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… die Menschheit jedes Jahr mehr an fossilen Rohstoffen verfeuert, als in einer Million Jahren entstanden sind?
… wir den Treibhauseffekt von Kohle, Öl und Gas um fast zwei Drittel senken, wenn wir global auf Wind- und Solarstrom sowie Elektroautos setzen?
… die weltweit 1,4 Milliarden Rinder allein durch das Rülpsen von Methan mehr Treibhausgase verursachen als der Betrieb aller Pkws?
… Rinder, die jeden Tag außer ihrem Grün- und Kraftfutter noch 80 Gramm einer Rotalge verschlingen, 80 Prozent weniger Methan ausstoßen?
… die unüberwachten Müllkippen in ärmeren Ländern weit mehr an Klimagasen emittieren als ganz Deutschland?
… es Bakterien mit nur drei Mutationen eines Enzyms schafften, ein Herbizid, das als biologisch nicht abbaubar galt, als Nahrungsquelle zu nutzen?
… die Zementindustrie – wäre sie ein Staat – bei den Kohlendioxid-Emissionen hinter China, den USA und Indien an vierter Stelle läge?
… Holz Beton ersetzen kann? In Japan ist ein Holzhochhaus mit 350 Meter Höhe geplant. 84 Meter hohe Gebäude stehen bereits.
… seit der Mondlandung zwei Drittel aller wilden Tiere verschwunden sind und Korallenriffe eine zwei Grad höhere Mitteltemperatur nicht überleben werden?
… schon die Wiedervernässung der weltweit trockengelegten Moore jedes Jahr mehr als doppelt so viele Klimagase aus der Luft holen könnte, wie Deutschland emittiert?
… Milliarden von Menschen Mobilgeräte bei sich tragen, die so leistungsfähig sind wie wenige Supercomputer vor 25 Jahren?
… allein die alten Mobilgeräte in deutschen Schubladen sechs Tonnen Gold und zudem 60 Tonnen Silber enthalten – ein bislang ungehobener Schatz.
Neun Krisen unserer Zeit
Binnen Minuten ist der strahlend blaue Himmel verschwunden. Die Wipfel der Bäume schwingen mit dem plötzlich aufkommenden Wind; dunkle Wolkenberge türmen sich, wo gerade noch die Sonne brannte. Die Luft kühlt spürbar ab. Gewitter, Sturm und Hagel drohen. Der heiße Sommer am See endet mit einem Donnerschlag – und im Radio spielen sie »Wind of Change« von den Scorpions. Wie lange habe ich diese Rockballade nicht mehr gehört! Vor 30 Jahren war sie unsere Hymne der Wende gewesen – im Taumel der Freude, nachdem die Mauer gefallen war, als die beiden Deutschlands eins wurden und der Kalte Krieg für immer zu Ende schien.
Wind of Change. Das passt auch heute wieder. Die Luft knistert von den Unwettern, die uns bevorstehen. Der Ost-West-Konflikt ist wieder da, nur dass diesmal China im Fokus steht, das mit Wirtschaftskraft und Machtpolitik dem 21. Jahrhundert seinen Stempel aufdrücken will. Politische Brandherde überall, Nationalisten und Populisten kommen und gehen, Fakten werden verzerrt und ins Gegenteil verkehrt – doch noch heftigere Stürme ballen sich in der Natur zusammen. In Kalifornien, Südeuropa, Brasilien, Indonesien, Australien und sogar in Sibirien brennen die Wälder. Hitzewellen erreichen Temperaturen, wie sie noch nie gemessen wurden. Gletscher schmelzen in unfassbarem Tempo, Wirbelstürme und Überschwemmungen sind heftiger als je zuvor, ganze Orte versinken im Schlamm. Dürren vernichten Ernten, Korallenriffe sterben noch rascher als Regenwälder – und ein Virus verursacht eine Pandemie, die rund um den Globus nicht nur die Gesundheit von Millionen Menschen attackiert, sondern auch Wirtschaft und Gesellschaft extremen Stresstests aussetzt.
