Frank Lorenz Müller

DIE
THRONFOLGER

Macht und Zukunft der Monarchie
im 19. Jahrhundert

Siedler

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in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München
Umschlagabbildung: Rudolf, Kronprinz von Österreich, 1862,
Foto: Ludwig Angerer, ÖNB/Wien
Lektorat und Satz: Peter Palm, Berlin
Reproduktionen Aigner, Berlin
ISBN 978-3-641-16891-9
V002

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Inhalt

Einleitung

KAPITEL 1
»Unterpfand einer gesegneten Zukunft«?
Thronerben im 19. Jahrhundert

KAPITEL 2
Prinzen und ihre Familien
Königliche Söhne und Ehemänner

KAPITEL 3
»Gelernte Könige«?
Neue Wege in der Prinzenerziehung

KAPITEL 4
Auf dem Weg zur »sanften Macht«?
Thronfolger in Politik, Medien und der Öffentlichkeit

KAPITEL 5
Vom »Tschingdada« zum Weltkrieg
Thronfolger und die Militarisierung der Monarchie

Schlussbetrachtung

ANHANG

Dank

Anmerkungen

Quellen und Literatur

Regenten und Thronfolger

Personenregister

Einleitung

Der 21. Januar 1793, der Tag, an dem König Ludwig XVI. von Frankreich zum Schafott auf der heutigen Place de la Concorde gebracht wurde, war kalt und neblig. Mehr als 100000 Soldaten säumten die verschneiten Straßen der französischen Hauptstadt. Die Wagenkolonne mit dem Verurteilten brauchte beinahe zwei Stunden für die dreieinhalb Kilometer lange Strecke von Ludwigs Gefängnis im Tour de Temple. Als man die Hinrichtungsstätte erreicht hatte, stieg der entthronte Monarch aus der Kutsche, legte den Mantel ab und knöpfte den Kragen seines Hemdes auf. Da der Weg zur Guillotine rutschig war, stützte er sich zunächst auf den Arm seines Beichtvaters, des irischstämmigen Abbé Henry Edgeworth, erklomm die Stufen dann jedoch allein. Vom Schafott aus wandte sich der König, der vom Nationalkonvent wegen Landesverrats zum Tode verurteilt worden war, an die riesige Menschenmenge, beteuerte seine Unschuld und vergab seinen Feinden. Doch ein von General Antoine Santerre, dem Kommandanten der Nationalgarde, befohlener Trommelwirbel übertönte seine letzten Worte. Dann packten die Scharfrichter den Bourbonen und zwangen ihn unter das Fallbeil. Der kräftige Nacken des Verurteilten passte allerdings nicht richtig in die vorgesehene Aussparung im Richtblock, und so verlief die Hinrichtung unsauber und sehr blutig. Als der Henker das abgetrennte Haupt endlich hochhielt, brachen bei einigen der Umstehenden alle Dämme: Ein paar Gaffer kosteten von dem verspritzten Blut des Königs und stritten über seinen Geschmack, andere tauchten ihre Hände hinein, und so viele wollten Taschentücher oder Briefumschläge damit benetzen, dass der Scharfrichter schließlich einen Eimer voll Blut bereitstellte. Neun Monate später wurde an gleicher Stelle die Witwe des Königs, Marie Antoinette, enthauptet. Als das Beil fiel, ertönte auch bei dieser Gelegenheit der Ruf: »Es lebe die Republik!«1

Aus monarchischer Sicht hätte das lange 19. Jahrhundert, das sich von der Französischen Revolution bis zum Ende des Ersten Weltkriegs erstreckte, kaum apokalyptischer beginnen können. Für viele Zeitgenossen und Nachgeborene war die juristisch sanktionierte, öffentliche Tötung eines gesalbten Monarchen eine so empörende Untat, dass durch sie eine uralte Weltordnung für immer verloren schien. Einige verzweifelte Zeitgenossen wurden durch die Nachricht von Ludwigs Enthauptung in tiefe seelische Abgründe gestürzt, sodass es Berichten zufolge zu Selbstmorden und Fällen von plötzlicher Geisteskrankheit kam. Noch im 20. Jahrhundert bedauerte der französische Philosoph und Schriftsteller Albert Camus die Hinrichtung des Königs, denn sie erschien ihm, so Susan Dunn, als »die irreversible Zerstörung einer Welt, die sich für ein Jahrtausend an eine heilige Ordnung gehalten hatte«. Der 21. Januar 1793 bedeutete für Camus den dauerhaften Verlust eines moralischen, von einem transzendenten Gott sanktionierten Kodex.2

Angesichts dieses blutigen Auftakts zum langen 19. Jahrhundert hätte wohl kein Mitglied des eng miteinander verwobenen Netzwerks europäischer Herrscherfamilien sich an jenem düsteren Wintertag träumen lassen, welch farbenfrohe monarchische Spektakel 120 Jahre später in Berlin und Braunschweig veranstaltet werden sollten. Im Frühsommer 1913 gab sich nämlich in der deutschen Hauptstadt das dynastische Europa ein prachtvolles Stelldichein – nunmehr vor den Linsen von Filmkameras, die den festlichen Augenblick für alle Zeiten in bewegten Bildern festhielten. Man war gekommen, um der Hochzeit der Prinzessin Viktoria Luise, der Tochter des deutschen Kaisers, mit dem Welfenprinzen Ernst August von Cumberland beizuwohnen. Unter den mehr als tausend Gästen befanden sich die Spitzen der europäischen Monarchien: Zar Nikolaus II. war ebenso gerne beim deutschen Kaiser Wilhelm II., seinem angeheirateten Cousin, zu Gast wie König Georg V. von Großbritannien – auch er ein Vetter des Hohenzollern. Beide ließen es sich nicht nehmen, die junge Braut bei der Polonaise zu führen. Die Feier war mit Bedacht auf den 24. Mai, den Geburtstag der 1901 verstorbenen britischen Königin Viktoria, gelegt worden, eine Ahnin vieler der anwesenden hohen Gäste. Die Hochzeit war hochgradig politisch: Sie diente der Beilegung des seit der preußischen Annexion von Hannover im Jahr 1866 herrschenden Konflikts zwischen den Dynastien der Welfen und der Hohenzollern. Trotz dieses Hintergrunds wurde die Verbindung erfolgreich als Herzensangelegenheit präsentiert, und so säumten Tausende von begeisterten Berlinern die Straßen. Sehr zum Ärger der sozialistischen Presse, die solchen »Hurrapöbel« mit galligen Worten schmähte, nahm die Bevölkerung der Stadt während der mehrtägigen Feierlichkeiten lebhaften Anteil am Glück ihres »Prinzeßchens«.3

