Hempels bedurften keiner Weckuhr, die erste Straßenbahn, die am Morgen ihren Weg gesaust kam, ließ Betten und Stühle, Tisch und Schrank tanzen und schwingen, als ob ein Zauberstab sie berührt hätte.
Die natürlichsten Mittel sind die besten. Frau Hempel erwachte davon ohne jede Vorbereitung. Sie richtete sich auf und sagte: »Der Haushahn hat gekräht.«
Mit einem langen Gähnen nahm sie Abschied von der Nacht und der Ruhe, zündete ein Licht an, schlurfte zum Fenster und öffnete die Laden. Ein grauer Schein fiel in den viereckigen Raum, in dem die Betten allen Platz beanspruchten.
Wenn die zweite Bahn mahnend an den Möbeln rüttelte, stand Frau Hempel schon im roten Unterrock da. Sie schlug ein Tuch um die Schultern, holte das große Schlüsselbund von der Wand und klapperte auf Holzpantinen hinaus.
Die schwere Haustür wurde aufgeschlossen, und einen Augenblick lang blinzelte Frau Hempel auf die Straße hinaus, die grau und leer war. Dann machte sie kehrt, um die Tore des Gartenhauses zu öffnen.
Zwischen den Steinen des schmalen Hofes lagen zwei grüne Rasenflecke, die ein Wasserbecken umkreisten, in dessen Mitte ein angeschwollener Knabe auf einem Bein stand. Er nagte an einem Fisch, aus dem er an heißen Tagen einige Wassertropfen zu blasen hatte.
Kleine Ursachen, große Wirkungen. Diese bescheidenen Gegenstände waren der geheime Grund, warum sich der steinerne Kasten hinter dem Vorderbau das Gartenhaus nennen durfte. Hier, vor den Fenstern, verlor Frau Hempel mit lautem Klack einen Holzpantoffel. Ehe sie ihn wieder auf den Fuß schob, blickte sie mit zusammengekniffenen Augen nach dem ersten Stockwerk hinauf, wo Graf von Prillberg wohnte, der gern das Fenster aufriß und »Ruhe« schrie. –
Als Frau Hempel wieder in ihre Wohnung zurückkehrte, war es im Zimmer lebendig geworden. Hempel zog sich die dicken, grauen Socken an, und hinter dem Vorhang aus grüner Wolle hörte man, wie Laura sich plätschernd wusch.
»Beeilt euch«, rief Frau Hempel und verschwand in der Küche. Das war ein kleiner Raum, immer dunkel, denn sein vergittertes Fenster versuchte vergeblich, nach dem Hof hinauszusehen. Erst als das Feuer auf dem Herd aufloderte, wurde es behaglicher hier. Die Kaffeemühle wurde mit kräftigem Arm geschwungen, und auf die Glut ein großer, brauner Topf gesetzt, der den Vorrat an Kaffee für den ganzen Tag barg und stets in der Nähe des Feuers bleiben mußte. Er durfte niemals kalt und leer werden. Er bedeutete für Frau Hempel dasselbe, was den Vestalinnen die heilige Lampe war. –
Draußen trotteten eilende Füße über den Hof, die Treppen hinauf und wieder zurück. Das Haus, im Halbschlaf, wurde mit Milch und Brot und den neuesten Nachrichten aus aller Welt versorgt.
Mürrische Dienstbotengesichter erschienen in den Türen und an den Fenstern und blickten ohne Neugierde in den neuen Tag. Man schüttelte den Staub von gestern aus und öffnete die Fenster dem Staub von heute.
Vom Pflaster stieg grollend der neue Eifer der vielen Räder auf, die wieder zur Unermüdlichkeit erwacht waren. Die Straßenbahnen warnten mit pochender Glocke, einzelne Schreie aus Autohupen antworteten. Die Milchwagen klingelten und klapperten zu dem schweren Geratter, mit denen die ersten Lastwagen den Morgen erschütterten. Die Maschine Großstadt begann einen neuen Tag in Atome zu mahlen.
Frau Hempel kehrte mit kräftigem Besenschwung den Flur aus. Jedes Dienstmädchen, das kam und an ihr vorüber mußte, begrüßte sie, um ein Weilchen bei ihr stehn zu bleiben.
Hinter dem Treppenfenster sah man Hempel auf dem Schusterbock sitzen und hämmern, neben ihm den gefälligen Gummiball, der auf einen Druck der Hand hin die schwere Haustür aufpustete.
Lächelnd arbeitete er an einem hübschen Lackschuh, denn er war ein Genußmensch und fing den Tag stets mit etwas Nettem und Neuem an. Nicht mit alten und mürben Stiefeln, die schon von tausend ruhelosen Schritten ausgetreten und geplagt waren.
Frau Hempel hatte den Hof und die Straße gefegt und kam mit vielen Neuigkeiten zurück. Bankdirektors gaben eine Gesellschaft. Zum Grafen von Prillberg hatte der Kaufmann die Rechnung gebracht, aber vergeblich. Frau Bombach, die nach zwanzigjähriger Ehe das erste Kind erwartete, hatte sehr schlecht geschlafen.
Hempel begleitete die Erzählungen seiner Frau mit ruhigen Hammerschlägen. Als sie eine Pause machte, sagte er, daß nichts so wäre, wie es sein müßte, und sie besser daran täten, an sich selbst zu denken. Besonders im jetzigen Augenblick.
Frau Hempel seufzte, holte das Staubtuch und tappelte durch den schwarzen Schlund des Korridors zur Schlafzimmertür, um nach Laura zu sehen.
Sie fand das Zimmer, das nun ein wenig mehr vom Tageslicht abbekam, sauber und nett in Ordnung. Der Vorhang war beiseite geschoben, und Laura saß auf dem Bettrand und flocht sich vor einem Handspiegel, den sie mit einem Strumpf an die Stuhllehne gebunden hatte, den zweiten ihrer nußbraunen Zöpfe. Sie sah entzückend schlank und feinknochig aus, und Frau Hempel mußte wieder einmal denken, daß sie in schönen Kleidern feiner als eine Prinzessin aussehen würde.
Von dem Augenblicke an, wo Frau Hempel das zierliche Wesen zum erstenmal im Arm gehalten hatte, war es ihr klar gewesen, daß es das Mädchen einmal besser haben sollte als sie. Wäre es ein Junge geworden, hätte er etwas wie Bismarck oder Zeppelin werden müssen. Aber auch ein Mädchen konnte Glück haben. Sie hatte ihr darum, einen besonders schönen und klangvollen Namen geben wollen. Liselotte sollte sie heißen oder Bianka-Maria. Aber Hempel hatte gemeint, daß das Namen für Rennpferde wären und nicht für ein anständiges Mädchen. In den ersten Ehejahren wurde sein Wille durchaus anerkannt. So wurde Laura nach ihres Vaters Mutter benannt, die bis in das höchste Alter hinein eine vielgesuchte Kochfrau in den besten Familien gewesen war. –
Jetzt hatte Laura ihre Frisur beendet. Sie sprang vom Bett herunter und holte sich ihre Stiefelchen. Über die schwarzen Wollstrümpfe, ein Werk der Mutter, zog sie hohe Knopfstiefel, deren feines Leder mit hellrosa Seide gefüttert war. Es waren Stiefel, wie sie nur eine Prinzessin oder eine Schustertochter tragen konnte.