Kein Wunder, dass viele raunen: Die Natur schlägt zurück. Sie hätte auch allen Grund dazu. An Warnungen hat es nicht gefehlt. Vor genau 50 Jahren, im März 1972, veröffentlichten Donella Meadows, Dennis Meadows und Jørgen Randers im Auftrag des Club of Rome – einer Vereinigung von Wirtschaftlern, Wissenschaftlern und Politikern – eine Studie mit dem Titel The Limits to Growth (Die Grenzen des Wachstums).[1] Bis heute ist dieses Werk mit Dutzenden von Millionen Exemplaren eines der erfolgreichsten Bücher aller Zeiten – und eines der umstrittensten. Denn die Autoren prophezeien der Menschheit den Kollaps. Nach ihren Simulationen würden Weltbevölkerung und Industrieproduktion noch einige Zeit wachsen, aber dann käme ein abrupter Absturz: verursacht durch knapper werdende Rohstoffe und Nahrungsmittel sowie durch die Umweltverschmutzung. Dieser Zusammenbruch, so ihre Prognose, würde vermutlich zwischen 2030 und 2050 liegen, aber ziemlich sicher fände er vor dem Jahr 2100 statt.
Die Computerleistung, die den Autoren der Studie zur Verfügung stand, war zwar sehr begrenzt, aber auch Berechnungen, die die Forscher in den 1990er- und 2000er-Jahren durchführten, zeigten ähnliche Ergebnisse. Nur massive Maßnahmen zum Umweltschutz, zum Umbau der Wirtschaft sowie die Wiederverwendung von Rohstoffen, hohe landwirtschaftliche Erträge und niedrige Geburtenraten ergaben Szenarien, unter denen die Weltbevölkerung und der Wohlstand langfristig konstant bleiben können. In einem Interview, das wir für das von mir gegründete Zukunftsmagazin Pictures of the Future bereits vor zwölf Jahren mit Dennis Meadows führten,[2] zeigte er sich jedoch wenig zuversichtlich, dass die Menschheit den Wandel schafft: »Ich rechne mit schweren Verwerfungen«, prophezeite er. »Meine Modelle zeigen Spannungen wie in einer Erdbebenzone: Man weiß nicht genau, wann etwas passiert. Aber es ist klar, dass es ein Beben mit schlimmen Folgen geben wird.« Natürlich kann man über Details seiner Modelle streiten. Dennoch scheinen gerade jetzt seine Kassandrarufe aktueller denn je. Haben wir überhaupt eine Chance, dieses Erdbeben noch zu verhindern?
In meiner Jugend hätte ich die Frage mit einem klaren Ja beantwortet. Als kleiner Bub saß ich gebannt vor dem Fernseher, während die Helden der Apollo-Missionen den Mond betraten. »Ein kleiner Schritt für einen Menschen, ein riesiger Sprung für die Menschheit« – als Neil Armstrong in der Nacht zum 21. Juli 1969 etwas ungelenk aus der Mondlandefähre Eagle kletterte, schien alles möglich. Wenn Menschen zum Mond fliegen können, was sollte uns aufhalten? Diese Begeisterung für Naturwissenschaft und Technik brachte mich später dazu, Physik zu studieren und selbst im Labor zu forschen. Doch schon 1969 hätte man auch alles ganz anders sehen können. Selbst Neil Armstrong sagte, als er gefragt wurde, ob er nicht ein Gefühl der Größe gespürt habe, als er auf dem Mond mit seinem Daumennagel die ferne Erde verdecken konnte: »Nein, im Gegenteil – ich fühlte mich in dem Moment verloren und klein.« Und der Astrophysiker Carl Sagan schrieb, als er das Foto unseres Planeten mit der dünnen Hülle der Atmosphäre sah, das die Apollo-Astronauten geschossen hatten: »Dieses Foto zeigt uns, dass von außen keine Hilfe kommen wird, um uns vor uns selbst zu retten.« Auf dieser kleinen, wunderbaren, blauen Murmel existiert alles Leben, das wir kennen – und die Menschheit ist gerade dabei, vieles davon radikal zu zerstören.
