Der Roman
Eigentlich wollte Rosemarie ans Mittelmeer, aber nun findet sie sich in Sri Lanka wieder! Fasziniert von der buddhistischen Philosophie und der einfachen Lebensweise der zufriedenen Menschen, verliebt sie sich in einen bildschönen jungen Mann. Kasun fleht sie an, ihn mit nach Deutschland zu nehmen, wo er Arbeit finden will. Gegen die Mühlen der Bürokratie scheint die Liebe nicht anzukommen, und so heiratet Rosemarie den viel jüngeren Singhalesen. Nach der Traumhochzeit unter Palmen im Hause seiner Familie und mit dem Segen buddhistischer Mönche steht dem gemeinsamen glücklichen Leben in Deutschland nichts mehr im Wege. Doch Kasun, der sie all ihr Geld gekostet hat, verschwindet über Nacht. Stattdessen steht eine andere Frau vor ihrer Tür, die ebenfalls Anspruch auf ihn erhebt. Jahre später glaubt Rosemarie, ihren Ehemann im Fernsehen in den Trümmern, die der Tsunami angerichtet hat, zu erkennen. Sie folgt ihrem Herzen und macht sich noch einmal auf die Reise. Wird sie ihn wiedersehen? Und wird er das Geheimnis seines Verschwindens preisgeben?
Die Autorin
Hera Lind studierte Germanistik, Musik und Theologie und war Sängerin, bevor sie mit ihren zahlreichen Romanen von Die Champagner-Diät und Verwechseljahre bis Eine Handvoll Heldinnen sensationellen Erfolg hatte. Auch mit ihren Tatsachenromanen Kuckucksnest, Die Frau, die zu sehr liebte und Mein Mann, seine Frauen und ich eroberte sie die SPIEGEL-Bestsellerliste. Hera Lind lebt mit ihrer Familie in Salzburg.
HERA
LIND
Der Prinz
aus dem
Paradies
Roman nach einer wahren Geschichte
1
DÜSSELDORF, AUGUST 1995
Nebenan saß ein junges Pärchen, eng aneinander gekuschelt auf den schmalen Flugzeugsitzen. Er las Siddhartha von Hermann Hesse, und sie blätterte in einem Reiseführer, Sri Lanka – Insel der Träume. Die junge Frau hatte ihren Wuschelkopf an seine Schulter gelehnt.
Na toll. Die hatten sich. Und ich? Nicht ohne Neid schielte ich zu ihnen hinüber. Ich hatte niemanden. Ich war eine geschiedene Frau mittleren Alters.
Verzweifelt atmete ich schwer gegen eine Panikattacke an. Sri Lanka. Zehn Stunden Nachtflug. Mein Sohn war doch verrückt, mir so eine weite Reise zu schenken!
Was lag denn da alles auf meinem Sitz? Ich zog eingeschweißte Decken, Kissen und Kopfhörer unter meinem Allerwertesten hervor. Wohin jetzt damit? Auch mein Handgepäck konnte unmöglich so vor meinen Füßen stehen bleiben.
Mühsam stemmte ich mich noch mal hoch, hielt tapfer dem Strom der nach mir hereindrängenden Passagiere stand und wuchtete meine prall gefüllte Tasche ins Gepäckfach. Eine hübsche Stewardess eilte herbei. »Darf ich Ihnen behilflich sein?«
»Ja bitte, ich glaub, mir wird schwindelig.« Eine Hitzewallung überkam mich, sodass ich mich schwer zusammenreißen musste, den Flieger nicht wieder fluchtartig zu verlassen.
Ruhig, Rosemarie!, beschwor ich mich. Ganz ruhig. Wir atmen tief in den Bauch, denken an etwas Schönes und entspannen uns.
»Vielen Dank.« Uff. Plumps. Wieder saß ich auf meinem Sitz.
Ich tupfte mir mit einem Erfrischungstuch die Schweißtropfen von Stirn und Oberlippe. »Schrecklich eng hier, was?«, sagte ich zu dem Pärchen. »Waren Sie schon mal in Sri Lanka?«
»Nein.« Die beiden schauten mich fragend an. »Und Sie?«
»Nein«, gestand ich. »Bis vorgestern wusste ich noch nicht mal, wo das überhaupt liegt!«
»Und wie kommt es dann, dass …?« Das junge Glück wechselte erstaunte Blicke.
»Weil mein Sohn mir die Reise zum Geburtstag geschenkt hat. Der ist zwar erst im November, aber Mario, also mein Sohn, hat gemeint, die Preise wären gerade besonders günstig gewesen.«
Schwer atmend versuchte ich, den Sicherheitsgurt um meine weiblichen Rundungen zu zurren. Die zwei waren so schlank, dass ein Sicherheitsgurt für beide gereicht hätte.