Als Laura das Kleid übergezogen hatte, ging sie zur Tür. Hier drehte sie sich noch einmal um, nickte der Mutter, die schweigend mit dem Staublappen über die Möbel fuhr, lächelnd zu und sagte: »Ich bin neugierig, was werden wird.« Und ehe sie Antwort hätte bekommen können, war sie hinaus.
Hempels lebten nämlich in den Tagen eines großen Entschlusses.
Lauras Zukunft, die seit sechzehn Jahren unbestimmt golden in der Ferne geflimmert hatte, stand plötzlich vor ihnen, und wie alle Dinge, die wir dicht vor Augen haben, ohne jeden besonderen Glanz.
Es war ein Jahr her, seit das Mädchen eingesegnet worden war. In wenigen Tagen sollte sie auch die Wirtschaftsschule verlassen, wo sie auf Fürsprache der Frau Bankdirektor einen Freiplatz erhalten hatte.
Nun mußte ein Beruf für sie gefunden werden. Frau Hempel hätte ihr Mädchen gern im Haus behalten, aber Hempel wollte es nicht dulden.
»Dazu haben wir kein Geld. Wer faulenzen will, muß einige Stockwerke höher zur Welt kommen«, sagte er und zeigte mit dem Schusterpfriemen zur Decke, wo die Melodien der neuesten Operetten herumhüpften, die Bankdirektors junge Tochter den Tasten und Pedalen mit unerschrockener Mühe abtrotzte.
Bei solchen Worten lächelte Frau Hempel. Heimlich und verschwiegen.
Man kennt sich noch nicht, weil man miteinander verwandt ist.
Sie spielte ein ganzes Viertellos in der Klassenlotterie und konnte jeden Tag Millionärin werden; Aber nicht das allein. Im untersten Schub der Kommode, da, wo das dunkle Schlafzimmer am dunkelsten war, lagen auf Lauras Namen drei Sparkassenbücher, in denen es von Ziffern und Nullen wimmelte. Sie wußten, warum Frau Hempel immer freundlich, hilfreich und geduldig gegen alle Hausbewohner war, von denen auch nur der geringste Vorteil zu hoffen war. Wo jemand erkrankte, da sprang Frau Hempel ein, bei jeder Wäsche half sie, bei jeder Festlichkeit, bei jedem Unglück. Sie schleppte Kohlen für die feinen Köchinnen, sie seifte und scheuerte, sie putzte und nähte, flickte und fegte. Niemand verstand wie sie, eine solche Fülle von Glück zu Neujahr und andern Festen zu wünschen. Noblesse oblige. Das Trinkgeld mußte sich halbwegs dem Reichtum der guten Wünsche anpassen.
Wenn Frau Hempel beim Ausbessern von Wäsche und Kleidern half, hatte sie eine herzgewinnende Art, die Damen davon zu überzeugen, daß dieses und jenes Stück nicht mehr für sie tauge. Welcher feine Mensch will mit Flicken gehn? Höchstens für sie war so etwas noch gut.
Abends aber bei der Lampe, wenn das Haus geschlossen war und Laura schlief, verstanden die derben Hände aus diesen Lappen von Seidenbatist und Spitzen die zierlichsten Wäschestücke zu fertigen. –
So stand es im geheimen um Laura. Wo aber war der Weg zum Glück?
Wäre man der Familienüberlieferung gefolgt, hätte Laura Dienstmädchen werden müssen. Das war ihre Mutter gewesen, und ihre beiden Großmütter auch, und alle kamen sie zu braven Männern.
Hempel sagte: »Schuster bleib bei deinen Leisten.«
Aber seine Lebensgefährtin zuckte die Achseln über solche altmodischen Redensarten. Sie sagte: wer heute oben ist, kann morgen unten sein, und ebenso umgekehrt. Sie wollte nicht alle zählen, die nur in die Volksschule gegangen wären und heute auf Millionen säßen, und sie fügte hinzu, daß man noch nicht weniger sei als die anderen, weil, man nicht Geld genug habe, um sich dreimal am Tage den Magen verderben zu können.
Darin gab ihr Hempel vollkommen recht.
»Am Ende läuft jeder die Stiefel schief«, sagte er.
Aber auch solche Reden führten nicht zum Ziel.
Schließlich hatte man Laura selbst gefragt, was sie werden wolle. Ohne Zögern antwortete sie, daß sie bei einer feinen Putzmacherin die schönen Hüte austragen möchte, in großen und glänzenden Schachteln.
»Da kann ich immer hübsch angezogen sein«, sagte sie fröhlich, »und wenn ich viel Stiefelchen verlauf, macht mir der Vater neue, so viel ich will.«
»Einen Beruf, der auf der Straße vor sich geht, den dulde ich nicht«, knurrte Hempel und schlug einen Nagel so gründlich durch die Sohle, daß dem Hauswirt, dem Besitzer des Stiefels, der ganze Nachmittag verdorben wurde.
»Wie kommst du zu solchen Wünschen«, rief Frau Hempel.
Aber nicht jede Frage bekommt ihre Antwort.
Laura sah mit den großen blanken Augen weit über die Eltern hinweg. Ihre Blicke zwängten sich durch das niedrige Fensterviereck auf die Straße, wo man nur Stiefel sehen konnte, die über das Pflaster liefen. Sie dachte an ein Bild, das bei Bankdirektors im Flur hing: im Gewühl der Straße grüßte ein schneidiger Leutnant ein reizendes Putzmachermädchen.
So vergingen die Tage, ohne daß ein Entschluß gefaßt wurde; denn viel Zeit zum Grübeln gab es nicht. Auch jetzt mußte Frau Hempel sich beeilen. Man erwartete sie schon bei Bombachs, wo sie beim Umräumen der Wohnung helfen sollte. Aber auch der Köchin von Bankdirektors hatte sie versprochen, die zwanzig Pfund Preiselbeeren auszulesen, die eingemacht werden sollten.
Eilig setzte sie ein Stück Suppenfleisch aufs Feuer, das schon eine Abschlagzahlung der Köchin für die heutige Hilfeleistung war. Neben den Suppentopf rückte die Kaffeekanne, eine frische Schürze schnellte um den runden Leib, und schon klapperte Frau Hempel die Hintertreppe hinauf zum Hauswirt.
In der Bombachschen Wohnung, wo jetzt für ein Kinderbett Raum geschaffen werden sollte, hatte jedes Stück seinen bestimmten Platz, unverrückbar und genau wie die Dinge der Weltordnung.
Eine feierliche Stille herrschte hier zu allen Stunden. Die Klingeln waren durch Flanellbinden gedämpft, kein Fernsprecher bellte von der Wand. Herr und Frau Bombach liebten nicht zu schwatzen, und keinesfalls mit Leuten, die sie nicht vor Augen hatten.
Als Frau Hempel jetzt klingelte, um mit ihren kräftigen Armen in die feste Ordnung der Wohnung zu greifen, rüstete sich Herr Bombach eilig zum Gehen. Ihn graute vor Gerumpel und Gepolter, diesen fürchterlichen Geräuschen des Unfriedens und Unglücks. Er schärfte dem Dienstmädchen und Frau Hempel ein, daß sie jede halbe Stunde nachfragen sollten, ob die gnädige Frau etwas wünsche; dann eilte er hinaus. Herr Bombach war jetzt sehr nervös.
