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Nebenan rief jemand meinen Namen. »Linda!«
Ich hob den Kopf und machte einen langen Hals. Im Nachbargarten hob ein dunkelhaariger Mann kopfschüttelnd einen Roller auf und lehnte ihn an die Hauswand.
»Meint der mich?«, fragte ich amüsiert.
»Bist du elf und hast Zöpfe?« Michaela grinste. »Seine kleine Tochter heißt auch Linda.«
Sie griff zu einem Glas Weißwein, das wir uns an diesem frühsommerlichen Spätnachmittag gönnten, und prostete mir zu. »Heißt du eigentlich wirklich Linda, oder ist das eine Abkürzung von Sieglinde, Gerlinde oder etwas noch Schrecklicherem?«
»Ich heiße wirklich Linda«, bemerkte ich nicht ohne Stolz. »Wenn meine Eltern auch sonst viel verkehrt gemacht haben!«
»Der passt auch echt zu dir.« Michaela sah mich anerkennend an. »Strahlend und blond, und die Kurven da, wo sie hingehören … Linda heißt ja ›die Schöne‹, oder nicht?«
»Ach komm, hör auf, dich über mich lustig zu machen!« Ich schaute verlegen zu Boden und ließ meine große Zehe mit der knallroten Sandalette spielen, die mir vom Fuß gerutscht war.
»Ich hab zehn Kilo zu viel auf den Rippen, mein Blond ist nicht echt, und strahlen tu ich nur, weil es bei dir saugemütlich ist und wir endlich mal in Ruhe quatschen können.«
Das taten wir. Ungehemmt. Über Männer, Kinder, Schwiegermütter, Sehnsüchte und Träume.
Michaela schüttelte lächelnd den Kopf und bedachte mich mit einem liebevollen Blick.
Ich mochte sie sehr, diese unkomplizierte, ausgeglichene Freundin. Wir genossen die laue Frühlingsluft im schicken Frankfurter Wohnviertel, in dem sich gepflegte Einfamilienhäuser um nette Gärten gruppierten. Überall gab es Swimmingpools, Schaukeln, Klettergerüste und große Trampolins. Michaelas Sohn Alex feierte seinen zwölften Geburtstag und tobte mit seiner Gästeschar, zu der auch meine Kinder Patti und Simon gehörten, um die Tischtennisplatte im Keller herum. Es roch nach gebratenen Würstchen, Schokoladenkuchen und feuchtem Gras. Auf der Terrasse wehten die Luftschlangen, Luftballons und bunten Girlanden um die Wette – zumindest das, was die Rasselbande davon übrig gelassen hatte.
Der Mann im Nachbargarten suchte immer noch nach seiner Tochter. »Linda!«, rief er nimmermüde. Seine Stimme war angenehm sonor.
»Sollen wir es ihm sagen?« Ich wies mit dem Kinn nach drüben.
»Nee. Dann war’s das mit unserer herrlichen Ruhe.« Michaela schloss die Augen und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen.
»Dass die Kinder sich kein bisschen um das herrliche Wetter scheren! Die kommen ja gar nicht mehr aus dem Keller!«
Ich nickte. »Die Tischtennisplatte war eine gute Investition. Ich werde Jochen bitten, dass unsere Kinder auch eine bekommen.«
Michaela warf einen Eiswürfel in ihr Glas und bot mir auch einen an.