Die Berliner Hochzeit fiel in ein üppig ausgestattetes monarchisches Jubiläumsjahr, denn 1913 jährte sich nicht nur die siegreiche Schlacht von Leipzig zum hundertsten Mal, es war auch ein Vierteljahrhundert vergangen, seit Wilhelm II. den deutschen Kaiserthron bestiegen hatte. Beides wurde pompös gefeiert. Im November 1913 zog das frisch vermählte Paar dann unter dem Jubel der Bevölkerung in Braunschweig ein, wo Ernst August den Thron des Herzogtums bestieg. Damit kehrten die Welfen mehr als vier Jahrzehnte nach dem Ende des Königreichs Hannover als regierende Fürsten ins Deutsche Reich zurück. »Du alter Stamm / Sei stets erneut / In edler Fürsten Reihe, / Wie alle Zeit / Dein Volk Dir weiht / Die alte deutsche Treue«, war auf einer Festpostkarte zu lesen, die eigens für den großen Tag gedruckt worden war. »Auf den mit Blumen und blaugelben Landesfarben geschmückten Bahnhöfen begrüßte uns die Bevölkerung«, erinnerte sich Herzogin Viktoria Luise später. »Nicht nur die Einwohnerschaft der Stadt war hieran beteiligt. Aus der näheren und weiteren Umgebung waren weit über 100000 Menschen gekommen. […] Wer den Jubel gehört hat, bekam einen Begriff von der Macht der Tradition in den Herzen der Menschen.«4

Auch 120 Jahre nachdem der französische Revolutionär Maximilien de Robespierre im Nationalkonvent ausgerufen hatte, »Ludwig muss sterben, weil das Vaterland leben muss«, konnten sich die europäischen Monarchen also noch immer im warmen Licht öffentlicher Zustimmung sonnen, große Politik als Familienangelegenheit inszenieren und von der Macht dynastischer Loyalität in den Herzen der Menschen zehren. Durch das 19. Jahrhundert zog sich eine breite monarchische Ader, die jene Ära auf vielfältige Weise prägte. Um dieses Phänomen geht es im vorliegenden Buch.

Das Überleben der europäischen Monarchien im 19. Jahrhundert ist umso erstaunlicher, wenn man den Blick darauf richtet, dass dieses Jahrhundert zumeist als eine Zeit beschleunigter, tiefgreifender, oftmals revolutionärer Veränderungen verstanden wird. Diese Interpretation spiegelt sich auch in den Titeln der historischen Meistererzählungen zu diesem Säkulum wider. Eric Hobsbawms klassische Trilogie charakterisiert es als eine Abfolge von drei Epochen: Auf die der Revolution folgt die des Kapitals und schließlich die des Imperiums; in den Bänden der großen Propyläen-Geschichte Europas machten Eberhard Weis und Theodor Schieder erst den »Durchbruch des Bürgertums« und dann die Errichtung eines »Staatensystems als Vormacht der Welt« als die Kennzeichen des Jahrhunderts aus, und nach Jürgen Osterhammels magnum opus erlebte das Säkulum nichts Geringeres als die »Verwandlung der Welt«. In der Tat veränderten sich die Lebensumstände der Menschen in Europa im Verlauf des 19. Jahrhunderts gewaltig: Die sich beschleunigende Industrialisierung erreichte immer mehr Regionen des Kontinents; der Anstieg der Bevölkerungszahl und die damit verbundenen Wanderungsbewegungen vom flachen Land in die Städte und fort aus Europa nach Übersee waren enorm; die Bereiche Kommunikation und Mobilität wurden von einem rapiden wissenschaftlich-technischen Fortschritt erfasst; die Alphabetisierung schritt rasch voran, und daraus erwuchs eine breitere Öffentlichkeit; immer größere Bevölkerungsgruppen profitierten davon, dass Verfassungen eingeführt und das Wahlrecht schrittweise ausgeweitet wurde; mit dem imperialen Ausgreifen einiger europäischer Mächte auf den Rest der Welt ergaben sich neue Horizonte.5

Trotz aller Veränderungen blieb Europa während dieser Epoche ein zutiefst monarchisch geprägter Kontinent. Jeder Staat, der sich im 19. Jahrhundert in Europa neu etablierte, hat den Schritt in die Unabhängigkeit unter der Herrschaft eines gekrönten Hauptes getan: von Griechenland (1821) und Belgien (1830) bis Bulgarien (1878) und Norwegen (1905). Auch als die Staaten des Erdteils 1914 in den Krieg zogen, war er noch immer ganz überwiegend monarchisch. Frankreich, die Schweiz, Portugal und das kleine San Marino stellten die republikanischen Ausnahmen dar, die die monarchische Regel bestätigten.6 Zwar gab es in einigen Staaten antimonarchische Bewegungen, und einzelne Herrscher waren einer scharfen, mitunter ätzenden öffentlichen Kritik ausgesetzt. Zudem befanden sich unter den zahlreichen Opfern der Welle nihilistischer Attentate um die Jahrhundertwende auch einige gekrönte Häupter – etwa Zar Alexander II., Kaiserin Elisabeth von Österreich oder König Umberto I. von Italien. Dennoch kann man nicht von einem ernst zu nehmenden antimonarchischen Trend sprechen. Vielmehr erfreuten sich die monarchischen Regime – in den verschiedenen Formen, die sie im Verlauf der Jahrzehnte seit 1793 angenommen hatten – noch immer einer großen Akzeptanz. Mitunter waren sie sogar recht beliebt in der neuen Zeit der Radiogeräte, Motorflugzeuge, Röntgenapparate und Charlie-Chaplin-Filme. Die »Macht der Tradition in den Herzen der Menschen« war nicht verpufft.