Denn während wir die technischen Großleistungen bewunderten, übersahen wir ein aus heutiger Sicht wichtigeres Datum: Genau zur Zeit der Mondlandungen übertraf nach Berechnungen des Global Footprint Network der ökologische Fußabdruck des Menschen erstmals die Biokapazität der Erde.[3] Seitdem leben wir auf Pump. Heute nutzen wir die Ressourcen des Planeten 1,7-mal schneller, als sie sich regenerieren können. Wir bräuchten bereits 1,7 Erden – und wenn wir so weitermachen wie bisher, müssten wir 2050 drei Erden zur Verfügung haben. Die Gründe für den Raubbau sind offensichtlich: Seit 1970 hat sich die Weltbevölkerung mehr als verdoppelt. 2050 könnten sogar dreimal so viele Menschen auf der Erde leben wie 1962, zur Zeit meiner Geburt.
Noch schneller als die Weltbevölkerung sind die Wirtschaftsdaten gestiegen. Laut einem 2021 erschienenen Bericht des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP)[4] hat sich die Weltwirtschaft von 1970 bis 2020 fast verfünffacht und der Welthandel verzehnfacht. Unser Rohstoffverbrauch hat sich in dieser Zeit – wie der Energieverbrauch – nahezu verdreifacht, die Herstellung von Kunststoffen sogar verzwanzigfacht. Heute stößt die Menschheit jedes Jahr doppelt so viele Treibhausgase in die Luft wie vor 50 Jahren. Übertroffen werden diese Hiobsbotschaften nur vom Artensterben: Seit 1970 sind laut dem World Wide Fund for Nature mehr als zwei Drittel aller Wirbeltiere – Säugetiere, Vögel, Fische, Reptilien und Amphibien – von der Erde verschwunden.
Viele Wissenschaftler nennen unsere Zeit das Anthropozän, weil der Mensch zur bestimmenden Kraft des Planeten geworden ist. Laut dem UNEP-Bericht verursachen wir massive Veränderungen bei zwei Dritteln der Ozeane und drei Vierteln des eisfreien Landes – bei den Meeren vor allem durch Überfischung und Vermüllung, beim Land, indem wir große Teile in Ackerland, Weideflächen, Nutzwälder, Siedlungen, Straßen und andere Infrastrukturen umwandeln. Doch schon in den 1980er-Jahren waren negative Seiten des technisch Machbaren deutlich sichtbar: 1984 kam es im Pestizidwerk im indischen Bhopal zum schwersten Chemieunfall der Geschichte mit Tausenden von Toten und Hunderttausenden Verletzten. In Deutschland diskutierten wir zur gleichen Zeit vor allem über Waldsterben und sauren Regen. 1985 wurde das Ozonloch über der Antarktis entdeckt, 1986 explodierte der Kernreaktor von Tschernobyl – und das sind nur ein paar drastische Beispiele.
Dennoch schien vieles noch beherrschbar: Grüne Parteien entstanden, Umweltministerien wurden gegründet. Kraftwerke mussten Anlagen zur Rauchgasentschwefelung installieren, für Autos wurden Abgasnormen verschärft und Katalysatoren vorgeschrieben. 1989 trat ein Übereinkommen in Kraft, das die Emission von ozonschädlichen Chemikalien verhinderte, darunter vor allem die als Kühlmittel verwendeten Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) – es wurde von allen Staaten der Vereinten Nationen ratifiziert und gilt bis heute als einer der größten Erfolge des Umweltvölkerrechts. Und nach Tschernobyl und vor allem nach der Reaktorkatastrophe im japanischen Fukushima 2011 beschloss Deutschland, bis Ende 2022 alle Kernkraftwerke abzuschalten.
Als Teile der radioaktiven Wolke von Tschernobyl über Bayern abregneten, arbeitete ich gerade im Garten meiner Eltern in Regensburg. Noch gab es offiziell gar keine Warnungen, aber am Tag darauf überprüfte ich mit einem Messgerät, das uns Physikstudenten der Technischen Universität München in Garching zur Verfügung stand, meine Kleidung und Schuhe: Das rasende Knattern habe ich noch heute im Ohr; der Zeiger war am Anschlag, die Radioaktivität um ein Vielfaches über der natürlichen Strahlung. Kurz danach war das ganze Land in Aufregung: die Böden verstrahlt; Milch, Gemüse, Beeren, Wild – vieles durfte nicht mehr verzehrt und musste vernichtet werden. Mir gab diese Erfahrung den letzten Anstoß, in die Erforschung neuer Energien einzusteigen. Während meiner Diplom- und Promotionsarbeit untersuchte ich die ersten Schritte der Photosynthese, die Umwandlung von Licht in elektrochemische Energie – meine Vision war, neue Erkenntnisse für künftige biologische Solarzellen beitragen zu können (mehr dazu in Kapitel 5).