»Her damit! Macht wenigstens nicht dick.«
»Also wirklich, Linda, ich weiß gar nicht, was mit deiner Selbstwahrnehmung nicht stimmt.« Michaela musterte mich prüfend. »Du siehst aus wie Brigitte Bardot in den besten Jahren …«
»Brigitte Bardot in den Wechseljahren?«
»… und deine Kurven sind doch sehr weiblich und sexy in diesem roten Sommerkleid!«
Ich schüttelte den Kopf. »Michaela, du bist echt süß.« Mit einem Seitenblick auf den sonoren Nachbarn senkte ich die Stimme. »Aber wenn ich weiblich und sexy bin, warum hab ich dann seit drei Jahren keinen Sex mehr?«
»Hast du nicht? Echt nicht?« Michaelas graue Augen wurden rund. Sie war eher ein unscheinbarer Typ mit ihren kurzen braunen Haaren, ihren Shorts und Turnschuhen und dem verwaschenen T-Shirt. Sie hatte fein geschnittene Gesichtszüge, wirkte immer glücklich und zufrieden und konnte wunderbar zuhören. Sie selbst führte offensichtlich eine sehr gute Ehe mit ihrem Mann Rainer, der Tierarzt war. Jedenfalls kam nichts Gegenteiliges aus ihrem Munde.
»Nee.« Ich nahm hastig einen Schluck Wein. »Toll, was?«
»Ja, aber dein Jochen …«
Ich grinste schief. »Wir leben jetzt seit knapp zwanzig Jahren zusammen und haben uns nichts mehr zu sagen.«
Michaela sah mich zweifelnd an. »Er ist so ein lieber, netter Kerl!«
Ich stellte das Glas etwas zu heftig auf den Tisch. »Und ich denk mir immer, Linda, war’s das etwa schon?«
»Ach komm, das sagt doch jede Frau mal …« Michaela legte die Hand auf meinen Arm. »Du, Lady in Red? Bei deinem Sexappeal?« Ungläubig runzelte sie die Stirn.
Ich sah Michaela stumm an, für die meine Offenbarung wohl ziemlich überraschend kam.
»Echt? Euer Liebesleben liegt total brach?« Das musste sie wohl erst mal verdauen.
Mir lag diese Tatsache ja selbst schwer im Magen. Seit wieder Sommer war, ganz besonders. Verlegen wippte ich mit dem Fuß, bis meine knallrote Sandalette in Michaelas Blumenbeet kullerte. Gereizt wippte ich weiter. Mein Zehennagellack passte farblich zu meinem Kleid und meinen Sandaletten. Soeben war ich noch bei der Pediküre gewesen, hätte meine Füße aber genauso gut in grobe Wanderstiefel oder Gesundheitslatschen zwängen können. Und die ganze Linda in einen Kartoffelsack packen. Mein Mann Jochen merkte sowieso nichts.
»Wofür mach ich das eigentlich alles?« Ich strich mein schickes Kleid glatt. »Verdammt, Michaela, ich bin jetzt Mitte vierzig, und mehr als die Hälfte meines Lebens ist vorbei.« Ich warf die Hände in die Luft und sah sie herausfordernd an. »Ich möchte mich noch einmal spüren!«
»Ach komm!« Michaela legte wieder ihre schmale kleine Hand auf meinen Arm. »So kenne ich dich ja gar nicht. Was ist denn los?« Mitfühlend sah sie mich an. »Ich hab Jochen und dich immer als sehr harmonisches Paar empfunden.«
»Nach außen hin sind wir das auch, aber letztlich …« Ich schielte über die Hecke.
»Letztlich was?«
»Nimmt er mich als Frau überhaupt nicht mehr wahr.«
»Aber Linda, er ist ein viel beschäftigter Arzt! Ich hab dich immer um ihn beneidet!«
»Echt? Ich schenk ihn dir.« Ich angelte nach meiner Sandalette und streifte sie mir wieder über den Fuß. Dabei gewährte ich dem immer noch nach seiner Tochter suchenden Nachbarn nicht ganz zufällig Einblick in mein üppiges Sommer-Dekolleté. Der Typ blieb stehen und schaute mich kurz an. Er sah wirklich gut aus. Sehr sogar. Und er nahm mich wahr. Verdammt. Das war mir schon lange nicht mehr passiert. Seit ein paar Jahren hielt ich mich für unsichtbar.