Gerade im Kontrast zwischen der tiefgreifenden Verwandlung Europas und der kaum zu erwartenden Beharrlichkeit der monarchischen Staatsform liegt der Reiz in der Beschäftigung mit der monarchischen Dimension des Zeitalters. In Arthur Conan Doyles Kurzgeschichte Silver Blaze musste Meisterdetektiv Sherlock Holmes einen begriffsstutzigen Polizisten einmal auf den »sonderbaren Umstand« hinweisen, dass der Wachhund in der besagten Nacht eben nicht angeschlagen hatte. Darin lag der Schlüssel zur Überführung des Verbrechers. Diese Ermahnung – auf das zu achten, was gerade nicht passiert ist, obwohl man es hätte erwarten sollen – soll auch hier den Anstoß geben: Trotz der schockierenden Symbolik des 21. Januar 1793 und im Angesicht monumentaler politischer, sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Veränderungen kam es in Europa im 19. Jahrhundert eben nicht zu einem monarchischen Massensterben. Auf das, was der amerikanische Historiker Robert Roswell Palmer das »Zeitalter der demokratischen Revolution« genannt hat, folgte keine republikanische Epoche.7 Auch die nächste große Revolutionswelle, die den Kontinent in den Jahren 1848/49 erfasste, dünnte die Riege der Monarchen kaum aus. Das Thema dieses Buches ist also jener »sonderbare Umstand«, dass die Monarchien Europas im Verlauf des langen 19. Jahrhunderts, das sich an die Französische Revolution anschloss, nicht verschwanden. Im Zentrum steht dabei das erstaunliche Beharrungs-, Umgestaltungs- und Überlebensphänomen, ohne das die Feierlichkeiten des Jahres 1913 nicht möglich gewesen wären.

In dem hier vorliegenden Buch wird das monarchische 19. Jahrhundert porträtiert, analysiert und danach gefragt, was Europas royale Spätblüte ermöglichte und wie sie sich entfalten konnte. Auf welche Weise gelang es den Dynastien und ihren Befürwortern, eine Staatsform zu bewahren, in der das Staatsoberhaupt sein auf Lebenszeit verliehenes Amt durch regulären Erbgang erwarb? Denn dies war gewiss keine Selbstverständlichkeit inmitten des rasanten Wandels, dem so viele Elemente des Ancien Régime zum Opfer fielen, und angesichts der Herausforderungen eines nachrevolutionären Zeitalters, das auf eine größere Teilhabe des Volkes an der Macht, den Abbau von Privilegien und weitreichende Freiheitsrechte pochte. Wie also sah der von den fürstlichen Systemen angenommene und umgesetzte Wandel aus, durch den der Monarchie, wie Dieter Langewiesche es formuliert hat, die »Selbstbehauptung im 19. Jahrhundert« glückte?8

Lange haben Historiker die monarchische Dimension dieses Zeitalters stiefmütterlich behandelt. Das Thema war ihnen zu nostalgisch, zu apologetisch oder zu reaktionär, und wenn sie sich ihm dennoch zuwandten, taten sie es in analytisch unzureichender Weise. Noch 1989 klagte der britische Historiker David Cannadine, einer der Väter der modernen Monarchiegeschichte, dass auf diesem Gebiet »zuviel Chronik und zu wenig Geschichte, ein Übermaß an Mythen und ein Mangel an wissenschaftlicher Skepsis« angeboten werde. Das hat sich im Verlauf der letzten Jahre entscheidend geändert. Inzwischen geben hervorragende Studien Auskunft über die Entwicklung der europäischen Monarchie im 19. Jahrhundert. Im Zentrum des wissenschaftlichen Interesses stehen dabei einerseits das Thema königlicher Öffentlichkeitsarbeit – die Analyse von Medien, Selbstdarstellung und Kommunikation – und andererseits verfassungsgeschichtliche Fragen nach der Entwicklung und Leistungsfähigkeit des konstitutionell-monarchischen Systems. Daneben wird das monarchische Jahrhundert in zahlreichen neuen Herrscherbiographien beleuchtet. Man denke nur an biographische »Stars« wie Königin Viktoria von Großbritannien, König Ludwig II. von Bayern, Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich oder den bombastisch-irrlichternden deutschen Kaiser Wilhelm II., die alle Gegenstand zahlreicher Biographien sind.9

In dieser Untersuchung wird eine neue Perspektive gewählt mit dem Ziel, ein besseres Verständnis der Wandlungs- und Überlebensfähigkeit der europäischen Monarchien zu gewinnen. Im Zentrum sollen dabei jene stehen, die für jedes erbmonarchische System von existenzieller Bedeutung sind, weil von ihnen die Zukunft der Dynastie abhängt: die Thronfolger. Es geht um Männer und Frauen, denen bereits zum Zeitpunkt ihrer Geburt große Bedeutung beigemessen und Aufmerksamkeit geschenkt wurde.

Am 21. August 1858 wurde in der Nähe von Wien eines dieser Kinder geboren, das vom ersten Atemzug im Mittelpunkt des Interesses stand. »Des Kaisers Stolz. – Die Hoffnung seiner Völker«: Unter diesem Titel erschien im Spätsommer 1858 ein prachtvolles »Erinnerungsblatt« an »Oesterreichs Freudentag«. Mit allen Insignien von Macht und Herrlichkeit ist hier die Taufe des Kronprinzen Rudolf (1858–1889) durch Kardinal Josef Rauscher ins Bild gesetzt, die am 23. August 1858 auf Schloss Laxenburg südlich von Wien stattfand.

Im Zentrum der Darstellung steht der zwei Tage alte Knabe, den der Kaiser Franz Joseph über das Taufbecken hält, während der Kardinal das Sakrament der Taufe spendet. Stelen mit den Büsten der großen Ahnen des Hauses Habsburg, Rudolf I. (1218–1291) und Maria Theresia (1717–1780), rahmen die Szene ein. Zudem sind das Kind, der Kaiser und der Kardinal von den Heiligenpatronen der österreichischen Kronländer, zahlreichen anderen Würdenträgern und einem milde dreinblickenden Löwen umringt. Auf einem Kissen zu ihren Füßen werden dem Betrachter die drei Kronen präsentiert, die das Kind dereinst tragen wird: die Kaiserkrone von Österreich sowie die Königskronen von Ungarn und Böhmen. Anlässlich der Geburt des Thronfolgers wurde eine Vielzahl ähnlicher Bilder geschaffen. Die Lithographie »Habsburgs jüngste Blüte« von Eduard Kaiser zeigt den Neugeborenen in einer Krippe, die mit einer Personifikation Österreichs geschmückt ist. Die kolorierte Kreidelithographie »Die Allerhöchste kaiserliche Familie mit dem durchl: / Kronprinzen Rudolf Carl Josef« zeigt das Bettchen des Thronfolgers unter einem mächtigen Bildnis Rudolfs I. und einem Posaune blasenden Engel, der auf das Kind weist. Joseph Kohns »Kron-Juwel für die Habsburgische-Dynastie«, ein »Fest-Album bei Gelegenheit der beglückenden Geburt Sr. k.k. Hoheit des Allerdurchlauchtigsten Kronprinzen Rudolf«, das 1858 in Lemberg erschien, bot seinen Lesern gar 35 Seiten kaisertreuer Erbauung.10