Auch als ich danach einige Jahre bei Daimler arbeitete und 20 Jahre lang bei Siemens die Kommunikation über Forschung, Innovationen und Zukunftstrends leitete, standen Ressourcenschonung und erneuerbare Energien immer im Fokus. Nachhaltige Mobilität, Brennstoffzellen, Wasserstoff, Wind und Solar, Energieeffizienz bei Gebäuden, Kraftwerken und Industrien, die Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch und die Entwicklung »grüner« Städte – das waren neben Gesundheitsfragen die wesentlichen Themen unserer Zukunftsmagazine HighTechReport und Pictures of the Future. Seit 1992 bei der UN-Konferenz in Rio de Janeiro der Begriff der Nachhaltigkeit wieder ins Bewusstsein gerückt war, war mir klar, dass dies die Aufgabe unserer Generation werden musste: Nachhaltigkeit im umfassenden Sinn, ökologisch, ökonomisch und sozial, also Schutz der Umwelt, Überwindung der Armut und gesellschaftlicher Ausgleich.
1994 konnte ich am Amazonas im Dreiländereck zwischen Brasilien, Kolumbien und Peru noch rosa Flussdelfine, Piranhas, Brüllaffen und Aras erleben, doch beim Flug über den Regenwald sah ich immer wieder dunkle Rauchwolken und Kahlschläge. Ein Jahr später erklärten mir Biologen beim Tauchen am Great Barrier Reef in Australien den ökologischen Reichtum dieser Regenwälder unter Wasser – und zugleich diskutierten sie bereits verheerende Effekte von Umweltverschmutzung und Klimawandel auf die Korallenriffe. Als ich dann im Sommer 1995 in der Süddeutschen Zeitung einen Artikel mit dem Titel »Der bleiche Tod in den Oasen der Meere« veröffentlichte, war dies in den Medien einer der ersten Beiträge über die Zusammenhänge zwischen Klimawandel und Korallensterben. Inzwischen gehört es zum Allgemeinwissen, dass der Tod der Korallen eine der unmittelbarsten Auswirkungen des Klimawandels darstellt. Seit 1995 hat die Menschheit so viel Kohlendioxid in die Luft geblasen, wie in allen Jahren vor 1990 zusammengenommen. Wenn die Emissionen nicht drastisch sinken, sagen Wissenschaftler, könnten heutige Kinder noch eine Welt erleben, die heißer ist, als sie jemals ein Homo sapiens erfahren hat.
Wind of Change. Wir müssen den Umschwung schaffen, denn die Indizien sind eindeutig: Im Anthropozän ist nicht nur die Vielfalt des Lebens auf der Erde bedroht, sondern das Überleben unserer Zivilisation. Wie aber kann der Wandel noch gelingen? Seit 35 Jahren erforsche ich Zukunftstrends. Manches ist gar nicht so schwer vorherzusagen, denn viele Weichenstellungen, die wir heute treffen, prägen die Welt, in der unsere Kinder leben werden. Die Häuser, die jetzt gebaut werden, stehen in Jahrzehnten noch. Viele Kraftwerke werden auch 2050 noch Energie liefern. Die Zahl unserer Kinder legt fest, wie die Alterspyramiden und damit die Sozial- und Gesundheitssysteme aussehen und welche Mengen an Nahrung und Rohstoffen benötigt werden – und was wir jetzt an Treibhausgasen ausstoßen, wird auch 2050 noch das Klima der Erde beeinflussen. Auch Megatrends sind klar zu erkennen: Dabei geht es nicht um schnelle Entwicklungen wie Smartphones oder Hypes wie in der Internetkultur, sondern um langfristige Trends wie Globalisierung, Verstädterung oder den demografischen Wandel, die praktisch unumkehrbar sind.