»Linda!« Er spähte ins Gesträuch. »Wo steckst du denn?«
»Hier, Süßer«, sang ich halblaut.
»Lass ihn.« Michaela beugte sich vertraulich vor. »Erzähl lieber!«
»Jochen geht morgens um halb sieben aus dem Haus und fährt in seine Praxis«, berichtete ich bereitwillig. »Dann kommt er mittags gestresst nach Hause und schlingt sein Essen herunter. Währenddessen checkt er seine E-Mails auf dem iPad und seine SMS auf dem Handy, und zur allgemeinen Unterhaltung hat er Medizinjournale neben seinem Teller liegen mit ekligen Geschwüren, amputierten Zehen oder widerlichem Ausschlag – gern auch an den Genitalien. Die liest er dann, während er seine Suppe schlürft.«
Michaela lachte glockenhell. »Du bist wirklich ne Marke, Linda!«
Das fand ich auch. Ich hatte mich richtig in Rage geredet und warf meine blonden Haare nach hinten, was den Nachbarn bei seiner Tochtersuche innehalten ließ. Ich senkte die Stimme. »Und abends ist es wieder genau das Gleiche. Nur dass dann noch der Fernseher läuft und er laut mit seiner neunzigjährigen, schwerhörigen Mutti telefoniert.«
Michaela lachte sich kaputt. »Das Horrorszenario schlechthin!«
»Jochen hält mich für einen Haushaltsgegenstand«, petzte ich weiter. »Da kann ich ihm in Körbchengröße Doppel-D sein Steak servieren oder meinen selbst gebackenen Streuselkuchen unter die Nase schieben, sooft ich will: Er verschlingt das alles, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen, und diktiert dabei Gutachten zu Neurodermitis und Abszessen!«
»Er scheint ein absoluter Workaholic zu sein. Andererseits habt ihr eine Menge geschafft: du mit deinem betriebswirtschaftlichen Know-how und er als angesehener Dermatologe. Es geht euch doch gut, Linda. Ihr habt ein tolles Haus, die Praxis läuft gut, die Kinder gehen aufs Gymnasium, sind gesund und munter …«
»Nach außen hin ist alles super, das geb ich gerne zu!« Ich nahm noch einen Schluck Wein.
»Linda!«, schrie der Nachbar, jetzt zunehmend genervt.
»Hier bei der Arbeit«, murmelte ich. »Weißt du, Jochen ist kein schlechter Mensch, diesen Eindruck will ich auch gar nicht vermitteln. Aber ich sehe mir selbst beim Vertrocknen zu.«
»Nein, mach dir ruhig mal Luft. Ich kenne doch Jochen, den alten Knochen.«
»Aus dem der Saft raus ist«, fuhr ich verdrossen fort. »Ich weiß gar nicht mehr, wann wir das letzte Mal zusammen in Urlaub gefahren sind. Oder wann er mir was Schönes mitgebracht hat. Schmuck, Unterwäsche oder auch nur Blumen. Wenn er mir was schenkt, ist es ein Haushaltsgerät mit Bedienungsanleitung. Aber ich bin eine Frau und keine Haushälterin!«
Michaela lachte. »Also voll das Klischee von der vernachlässigten, liebeshungrigen Hausfrau.«
»Ich sollte mir ein Verhältnis zulegen«, raunte ich spaßeshalber mit Blick auf den Nachbarn. »Warum soll eine Frau kein Verhältnis haben …«, sang ich leise und ein bisschen kokett.
»Linda!« Jetzt stand er direkt vor uns. Wow. Der sah aber wirklich hammergut aus.
»Ja-ha«, rief ich kokett. »Hier bin ich!« Diesmal laut. Die Worte waren mir einfach so aus dem Mund und über die Hecke gekullert – wie ein Ball, den er jetzt aufheben musste. Aber ich hatte ja auch schon zwei Gläser Wein intus.