Die barock anmutende Üppigkeit dieser Propagandagraphik und der über sie verbreiteten Jubelprosa weist darauf hin, dass die Sicherung der Thronfolge – der Übergang monarchischer Herrschaft von einem Individuum auf seinen Nachfolger, zumeist von einer Generation auf die nächste – für dynastische Systeme nach wie vor eine große Herausforderung darstellte. Weil das Prinzip der Vererbung der Kronen ein Kernelement der europäischen Königsherrschaft blieb, stellten Thronfolger eine unerlässliche Systemkomponente dar. Zudem boten sie den Monarchien, deren Teil und Zukunft sie waren, eine einzigartige politische Ressource, die sich im 19. Jahrhundert als besonders nützlich erweisen sollte: Mit ihnen existierte die künftige Herrschergeneration nämlich auf eine sichtbare, direkt vermittelbare und formbare Weise, und das bereits Jahre und Jahrzehnte vor der Machtübernahme. Thronfolger eröffneten in monarchischen Systemen die Möglichkeit, die Zukunft der eigenen Dynastie durch Nachkommen aus Fleisch und Blut vorzubereiten, anzukündigen und diese so zu formen, dass sie den Bedürfnissen und Vorlieben der relevanten Bevölkerungsteile entsprachen.

»Des Kaisers Stolz. – Die Hoffnung seiner Völker«: Ein zeitgenössischer Druck stellt die Taufe des 1858 geborenen österreichischen Kronprinzen Rudolf als einen entrückten, von Heiligen und Vorfahren umringten Akt dar, der die Jahrhunderte überstrahlt.

»Des Kaisers Stolz. – Die Hoffnung seiner Völker«, 1858, Lithographie nach Johann Schmickl, ÖNB Bildarchiv und Grafiksammlung, Sign. Pk 3001, 270

Thronfolger verkörperten einerseits die Botschaft von der fundamentalen Kontinuität monarchischer Herrschaft – ebenjener beruhigenden und Ehrfurcht gebietenden Stetigkeit der Tradition, die durch den Blick des Stammvaters Rudolf I. auf seinen 650 Jahre später geborenen gleichnamigen Nachfahren betont wurde. Andererseits verwiesen sie auf die naturgesetzmäßige Unvermeidbarkeit des Wandels an der Spitze des Systems. Denn die Männer (und wenigen Frauen), denen es vorherbestimmt war, dereinst eine Krone zu tragen, wurden zwar durch ihre Herkunft und das dynastische wie höfische Umfeld geprägt, waren aber dennoch mehr als das bloße Produkt traditioneller Einflüsse. Die künftigen Herrscher mussten auch in der Lage sein, auf politische, mediale, kulturelle und verfassungsrechtliche Impulse ihrer Gegenwart zu reagieren. Zudem dienten sie – umso mehr, je stärker sie medial präsent waren – als Projektionsflächen, auf denen das Volk seine Hoffnungen abbilden konnte. Gerade in Zeiten rapider Veränderung verband sich dessen Wunsch nach einer besseren Zukunft oft mit dem Bedürfnis nach vertrauter Kontinuität. Thronfolger versprachen beides.

Die Rolle der künftigen Herrscher war eben nicht nur von alten Konventionen geprägt, sondern auch von neuen Faktoren wie der Einführung von Verfassungen und den Forderungen einer ständig wachsenden Öffentlichkeit nach mehr Teilhabe. Daher mussten Thronfolger ihr Leben zunehmend in der Öffentlichkeit führen, wo es für das Publikum sichtbar war und die staatlichen und gesellschaftlichen Kompetenzen des kommenden Herrschers begutachtet werden konnten. Ob der Thronerbe als tüchtig oder nutzlos galt, als tugendhaft oder verkommen, als sorgfältig vorbereitet oder überfordert, als engagiert oder lethargisch, ob er als lüsterner Schürzenjäger verschrien war oder als liebender Ehemann und Vater verehrt wurde: All das war von großer Bedeutung für das Zukunftsversprechen der herrschenden Dynastie. Es lohnt sich daher, die Erfahrungen, Darstellungen, Rollen und Funktionen der künftigen Monarchen während der Jahre zu erforschen, in denen sie sich im Licht der Öffentlichkeit auf ihr Herrscheramt vorbereiteten. Sie taten dies auf vielfältige Weise: als zarte Babys, als fleißige Schüler, als treu sorgende Eltern, als Weltreisende, als Parlamentarier, als Hüter der Verfassung, als schneidige Soldaten oder als Förderer von Kultur und Wissenschaft.

Zugleich eröffnet der Blick auf die Thronfolger eine Perspektive auf das monarchische Jahrhundert insgesamt. In ihren Biographien bildete sich das ab, was unverändert blieb, und ebenso das, was sich wandelte; die Anpassung der Königshäuser an vermeintlich bürgerliche Formen des Lebens der vielen wird genauso ersichtlich wie das Bemühen, den Zauber zu bewahren und im Kern etwas zutiefst Anderes und Seltenes zu sein. Im Zentrum dieser Betrachtung stehen dabei jene Monarchien Europas, deren Gesellschaften sich sozial, politisch, medial, kulturell und wirtschaftlich rapide modernisierten. Auf die sich daraus ergebenden Herausforderungen reagierten die Monarchien von Spanien bis Schweden, von den Niederlanden bis Griechenland, indem sie früher oder später zu einer Form von konstitutioneller Herrschaft übergingen. Dies ist als das wichtigste gemeinsame Charakteristikum zu nennen, denn damit setzte sich der »monarchische Konstitutionalismus«, so der Verfassungshistoriker Martin Kirsch, als »europäischer Verfassungstyp« auf dem Kontinent durch.11 Unter den größeren Staaten Europas scherten nur die zwei von den Auswirkungen der postrevolutionären Modernisierung zunächst weniger stark betroffene Monarchien am östlichen Rand Europas aus: Russland und das Osmanische Reich. Die Romanows konnten ihre autokratische Herrschaftsform weitestgehend unvermindert bis 1905 und in wichtigen Belangen sogar darüber hinaus bewahren. Auch den türkischen Sultanen gelang es nach der Aufhebung der kurzlebigen Verfassung von 1876 bis 1878, den Eintritt ins konstitutionelle Zeitalter bis zur jungtürkischen Revolution von 1908 hinauszuzögern. Diese beiden Sonderfälle werden hier ausgespart.