Als ich vor zwölf Jahren mein Buch Zukunft 2050 schrieb, beschäftigte ich mich zudem mit den sogenannten Kondratieff-Zyklen.[5] Der russische Wissenschaftler Nikolai Kondratieff hatte in den 1920er-Jahren herausgefunden, dass große Wirtschaftszyklen in langen Wellen von 40 bis 60 Jahren ablaufen – beginnend bei Basisinnovationen über den daraus entstehenden Wohlstandszuwachs, bis sie stagnieren und von der nächsten Welle abgelöst werden. Dieses natürlich stark vereinfachte Konstrukt beschreibt sehr anschaulich, was die Welt in den vergangenen 200 Jahren prägte. Ab 1800 waren es die Dampfmaschine und die Textilindustrie, und um 1870 befand sich der zweite Zyklus auf seinem Höhepunkt: mit den Basisinnovationen Eisenbahn und Stahlindustrie.
Von 1900 bis 1950 drehte sich viel um die Elektrotechnik: Kraftwerke und Stromnetze, elektrisches Licht und Straßenbahnen, Radio, Kühlschrank und Fernseher. Die Jahre 1950 bis 1990 waren dann geprägt von der Boomphase des Automobils und der Petrochemie, des Öls und der Kunststoffe. Derzeit befinden wir uns nahe dem Scheitelpunkt des fünften Zyklus, der etwa 1990 startete und durch die Informations- und Kommunikationstechnik geprägt ist: mit Computern, Internet, Mobilfunk und der Künstlichen Intelligenz, die ich im Buch Smarte Maschinen[6] beschrieb, als ich mich 2016 als Wissenschaftsautor, Vortragsredner und Zukunftsforscher selbstständig machte.
Den sechsten Kondratieff-Zyklus, der nun langsam hochfährt und der nach meiner Einschätzung die Jahrzehnte zwischen 2030 und 2060 prägen könnte, hat der Forscher Leo Nefiodow schon vor 25 Jahren prognostiziert: Darin sollen die Themen Bio- und Medizintechnik sowie Umweltschutz eine wesentliche Rolle spielen. Ich nenne das Gesundheit im weitesten, ganzheitlichen Sinn: Gesundheit des Menschen ebenso wie Gesundheit der Umwelt. Für unser Überleben ist das der entscheidende Zyklus, und er startet vielleicht gerade noch rechtzeitig!
Wir müssen die beiden Gesundheitstrends zusammendenken und umsetzen. Kaum etwas könnte das deutlicher machen als die Corona-Pandemie und der Klimawandel: Bei der Pandemie dreht sich alles um die Gesundheit des Menschen, beim Klimawandel um die Gesundheit der Umwelt. Beide sind nicht unabhängig voneinander: Der Klimawandel wirkt nicht nur über Hitzewellen auf unser Wohlbefinden, sondern auch über die Änderung von Vegetationszonen und die Ausbreitung von Krankheiten. Und die Pandemie zeigte, wie schnell Politik, Wirtschaft, Finanzwesen und die Gesellschaft reagieren können, wenn alles auf dem Spiel steht. Es bleibt nur zu hoffen, dass nun ein Großteil der billionenschweren Nach-Corona-Aufbauhilfen wirklich in die New Green Deals fließt, die gegen den Klimawandel in Stellung gebracht werden.