Zwei kräftige Männerhände zerteilten das Gesträuch wie Moses das Meer, gefolgt von zwei tiefbraunen Augen mit attraktiven Lachfältchen.
»Linda?«
»Ja. Sie haben mich gefunden.« Ich breitete die Arme aus, das Weinglas noch in der Hand, und schaute ihn herausfordernd an.
»Na so was.« Der Mann fuhr sich durch seinen dichten dunklen Haarschopf und zwinkerte – ob aus Verlegenheit oder weil er mit mir flirten wollte, konnte ich beim besten Willen nicht sagen.
»Wirklich? Sie heißen Linda?«
»Was dagegen?«
»Nicht als Abkürzung von Sieglinde oder Gerlinde?«
»Nein. Nur Linda.« Ich straffte die Schultern und sah ihm forsch ins Gesicht.
Um seine Mundwinkel zuckte es.
»Das ist ja ein Ding. Wissen Sie, dass meine Tochter auch so heißt?«
»Seit einigen Minuten. Michaela hat’s mir erzählt.«
Ich grinste verlegen, und er grinste auch. Sein Lächeln wurde mir mit jedem Schluck Wein immer sympathischer.
»Hallo Frank«, sagte Michaela. Sie warf mir einen tadelnden Blick zu, der sagen sollte: Siehst du, jetzt haben wir den Salat. Höflicherweise stand sie auf.
»Linda ist längst nicht so häufig.«
»Nein, ganz und gar nicht«, pflichtete er mir bei. Suchend sah er sich um. Ich ging davon aus, dass Michaela jetzt die Katze aus dem Sack, beziehungsweise das Kind aus dem Keller lassen würde, aber sie fühlte sich wohl genötigt zu sagen: »Der Name passt zu meiner Freundin, findest du nicht?«
»Aber so was von!« Frank starrte mich an, als hätte er soeben eine Vision. »Wissen Sie, dass das mein absoluter Lieblingsname ist?!« Seine Begeisterung war nicht zu bremsen.
»Scheint so«, bemerkte ich schlagfertig. »Sonst hätten Sie Ihre Tochter ja Gerda oder Gisela genannt.«
Frank stutzte, dann lachte er frei heraus. »Sie sind aber auch nicht auf den Mund gefallen, was?«
Ich spürte, wie ich rot wurde. »Nein«, sagte ich und schlug die Beine übereinander. An der großen Zehe ließ ich wieder die rote Sandalette baumeln. »Sie denn?«
»Also, schüchtern bin ich nicht gerade.« Bei diesen Worten kickte er einen in die Hecke gerollten Ball weg, und ich konnte einen Blick auf seinen wohlproportionierten, durchtrainierten Körper werfen, der in einem lässigen weißen Hemd und engen Jeans steckte. Nicht schlecht, der Nachbar.
»Und Frank passt zu Ihnen«, sagte ich forsch. »Kurz und bündig, frank und frei.«
»Nun, Letzteres ist relativ.«
»Dann hätten wir das also auch besprochen.« Ich wunderte mich selbst über meine Keckheit.
Michaela folgte unserem Wortgeplänkel wie einem Tennismatch. Sie schien noch zu überlegen, wie sie ihn wieder loswerden könnte, besann sich dann aber auf ihre guten Manieren und stellte uns einander offiziell vor.
»Frank, das ist meine Freundin Linda Albrecht. Linda, das ist mein Nachbar Frank Hellwein. Frank und Heidrun Hellwein sind mit ihren Kindern Linda und Lena vor ein paar Monaten hier eingezogen.« Michaela stellte das Glas auf den Tisch und zeigte zum Haus. »Ich glaube, dass Linda unten bei den anderen ist.« Sie schickte sich an, in den Keller zu gehen.