Als die erste halbe Stunde vorüber war, trabte Frau Hempel den Korridor entlang, klopfte an die Wohnzimmertür und trat auf Zehenspitzen ein.
Die gnädige Frau lag auf dem Sofa und sagte, daß sie nichts wünsche und wohl bald überhaupt nichts mehr brauchen werde auf dieser Erde.
Frau Hempel betrachtete das neue Silbertablett, auf dem eine Tasse Bouillon stand, und dachte: so sollte es Laura einmal haben. Dann sagte sie: »Immer mutig, gnädige Frau«, und ging wieder hinaus.
Als Herrn Bombachs Bett in der Schrankstube stand und die weiße Wiege das Schlafzimmer noch freundlicher machte, kam Herr Bombach zurück und starrte mit entsetzten Augen auf diese rücksichtslose Umwälzung in Räumen, die zwanzig Jahre lang ihre Ordnung bewahrt hatten.
Frau Hempel meinte, daß sich Herr Bombach noch über manches wundern werde; und als der Hausherr auf ihre Frage, ob sie noch mehr umzuräumen habe, nur stumm und entsetzt abwinkte, beeilte sie sich davonzukommen.
Wer unter Menschen geht, erfährt etwas. –
Während Frau Hempels kräftige Hände in den roten Beeren wühlten, erzählte ihr die Köchin, die eine Gans rupfte, von einer Wahrsagerin, die ihr für fünf Mark ein langes Leben mit einer Menge Glück und Segen prophezeit hätte.
Frau Hempel hätte gern noch mehr davon gehört, aber man klopfte an die Küchentür und rief nach der Portiersfrau.
Es war Graf von Prillberg aus dem Gartenhaus.
»Kommen Sie rasch, Frau Hempel, es tropft bei uns«, schrie er und rannte auf seinen grünen Filzschuhen voran.
Frau Hempel folgte ihm langsam.
Die Decke des gräflichen Wohnzimmers war feucht, und dann und wann löste sich ein Tropfen davon.
Frau Hempel zog ihren Adamsapfel so weit in die Höhe, als es ging, und sagte dann ruhig:
»Das muß Wasser sein.«
»Das muß nicht Wasser sein, aber das ist es leider«, schrie der Graf. »Ich zahle doch nicht meine teure Miete, um wie ein Frosch unter Wasser zu sitzen.«
»Teilen Sie das Herrn Bombach mit«, sagte Frau Hempel und ging.
Sie war ärgerlich. Nun mußte sie bis zur Straßenecke laufen und in der Speisewirtschaft mit dem Klempner telefonieren. Eine Mühe, ohne besonderen Lohn.
Als sie an ihrer Wohnung vorbeikam, steckte sie den Kopf zum Fenster hinein und rief, daß beim Grafen ein Rohr geplatzt sei und sie den Klempner bestellen gehe.
Hempel erwiderte, daß alles einmal platzen müsse, und klopfte weiter.
Frau Hempel seufzte hörbar, schlug das Fenster zu und verließ das Haus. –
Die kleine Speisewirtschaft an der Straßenecke gehörte Kempkes, die seit sechzehn Jahren treue Nachbarschaft mit Hempels hielten. Aber seit einiger Zeit zog sich Frau Hempel von diesem Verkehr zurück. Kempkes Ältester hatte schon zweimal für Laura eine Flasche Himbeersaft gebracht, an die eine Rose gebunden war. Der Saft war gut und brauchbar gewesen, aber Fritz Kempke war kein Verehrer für Laura. Alles, was mit Alkohol zu tun hatte, war vom Übel.
Als Frau Hempel den Schenkladen betrat, war zu ihrem Ärger nur dieser junge Mann anwesend, der sie sofort begrüßte und ihr den Weg zum Fernsprecher bahnte, wobei er sich nach Laura erkundigte und Grüße für sie auftrug.
»Ich spreche für Bombachs und nicht für uns«, sagte Frau Hempel ablehnend und ärgerte sich über eine große Krawatte aus roter Seide, die sicherlich Lauras Bewunderung erwecken sollte.
Als Frau Hempel wieder nach Hause kam, war auch Laura zurückgekehrt. Sie hatte schon den Tisch gedeckt, des Vaters Werkstatt ausgefegt und siebte nun die Suppe durch.
Frau Hempel rührte noch eine kräftige Senfsauce an, und bald saßen sie um den Tisch. Die Gabeln und Messer klapperten und die Backen kauten. Essen war eine Beschäftigung, bei der man nicht sprach.
Nur Laura sagte, wobei sie den Kopf zur Seite neigte: »Wenn ich Luftschifferin werden könnte. Da fliegt man über die ganze Welt und kann die vornehmsten Bekanntschaften machen.«
»Das ist mir zu hoch«, antwortete Frau Hempel kurz und bündig.
Hier wurde das Mittagsmahl unterbrochen. Die Klempner waren gekommen und wollten wissen, wo sie arbeiten sollten.
Diese Störung kam Frau Hempel nicht ungelegen. Sie wünschte heute nicht mehr von Lauras Zukunft zu sprechen. Als sie die Senfsauce rührte, war ihr ein Gedanke gekommen. Sie wollte ebenfalls die Wahrsagerin aufsuchen.
Der eine hat das gelernt, der andere jenes. Vielleicht wußte eine solche Frau wirklich ein wenig früher als die andern, was geschehen würde. Wenn man das heraus hätte, müßte es leicht sein, das Rechte zu finden. Jedenfalls konnte man es versuchen.
In der Dämmerstunde, wo alle Dinge ihre Wirklichkeit verlieren, fand Frau Hempel endlich Zeit, ihren Plan auszuführen.
Sie hätte gern ihre Sonntagskleider angezogen. Einer gut gekleideten Dame wird niemand eine ordinäre Zukunft anzubieten wagen. Aber dann hätte Hempel sicherlich gefragt, wo hinaus sie am Werktag mit so feinen Kleidern wolle, und so ging sie im Umschlagtuch, aber aufs sauberste frisiert und gewaschen.
Die weit sehende Frau wohnte in einem Hause, in dem Frau Hempel nicht für tausend Mark im Jahr hätte Portiersfrau sein mögen. Schmutzige Kinder und Obstreste im Flur, und auf den Treppen und überall ein Dunst, als gäbe es draußen keine frische Luft und hier keine Fenster, um sie hereinzulassen.
Mit gerümpfter Nase stieg Frau Hempel die vier steilen Treppen hinauf und klingelte.
Eine Frau, von dem gleichen breiten Format wie sie selbst, öffnete die Tür.
Alles schien sie nicht im voraus zu wissen, denn sie fragte mürrisch, was Frau Hempel von ihr wolle.
Frau Hempel sagte mit kräftiger Stimme, ob hier nicht geweissagt würde, und nun ließ die andere sie rasch herein.
Sie betrat ein niedriges Zimmer, in dem eine Petroleumlampe brannte und wo es stark nach gekochtem Kohl roch.
Frau Hempel dachte, es sei wohl kein Kunststück, der Frau hier wahrzusagen, daß sie zu Mittag Wirsingkohl gegessen hätte. Aber rückwärts zu sehen war einfacher als weit voraus.