»Er muss es ja wissen, er arbeitet in einem Reisebüro.«
Unter den prüfenden Blicken der Stewardess, die bestimmt überlegte, ob sie mir ein Verlängerungsteil oder ein Beruhigungsmittel bringen sollte, sprudelte es nur so aus mir heraus:
»Junge, hab ich gesagt, ich bin reif für die Insel. Du sitzt doch an der Quelle. Schau doch mal nach einem günstigen Angebot, Last Minute, nach einem schönen Ort, an dem deine alte Mutter mal zwei Wochen entspannen kann, bis es im Job wieder rundgeht.«
»Na, so alt sind Sie doch auch noch nicht …«
»Was arbeiten Sie denn?«
»Bald neunundvierzig«, gab ich freimütig zu. »Als Psychologin leite ich Entspannungskurse für Erwachsene und Kinder. Mitte September geht es wieder los mit autogenem Training, Hypnose und Stressbewältigung, aber jetzt muss ich selber mal runterkommen.« Ich wich einem dicken Bauch aus, der sich in mein Gesichtsfeld schob. »Aber doch nicht so!« Jemand versuchte, sein Gepäck in das Fach über mir zu quetschen. Dabei sprang ein Hemdknopf ab, und ein haariger Bauchnabel stach mir ins Auge.
Ich drehte den Kopf, um dieses Grauen nicht sehen zu müssen. Lieber wandte ich mich wieder den appetitlichen jungen Leuten zu.
»Und dann ruft mich Mario gerade mal vor zwei Tagen an und sagt: ›Mutter, du fliegst dahin, wo der Pfeffer wächst‹. Darauf ich: ›Wo wächst denn der Pfeffer?‹ und er: ›An der Südspitze Indiens – in Sri Lanka.‹ – ›Junge!‹, brause ich auf, ›bist du verrückt‹? Da will ich doch nicht hin! Das ist doch in der Dritten Welt! Ich brauche Ruhe und Erholung und keinen Ärger mit Salmonellenvergiftung, Kriminalität und so …«
Die jungen Leute machten große Augen.
»Und er sagt: ›Tja Mutter, ich dachte du wolltest so billig wie möglich so weit weg wie möglich! Also Sri Lanka!‹ – Darauf ich: ›Und was ist, wenn ich krank werde und in ein Buschkrankenhaus muss, wo mich keiner versteht und wo ich wegen der unsauberen Verhältnisse erst recht krank werde? Die haben da bestimmt nur ein Klo für alle.‹«
Die zwei lauschten mit offenem Mund. Kann sein, dass das Mädchen ein bisschen blass wurde.
»Menschenskind, ich kann ja noch nicht mal Englisch! Und auf das scharfe Essen da hab ich auch keine Lust! Davon krieg ich bestimmt Durchfall!« Endlich war der Dicke mit dem aufgeplatzten Hemd verschwunden. »Lieber Gott …« Ich wischte mir erneut den Angstschweiß von der Stirn. Ich wollte ans Mittelmeer! Nach Italien, Spanien, meinetwegen auch nach Griechenland! Aber was macht Mario? Bucht mir dieses ›Superschnäppchen‹ am Ende der Welt! Hotelresort Hikkaduwa Namaste – ich deklamierte sorgfältig dieses exotische Zauberwort.
Um meine Panik in den Griff zu bekommen, redete ich immer weiter, ohne Punkt und Komma.
»Da hätte ich auch zu Hause bleiben können!« Ich tupfte mir den Schweiß von der Oberlippe. »Am Bodensee ist es jetzt im August doch auch schön! Aber ich habe einen neunzigjährigen Vater und einen behinderten Bruder, deshalb wollte ich wirklich mal weit weg von Baden-Württemberg!«
Ich versuchte ein tapferes Grinsen. »Aber was soll’s, für irgendwas ist es bestimmt gut. Es gibt keine Zufälle im Leben! Zufall ist, was uns zufällt auf unserem Lebensweg!«, gab ich einen meiner Lehrsätze zum Besten. »Man muss einfach Vertrauen haben. Dem Schicksal voll und ganz vertrauen. Dann wird alles gut.«
In dem Moment ließ sich der Dicke mit dem Hemd auf den Sitz vor mir fallen und stellte seine Rückenlehne beim Anschnallen so weit zurück, dass sie mir fast an die Stirn knallte.
O Gott. Das Ganze hier war eine einzige Heimsuchung. Trotzdem zitierte ich weiter aus meinem Psychologie-Repertoire. »Alles hat einen Sinn. Auch Menschen, die Prüfungen für einen sind. Man kann aus jeder Situation etwas lernen.« Ich stemmte meine Knie gegen die Vorderlehne und bohrte sie dem Dicken in den Rücken. »Das Einzige, was wirklich Zufall ist, ist, wenn man die Garagentür zuhaut und gleichzeitig fällt in der Küche die Uhr von der Wand.«
Die beiden lauschten mit offenem Mund. Inzwischen verließ der Riesenflieger bereits seine Position und rollte unerbittlich in Richtung Startbahn. Ich krallte mich in meine Armlehnen. Wie sollte ich die nächsten zehn Stunden in dieser Enge überleben, ohne durchzudrehen? Ohne einen Menschen, der mir liebevoll die Hand hielt?
O Gott, der Pilot gab Gas. Ich wurde von einer enormen Kraft in den Sitz gedrückt, und wir gingen in den Steigflug. Mit gefalteten Händen saß ich da und betete: »Lieber Gott, lass diese Reise zu etwas Gutem führen.« Vor lauter Aufregung kamen mir die Tränen. Es war wie Lachen und Weinen zugleich. Juhu! Wir flogen! Wie aufregend war das denn!