Obwohl in diesem Buch der Versuch unternommen wird, ein europäisches Panorama zu bieten, wird nicht der Anspruch erhoben, enzyklopädisch zu sein. Zu groß ist die Anzahl der Monarchien und ihrer Thronfolger in diesem Zeitraum, als dass jedes einzelne Herrscherhaus und jeder Thronanwärter erwähnt, geschweige denn ausführlich behandelt werden könnte.12 Stattdessen werden zur Erläuterung der zentralen Themen beispielhaft Dynastien, Einzelpersonen, Entwicklungen und Ereignisse aus mehr als einem Dutzend europäischer Monarchien herangezogen. Im Zentrum der Betrachtung stehen die monarchischen Systeme in Großbritannien, den deutschen Ländern, Österreich und Italien. Aber auch die Monarchien in Spanien, Griechenland, Frankreich, den Niederlanden, Belgien und Skandinavien bleiben nicht unberücksichtigt. Dabei wird die farbenfrohe Eindringlichkeit der Biographien der behandelten Thronfolger mit dem Blick auf breitere Zusammenhänge und Entwicklungen verbunden. Auch wenn die künftigen Herrscher wichtige und aufschlussreiche Systemkomponenten waren, sollen ihre individuellen menschlichen Schicksale doch nicht gänzlich hinter ihre Funktionen zurücktreten.

Ob und wie einzelne Thronfolger die schwierigen Aufgaben, die ihnen in die Wiege gelegt waren, erfolgreich erfüllen konnten und wollten, hing von zahlreichen Faktoren ab. Zufälle waren hier ebenso von Bedeutung wie individuelle Neigungen oder unterschiedliche Grade von Begabung. Weil die Vielfalt menschlicher Persönlichkeiten hier ins Spiel kam, kann man keine gleichförmigen Gesetzmäßigkeiten erwarten. Zudem gab es für die monarchischen Akteure, die im 19. Jahrhundert auf die Bühne traten, kein allgemeingültiges Skript. Immer wieder durchbrachen – und bestätigten – Ausnahmen die Regeln einer breiten Entwicklung. Dennoch ist es wichtig, zunächst die Grundzüge der Welt zu skizzieren, in der die meisten Thronfolger in den konstitutionellen Monarchien Europas im Verlauf des 19. Jahrhunderts ihre Rolle finden und ausfüllen mussten.

KAPITEL 1

»Unterpfand einer gesegneten Zukunft«?
Thronerben im 19. Jahrhundert

Ein Artikel, der am 14. Juli 1891 im Herald Democrat erschien, warf ein ungewöhnliches Licht auf die Umstände, die das Leben eines europäischen Thronfolgers bestimmten. Heloise, eine zehnjährige Amerikanerin auf Europareise, gab darin den Lesern des Provinzblattes aus der Bergarbeiterstadt Leadville in Colorado eine ausführliche Beschreibung der Eröffnung des Parlaments in Rom. Dies sei eine »sehr elegante Angelegenheit« gewesen, die der jungen Reisenden geradezu fantastisch vorkam. König Umberto I. (1844–1900) und Königin Margherita (1851–1926) waren in der Staatskarosse, gezogen von sechs Pferden im festlichen Prunkgeschirr, vor dem Parlamentsgebäude vorgefahren. Lakaien in seidenen Strümpfen und mit gepuderten Perücken begleiteten das Paar. Unter den Hochrufen des Volkes zog der König, in eine prachtvolle Galauniform gekleidet und mit einem reich verzierten Messinghelm auf dem Haupt, in den Parlamentssaal ein und hielt dort eine Rede. Anschließend nahm er jedem einzelnen Abgeordneten den Treueeid ab. In diesem Jahr leistete auch sein Sohn, der einundzwanzigjährige Viktor Emanuel, Prinz von Neapel (1869–1947), das Gelöbnis, »was alle für sehr interessant zu halten schienen«.1

Diese aus einer gewollt kindlich wirkenden Perspektive geschriebene Vignette ließ viele der Aspekte anklingen, die das Leben und Wirken von europäischen Thronfolgern im 19. Jahrhundert bestimmten: Der Anlass für die Zeremonie war die Eröffnung des gewählten, von der Verfassung garantierten Parlaments durch den König; nach der Verfassung wurde der Kronprinz mit Vollendung des einundzwanzigsten Lebensjahres Mitglied des Senats, der ersten Kammer des Parlaments, und leistete den Treueeid, der ihn an König und Verfassung band. Er tat dies vor einer interessierten Öffentlichkeit, die von Rom bis nach Colorado reichte, umgeben von seiner sorgfältig in Szene gesetzten Familie in einer Zeremonie voller helmbuschgeschmücktem und seidenbestrumpftem höfischen Pomp, der 1891 nicht nur zehnjährigen amerikanischen Mädchen märchenhaft und altertümlich erschienen sein dürfte.

Was in dieser Zeremonie versinnbildlicht wurde, war eine Politik, die Wandlung und Beharrung miteinander verknüpfte und damit den europäischen Monarchien das Überleben im postrevolutionären Zeitalter ermöglichte. Für die Königshäuser stellte der Übergang ins konstitutionelle Zeitalter die vermutlich tiefste Zäsur zwischen der vorrevolutionären Epoche und dem 19. Jahrhundert dar. Er bestimmte auch die festliche Szene in Rom. Denn auch wenn die nach dem Sieg über Napoleon bald überall auf dem Kontinent promulgierten Verfassungstexte weiterhin die monarchische Herrschaft von Gottes Gnaden und den königlichen Vollbesitz aller staatlichen Gewalt vorsahen, veränderte sich mit der Einführung von Staatsgrundgesetzen doch alles: Der von Gott begnadete und nach eigenem Anspruch unbeschränkte Herrscher wurde zu einem rechenschaftspflichtigen staatlichen Organ mit definiertem Zuständigkeitsbereich. Die einstmals strahlende Majestät nahm einen nüchterneren Amtscharakter an; die zuvor als gottgewollt akzeptierte monarchische Herrschaft musste fortan durch politischen Erfolg und effektive Regierungsarbeit überzeugen.