Die Frau saß jetzt am Tisch, wo sie ein schwarzes Tuch ausgebreitet hatte. Vor ihr lag ein dickes Buch.
Frau Hempel, die ihr gegenüber Platz nehmen mußte, hielt es zuerst für eine Bibel, aber dann buchstabierte sie heraus, daß es ein altes Adreßbuch war. Als die Frau ihre Blicke bemerkte, drehte sie das Buch um.
Guter Rat ist teuer.
»Legen Sie ein Zwanzigmarkstück auf den Tisch«, sagte die Frau ernst und schwer.
»Fällt mir nicht ein«, wehrte sich Frau Hempel. »Mehr als fünf Mark wende ich nicht an.«
»Aus Gold wird Gold, aus Silber – Silber«, drohte die Wahrsagerin und sah zornig auf das große Silberstück.
Sie wartete eine Weile.
Als ihr Besuch keine Miene machte, das Portemonnaie wieder zu öffnen, steckte sie einen Zeigefinger in das Adreßbuch, legte die andere der abgehärteten Hände, deren Nägel schwarz umrändert waren, vor das aufgeschwemmte Gesicht und murmelte:
»Sie sind sparsam, Sie arbeiten. Geld wird zu Geld kommen. Sie werden Freude haben und Verdruß und wieder Arbeit haben und wieder Freude.«
»Das ist schon alles dagewesen. Das weiß ich selbst«, unterbrach Frau Hempel sie ärgerlich. »Ich will Neues erfahren, und nicht von mir, sondern von meiner Tochter. Ich denke, Sie wissen alles.«
»Für fünf Mark«, sagte die Frau gehässig. »Aber meinetwegen.«
Sie holte ein klebriges Spiel Karten, dessen fettige Blätter sich nur unwillig und schwer voneinander trennten.
Dann murmelte sie, aufs neue:
»Jugend will Liebe. Liebe bringt Glück oder Unglück, oder beides. Geld bringt Ehre. Geld wärmt kein Herz. Ein langes Leben. Drei Männer begrabend. Zwanzig Kinder hinterlassend.«
»Nun ist's aber genug«, rief Frau Hempel, die bis jetzt gespannt und mit Herzklopfen zugehört hatte.
»Hören Sie auf mit Ihrem Hokuspokus. Ich verbitte mir Ihre zwanzig Enkel. Da ist kein wahres Wort daran.«
Sie hatte ihr Umschlagtuch umgenommen und rannte wütend zur Tür.
»Wenn Sie alles besser wissen, hätten Sie nicht herkommen sollen«, sagte die andere höhnisch. Einen gefährlichen Augenblick lang sahen sich die beiden kräftigen Frauen starr in die Augen. Die derben Fäuste waren geballt. Aber dann lösten sich ihre Blicke, und Frau Hempel schlug die Tür hinter sich zu.
Sie eilte durch die abendlichen Straßen, in denen die Leute vorwärtsjagten, als ob sie vor einem Feuer flüchteten. Sie liefen dem Tagewerk davon, das abgetan war. Sie wollten zur Ruhe oder zum Vergnügen kommen.
Frau Hempel nahm im Eckladen ein Stück Wurst und eine Flasche Bier mit und war wieder zu Hause. Ihr war ganz elend zu Mut. Das Weib hatte natürlich gelogen. Wenn es nun aber nicht gelogen hatte? Zwanzig Kinder? Verstohlen betrachtete sie das schlanke Laurachen, das fröhlich lächelte. Was konnte dem Kinde alles bevorstehen?
Es war gut, daß Laura jetzt nicht um die Stelle bei der Putzmacherin schmeichelte. Viel hätte ihr die Mutter heute nicht abschlagen können.
Alles muß vorwärts auf dieser drehbaren Erde. Wenn wir nicht selbst bestimmen, dann werden wir bestimmt.
Noch ehe Laura die Wirtschaftsschule verlassen mußte, hatte sie eine neue Stelle gefunden, an die niemand zuvor gedacht hatte.
Aus Zufall oder auch nicht aus Zufall.
Der Sonntagmorgen hatte in das neue Kinderbett einen kleinen Bombach gelegt. Alles war gut gegangen. Frau Minchen Bombach schlief zufrieden und lächelnd, wie man schläft, wenn man ein großes Werk verrichtet hat. Und der Neuling atmete so ruhig, wie man atmet, wenn man noch nichts vom Leben weiß.
Nur Herr Bombach, der Vater, war noch vollständig fassungslos.
Denn beinahe hätte er sein Minchen umgebracht. Und was wäre dann aus ihm geworden? Er brauchte Minchen zum Leben, er hatte sie nötig, wie man die Sonne braucht und die frischen Morgensemmeln und den guten Kaffee.
Als es Zeit war, den Arzt und sonst jemand zu holen, war er auf die Straße gestürzt, hatte ein Automobil angerufen und war hineingestolpert. Der Chauffeur wollte fragen, wohin die Fahrt gehen solle, aber Herr Bombach, rasend über diese Verzögerung, hatte geschrien:
»Loskurbeln, los, fahren!«
Ein Großstadtfahrer, der Nachtdroschken fährt, wundert sich über nichts.
Er kurbelte an und fuhr los.
In den Straßen des Westens sauste er in wilder Jagd. Im Mittelpunkt der Stadt, wo zwischen den elektrischen Bogenlampen alle die vielen umherschwärmen, die Angst haben, zu Bett zu gehen, verlangsamte sich die Fahrt ein wenig, aber immerhin ging es rascher als je am Tage, denn alle Lastpferde schliefen. Als der Chauffeur beinahe die ganze Stadt durchstöbert hatte, hielt er endlich an, um nach dem Trunkenbold in seinem Wagen zu sehen. Er kletterte vom Bock und öffnete die Wagentür.
»Also wo wollen Sie hin?« sagte er barsch.
Herr Bombach fuhr entsetzt empor.
»Sind wir endlich da?« schrie er.
»Da sind wir und hier sind wir, aber ob wir da sind, wo Sie hinwollen, weiß ich nicht; denn das haben Sie mir noch nicht mitgeteilt«, sagte der Chauffeur. Er grinste; denn er bemerkte jetzt, daß sein Fahrgast Kragen und Krawatte vergessen hatte. Dem haben sie gut mitgespielt, dachte er.
»Hab' ich Ihnen die Adresse nicht gesagt«, schrie Herr Bombach angstvoll. »Zwei Adressen sind es. Allmächtiger Gott, ich weiß sie nicht mehr. Seit Monaten hab' ich nichts anderes im Kopf. Zwei Adressen sind es. Allmächtiger Gott, ich weiß sie nicht mehr.«
»Besinnen Sie sich«,sagte der Chauffeur ungeduldig. »Was wollen Sie mit zwei Adressen? Eine wird auch ausreichen.«
Er wartete einen Augenblick, aber Herr Bombach stöhnte nur.
»Also los, Mensch, wo wohnen Sie? Ich fahre Sie sonst einfach nach der Charité«, rief er jetzt wütend.
»Sie haben mich nicht Mensch zu nennen. Ich bin kein Mensch«, schrie Herr Bombach. »Für Sie bin ich der Herr Hausbesitzer Bombach.« Und er schrie Straße und Hausnummer dem Mann ins Gesicht.