Die epochalen Krisen, vor denen wir stehen, erstrecken sich auf viele Gebiete. Wie können wir das weltweite Energiesystem auf eine neue, kohlenstofffreie Grundlage stellen – ohne dass die Energieversorgung leidet und die Preise explodieren? Wie können wir mobil sein, ohne Öl zu nutzen, wie heizen ohne Erdgas und Kohle? Wie sehen lebenswerte Städte aus? Wie schaffen wir nachhaltige Industrien? Wie bauen wir mit möglichst wenig Zement und Beton? Oder nehmen wir die Kunststoffe. Sie waren einst die Verheißung des 20. Jahrhunderts, doch heute verpesten sie Flüsse und Meere und finden sich noch an den entlegensten Stränden und in den Körpern vieler Lebewesen. Wie holen wir das Plastik aus den Gewässern? Wie schaffen wir umweltfreundliche Materialien und eine echte Kreislaufwirtschaft? Wie können wir die Vielfalt der Arten und die Wälder schützen und zugleich bis zu zehn Milliarden Menschen gesund ernähren? Und wie begegnen wir den Herausforderungen der Medizin: den neuen Krankheiten, den Multiresistenzen gegen Antibiotika, den Demenzerkrankungen, die sich bis 2050 verdreifachen könnten? Wie berechtigt ist die Angst mancher, dass die Intelligenz smarter Maschinen die Menschheit gefährden könnte? Und eine der wichtigsten Fragen überhaupt: Wie überwindet man Beharrungskräfte und gewinnt die Menschen für den Wandel?
Genau darum geht es in diesem Buch: um neun globale Krisen und die Lösungen der Wissenschaft. Ich bin überzeugt davon, dass wir Antworten finden können. Denn gerade jetzt ballen sich nicht nur die Unwetter zusammen, sondern es häufen sich auch die Durchbrüche: bei mRNA-Impfstoffen gegen die Corona-Pandemie, in der Synthetischen Biologie, bei lernenden Maschinen, Neurochips und Quantencomputern. Wind- und Solarstrom kosten nun weniger als der aus Kohle, Batterien für Elektroautos sind so leistungsstark, wie es vor 20 Jahren niemand für möglich gehalten hätte, und »grüner« Wasserstoff wird plötzlich eine realistische Option. Kurz: Die 2020er-Jahre könnten das Goldene Jahrzehnt des technologischen Wandels werden, so wie die 1920er-Jahre mit der Quantenphysik, der Entdeckung des Penicillins und des Grabs von Tutanchamun als Goldenes Jahrzehnt der Wissenschaft bezeichnet werden. Es wird jetzt auch wirklich Zeit. Die 2020er-Jahre werden nach allem, was wir wissen, unsere letzte Chance sein, noch umzusteuern und das Ruder herumzureißen – aber ich habe die Hoffnung, dass es gelingen kann.
In den vergangenen Jahren habe ich mit vielen Forscherinnen und Wissenschaftlern gesprochen, sie in ihren Laboren besucht und ihre Publikationen gelesen. Ich habe von Start-up-Unternehmern, Managerinnen und Wirtschaftsführern gelernt, wie aus Entdeckungen echte Innovationen entstehen und was die Hürden sind, die es zu überwinden gilt. Denn Erfindungen, die zwar technisch funktionieren, aber nie den Weg aus dem Labor in die Märkte finden, werden die Welt nicht verändern. Um das große Puzzle an Lösungen, die zusammenpassen müssen, geht es in diesem Buch, um inspirierende Ideen und die Köpfe dahinter. Ich wende mich an alle, die sich um unsere Zukunft sorgen und wissen wollen, was konkret getan werden muss, um die Krisen zu lösen – um ein Leben nicht gegen, sondern im Einklang mit der Natur zu erreichen.
Wir brauchen Ideen und Erfindungskraft und müssen als Gesellschaft entscheiden, welche Technologien wir auf welche Weise nutzen wollen. Solche Entscheidungen dürfen nicht vertagt werden, denn jedes Tun birgt zwar ein Risiko in sich, aber genauso auch jedes Nichtstun. Angesichts der enormen Herausforderungen ist Nichtstun keine Option. Es macht Spaß, neu zu denken, selbst aktiv zu werden und mit der richtigen Idee die Welt zu verändern – auch dazu möchte ich mit diesem Buch auffordern. Die Leserinnen und Leser werden darin viele Zahlen, Daten und Fakten finden, manches Bekannte, aber sicherlich auch einiges Neue. Ich berichte von großen Herausforderungen, spannenden Forschungen und wissenschaftlichen Durchbrüchen, aber vor allem ist mir wichtig, die wesentlichen Zusammenhänge herauszuarbeiten und die Hebel zu identifizieren, mit denen wir die Krisen lösen können. Es geht also um die entscheidenden Weichenstellungen – oder um es plakativ und pathetisch auszudrücken: unsere Überlebensformel.