Wollten sie ihre Identität – die Kultur, für die sie standen, und das Herrschaftssystem, das sie verkörperten – nicht gänzlich aufgeben, mussten die königlichen Familien versuchen, die überlieferten Traditionen und Kontinuitäten zu bewahren. Möglichst viel von dem, was Europas Monarchen nach eigenem Selbstverständnis und in den Augen ihrer Untertanen von alters her besonders und staunenswert gemacht hatte, sollte überdauern und musste im öffentlichen Auftritt, bei Hof und innerhalb des dynastischen Familienverbunds weiterhin gepflegt werden. Das berühmte Aperçu in dem Roman Der Gattopardo von Giuseppe Tomasi di Lampedusa galt also, wie immer man es wendete: Alles musste sich ändern, damit alles gleich bleiben konnte; alles musste gleich bleiben, damit sich die Dinge wandeln konnten.2

Die Erwartungen und Verpflichtungen, die sich für Europas Thronfolger aus den Herausforderungen einer Zeit ergaben, in der die Forderungen der Französischen Revolution nach Freiheit und Demokratie nachhallten, waren neu und dynamisch und ließen sich nicht so leicht mit den zähen Kontinuitäten vereinbaren, die weiterhin Bestand hatten – am Hof und innerhalb der Familie. Das galt zunächst einmal für den institutionellen Rahmen, in dem Monarchen und ihre Familien existierten, agierten und regierten. Durch strikte Regelwerke war festgelegt, was für die Mitglieder der Königshäuser legal und legitim, was erwünscht und was verpönt war. Dem hatten sich selbst die Monarchen an der Spitze der staatlichen Institutionen zu unterwerfen, ganz gleich wie stark die Gestaltungs- und Führungsmöglichkeiten ausgeprägt waren, über die sie verfügten. Für rangniedrige dynastische Figuren – in besonderem Maße für Thronfolger – mag die Tatsache, dass sich ihr Leben innerhalb dieser sich ständig verschiebenden, wandelnden oder rigide beharrenden Institutionen abzuspielen hatte, eine ganz besondere Herausforderung gewesen sein – privat und öffentlich, persönlich wie politisch.

Das Lebensglück und der Erfolg eines künftigen Monarchen im Europa des 19. Jahrhunderts hing wesentlich ab von seiner Fähigkeit, diesen schwierigen und zum Teil im Zickzack verlaufenden Parcours zu bewältigen. Wie er sich schlug, hatte Einfluss darauf, wie sicher das monarchische System in Zukunft sein würde. Wenn es gelang, ein ansprechendes Bild von dem künftigen Herrscher zu verbreiten, konnte der Thronfolger vor den Augen der Öffentlichkeit zu dem werden, was die Norddeutsche Allgemeine Zeitung im Oktober 1881 im deutschen Kronprinzen Friedrich Wilhelm sah: »das Unterpfand einer gesegneten Zukunft«. Das Bild, das die Öffentlichkeit vom Kronprinzen gewann, war damit von zentraler Bedeutung für das Überleben der Monarchie im 19. Jahrhundert.3

Es galt also, den Thronfolger möglichst wirkungsvoll in die Institution Monarchie einzubinden. Das betraf zuallererst die Bemühungen der Kronen, mit dem Versprechen politischer und gesellschaftlicher Nützlichkeit einen Weg zur Überwindung der »Legitimationskrise der europäischen Monarchie« zu eröffnen. Hier kam dem Thronfolger als künftigem Monarchen naturgemäß große Bedeutung zu.4 Eng damit verbunden war die Entwicklung des Verfassungsstaates, in dem das Verhältnis zwischen den Rechten der Krone und ihres Trägers einerseits und denen der Untertanen andererseits gegeneinander abgegrenzt und auf eine austarierte rechtliche Basis gestellt werden musste. Es galt aber auch, Thronfolger im Rahmen der öffentlich sichtbaren, zunehmend an bürgerlichen Maßstäben gemessenen Institution der königlichen Familie zu präsentieren. Diese Verbände waren von dem strengen, oftmals in Hausgesetzen kodifizierten Entscheidungsmonopol des Familienoberhaupts geprägt, das tief in das private Leben jedes Familienmitglieds eingriff. Und nicht zuletzt hatte der Thronfolger seine Rolle am Hof zu spielen, in jener sorgfältig strukturierten unmittelbaren persönlichen und architektonischen Umgebung des Herrschers, die diesem ein machtvolles Mittel zur Kommunikation monarchischer Herrschaft und zur Disziplinierung verschiedener Personengruppen bot. Diese Strukturen prägten die Welt, in der sich Europas Thronfolger zurechtfinden mussten. Unter diesen Vorzeichen gestaltete sich die Zukunft der monarchischen Systeme.

»Monarchen brauchen Mehrheiten«
Wege aus der Legitimationskrise

Als Herzogin Viktoria Luise im Herbst 1913 feierlich in Braunschweig einzog, glaubte sie bei der loyalen Bevölkerung eine durch die Tradition gefestigte Herzensneigung zu erkennen, die ihr und ihrem Gemahl entgegenschlug. Solche Gemütsregungen allein hätten jedoch kaum ausgereicht, die Monarchie im Verlauf des 19. Jahrhunderts abzustützen. Vielmehr hatte eine ausreichend große Zahl von Zeitgenossen davon überzeugt werden müssen, dass die Monarchie als Herrschaftsform geeignet war, Politik und Kultur des Kontinents entscheidend zu prägen und brauchbare Lösungen für Probleme anzubieten. »Die Monarchie steht heutzutage in den meisten Ländern stärker da als vor 50 Jahren«, resümierte der liberale niederländische Parteiführer Willem Hendrik de Beaufort im Jahr 1900. »Meinte oder befürchtete man zuvor, dass die konstitutionell-parlamentarische Monarchie nur eine Übergangsform für die Republik sein könnte, so kann man gegenwärtig sagen, dass die konstitutionelle Monarchie ihren festen Platz hat. Die Demokratie, bis auf einige Sozialisten, will das auch nicht ändern.«5 Wenn die grundsätzlich antimonarchische sozialdemokratische Bewegung auch deutlich zahlreicher war, als de Beaufort es hier suggerierte, traf seine zuversichtliche Einschätzung des Zustands der Monarchie doch weitgehend zu. Dieses Ergebnis war nicht ohne Anstrengungen erzielt worden. Um die Herausforderungen der Zeit, die mit der Französischen Revolution angebrochen war, zu überstehen, hatten sich Europas gekrönte Häupter im 19. Jahrhundert weitreichenden Veränderungen unterworfen.