»Na Gott sei Dank«, sagte der Chauffeur besänftigt und stieg gemütlich auf den Bock. Das Automobil ratterte los. –
In der Bombachschen Wohnung waltete Frau Hempel. Sie braute Kamillentee und Zitronenlimonade und sagte mit der Regelmäßigkeit eines Metronoms: »Geduld, gnädige Frau.« Als die Zeit verging, ohne daß Herr Bombach oder die medizinischen Hilfskräfte erschienen, ging sie entschlossen hinunter, weckte Kempkes und telefonierte. Die Adressen waren ihr bekannt. Sie lagen seit Wochen auf dem Schreibtisch, den Nachttischen, auf dem Büfett und im Küchenschrank, um im gegebenen Augenblick greifbar da zu sein.
Als Herr Bombach atemlos die Treppe heraufgestürzt kam, war alles in bester Ordnung.
»Die Verzögerung wird sie töten«, ächzte er und brach in Tränen aus, als er hörte, daß alles gut gehe und Arzt und Frau im Hause waren.
Aber, als ob das Unglück hinter ihm herjagte, klopfte es jetzt draußen derb gegen die Eingangstür.
Frau Hempel öffnete eilig.
Der Chauffeur stand draußen und sagte wütend:
»Wohnt hier der besoffene Kerl, den ich gefahren habe? Ich will mein Geld.«
»Der Herr hier trinkt keinen Alkohol, aber vielleicht ist er Auto gefahren«, meinte Frau Hempel und ließ ihn warten.
Im gleichen Augenblick, als sie Herrn Bombach fragte, ob er Auto gefahren sei, ohne es zu bezahlen, öffnete sich die andere Tür des Zimmers. Der Arzt kam herein und sagte: »Ich gratuliere Ihnen, Herr Bombach. Ein reizender Junge ist da.«
Herr Bombach taumelte von einem zum anderen, drückte alle Hände hintereinander und stolperte dann zum Chauffeur hinaus, der aufs neue gegen die Tür hämmerte.
»Ein Junge ist es, ein reizender Junge«, sagte Herr Bombach schwankend und lachend und gab dem Mann ein Zwanzigmarkstück. Dieser sah auf das Goldstück, lächelte und sagte nachsichtig:
»Na, legen Sie sich nur hin und schlafen Sie sich aus. Das kann schließlich jedem mal passieren.« –
Es war jetzt Zeit, dem Sonntag Haus und Türen zu öffnen, und Frau Hempel verließ die Bombachsche Wohnung, um an die gewohnte Arbeit zu gehen. Etwas müde und abgespannt, aber doch mit kräftigem Schritt.
Herr Bombach rannte durch die Wohnung, holte Tücher und Lappen und umwickelte alle Klingeln doppelt und dreifach, aber auch als das besorgt war, jagte er weiter ruhelos umher, so daß der Herr Bankdirektor aus seinem Morgenschlaf gestört wurde und schlaftrunken murmelte, daß man sich wirklich beim Hauswirt über die Sonntagsstörung beschweren müßte, wenn sie nicht gerade von diesem selbst verübt würde. –
*
Es war Nachmittag geworden.
Hempels saßen beim Sonntagskaffee, zu dem Frau Hempel einen besonders großen und schweren Napfkuchen gespendet hatte. Man muß die Feste feiern, wie sie fallen. Sie wußte, daß die nächste Zeit einbringlich sein werde, und sie war voller Anerkennung für den kleinen Bombach. Auch sie nannte ihn einen ganz reizenden Jungen.
Ehe sie ausgetrunken hatten, klopfte es gegen die Scheiben, und Herrn Bombachs Gesicht, blaß und aufgeschwollen vor Übermüdung, wurde sichtbar.
»Ich muß Sie sprechen, Frau Hempel«, rief er und trommelte ungeduldig gegen das Fenster.
»Sofort«, erwiderte sie, setzte rasch den Kaffeetopf aufs Feuer zurück und kam heraus.
»Entschuldigen Sie, daß ich Sie nicht näher bitte«, sagte sie mit breitem Lächeln. »Aber Sie wissen am besten, daß dem lieben Herrgott unsere gute Stube nicht recht geraten ist.« Sie dachte, daß es ganz gut wäre, wieder einmal den Hauswirt an ihre schlechte Wohnung zu erinnern.
»Schon gut, schon gut. Kommen Sie nur«, sagte Herr Bombach ungeduldig. Er hatte weder für feine, noch für grobe Anspielungen der Sprache Gehör und stürzte schon wieder die Treppen aufwärts.
Frau Hempel mußte auf einem der Lederstühle im Wohnzimmer Platz nehmen, was sie ein wenig genierte. Herr Bombach lief um sie herum und durchs Zimmer, als ob er von Zahnschmerz oder Leibweh getrieben würde.
Dem bekommt der Junge nicht, dachte Frau Hempel, die ihm mit ruhigen Augen folgte, und unwillkürlich schüttelte sie den Kopf.
»Schütteln Sie nicht mit dem Kopfe, ehe Sie wissen, um was es sich handelt«, schrie Herr Bombach heftig. »Also die Sache ist die. Der Arzt sagt, daß ich eine zuverlässige Person für meinen Sohn brauche.«
Er hatte zum erstenmal »mein Sohn« gesagt und machte daher eine Pause. Wie in jungen Jahren fuhr er sich mehrmals rasch über den Kopf, wo bis vor einem Jahrzehnt eine kräftige Haartolle saß.
»Es muß eine freundliche, sehr saubere, brave Person sein, die das Kind besorgen und ihm Milch geben kann« das heißt, verstehen Sie, natürlich aus der Flasche.«
»Ich versteh' schon«, sagte Frau Hempel vorsichtig, »aber ich, Herr Bombach, kann wirklich nicht.«
»Sie?« rief der neue Vater empört. »Ihr kleiner Finger könnte das Kind erdrücken.« – Zornig maß er die breite, volle Gestalt auf dem Stuhl.
Frau Hempel wollte sich beleidigt erheben. Aber schon sprach der aufgeregte Herr Bombach weiter:
»Sie sind die bravste Frau der Welt, aber für so etwas nicht mehr geeignet. Ich denke an Ihr Laurachen, das fein und wohlerzogen ist, deren Wandel wir von klein auf kennen, und die uns für diesen Zweck wie geschaffen erscheint.« –
Die meisten Menschen reden zu viel. Sie vergessen, daß es beim Sprechen nicht auf die Masse ankommt. Die richtige Wahl der Worte ist alles.
Mit den Ausdrücken »fein und wohlerzogen« hatte Herr Bombach gesiegt. Alles Vergangene war vergessen. Frau Hempel wurde es sich gar nicht bewußt, daß es sich hier um eine Dienstbotenstelle handelte. Sie sah sich plötzlich von der Sorge um Lauras nächste Zukunft befreit und wurde freudig erregt. Besonders als Herr Bombach mit Stolz hinzufügte, daß Laura bezahlt werden würde, als ob sie einen Prinzen pflegte, denn so sollte es der junge Bombach auch haben.
Frau Hempel sah im Geist ein viertes Sparkassenbuch auf Lauras Namen im Schub liegen. Es war ihr, als kämen von allen Seiten Berge von Gold auf sie ein, um sie zu erdrücken.
»Jetzt merke ich die durchwachte Nacht, mir ist schwindlig«, sagte sie und versprach alles mit Hempel zu überlegen. Ihm ging es nicht anders als seiner Frau. Im geheimen war er froh, daß das Mädchen wenigstens unter demselben Dach blieb.