Mit zunehmender Höhe wurde ich ruhiger. Vielleicht weil ich mir einbildete, dem lieben Gott jetzt näher zu sein?
Endlich gingen die Anschnallzeichen aus, und die Maschine hatte ihre endgültige Flughöhe erreicht.
»Uff.« Mir entfuhr ein Stöhnen. »Das Schlimmste hätten wir schon mal geschafft.«
Erleichtert ließ ich meinen Gurt aufschnappen, als der Dicke vor mir seinen Sitz nach hinten fuhr. Jetzt hatte ich seine Halbglatze fast im Gesicht.
Rosemarie, liebe deinen Nächsten!, dachte ich stoisch. Das gilt auch für deinen Vordermann.
Schon wehten köstliche Düfte durch die Gänge, und die Stewardessen warfen uns zur Steigerung der Vorfreude schon mal einen heißen nassen Lappen in den Schoß.
Eifriges Geklapper von Seiten der jungen Damen in den hübschen Uniformen ließ mich erfreut den Kopf heben.
»Was darf es für Sie zum Trinken sein?«
»Och, ich genehmige mir zur Feier des Tages mal ein Sektchen.«
Den hatte ich mir jetzt verdient. Ich prostete dem reizenden Pärchen neben mir zu, und innerlich auch mir selbst. Rosemarie, du schaffst das!
Der Sekt beruhigte meine Nerven, und die Nüsschen, die man gratis dazu bekam, würden den schlimmsten Hunger lindern. Schließlich hatte ich erst mal den Zug nehmen und über Stuttgart zum Flughafen Düsseldorf fahren müssen. Ich war also schon eine ganze Weile unterwegs. Heißhungrig riss ich das Tütchen auf und stopfte mir die Nüsschen in den Mund. Ich kam mir vor wie der berühmte Pawlowsche Hund, mir lief das Wasser im Munde zusammen. So, Rosemarie. Ab jetzt entspannst du dich und genießt den Flug!
Das junge Glück hatte sich Kopfhörer aufgesetzt. Bestimmt hatten die beiden fürs Erste genug von meinem privaten Bordentertainment. Auch gut. So konnte ich endlich meinen Gedanken nachhängen.
Ich döste ein, als mich jemand behutsam antippte.
»Was möchten Sie essen? Pasta oder Rind?«
»Wie? Oh?! Ist es schon so weit?«
Seit einer Stunde hatte ich die Menükarte auf dem Schoß und noch keinen Blick hineingeworfen!
»Pasta bitte.«
Ganz heiß lag sie auf meinem Teller, dazu gab es Brötchen, Butter, einen Salat mit pikantem Dressing und zum Nachtisch Weinschaumcreme. O Gott, wie wundervoll.
»Danke!« Ich strahlte die Stewardess an, als hätte sie mir das alles persönlich gekocht. Begeistert machte ich mich über das köstliche Essen her. So königlich bedient zu werden, und das in zehntausend Metern Höhe!
Ich hätte nie so gelangweilt im Flieger hocken können wie manch anderer, der diesen Flug nur als notwendiges Übel ansah, das Essen gar nicht genießen konnte und auch die Freundlichkeit der Stewardessen nicht zu schätzen wusste.
Ich war dankbar für alles, was mir auf diesem Flug geboten wurde. Dankbarkeit ist die beste positive Energie, die man nur haben kann! Sie ist Voraussetzung für ein glückliches, erfülltes Leben. Ach, aber wem sagte ich das? Keinem. Nur mir selbst.
Nach einem zweiten Sekt war alle Panik verflogen, und ich schaffte es sogar, das Kopfhörerende in die richtige Buchse zu stecken! Genüsslich sah ich mir den Film Green Card an, mit der entzückenden Andy McDowell und dem damals noch schlanken attraktiven Gérard Depardieu. Gott, waren die süß! Ja, Liebe musste schön sein.
Ich wusste kaum noch, wie man das Wort schreibt. Hatte ich je geliebt? War ich je geliebt worden? Nein, in meiner Ehe, als die Kinder noch klein waren, hatte ich wohl eher funktioniert. Und war gebraucht worden. Nach der Scheidung vor zwölf Jahren war ich vollauf damit beschäftigt gewesen, beruflich Fuß zu fassen. Aber jetzt war ich frei. Wofür? Für ein neues Kapitel in meinem Leben? Schließlich war die zweite Halbzeit angebrochen. Kam da noch was?
Auf dem Monitor war zu sehen, wie unser Flieger über karge felsige Wüstenlandschaft kroch, und ich zwang mich, mir nicht vorzustellen, wie es wäre, hier notlanden zu müssen. Nicht schön.
Beim Gang zur Toilette riskierte ich einen kurzen Blick aus dem Bullauge neben dem Notausgang. Unter uns nichts als schwarze Ödnis.