Der Wandel war den Monarchien trotz – oder auch wegen – der Schwierigkeiten geglückt, die sich aus den Ereignissen nach 1789 ergaben. Mit dem Sturm auf die Bastille hatten sich Forderungen des Volkes nach größerer Teilhabe an der politischen Macht Bahn gebrochen. 1848/49 wurden diese Forderungen erneut erhoben. Sie rüttelten an den Grundfesten des monarchischen Modells, das durch eine weitere wichtige Entwicklung zusätzlich geschwächt wurde: Der Glaube der Menschen an den göttlichen Ursprung königlicher Macht schwand. Bereits die Rationalität der Aufklärung hatte der gottgewollten Königsherrschaft erste Kratzer zugefügt, und im aufgeklärten Absolutismus hatte die Erwartung monarchischer Leistungsfähigkeit zur weiteren Entzauberung der Monarchen beigetragen. Dass ein Fürst nur dann Legitimität beanspruchen konnte, wenn er sein Handwerk beherrschte, hatte bereits König Friedrich II. von Preußen in seinem »Politischen Testament« von 1752 formuliert, wo er konstatierte, dass der König als der »erste Diener und Amtmann seines Staates« fungieren müsse. Denn mit dem Eintritt der Monarchien in das Zeitalter der Verfassungen gelangte die religiös-magische Form von Herrschaftslegitimierung an ihr Ende. Die Einbindung in den Verfassungsstaat entweihte die Kronen und machte sie letztlich zu profanen staatlichen Organen.

Hier und da mochten Bevölkerungsteile und vereinzelt auch Monarchen und ihre engsten Berater weiter dem romantischen Gedanken von göttlich begnadeter Königsherrschaft nachhängen – etwa in der westfranzösischen Vendée oder im bayerischen Oberland, bei Friedrich Wilhelm IV. von Preußen oder dem Bayernkönig Ludwig II. Zudem beharrten die Kronen fast überall auf der trotzig-nostalgischen Formel von der Gnade Gottes. Doch änderte all dies nichts daran, dass es dem monarchischen Prinzip im 19. Jahrhundert an einer generell akzeptierten geistigen Rechtfertigung mangelte. Zwar konnten die Fürsten weiterhin auf die allgemeine christliche Verpflichtung pochen, nach der ihre Untertanen legitimer säkularer Herrschaft Gehorsam zu zollen hatten, doch das bot weit weniger Schutz als der Glaube, der Monarch persönlich befinde sich im Stand göttlicher Gnade. »Nicht nur die Intelligenz empfand diese Begriffe als überholt«, hat Heinz Gollwitzer lakonisch resümiert, »die Bevölkerung insgesamt glaubte nicht mehr so recht daran.«6

Da sich traditionelle und einst als axiomatisch geltende Bindungen zwischen Herrschern und Beherrschten abschwächten, bedurfte die Monarchie anderer Formen der Legitimierung. Das Recht der Monarchen, bei der Ausübung der Macht im modernen Staat eine wichtige Rolle zu spielen, musste völlig neu begründet werden, und das galt zwangsläufig auch für die staatlichen Zivillisten zum Unterhalt des Hofstaats. Allein mit dem Appell an die Herzen der Menschen war es nicht mehr getan, vielmehr galt es, die monarchische Herrschaft mit effektiver Regierungsarbeit und staatlicher Führung zu verbinden. Allerdings konnte diese Herrschaft nicht unbeschränkt sein, sondern musste sich der Kontrolle durch gewählte Parlamente sowie durch eine wachsende und zunehmend selbstbewusste Öffentlichkeit stellen.7 Bemühungen in diese Richtung begannen bereits unmittelbar nachdem die europäischen Monarchen mit ihrem Sieg über Napoleon den Nachlassverwalter der Französischen Revolution niedergerungen hatten, der als Vorbild wie Schreckbild die Entwicklungen der Monarchie entscheidend beeinflusste.

Im Verlauf des 19. Jahrhunderts sollten zahlreiche europäische Monarchien breite Zustimmung erlangen, indem sie sich mit politischen Tendenzen eines Großteils der politisch engagierten Zeitgenossen in Einklang brachten. Die Logik dieser Entwicklung brachte der deutsche Publizist und Politiker Friedrich Naumann 1912 auf die knappe Formel »Monarchen brauchen Mehrheiten«.8 Nicht nur chronologisch steht bei der Suche nach Mehrheiten die Verfassungsentwicklung an erster Stelle. Schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts war »Konstitution« ein wirkmächtiges »Zauberwort«, auf dessen Magie viele Kronen nicht verzichten zu können glaubten. 1814 präsentierte sich der nach Frankreich zurückgekehrte Bourbonenkönig Ludwig XVIII., der jüngere Bruder des 1793 enthaupteten Ludwig XVI., der französischen Nation daher nicht nur als rechtmäßiger Monarch von Gottes Gnaden, sondern auch als »Vollender der Revolution«. Als solcher legitimierte er wichtige Errungenschaften der Nation seit 1789, unter anderem eine Verfassung, die ein gewähltes Parlament vorsah und entscheidende Bürgerrechte festschrieb. Nach Dieter Langewiesche erkannten Zeitgenossen darin einen »Pakt des Monarchen mit der Reform«, eine »Revolution im guten Sinn«, mithin eine »Verheißung an die Nation, ihr die Reformen zu geben, welche die Zeit verlangt, ohne die Ordnung zu gefährden«.9

Neben der Konstitutionalisierung gab es noch weitere Bereiche von Bedeutung, in denen Monarchen sich um die Etablierung einer Spitzenposition bemühten: nationale Identität, imperiale Macht, militärische Stärke und gesellschaftliche Tugendhaftigkeit.

