


Eiche, Buche, Fichte
Und so geht die Geschichte
Die junge Zunge senkt sich ab
Fährt in den starren Leib
Sie stochert tief, sie stochert fest
Stochert eine Ewigkeit
Verkrustet und vertrocknet
Von Splittern nur genährt
Saugt sie unaufhörlich
Was ihr der Forst gebärt
Die Zunge, eifrig und erpicht
Der Speichel rodet jede Schicht
Die Zunge, penetrant und forsch
So werden Bast und Borke morsch
Hart wird zart, der Hain geht ein
Das Laubwerk macht jetzt dicht
Die Knospen haben ausgedient
Sieht Wald und sieht die Bäume nicht


Die Blase


Die Blase hat sich tief in mir manifestiert. Sie war dabei sehr diskret und hat sich über die Jahre – ganz langsam – derart aufgebläht, dass sie mir eines Nachts, als es ihr endlich zu eng und ungemütlich geworden war, völlig unbemerkt aus dem Mund gekrochen sein muss, wie wenn man beim Duschen Seife auf den Lippen hat und dann den Kiefer aufsperrt. Seither umschließt sie mich. Mal kommt sie mir sehr nah, kuschelt sich an mich wie ein Latex-Catsuit, dann wieder steckt sie sich ihren Daumen in den Mund und bläht sich weltweit auf. Die Blase ist das Innerste nach außen gestülpt, das wackelige Fundament meiner selbst, das den Blick trübt, Umstände verklärt und mich so gleichermaßen schützt wie behindert. Der Erzfeind der Blase ist die reine Sachlichkeit, die beiden kommen auf keinen gemeinsamen Nenner.

Meine Blase ist ein Fort, ein Bunker, den ich zu jeder Zeit mit mir, der viel mehr mich mit und in sich umherschleppt. Als boy in the bubble arrangierte ich mich, nachdem ich wiederholt das Gespräch mit ihr gesucht, aber nie gefunden hatte, mit dem Umstand ihrer Existenz und agiere seither innerhalb ihrer Parameter. Was bleibt mir denn auch anderes übrig, sie zu durchbrechen ist brandgefährlich! Bringt man sie zum Platzen, wird man ein anderer Mensch. Meine Blase ist schon das ein oder andere Mal geplatzt, und jetzt sehe ich die Dinge anders als zuvor. Wenn man sie durchdringt, beraubt man sich ihrer Verzerrungen und muss der blanken Realität ins Auge blicken – Desillusionierung. Wie wenn man kaputte Keramik kittet, ähnelt die neue Blase der vorherigen zwar, ist aber trotzdem anders: Die Träume kriegen einen Sprung, und der Sprung wird zum Riss, und der Riss wird zum Spalt, und durch diesen scheint die Nüchternheit.

Manches Mal tobe ich in meiner Blase, stampfe ringsherum wie ein stolzer Dompteur oder ein bockiges Kind, überschlage mich fast, ein Hamster im Hamsterrad, falle in ihr auf sie drauf, lege mich dann irgendwann erschöpft zurück und recke wie ein fünfzackiger Stern alle Gliedmaßen von mir. Genau so lass ich mich dann tragen, wir schlüpfen durch den Briefschlitz, raus aus meinem dunklen Nest über die Dächer.

Alles außerhalb muss erst durch das Prisma meines bisherigen Lebens gebrochen werden, bevor es mich erreichen kann, als trüge ich eine Brille, deren Gläser in eine ölige Pfütze getaucht wurden, die Lache ist, was bisher geschah. Ampeln und Bremslichter verlaufen zu gleißenden Schlieren, schlängeln sich als Lichtspiele über meinen trüben Globus, spielen Fangen und überfahren sich dabei. Ich sitze im Schneidersitz und lasse mich von dem funkelnden Spektakel bespaßen. So beb ich durch die Gasse in meiner Untertasse, die verblassten Fassaden erstrahlen in Regenbogenfarben.

Wir machen immer mal wieder Rast vor den Fenstern der jungen Wohngemeinschaften und nehmen Bestand davon auf, wie die anderen ihr Dasein führen, ich labe mich an den Echos der Lieder, die sie singen. Bin bloß auf Besuch, an einen Ehrenplatz gekettet, ich bin ein Kuss durch die Trennscheibe einer Justizvollzugsanstalt: Watching the world pass from behind stained glass. Ich senke mich herab und nähere mich den Menschen, deren durch meine Blase verzerrtes Spiegelbild ich aber oft nicht leiden mag, und ihr Gebrabbel kann ich auch nur schlecht verstehen, es dringt nur sehr dumpf zu mir durch. Wir verstehen uns schlecht, die Außenwelt und ich.