In dem Moment kam die markante Stimme des Piloten durch den Lautsprecher: »Meine Damen und Herren, wir überfliegen soeben den Äquator. Wenn Sie bitte mal schauen wollen, links von uns ist er deutlich zu sehen.«
Auf einmal kam Leben in die verschlafene Bude. Alle rieben sich die Augen und starrten hinaus. Als hätten sie Angst, etwas zu verpassen. Manche rissen sogar den Fotoapparat heraus und knipsten in die Dunkelheit, was mit Blitzlicht gegen die Scheibe bestimmt kein gelungenes Foto ergeben würde. Dabei war wirklich nichts zu sehen! Ich musste grinsen, als ich da in meinen roten Frotteesocken aus dem Fliegertäschchen vor der Toilettentüre stand. Die Stewardessen kicherten und warfen sich verschwörerische Blicke zu.
Das war wohl mehr so ein Insiderscherz. Aber nun waren alle wieder wach.
Jetzt fielen mir auch die vielen dunkelhäutigen Passagiere auf, die ich in meiner Aufregung vorher gar nicht wahrgenommen hatte. Viele Familien mit entzückenden Kindern. Diese Inder – oder waren es Singhalesen? – strahlten eine ganz besondere Gelassenheit aus. Während ich unauffällig ein paar Lockerungsübungen machte, ließ ich meinen Blick schweifen: Es waren auch einige gemischte Paare an Bord. Die Frauen waren meist älter und hatten eine weiße Hautfarbe, die Männer dunkelhäutig und jünger. Ach. Da schienen sich ja einige gefunden zu haben. Hatten die Damen sich ein exotisches Souvenir aus dem letzten Urlaub mitgebracht? Und reisten sie nun gemeinsam wieder hin, um seine Verwandten zu besuchen? Mit meinem psychologisch geschulten Blick nahm ich allerdings sofort zur Kenntnis, dass diese Paare sich offensichtlich nichts mehr zu sagen hatten. Die große Liebe schien das bei denen nicht zu sein. Sie wirkten nicht besonders glücklich, ja, noch nicht einmal zufrieden! Weder unterhielten sie sich angeregt, noch lachten sie schallend vor Freude, geschweige denn waren sie ineinander verkeilt wie das Liebespaar in meiner Sitzreihe. Bei näherer Betrachtung fiel mir auch auf, dass keine dieser älteren Frauen auch nur annähernd gut aussah. Hatten die jungen schlanken Männer diese Damen tatsächlich aus Liebe geheiratet? Oder eher aus Berechnung, um mit ihnen nach Deutschland kommen und Geld verdienen zu können? Wie anfangs in Green Card, wo Gérard Depardieu und Andie McDowell ja auch nur geheiratet hatten, damit er eine Aufenthaltsgenehmigung und Arbeitserlaubnis bekam? Allerdings hatten sie sich dann doch noch ineinander verliebt. Und wie! Die waren ja auch beide hübsch und jung und hinreißend. Aber diese älteren Damen hier, die alle doppelt so alt waren wie ihre zierlichen, samthäutigen und mandeläugigen Begleiter, die ließen sich doch bestimmt ausnehmen wie eine Weihnachtsgans, oder?
Ach, Rosemarie!, dachte ich, das geht dich doch gar nichts an.
Endlich stolperte jemand aus der Bordtoilette, der sich da drin wohl ausgiebig für die Nacht zurechtgemacht hatte, und ich durfte rein.
Wieder an meinem Platz stellte ich fest, dass an Schlafen nicht zu denken war. Die Zeit wollte einfach nicht vergehen! Unser Flieger auf dem Monitor schwebte seit Stunden auf der Stelle, über Orten wie Ahmedabad und Hyderabad, und selbst wenn sich das »Bad« irgendwie einladend anhörte, hatte es sicherlich keinerlei Ähnlichkeit mit einem netten Seebad, in das ich ja eigentlich wollte!
Auf meiner Armbanduhr war es halb drei Uhr nachts, und allmählich bekam ich dicke Füße. Böse Ahnungen von Thrombose und Lungenembolie stahlen sich in mein sonst so positives Denken, und ich musste mir schöne Traumbilder von weißen Stränden, Palmen, blauem Himmel und einem kühlen Drink vergegenwärtigen, um wieder zur Ruhe zu kommen. Bloß keine Panik, Rosemarie! Du lustwandelst gerade barfuß durch erquickende Wellen des Indischen Ozeans, und der ist so klar und türkisfarben, dass du die bunten Fische darin siehst. Du spürst den warmen, weichen Sand zwischen den Zehen. Ein wunderschöner, junger dunkelhäutiger Mann folgt dir. Er reitet auf einem Elefanten. Er sieht dich mit seinen geheimnisvollen Augen sehnsüchtig an und fragt, ob er dich ein Stück mitnehmen kann. Du würdest ja gern, kommst aber nicht auf den Elefanten. Er springt leichtfüßig in den Sand und hebt dich mit seinen starken Armen auf das dickhäutige Tier …
Plötzlich ging das Licht im Flugzeug an.
»Wie? Sind wir schon da?«
»In Sri Lanka ist es jetzt halb acht Uhr morgens«, erklärte mir die Stewardess lächelnd und reichte mir ein feuchtheißes Handtuch.
Überall gingen die Fensterrollos hoch, und die Sonne wärmte mein Gesicht.
Halleluja! Es war fast geschafft! Ich fuhr mir mit dem Tuch übers Gesicht und fühlte mich auf Anhieb erquickt. Jetzt kam auch das Cremedöschen aus meiner Bauchtasche zum Einsatz. Lustvoll verteilte ich die duftende Lotion auf Gesicht und Händen. So, Rosemarie, duftend und strahlend wirst du sri-lankischen Boden betreten, und nicht bleich und verschlafen. Man muss sich doch nicht gehen lassen!