So kam Laura zu Bombachs.
Am nächsten Morgen stieg sie um zwei Etagen höher. Mit dem glücklichen Gleichmut, womit wir in der Jugend alles beginnen.
Frau Hempel hatte einen Griff in die geheimen Kästen getan und das Mädchen mit zierlichen Schürzen und neuen Blusen versehen.
Trotzdem war der Beginn ihrer Tätigkeit nicht leicht.
Während Frau Bombach noch schonungsbedürftig war, kümmerte sich Herr Bombach um den Haushalt.
Aber wenn man sich auch den ganzen Weltenhaushalt von einem Mann geführt denkt, ist doch kein irdischer Mann als Hausfrau brauchbar.
Als Herr Bombach bemerkte, daß Laura die Milch für den Säugling mit Wasser mischte, geriet er in gräßliche Wut. Er wollte nicht glauben, daß dies eine Vorschrift seines gut bezahlten Hausarztes sei. Sein Kind, dem man täglich eine ganze Kuh kaufen könnte, hatte nicht nötig, sich mit verwässerter Milch zu begnügen.
Am Abend schlich er herbei, als Laura neben dem Bett des schlafenden Kindes nähte. Er stürzte auf sie zu und nahm ihr die Schere fort. »Messer, Schere, Feuer, Licht, sind für kleine Kinder nicht«, sagte er heftig.
Und so sollte noch manches Wunderliche geschehen.
Indessen saßen sich die Eltern im Keller schweigsam gegenüber.
»Ich weiß nicht«, sagte Hempel, »ich habe heute keinen rechten Hunger.«
Frau Hempel räumte ohne Widerspruch die Teller ab und murmelte: »Das macht wohl das Ungewohnte.«
Als sie schlafen gegangen waren, stand Frau Hempel noch einmal auf und zog den grünen Vorhang vor Lauras Bett kräftig beiseite.
»Man meint immer, das Mädchen atmen zu hören«, sagte sie. »Besser, man sieht, daß sie nicht da ist.«
Laura lag zwischen gutem Linnen, hörte auf das Pusten des schlafenden Säuglings und dachte an die bunten Dinge des Lebens. An Liebe, an Ehe und zwischendurch auch an die Eltern.
Gähnend dachte sie darüber nach, warum sich die Menschen so froh stellten, wenn sie ein Kind bekamen. Es trinkt, es schläft, man wickelt es ein, man wickelt es aus und wickelt es wieder ein. Das ist alles.
Vom Küchenfenster und auch von Lauras Zimmer aus konnte man die Wohnung des nervösen Grafen von Prillberg vollkommen überblicken. Jeden Morgen sah Laura, wie der Graf sich in großer Erregung rasierte, wobei er sich mit der linken Hand an der Nase herumführte und sich einseifte. Nach dem Frühstück bürstete er sorgfältig den Zylinderhut und den Überzieher und rannte über den Gartenhof davon, um nun den ganzen Tag über in der Stadt zu bleiben.
Er war Sektagent und pries den feinen Leuten, die zahlen konnten, den Sekt seiner Firma in ihren guten Stuben an. Im Namen liegt eine hohe Bedeutung. Es gab wenig Familien, wo ein Graf von Prillberg nicht gleich in den Salon geführt wurde.
Während der Graf auf diesen Wegen war, besorgte seine Gattin den bescheidenen Haushalt. Erst mittags wurde sie Gräfin. Laura sah, wie sie dann den Zopf aus der Schublade nahm, ihn vorsichtig auskämmte, wieder flocht und sich sorgsam zu frisieren begann. Wenn der Zopf als Kranz auf dem Kopfe lag, zog die Gräfin das schwarze Kleid an und befestigte darauf das Spitzenjabot mit der großen Brosche, die eine dicke goldene Krone darstellte. Dann setzte sie sich ans Fenster und nähte und flickte an alten Wäschestücken, von denen jedes mit einer Krone versehen war.
Alles geschah mit einem tief betrübten Gesicht.
Denn die Gräfin fühlte sich sehr unglücklich, und ihr einziges Vergnügen war, sich über ihr Schicksal beklagen zu dürfen.
Das wußte Laura aus den vielen Plauderstündchen, die zwischen der Mutter und der Gräfin stattgefunden hatten. Sie wußte genau über sie Bescheid. Die Gräfin war aus sehr vornehmem Hause und Gesellschafterin bei einer alten, ungeheuer reichen Dame gewesen. Sie hatte weite Reisen gemacht und beinahe die ganze Welt aus den Fenstern der teuersten Hotels gesehen. Sie hatte nichts anderes am Körper gekannt als Seide, bis sie den Grafen geheiratet hatte, weil sie in dem falschen Glauben gewesen war, daß ein Mensch dasselbe sei wie sein Name. Niemand hätte ihr voraussagen können, daß sie einmal in einem Hinterhause leben sollte.
An alles das dachte Laura, wenn sie mit zufriedener Zuschauermiene den wechselnden Szenen dort unten folgte, bis der kleine oder große Bombach sie heftig zu ihrer Pflicht zurückriefen. Oft schrien beide zugleich. Ohne Zögern griff Laura dann zum Säugling und nahm ihn singend und lächelnd in den Arm. Die Natur der Mutter sprach aus ihr, die auch niemals von zwei Übeln das größere gewählt hätte.
Doch es kamen Tage, wo Laura keine Muße fand, um über den Trübsinn einer Gräfin nachzusinnen. Ein prächtiges Tauffest wurde vorbereitet. Alles, was man an Silber und Kristall und an Porzellan von früheren Freunden hatte, wurde wieder hervorgeholt, um prunken zu helfen. Es gab viel Arbeit, beständige Aufregung und Unruhe, bis der feierliche Augenblick vorüber war, wo der kleine Bombach den Namen Hans Friedrich erhalten hatte und in festem Schlaf der christlichen Gemeinde beigetreten war. Dann gab es wieder ein emsiges Räumen, Polieren, Putzen und Scheuern, bis die Bombachsche Wohnung endlich in gewohnte Bombachsche Ordnung und Sauberkeit zurückfiel.
Da war Laura schon über einen Monat auf ihrem Posten. Der Herbst war vorbei, und der erste Schnee tanzte im weißen Wirbel nieder, um von kratzenden Harken und scharrenden Schippen wenig sanft empfangen zu werden.
Frau Hempel fegte und schaufelte mit kräftigen Bewegungen ihr Stück Großstadt von diesem unerwünschten Verkehrshindernis frei. Ihre Hände und Wangen waren blaurot vor Kälte, aber angenehme Gedanken wärmten sie. Sie dachte an das vierte Sparkassenbuch, das ihr ein neuer Beweis dafür war, wie rasch aus einstelligen Zahlen mehrstellige werden können, wenn man sie häufig genug verdoppelt.
Frau Kempke kam aus ihrer Schankwirtschaft und streute aus ihrer Schürze Sand auf die glatten Stufen, die zum Laden führten. Beide Frauen riefen sich durch das Flockengewirbel einen vergnügten Gruß zu. Auch Frau Kempke schien gut gelaunt. Das war das richtige Wetter für Schnaps und wärmende Schlucke.