»Hallo«, sagte ich freundlich und gab dem Mann an der Hecke die Hand. »Nett, Sie kennenzulernen.«
»Ganz meinerseits! Ich wusste gar nicht, dass meine Nachbarin so eine attraktive Freundin hat!«
Er hatte einen angenehmen Händedruck und schien mich gar nicht wieder loslassen zu wollen. Da standen wir, und zwischen uns war diese Blütenhecke, in der die Bienen emsig summten. War ich jetzt Dornröschen und er der Prinz? Erwachte ich gerade aus einem hundertjährigen Schlaf? Ich spürte, wie mir das Adrenalin in die Adern schoss, und eine unzweckmäßige Röte kroch mir über die Wangen. Jetzt war so ziemlich alles an mir rot: das Kleid, die Schuhe, das Gesicht. Tja. Wie nun weiter schöpferisch diesen Heckendialog gestalten?
Finden Sie mich wirklich attraktiv?, hätte ich den guten Mann gern gefragt. Wissen Sie, das ist nämlich genau das Thema, um das es gerade ging. Ich fühle mich in letzter Zeit so alt, matt und glanzlos und würde mich am liebsten zum Gerümpel in den Keller packen.
Aber das sagte ich natürlich nicht, sondern strahlte dieses Geschenk Gottes nur gewinnend an.
»Und – was machen Sie so?«
»Wie meinen Sie das?« Er runzelte fragend die Stirn.
»Wenn Sie nicht gerade Ihr Kind suchen.«
»Oh, ach so. Ich bin Banker. Bei einer Privatbank. Also, um genau zu sein, ich bin der Bankdirektor.«
»Wow. Wie ein Bankdirektor sehen Sie gar nicht aus.« Ich war wie verzaubert.
»Wie sehen Bankdirektoren denn Ihrer Meinung nach aus?«
»Na, gesetzt und bieder und mit ein paar Strähnen, die ihre Glatze verdecken sollen …« Ich rieb mir die Nase. »Irgendwie langweilig. Mit Ärmelschonern und Strickweste. Auf jeden Fall dick und alt.«
Dieses Heckengespräch machte einen Riesenspaß. Noch viel mehr als der Frauentratsch von eben.
»Linda, Linda, was haben Sie nur für ein schlechtes Bild von Bankern.«
Frank Hellwein steckte die Hände in die Hosentaschen und drehte sich einmal um sich selbst. »Da muss ich Sie eines Besseren belehren.«
»Okay, Sie machen mir Hoffnung.«
»Worauf?« Schelmisches Blitzen in seinen braunen Augen.
Wohin sollte das jetzt führen? Was machte ich eigentlich hier? Ich war eine verheiratete Frau und Mutter von drei Kindern. Um ehrlich zu sein, war ich sogar schon Großmutter einer kleinen süßen Enkelin. Aber musste ich das diesem schönen Jüngling auf die Nase binden? Ich improvisierte.
»Ich überlege gerade, ein paar Aktien zu kaufen. Ich habe nämlich BWL studiert und beschäftige mich gern mit der Börse.«
»Oh«, sagte Frank Hellwein und trat näher. »Eine schöne Frau, die auch noch klug ist. Aktien sind ein heikles Thema.« Er schwieg eine Weile und sagte dann: »Aber zufälligerweise genau mein Spezialgebiet.«
»Ich dachte an Kalgoorlie Consolidated Gold Mines«, gab ich mein gesundes Halbwissen zum Besten. »Was meinen Sie?« Ich strich mir durch die Haare und spielte kokett mit meinem Glas. Ja, da schaust du, Herr Bankdirektor! »Ist das eine gute Geldanlage?« Linda, du flirtest, schoss es mir durch den Kopf. Du FLIRTEST! Sein wann hast du nicht mehr geflirtet?
Ich konnte regelrecht zusehen, wie seine Bewunderung für mich wuchs.
»Wow, Sie scheinen ja was von der Materie zu verstehen!«
Ich hätte den Blick senken können, aber irgendetwas hielt mich davon ab.
»Ich lese regelmäßig den Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen.« Heimlich ballte ich die Siegerfaust.