Dankbar genoss ich das Rührei, ein paar Stückchen Obstsalat und ein Marmeladenbrötchen, schlürfte zwei Tassen Kaffee mit Milchpulver aus dem Plastikbecher und trippelte noch einmal zum Zähneputzen.
Durch das Bullauge sah ich aufs tiefblaue Meer hinaus! Und was war das? Ein weißes winziges Schiff, das wie ein Spielzeugboot durch die Wellen pflügte! Bestimmt eine Privatjacht von einem indischen Prinzen. Gebannt starrte ich hinunter, erkannte sogar schon die Schaumkronen vor einem palmenumsäumten Traumstrand, und erst als die Stewardess mich energisch aufforderte, mich wieder hinzusetzen und zur Landung anzuschnallen, erfasste mich nicht nur Vorfreude, sondern auch Aufregung. Der Druck auf meine Ohren wuchs. Schlucken, Rosemarie, schlucken! Kinder weinten, Mütter suchten nach Schnullern und Trinkflaschen. Oh! Meine reizende Stewardess verteilte Bonbons! Jeder bekam eines, wie aufmerksam! Also diese Mädels hatten ja wohl einen Riesenapplaus verdient.
Wir überflogen einen dichten Palmenwald, ich erkannte ein mit Stacheldraht abgesperrtes Gelände aus staubigem Schotter, und dann senkte sich die Schnauze unseres Riesenvogels Richtung Landebahn. Die Luft sirrte und flirrte, als er aufsetzte und noch ein paarmal auf und ab hüpfte wie ein Seeelefant, der schnaubend ans Ufer gleitet. Der Pilot hatte es geschafft, dieses tonnenschwere Metallmonster sicher auf sri-lankischen Boden zu bringen! Frenetischer Beifall füllte die Kabine.
Vor lauter Neugierde und Tatendrang konnte ich es kaum erwarten, endlich aufzustehen und meine Tasche an mich zu raffen! Ich musste mich mühsam beherrschen, nicht zu drängeln. Ich bedankte mich noch einmal bei den Stewardessen, die sich an der inzwischen geöffneten Tür verabschiedeten.
Dann kniff ich geblendet von der sengenden Sonne die Augen zusammen. Der heiße Wind Sri Lankas haute mich fast um. War das hier immer so? Wie sollte ich das nur zwei Wochen lang aushalten?
Ich straffte die Schultern und schritt tapfer die eisernen Stufen hinunter.
2
COLOMBO, SRI LANKA, AUGUST 1995
Im tumultartigen Chaos der Ankunftshalle stand ich erst mal schweißgebadet da und wünschte mir, mir die Klamotten vom Leib reißen zu können. Tausende von dunkelhäutigen Abholern hielten ihre Schilder hoch und schrien durcheinander.
In der Flughafentoilette hatte ich mir zwar einiges ausgezogen, aber offensichtlich nicht genug. Ein kleines hutzeliges Weiblein im Sari hatte das Waschbecken geputzt, und ich hatte ihr einen Dollarschein geben wollen, aber sie hatte abgewehrt: »Mark please, Mark!«
Na, das fing ja schon mal gut an. Dollars wollte sie nicht, aber Mark? Schon bei meiner ersten Begegnung mit einer Einheimischen schien ich etwas falsch gemacht zu haben.
So. Was nun? Die verschnörkelte Schrift auf den Anzeigetafeln konnte ich nicht lesen. Das Englische auch nicht. Ich fächelte mir mit meinem Pass Luft zu.
»Taxi! Madam, Taxi!« Schon wollten eifrige Hände nach meinem Koffer greifen und mich irgendwohin zerren.
»Nein, nein, nicht doch!«, wehrte ich freundlich ab. Mario hatte ja ein All-Inclusive-Paket für mich gebucht! Da war ein Hotelbus mit drin! An meinem Koffer klebte der entsprechende Aufkleber.
Da kam auch schon ein dünner Mann im knielangen Oberhemd über Pumphosen barfuß angerannt und nahm meinen Koffer.
»Halt! Der Koffer ist schwer … Den kann man ziehen, das ist ein Rollkoffer …«
Unbeirrt schleppte der Mann das sperrige Teil bis zu einem kleinen Hotelbus, der wartend am Seitenausgang stand. Darin verstaute er ihn tapfer und grinste mich fast zahnlos an.
»Mark please.«
»Ich hab nur kleine Dollarscheine!«
Das hatte Mario mir extra geraten: viele kleine Dollarscheine mitzunehmen.
»No, Mark please!«
»Tut mir leid. Hab ich nicht. Mein kleinster Markschein ist ein Zwanziger, und Sie hätten den Koffer ja ziehen können.«
Kopfschüttelnd stieg ich in den kleinen Bus. Die Hitze war wirklich unerträglich.
Neben mir saß ein deutsches Ehepaar, das sich ebenfalls völlig schachmatt Luft zufächelte. Sie war auch etwas mollig, was ich auf Anhieb sympathisch fand, und er groß und stark. Das fand ich noch viel sympathischer. Wir alle passten kaum in die schmale Sitzreihe, die eher für hiesige Körpermaße gedacht zu sein schien.