Als Frau Hempels Arbeit zum großen Teil getan war, kam das Zimmermädchen von Bankdirektors aus dem Haus. Mit hochgerafftem Rock trippelte sie über das gefrorene Pflaster auf Frau Hempel zu und sagte:
»Ich muß so rasch als ich kann in die Apotheke rennen.«
Damit blieb sie stehen und sah mit Wohlgefallen zu, wie die Straßenkehrer den angehäuften Schnee auf die Wagen schaufelten.
»Wer ist denn krank?« fragte Frau Hempel, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen.
»Alle«, sagte das Mädchen. »Es gab einen Teufelskrach.«
Frau Hempel richtete sich auf.
»Warum denn?«
»Irgend jemand hat unser Fräulein mit ihrem Leutnant in einer Konditorei erwischt. Als sie aus der Klavierstunde kam, haben sie sie in den Salon gerufen. Ihn oder keinen, hat sie geschrien. Heiraten aus Verliebtheit bringt kein Glück, rief der Direktor. Soll man sich aus Haß heiraten? schrie die gnädige Frau dazwischen und schluchzte laut auf. Jetzt sind sie alle in ihren Zimmern, haben sich eingeriegelt, und ich soll Baldrian und Eau de Cologne holen.«
Sie ging nun auf Zehenspitzen vorsichtig davon. Ein lebendiger Beweis dafür, daß Wände Ohren haben.
Frau Hempel beeilte sich jetzt, fertig zu werden, um ins Haus zu kommen und Hempel das Gehörte mitteilen zu können. Als sie endlich soweit war, ging sie rasch in die Küche, holte sich den wärmenden Kaffeetopf und eine große Tasse und setzte sich noch frisch von der Kälte neben den hämmernden Hempel.
Als sie fertig berichtet hatte und ihr Gesicht wieder über dem bunten Tassenrand auftauchte, unter dem es verschwunden war, um einige kräftige Schlucke zu schlürfen, sagte Hempel in gewohnter Ruhe:
»Was ist dabei zu tun? Es ist wie mit den Stiefeln. Man muß sie nehmen, wie sie sind.«
*
Kalte, graue Tage kamen, die gar nicht zu erwachen schienen und in Dämmerung hinschmolzen, bis sie die Nacht in den Sack steckte. Aber Laura hatte Zerstreuung gefunden für die einförmige Kette der Stunden. In dem gräflichen Schauspiel vor ihrem Fenster trat eine dritte Person auf. Der junge Graf war über die Feiertage nach Hause gekommen.
Auch von ihm wußte Laura mancherlei durch die Klageseufzer seiner Mutter. Er war Bankbeamter in einer kleinen Stadt im Reich und der beste Sohn der Welt. Er schämte sich, arm zu sein, und wollte nie Graf genannt werden, aber er war ein Graf vom Scheitel bis zur Sohle.
Laura sah ihn sich vom Scheitel bis zur Sohle an und fand, daß er wirklich ein vornehmer Mann zu sein schien. Sie verglich das gescheitelte, hellgelbe Haar, das feine Gesicht, die schmale Nase und die schlanke Gestalt mit Herrn Bombachs dicker, kurzer Figur, mit seinem runden und kahlen Kopf. Ihn würde niemand für einen Grafen halten, und wenn er sich eine Krone auf den Kopf leimen ließe.
Laura beobachtete den Grafen, wie er freundlich mit der Mutter sprach, deren Gesicht in diesen Tagen nicht so kummervoll in die Länge gezogen war als sonst. Sie hätte gern gehört, was gesprochen wurde. –
Graf Egon sagte seufzend zu seiner Mutter: »Die vielen Fensteraugen, die einen anstarren! Man vergißt ganz, daß es auch einen Himmel mit Zubehör gibt.«
Und während er noch den Himmel suchte, sah er unvermutet in Lauras blanke Augen, die wieder eifrig ihres unterhaltenden Amtes walteten. Erschrocken wandte sie sich jetzt ab, und der Graf sah lange nichts anderes als ein Stück nußbrauner Zöpfe über einer hellen Wange und einem rosigen Ohr.
Aber Geduld belohnt sich, und Neugier macht Mut.
Nach einer Weile kamen die klaren blauen Augen unter den dunklen Wimpern wieder zum Vorschein.
Ein Vorgang, der sich nun häufig wiederholte, wenn der Graf und Laura hinter ihren Fenstern saßen. Er lesend und sie nähend.
»Wer ist eigentlich die junge Dame, die bei Bombachs zum Besuch ist?« fragte der Graf einmal bei Tisch seine Mutter.
»Das ist keine Dame«, antwortete sie. – »Es ist das Kindermädchen, die Tochter der Portiersleute.«
Gedanken können Sprünge machen.
Die Gräfin stieß einen langen Seufzer aus und sagte, daß die Portiersleute unten im Keller tausendmal sorgloser lebten als sie hier oben. Und damit war diese Unterhaltung erledigt. –
So zog für alle das Weihnachtsfest auf.
Laura hatte erst der Bombachschen Feier mit dem großen Baum und dem kleinen Säugling beigewohnt, und saß jetzt unten im Keller bei der kleinen Tanne und den Eltern.
»Du hast's gut«, sagte die Mutter. »Du hast zwei Weihnachtsbäume.«
Laura sah lächelnd auf die flackernden Kerzen und dachte, daß sie eigentlich Weihnachten mit drei Festtannen feiere.
Denn sie hatte sich auch an dem kleinen Baum der Grafenfamilie erfreut. Der junge Graf hatte die Lichter angezündet. Sein Gesicht trug einen wunderbaren Ausdruck dabei. Aber dann hatte der Zappelgraf die Gardinen zugezogen. Alles war dunkel geworden, und der Hof schien wie ein tiefer Abgrund, der sie von drüben trennte.
Es klopfte an die Scheiben, und Laura fuhr aus ihrem Sinnen auf. Kempkes kamen, um Weihnachten feiern zu helfen, wie jedes Jahr.
»Das ist ein verteufelt kaltes Wetter«, sagte der Schenkwirt und rieb sich die dicken, roten Hände, deren Finger immer schon gekrümmt waren, um Schnapsgläschen zureichen zu können.
Er setzte sich neben Hempel, bot ihm eine Zigarre an, und bald waren beide im Gespräche über Spiritus und Stiefel.
Frau Kempke bewunderte die Morgenschuhe, die Laura dem Vater reich mit Rosen bestickt hatte, und legte das schöne Wolltuch, das sie der Mutter gehäkelt hatte, probeweise um die Schultern.
»Ja solch ein Töchterchen«, sagte sie.
Frau Hempel bemerkte mit wenig Vergnügen, daß Fritz bei Laura stand. Er trug einen schwarzen Feiertagsanzug, aus dem eine tütenblaue Seidenkrawatte leuchtete. Aus dem Ärmel blendeten weiße Manschetten, die er bis auf die Fingerknöchel herausgezogen hatte. Er erzählte Laura, daß er sich selbständig machen wollte, um ein kleines Wirtshaus zu eröffnen.
»Zum blauen Mädchenauge« sollte es heißen.
Laura dachte, daß er auch mit Manschetten keine Spur von einem Grafen an sich habe, und wendete ihre Blicke wieder dem lichten Tannenbaum zu.