Es ist selten, aber schön, wenn ich auf meinen Reisen hin und wieder einer anderen Blase begegne und dann auch noch auf eine Pilotin oder einen Piloten treffe, der ganz gegenteiligen Umständen ausgesetzt war. Die diametralen Phasen der Blasen löschen sich aus, sie verschwinden (vermeintlich) komplett, und man denkt, man könne sich bar jeden Filters begegnen, sich öffnen und, ohne Repressalien befürchten zu müssen, dem allen innewohnenden Mitteilungsbedürfnis frönen. Doch die Blase lauert und lauscht, protokolliert detailliert und mutiert entsprechend, bald schon wird sie mir wieder ihr kaltes Näschen ins Genick drücken, um mir zu verstehen zu geben, dass es höchste Zeit ist weiterzuziehen.

Ich hab zu viel geplappert, mal wieder – die Blase wird diesiger und diesiger bis zur völligen Blickdichte, Blasenentzündung. Im Nebel erkenne ich nichts, und keiner kann mich mehr sehen, die mit mir trächtige Sphäre segelt wieder davon. Bedröppelt hämmere ich auf die feuchte Innenwand ein, es wabbelt wild und spritzt, klitschnass kreische ich ihr dabei immerzu mein tristes Mantra entgegen. Wie ein Querschläger prallt jedes einzelne Wort ab, saust unentwegt umher und vervielfacht sich bis zur unerträglichen Rückkopplung.


Sag mir
Alles was du weißt
Auch wenn es mich
In Stücke reißt
Ich muss jetzt alles wissen
Will nichts mehr missen müssen


Ich
Will
Dich
Küssen


Dopsen


Musik! Musik, Musik, Musik. Sie muss immer lauter und immer schneller werden, damit mich meine Gedanken ja nie einholen. Ohne Kopfhörer das Haus zu verlassen gleicht einer Strafe. Die Wege sind weiter, jede Tätigkeit beschwerlicher. Die Lautsprecher legen sich schützend wie ein Paar starker Hände über meine Ohrmuscheln, ein unsichtbares Kraftfeld, eine Ablenkung von der Ablenkung, das gemeinhin anerkannte Zeichen für: »Sprechen Sie mich nicht an!«

Mein Puls fügt sich den Beats per minute, Stimmen aus dem Äther besuchen mich auf Knopfdruck, wie die Sirenen lullen sie mich auf meinen Odysseen ein und berichten mir als klangliche Artefakte aus anderen Tagen und von den fantastischsten Dingen. Die Musik vertont nicht Situationen, Geschehnisse beugen sich dem Klang, die Welt tanzt nach ihrer Pfeife, selbst das Martinshorn des an mir vorbeirauschenden Krankenwagens ist in der passenden Tonart. Die präzise Choreografie des Alltags kann nur enttarnt werden, wenn Musik läuft.

Und Musik lief immerzu. Ich brachte Kassetten mit in den Kindergarten, CDs in die Grundschule, den MP3-Player in die Oberstufe. Ich blätterte stundenlang in Katalogen und Zeitschriften auf der Suche nach Bands, die ich noch nicht kannte, erzählte jedem, wenn ich sie dann fand. Eine Menge meiner Freundschaften fußt in der Musik, doch weiß ich mein Umfeld auch immer schon in einen Dornröschenschlaf zu versetzen, wenn ich mal wieder in endlosen Monologen über irgendwelche Bands referiere. Die Musik, die läuft, diktiere ich – sowieso.

Als Teenager bedeckten unzählige handschriftliche Songzeilen beinahe eine komplette Wand in meinem Zimmer, Mama nähte Patches von Bands auf meine Jeans. Statt mir wichtige Termine zu notieren, kritzelte ich Bandlogos in mein Hausaufgabenheft. Wenn ich zurückdenke, egal an was, dann denke ich in erster Linie an Musik. Ich denke an sie als den Arm, der mich und den ich fest im Griff halte, der mich durch das Dasein schleift. Ich war und ich bleibe nichts weiter als ein Baby, die Songs sind meine Wiege.

Ich tat es Tag um Tag stundenlang; bis das Tape zurückgespult oder die CD noch mal von vorne abgespielt werden musste, dopste ich. Ich hörte ein und dasselbe Lied Hunderte, wenn nicht sogar Tausende Male, konzentrierte mich dabei auf die einzelnen Instrumente, studierte jede Kleinigkeit. Ich schloss die Augen, und meiner Matratze wuchsen Flügel, ich bereiste andere Länder, Fantasiewelten, spielte in allen Bands und solchen, die ich mir ausdachte, schwelgte in Erinnerungen, die es gar nicht gab. Ich schlüpfte in anderer Leute Körper und Leben, wie das des schönen Schlaks aus der Hauptschule. Dann malte ich mir banale Situationen und Momente aus, durchdachte sie so oft und so lange, bis sie Wahrheit wurden.