»Hallo, ich bin Rosemarie Sommer, reisen Sie auch ins Hotel Hikkaduwa Namaste?«
Auf ihrem Handgepäck prangte derselbe Aufkleber.
Endlich hatte ich Gesellschaft gefunden! Erleichterung machte sich breit.
»Wir sind die Neumanns aus Unna. Am Kamener Kreuz rechts ab!«, ertönte der mächtige Bass des Mannes.
»Bärbel und Eberhard.«
Endlich tuckerte der Busfahrer los, und eine Art Klimaanlage ging an. Kochend heiße Luft kam aus der kleinen Luke über meinem Kopf und föhnte mir die schweißnassen Haare.
Ups, hier herrschte ja Linksverkehr! Daran musste ich mich erst mal gewöhnen.
Der Ausblick aus dem Busfenster war herrlich! Üppige orangefarbene, lila und blutrote Blütenpracht überall, grüne Palmen, die sich im Wind wiegten, hübsche Häuser und auffallend schöne Menschen. Bildschöne, zierliche Frauen schritten anmutig in ihren bunten Saris über die Straße, die leider von Abfällen und Plastikmüll nur so übersät war.
Fasziniert starrte ich aus dem Fenster und verrenkte mir den Hals. Quietschgelbe Tuktuks knatterten hupend durch staubige Schlaglöcher, darin bis zu vier schlanke Menschen, die mich mit blitzend weißen Zähnen anstrahlten. Ich winkte, und sie winkten freundlich zurück.
»Gucken Sie mal, Eberhard und Bärbel, ein Elefant!« Ich konnte kaum fassen, was auf dieser Straße alles unterwegs war.
Je mehr wir uns von der schillernden Großstadt Colombo entfernten desto ländlicher wurde die Gegend. Von einfachen Bretterbuden aus verkauften Händler Berge von rohem Fleisch, das von schwarzen Schmeißfliegen umschwirrt wurde. Bei dieser Hitze!
Wer wollte denn so was essen? Mir wurde fast übel.
Auch Bärbel und Eberhard sparten nicht mit Kommentaren. »Das ist ja so was von unhygienisch! Da hätte unser Metzger in Unna aber sofort das Gewerbeaufsichtsamt am Hals!«
Trotz der herrlich exotischen Pflanzenwelt ließen sich die einfachen, ja ärmlichen, von Müll umgebenen Hütten leider nicht übersehen. Dazwischen winzige Geschäfte mit wenigen Waren, meist Früchte, Gemüse, Haushaltswaren, Plastikzeug und Autoersatzteile.
Es wirkte nicht sehr ansprechend, aber die Menschen schienen sich daran nicht zu stören.
»Hier müsste mal ordentlich aufgeräumt werden«, fand Eberhard. »Warum greift denn hier niemand mal zum Kärcher?«
»Und ich würde einfach mal die Müllabfuhr hier durchschicken«, meinte Bärbel konstruktiv.
»Andere Länder, andere Sitten«, sagte ich begütigend.
Müdigkeit übermannte mich, aber ich hatte Angst zu schnarchen und wollte es mir mit Bärbel und Eberhard schließlich nicht gleich verderben.
Die unruhige Busfahrt von Colombo in unser Resort dauerte ganze vier Stunden. Längst waren die beiden neben mir eingenickt, und Eberhard schnarchte laut. Endlich steuerte der Busfahrer unser Hotel an.
Namaste Hikkaduwa, stand in geschwungener Schrift über der blumenumrankten Einfahrt. Zwei bezaubernde mandeläugige Schönheiten standen grüßend vor der Tür und legten der zerzausten Bärbel und meiner erschöpften Wenigkeit weiße Blütenkränze um den Hals, während der schwitzende Eberhard und der schmächtige Busfahrer die Koffer aus der Gepäckluke zerrten. Wir bekamen einen exotischen Drink, der nach Ananas, Mango und Zitrone schmeckte. Dankbar stürzten wir ihn hinunter. Köstlich!
»Na, dann auf einen schönen Urlaub!«
Bärbel und Eberhard prosteten mir zu.
Staunend betraten wir die kühle, elegante Eingangshalle. Mehrere Ventilatoren surrten an der Holzdecke, die mit kunstvoll geschnitzten Ornamenten verziert war. Auf niedrigen Holztischchen standen Vasen mit schnabelförmigen orangefarbenen Blüten, und hinter der Rezeption flatterten zwei zierliche Damen herum wie Schmetterlinge.
Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein!, schoss es mir durch den Kopf.
»Oh, da hinten ist der Pool!«, rief Bärbel.
»Und dahinter Palmen und Meer – endlich!«
Ich konnte es kaum erwarten, meinen müden verschwitzten Körper in die kühlen Fluten zu tauchen.
»Na dann bis später, wir sehen uns!«
Bärbel und Eberhard zogen ab, und ich folgte einem Halbgewicht in Uniform zum Aufzug. Mein Zimmer lag im zweiten Stock. Es war spartanisch eingerichtet: ein Bett, ein Stuhl, ein Schrank und ein Ventilator.