Als der Punsch gebraut war, den Kempkes mitgebracht hatten, klopfte es an die Tür. Es war die Köchin von Bankdirektors. Sie stellte eine Schüssel mit Bratenresten und einen Teller voll Süßigkeiten auf den Tisch und rief:
»Kinder, ich mußte noch zu euch kommen. Denkt euch, sie haben ihr ihn unter den Weihnachtsbaum gelegt.«
»Wen denn? Was denn?« rief man durcheinander.
»Na, den Leutnant, unserem Fräuleinchen. Als sie zur Bescherung hereinkam, stand er in Galauniform unter dem Weihnachtsbaum und salutierte. Nun haben wir eine Braut im Haus, und jede von uns hat zwanzig Mark Trinkgeld bekommen.«
Bei den letzten Worten ging ein Raunen durch die Anwesenden.
Die Köchin machte es sich gemütlich und ließ sich gern ein Glas Punsch einschenken. Sie war freundlicher zu Fritz Kempke als Laura. Sie war in dem Alter, wo die Mädchen den Wert eines Mannes, der weder verheiratet noch besonders verunstaltet ist, zu schätzen wissen.
Als der Zeiger auf Mitternacht rückte, mußte Laura gehn, denn länger reichte ihr Urlaub nicht. Die andern blieben noch zusammen. Der Vater begleitete sie die beiden Treppen hinauf, und ehe sie in die Tür ging, sagte er wieder einmal:
»Gut, daß wir dich unter demselben Dach haben.«
Sobald Laura in ihrem Zimmer war, ging sie ans Fenster und versuchte, durch die Scheiben zu spähen.
Dunkelheit preßte sich gegen das Haus, und nichts war zu unterscheiden.
Nachdem sie den Säugling neu gebettet hatte, übersah sie noch einmal die Sachen, die sie heute erhalten hatte. Auf dem Kalender war ein wunderhübsches Bild. Ein alter Mönch spielte Geige, und zwei reizende kleine Engelchen sahen ihm heimlich zu und belauschten ihn. Sie stellte den Kalender ans Fenster, so daß die Seite mit dem Bild zum Hof hinauskuckte. Vielleicht hatten auch andere Leute im Haus Freude, wenn sie am andern Morgen das Bild bemerkten.
Dann ging sie schlafen.
Aber als der Morgen kam, waren die Scheiben fest zugefroren, und wie weiße Mauern schlossen sie die Außenwelt ab.
Als sie wieder auftauten und durchsichtig wurden, war man schon im neuen Jahr. Dort unten saß die Gräfin allein am Fenster, ihr Gesicht war wieder tief gekränkt und ihr Zopf blieb bis mittags in der Schublade.
*
Das Leben hat viele Gesichter.
Wenn es nun hinter den Scheiben wenig für Lauras Wißbegier zu sehen gab, sollte sie dafür in ihrer nächsten Umgebung Wunderliches genug erfahren. Manche Leute sagen, daß spätes Glück närrisch macht, und andere wieder behaupten, daß es verjünge. Eine von diesen Künsten hatte es bei Frau Bombach angewandt. Sie hatte sich vollständig verändert. Das früher glatt gescheitelte Haar wellte sich nach der neuesten Tagesmode, ihre Kleider, die sonst unauffällig gewesen waren wie die einer Krankenschwester, waren hell und flott und eng geschnitten.
Dem Klavier, das längst nichts anders mehr sein wollte als ein stummes und sauber gehaltenes Möbel, wurde von Fachleuten die Stimme zurückgegeben. Frau Bombach holte die Noten ihrer Mädchenjahre hervor und übte so fleißig, daß die Flurnachbarn sofort ihre Wohnung kündigten.
Auf Herrn Bombachs beunruhigte Einwendungen erwiderte sie, daß Musik das Gemüt erheitere, daß Musik für ein Kind notwendig sei. Und sie schwenkte sich auf dem hohen Stiefelabsatz so rasch einmal um sich selbst herum, daß Herr Bombach entsetzt zurückprallte.
Herr Bombach begann spazierenzugehen. Jedesmal, wenn er zurückkehrte und die Tür seines stillen Heims aufschließen wollte, glaubte er sich verirrt, zu haben. Das Duett von Kindergeschrei und Klavierspiel quoll ihm schreckenerregend entgegen.
Immer ausgedehnter wurden seine Spaziergänge. Was sollte er auch zu Hause? Seine Frau kümmerte sich nicht um ihn. Für sie gab es nur einen eben geborenen Bombach. Gewiß, er liebte auch seinen Jungen. Er war zufrieden, daß er da war und sein schönes Geld nun nicht in fremde Hände kommen würde. Aber welche Opfer forderte diese Freude!
Herr Bombach rechnete aus, wie lange es dauern würde, bis der geliebte Junge erwachsen sein könnte und seine eigenen Wege gehen müsse. Aber wenn man fünfzig ist, machen solche Rechenaufgaben auch kein Vergnügen. Er wurde gereizter von Tag zu Tag.
Bis es wirklich zu einem ernsten Zerwürfnis kam.
Eines Morgens hatte er Minchens heiteres Klavierspiel unterbrochen und ihr vorgeworfen, daß sie ihn nicht mehr liebe und nur noch an den Jungen denke. Sie war aufgestanden, hatte die neueste Fotografie von Hans Friedrich zur Hand genommen und, während sie diese eingehend betrachtete, achselzuckend gesagt, daß sie nicht den ganzen Tag an ihn denken könne, daß das übertrieben wäre.
Von diesem Augenblick an sprach Herr Bombach nicht mehr mit seiner Frau. Wenn er ihr etwas zu sagen hatte, benutzte er Laura als Telefon. Dieser Fernsprecher besaß die Vorzüge, daß er keine besonderen Gebühren kostete, und daß man sich beim Sprechen sehen konnte, so daß die Augen mitreden durften.
Laura vermittelte ruhig und gehorsam den Anschluß, sobald sie angerufen wurde.
Es ist immer schön, wenn man etwas Neues zulernt. Aber wenn Laura für einige Stunden ausgeschaltet wurde, hatte sie nichts dagegen. Auf den freien Sonntagnachmittag freute sie sich die ganze Woche.
Der Sonntag, der diesen Tagen folgte, brachte die erste Ahnung vom Frühling. Bei jedem Atemzug, mit dem man die herbe durchsonnte Luft einzog, spürte man's, daß der Winter zu Ende ging.
Laura saß mit den Eltern neben der Haustür am Saum der Straße. Vor ihnen rollte ein langer Film mit Menschen, Wagen und Bahnen endlos und lebendig vorüber. Der Lärm von zahllosen Rädern und vielen gleichzeitig gesprochenen Worten gab die Musik dazu.
Auf dieses Schauspiel waren Hempels Abonnenten. Sie sahen ihm zu durch Jahre und Jahreszeiten.
Die Pfeife im Mund, beobachtete Hempel ruhig das bunte Gewühl. Bemerkte dann und wann einen gut gearbeiteten Schuh im Gedränge und ärgerte sich über jeden abgetretenen Absatz unter einem eleganten Rock.
Frau Hempel war nicht so ruhig. Sie fand Laura blaß und weniger fröhlich. Der Dienst bei Bombachs schien ihr nicht zu bekommen. Sie müßte fort von dort. Aber wohin? Um welche Ecke würde endlich das Glück kommen, auf das sie für Laura wartete?