Es gelang den europäischen Fürsten schon frühzeitig, den Widerspruch zwischen der aufstrebenden Ideologie des Nationalismus und dem dynastischen Prinzip in ihrem Sinne zu entschärfen. Die Monarchien des Ancien Régime waren durch Erbgang, Eroberung, Tausch oder Kauf entstanden und beruhten auf den rechtlichen Normen dieser Vorgänge. Den Ergebnissen solcher Erwerbsmethoden – oftmals zerstreute, heterogene, lose integrierte Gebilde – stand mit der Nation ein politisch-kulturelles Konzept gegenüber, das Gemeinsamkeit, Zusammengehörigkeit sowie Einheitlichkeit in Sprache, Kultur, Religion und Politik forderte. Der zunehmend alle anderen Bezugsgrößen in den Schatten stellenden Nation wurden spezifische Rechte und Interessen zugesprochen, und so entwickelte sich die Verteidigung der nationalen Interessen allmählich zur entscheidenden Aufgabe jeder Form von legitimer Regierung. Das zwang die Monarchien zum Umdenken. »Statt dynastischer verfolgten sie nun nationale Ziele«, resümiert Volker Sellin, und bewiesen dabei beachtliches Talent. Je mehr sich der Nationalismus im Verlauf des 19. Jahrhunderts als »selbständige politische Kraft« etablierte, »gegen die auf die Dauer alle anderen Legimitationsangebote chancenlos waren«, so Hagen Schulze, desto mehr waren die Monarchen bereit, sich Nationalflaggen um die Schultern zu legen und sich als erste Vertreter ihrer Nationen zu gerieren. In vorderster Reihe stand dabei der britische König Georg III. (1738–1820), der sich schon frühzeitig bemühte, das Königshaus mit den Leistungen der Nation zu identifizieren. Am Ende seiner jahrzehntelangen Regierung, die im siegreichen Kampf gegen das napoleonische Frankreich gipfelte und somit die Freiheit und Sonderstellung Großbritanniens verteidigte, erfuhr der Monarch eine nationale Vergöttlichung. Mit der festlichen Begehung seines fünfzigsten Thronjubiläums im Jahr 1809 und der Trauer über seinen Tod elf Jahre später feierte die Nation ihre Freiheit und den Triumph über das, was sie als den militärischen Despotismus des französischen Kaisers begriff. Als tadelloser Hausvater an der Spitze einer vielköpfigen Familie und im Zentrum sorgfältig inszenierter Prachtentfaltung wurde »our Geordie« zum Bezugspunkt der Nation. »Wie sollen wir unseren Patriotismus zeigen?«, fragte der Pfarrer Henry Gauntlett seine Gemeinde im Oktober 1809. »Gewiss, meine Freunde, die wichtigste Art zu zeigen, dass er existiert, ist es, für den König zu beten.«10

Auch die Monarchien auf dem europäischen Festland griffen beherzt nach den Rockschößen des Nationalismus, der ja auch den Thron ihres großen Widersachers, des Kaisers Napoleon, machtvoll gestützt hatte. Der Grund dafür liegt auf der Hand: »Wenn ein Monarch sich auf den Boden des nationalen Gedankens stellte«, so Volker Sellin, »verwandelte er die Anhänger der Nationalbewegung in Parteigänger der Monarchie.« Nach dem Minister Élie Decazes war es das Ziel des 1814 nach Frankreich zurückgekehrten Bourbonenkönigs Ludwig XVIII., »die Nation zu royalisieren und den Royalismus zu nationalisieren«. Diese Idee zündete auf beiden Seiten des Rheins. Als 1840 aufgrund französischer Ambitionen auf die Wiedergewinnung der Rheingrenze in Deutschland der Nationalismus aufloderte und sich in der sogenannten Rheinliedbewegung entlud, wollten auch die gekrönten Häupter nicht abseits stehen. Nikolaus Becker, der damals mit dem patriotischen Gedicht »Sie sollen ihn nicht haben,/den freien, deutschen Rhein« zum Mann der Stunde wurde, fand auch auf königlicher Seite außerordentliche Anerkennung: Friedrich Wilhelm IV. von Preußen (1797–1861) verlieh dem rheinischen Verseschmied eine lebenslange Ehrenpension. Der Bayernkönig Ludwig I. (1786–1868) überreichte ihm einen kostbaren Pokal, woraufhin der Geehrte den Wittelsbacher in einem Dankschreiben als »starken Beschützer deutscher Gesinnung« rühmte. Als 1861 in Italien und zehn Jahre später in Deutschland die Gründung geeinter Nationalstaaten gelang, wurde dies vor allem als Leistung der führenden Dynastien gefeiert. König Viktor Emanuel II. (1820–1878) aus dem Hause Savoyen wurde zum »Vater des Vaterlands«, während man den betagten Hohenzollernkaiser Wilhelm I. (1797–1888) in Anlehnung an den sagenumwobenen Stauferkaiser mit dem Ehrentitel »Barbablanca« als den Wiedererwecker deutscher Herrlichkeit feierte.11

Pester LloydTimes

Times

IIDemokratie und KaisertumII

IXWalkürePolitiken:

XIIICapitan General V

III

Von solchen Gefühlen sollten die Monarchien in erheblichem Maß profitieren, denn Europas Königshäuser trafen im 19. Jahrhundert auch durch ihre Verkörperung und Darstellung militärischer Kraft den Nerv der Zeit. Es gelang den gekrönten Häuptern, die archaische Rolle des Herrschers als Krieger und Feldherr den Anforderungen eines Zeitalters anzupassen, das von Verfassungen, Massenheeren, komplexer Militärtechnik und einer wachsenden medialen Öffentlichkeit geprägt war.

So wie Viktor Emanuel ., dessen Konterfei auf den 1912 gedruckten Jubelpostkarten über einem Siegesengel schwebte, obwohl er kaum aktiv in die Leitung des italienischen Feldzugs in Libyen eingegriffen hatte, präsentierten sich im 19. Jahrhundert viele Monarchen ihren Völkern: als die verfassungsmäßigen Väter der Nation, die zu Hause wie in Übersee siegreich für die Interessen des Vaterlandes eintraten – fast immer in Uniform und wenn nötig an der Spitze ihrer Heere.

Bella figura

III

I So wie der Spross der Wittelsbacherdynastie rühmten sich im 19. Jahrhundert fast alle Mitglieder der Herrscherhäuser der ehrwürdigen und bis in die Gegenwart reichenden kulturellen, wohltätigen und tugendhaften Traditionen ihrer Familien. Sie bemühten sich, ihren Platz an der Spitze von Nationen, Staaten und zunehmend bürgerlich geprägten Gesellschaften auch dadurch zu rechtfertigen, dass sie sich als Sterne am bürgerlichen Wertehimmel inszenierten, die alles überstrahlten.

III


Mit dieser Selbsteinschätzung dokumentierte der künftige deutsche Kaiser Friedrich . seinen Willen, sich als Thronfolger und Monarch konstruktiv in jenen in Preußen noch recht neuen institutionellen Rahmen einzufügen, der die europäischen Monarchien nach Napoleon am stärksten verändert hat: in den der Konstitutionalisierung.

XVIIIChartre

Chartre

ICharta Magna BavariaeIII IMünchner Neuesten Nachrichten,