»Danke.« Als ich dem Hotelangestellten einen Dollar geben wollte, murmelte er wie aufgezogen: »Mark, please, Mark!«
Na meinetwegen. Jetzt musste der Zwanziger dran glauben. Die Dienste dieses Mannes würde ich noch länger in Anspruch nehmen. Irgendwann würde ich auch herausfinden, warum die einheimische Bevölkerung keine Dollars haben wollte.
Nach einer halbwegs erfrischenden Dusche nahm ich den geblümten Badeanzug aus dem Koffer, zog ein Strandkleid drüber, schlüpfte in die Badelatschen und machte mich auf zum Strand.
Oje, was für eine Enttäuschung. Alles voller Korallenbänke! Der dunkelbraune Sand war voller spitzer Steine. Barfuß konnte man hier gar nicht laufen, auch nicht ins Wasser gehen! Und das milchig-warme Wasser war so flach, dass man kilometerweit reinstiefeln hätte müssen, um endlich schwimmen zu können. Nein, das war hier überhaupt nicht zum Baden gedacht.
Toll gemacht, Mario. Vielen herzlichen Dank. Soviel zum Traum vom Sandstrand unter Palmen und einem türkisblauen Meer.
Zurück am Pool, der schmucklos in der prallen Sonne lag, hielt ich meine große Zehe hinein. Pipiwarm!
»Och nee, Mario, also wirklich!«
Dafür war ich jetzt so weit gereist? Vierundzwanzig Stunden war ich jetzt unterwegs?! Von meinem Dorf nach Stuttgart, von dort mit dem Zug nach Düsseldorf, dann der lange Flug und anschließend noch vier Stunden Busfahrt!
Ich zwang mich, nicht an das gepflegte Strandbad zu Hause mit seinen weißroten Sonnenschirmen, den schattenspendenden Kastanien und bequemen Liegestühlen zu denken. Ganz zu schweigen von dem netten Kiosk, an dem es Würstchen, Bier und Zeitschriften gab! Ganze fünfzehn Minuten Fußweg von meinem Zuhause entfernt!
Ein Leguan kroch unter einem vertrockneten Busch hervor und beäugte mich schadenfroh. »Das hättest du am Bodensee billiger haben können!«, schien er mich zu verspotten. »Da sind es jetzt angenehme fünfundzwanzig Grad, und die Leute sprechen deutsch, und die Laubbäume spenden luftigen Schatten.«
Enttäuscht ließ ich mich auf einen kaputten Liegestuhl sinken, und meine vor Müdigkeit brennenden Augen füllten sich mit Tränen.
»Hier bleibe ich höchstens eine Woche«, murmelte ich leise vor mich hin. Nun hatte sich auch noch die Sonne verzogen. Es war zwei Uhr mittags, und ich starrte in dumpfes Grau.
»Dann muss ich mich wenigstens nicht eincremen«, waren meine letzten Gedanken, bevor ich in einen totenähnlichen Tiefschlaf fiel.
Als ich mich abends in meiner düsteren Kemenate auszog, stellte ich fest, dass ich mir einen schrecklichen Sonnenbrand zugezogen hatte. Ich war feuerrot.
»Aber es war doch gar keine Sonne? Autsch!«
Schon wieder kamen mir die Tränen. Selbst das kühle Wasser aus der tröpfelnden Dusche brannte wie flüssige Lava auf meiner Haut! Mein Gesicht leuchtete wie eine reife Tomate, bis auf zwei weiße Flecken um die Augen. Ich war wohl mit Sonnenbrille eingeschlafen. Ich sah aus wie ein Kürbis an Halloween!
»Wo krieg ich denn jetzt eine After Sun Lotion her?« Mir wurde schlecht, und meine Zähne schlugen aufeinander. Mühsam schleppte ich mich zum Bett, doch das Laken marterte meine empfindliche Haut.
Diese Nacht würde ich nicht durchstehen! Mein Jetlag und mein Sonnenbrand brachten mich schier um den Verstand. Noch mehr quälte mich Heimweh.
Es klopfte.
»Ja?!«
Der milchbraune Kofferboy von heute Mittag schob sich schüchtern herein.
Auf Englisch fragte er mit sanfter Stimme, ob alles okay sei. Das Wort okay verstand ich zum Glück und schüttelte vehement den Kopf. »No! Nix is okay! Gucken Sie mal, was mir heute passiert ist!« Ich hielt ihm mein brennendes Gesicht hin und zupfte am Ausschnitt meines Nachthemds.
Dem armen Jungen fielen fast die Augen aus dem Kopf. »Sunburn«, sagte er sanft. »Wait, Madam, I’ll help.«
Ja bitte. Bring einen rollenden Kühlschrank, der von innen mit Magerquark ausgeschlagen ist und fahr mich damit zum Flughafen. Ich will sofort nach Hause, dachte ich. Mir war so schlecht, heiß und kalt, ich zitterte und hatte Durst und wollte nur noch sterben.
Nach kurzer Zeit kam der Hotelboy wieder und brachte ein Blatt von einer Aloe Vera-Pflanze.