»Dahinter steckt immer ein kluger Kopf«, zitierte Frank den Werbeslogan dieses Blattes. Ich stieß einen koketten Lacher aus. Genau das hatte ich von ihm hören wollen.
»Also? Was sagt der Fachmann?«
Er sah mich mit unergründlichem Blick an. »Wenn ich ehrlich bin, habe ich diese Aktie gerade nicht auf dem Schirm. Sie scheinen tiefer in der Materie zu stecken als ich!«
Es machte ihn umso sympathischer, dass er seine Wissenslücke zugab. Doch ehe ich mich versah, schob sich irgendetwas zwischen uns, und der Zauber war vorbei.
Ein Geräusch? Die blendende Abendsonne?
Frank Hellwein wandte sich abrupt um, und in diesem Moment wurde mir bewusst, dass seine Ehefrau auf die Terrasse getreten war. In Sekundenschnelle nahm ich ihre Gestalt in mir auf. Okay, sie war eher so der Typ Müslifee. Sie trug ein langes Blümchenkleid und hatte die Haare zu einem struppigen Dutt hochgesteckt. »Frank? Linda?« Jetzt war sie mit Rufen dran. »Ja, wo bleibt ihr denn?«
Sie war ziemlich blass und dünn, und ihre Füße steckten in diesen groben Clogs, die in den Siebzigerjahren mal Mode gewesen waren. Sanft schlug sie an ein Windspiel aus Bambus. »Die Sojawürstchen und der Spargel-Endivien-Salat sind fertig!«
Eine naturverbundene Biokostverzehrerin also. Wie hieß sie gleich wieder? Was hatte Michaela gesagt? Heidrun. Ja, genau so sah die aus. Wie ein leicht verwelktes Heideröslein.
»Ein Steak wär mir lieber«, raunte Frank Hellwein verschwörerisch.
»Bei mir würdest du es kriegen«, dachte ich sofort.
»Ich komme gleich«, rief Frank über die Schulter. » Michaela holt Linda gerade aus dem Tischtenniskeller!«
Das Heideröslein verschwand wieder im Haus.
Frank Hellwein seufzte laut, und ich konnte sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete.
»Also, Linda … Ich werd mich schlau machen und Ihnen ganz genau sagen, ob Sie investieren sollten.«
Bei dem Blick, mit dem er mich bedachte, wurden mir die Knie weich. Und wie meinte er das genau mit dem »investieren«? Schon in dieser Sekunde war ich bereit, sehr viel zu investieren. Und das sagte ich ihm auch. Jetzt oder nie!
»Wenn es die richtige Aktie ist, dann setze ich alles auf eine Karte.«
Wir konnten die Augen nicht voneinander lassen.
Plötzlich flog die Terrassentür hinter mir auf. Türenknallen, aufgeregte Kinderstimmen und Michaela, die ein paar soeben angekommene Mütter begrüßte und auf die Terrasse bat. Es klingelte, ein Hund bellte – und plötzlich war der magische Moment vorbei. Der Hausherr war gerade nach Hause gekommen, und wurde begeistert begrüßt. Es war, als hätten Chor und Statisten die Opernbühne gestürmt und das innige Liebesduett der zwei Solisten beendet.
»Dafür bräuchte ich allerdings Ihre Handynummer«, bemerkte Frank, ohne den Blick von mir abzuwenden.
»Haben Sie was zu schreiben?«
»Nein, die merk ich mir auch so.«
»Okay …« Hastig sah ich mich um, denn jetzt stürmten auch schon meine Sprösslinge auf mich zu. »0 69-66 67 68 69.« Ich lächelte ihn an. »Die ist leicht zu merken. Frankfurter Vorwahl, dann mein Geburtsjahr plus eins, plus eins, plus eins …
Frank kapierte sofort. Sein Blick wurde sehr privat. »Sie hören von mir, Linda. Ich melde mich, so bald ich kann.«