Wollte er mir jetzt die ganze Nacht damit Luft zufächeln? Mein Zwanzigmarkschein schien ihn echt beeindruckt zu haben! Er schnitt das Blatt jedoch vorsichtig durch und schälte das glibbrige Fleisch mit dem Messer heraus. Aha!, dachte ich angewidert. Wenn ich das essen soll, kann er gleich wieder gehen.
Doch zu meinem Erstaunen kniete sich der junge Mann vor mein Bett und strich mir behutsam das Gesicht damit ein. So schnell, dass ich nicht mehr zurückweichen konnte. Es war mir unangenehm, diese intime Berührung durch einen fremden Mann. Mal ganz abgesehen davon, dass ich nicht gerade liebreizend aussah mit der grünen Pampe im Gesicht, und mein kurzes Nachthemd meine knallroten Schenkel auch nicht gerade verdeckte.
Und das Zeug stank! »Lassen Sie das, ich möchte das nicht …«, stieß ich hervor.
»Relax«, murmelte der junge Hotelboy. »It’s good for you!«
Ja. Wahrscheinlich. Was hatte ich schon zu verlieren? Meine Würde jedenfalls nicht mehr.
Ich versuchte mich zu entspannen. Wollte er etwa weiter unterhalb … Nein das würde ich nicht zulassen.
»NUR die Nase!«, sagte ich streng.
»Relax!«
Oh, war das wohltuend! Der erste Mensch in diesem Land, der sich meiner fürsorglich annahm! Aber wohin sollte das führen? Ich sah wieder die ungleichen Paare aus dem Flugzeug vor mir. Hatte das bei denen auch so angefangen?
»Können Sie mir nicht eine Kollegin schicken?«
»Relax.« Na ja, viel mehr Vokabular hatte der auch nicht im Repertoire.
»Turn around.«
»Wie jetzt?«
Ich sollte mich umdrehen? Offensichtlich. Er machte eine entsprechende Geste. Nein. Wirklich nicht.
»Das ist mir unangenehm«, sagte ich freundlich, aber bestimmt. »Wir kennen uns ja gar nicht.« Vehement schüttelte ich den Kopf. »No. Go away.« Mehr Englisch konnte ich leider nicht.
Der Angestellte zuckte bedauernd die Schultern und trollte sich.
Ich öffnete das Schiebefenster, um erst mal kühle Luft reinzulassen. Ach, was hatte ich mich auf die lauen Nächte gefreut! Meeresrauschen, Mondschein, Sternenhimmel!
Wegen meiner Erschöpfung schlief ich trotz Sonnenbrand ein und merkte nicht, wie sich die Mücken auf mich stürzten. Der Duft nach Aloe Vera und Menschenschweiß muss für sie ähnlich verführerisch gewesen sein wie der nach gebrannten Mandeln oder einer warmen Zimtschnecke.
Am nächsten Morgen war ich zusätzlich zum Sonnenbrand völlig zerstochen. Zu allem Überfluss saßen die vollgesogenen Biester jetzt überall an den Wänden und freuten sich auf die nächste Nacht.
»Verdammt!« Ich schleppte mich zur Tür und rief nach dem Hotelboy. »Gucken Sie sich das an!« Vorwurfsvoll zeigte ich auf die Ansammlung von Moskitos.
»You must shut window!« Kopfschüttelnd schloss er das Fenster.
»Ja, aber dann krieg ich Zustände …« Ich machte ihm vor, wie sich so eine Hitzewallung anfühlt. In Verbindung mit Sonnenbrand.
»Nur Höllenfeuer ist schlimmer!«
Er schenkte mir ein strahlendes Lächeln und zeigte mit dem Kinn auf den Ventilator.
»Air condition!«
Sein indischer Akzent war hinreißend, aber was nützte mir das jetzt? Immerhin war mein Gesicht nicht mehr rot, wie ich beim Blick in den Spiegel feststellte. Das Glibberzeug aus den Blättern hatte geholfen! Hätte der junge Mann mir auch noch den restlichen Körper damit eingerieben, wäre ich jetzt schön braun!
Aber ich hatte verständlicherweise Berührungsängste. Seit zehn Jahren hatte mich kein Mann mehr angefasst. Und schon gar nicht zärtlich oder fürsorglich. Das kannte ich gar nicht.
In den nächsten Tagen hielt ich mich nur im Schatten auf und starrte auf die Leguane, die hier in Scharen zu Hause waren. Und die Leguane starrten zurück. Sie hatten hier ältere Rechte, und es interessierte sie nicht, dass ich von weit her angereist war, um diese schäbige Pracht mit ihnen zu teilen.
Am Abend brachte mir der fürsorgliche Boy ein schlangenförmiges grünes Etwas.
»Was ist das?« Misstrauisch beäugte ich das Ding. »Lebt das?!«
»No, it’s against the moskitos.«
Er zündete das eine Ende an, und sofort roch es intensiv nach Räucherstäbchen.
»It will burn the whole night.«
Was hatte er gesagt? Ich verstand kein Wort.
»Moskitos go away«, erklärte er.
Tatsächlich schlief ich in dieser Nacht tief und fest. Ich träumte, dass ich wieder jung war und mit einem wunderschönen bronzehäutigen Mann am Lagerfeuer lag. Ich hatte meinen Kopf in seinen Schoß gebettet, während er mir etwas zur Gitarre vorsang.