Erster Teil
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Zweiter Teil
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Dritter Teil
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
»So, endli brennt's! Jetz' kann der Herr bald sein' Kaffee hab'n.«
Das schmucke Dirndl erhob sich von den Knien vor dem Feuerloch des mächtigen grünglasierten Kachelofens und strich sich die saubere Schürze glatt, die bei der anstrengenden Beschäftigung mit den widerspenstigen Holzscheiten etwas zerknittert worden war.
Der Gast am Tisch neben dem Ofen, dem die Worte galten, nickte freundlich und wandte die Augen von der rot aufflackernden Glut weg, die er bisher in behäbig müßigem Hinschauen angestarrt hatte. »Recht so, Liesel«, lobte er. »Ich hab' schon 'nen rechtschaffnen Kaffeedurst. Und so lang hast du mich doch noch nie warten lassen.«
»'s is a nur wegen dena z'wideren Scheiter. Sie san gar zu arg naß!« entschuldigte sich das Mädchen eifrig und wandte sich dann dem kleinen Raum hinter dem Ofen zu, wo sie behend mit ihrem Kaffeegeschirr zu hantieren begann.
»Die Scheiter san scho' nit z'wider – aber ka Feur hat's net, dös Dirndl«, kam es neckend von dem zweiten, längeren Tisch am Fenster her, wo der Jäger seine Pfeife schmauchte, während er mit seinen verschmitzten Augen dem Gehabe des hübschen Kindes wohlgefällig zuschaute.
Die Liesel schoß aus hellen Augen einen übermütigen Blitz zu ihm hinüber. »Feur hätt's scho', Jaga; aber 's brennt halt nit glei hellauf, wie's mancher vielleicht gern hätt'.«
In dem Gesicht des Gastes mit seinem ruhigen Ernst leuchtete es heimlich auf. Er freute sich dieser beiden frischen Naturkinder, die sich gar zu gern neckten und, um das Sprichwort wahr zu machen, wohl auch liebten. Oder sollte es nur ein Zufall gewesen sein, daß er – so oft er hier nachmittags heraufkam – stets auch den Jäger vom Hintersee bei der Liesel vorfand? Kein Wunder übrigens! Das Mädel war wirklich, wie sie hierzulande sagten, »blitzsauber«, und es verbreitete mit seinem frohen Wesen einen so starken Hauch von Behaglichkeit um sich, daß es einen immer wieder hinauflockte in diese kleine, verräucherte Almhütte. So selbst heute, wo ein feiner Regen den ganzen Tag herniederrieselte und schwere Nebelvorhänge die malerischen Zacken der Scharitzkehl draußen über den Waldmatten dicht verhängten. Freilich waren Lodenjacke und Beinkleider tüchtig durchnäßt worden auf dem mehrstündigen Aufstieg vom Marktflecken drunten – der Fremde schaute prüfend auf das vom Regen dunkel gefärbte weiche Geflock seines Ärmels, in dessen Härchen sich Tausende von Wassertröpfchen eingesaugt hatten – aber schon begannen diese in der wohlig ausstrahlenden Wärme des Ofenfeuers zu verdunsten, und um so gemütlicher saß es sich nun hier oben bei der Liesel im engen Stübchen, in dem sich ein anheimelnder Geruch verbreitete, von brennendem Harzholz und dem süßlichen Knaster der Jägerpfeife.
So liebte er's! Mit heller Miene schickte der Gast in der Ecke einen Blick durch das kleine Fensterchen mit den bleigefaßten Scheiben hinaus auf die Alm, wo im feuchten Gras das Jungvieh mit glänzenden, nassen Rücken weidete und dahinter die schwarzgrünen Tannen im Nebelgrau verschwammen, dazu eine wunderbare, feierliche Stille – das Knistern im Ofen und das leise Klappern des Geschirrs in Liesels Händen die einzigen, aber nicht störenden Laute da ruhte die Seele so recht wohlig aus. Da schwand die Unrast, die immer noch bisweilen Gedanken und Empfindungen in ihm umhertrieb, trotzdem er nun schon Wochen der Großstadt entronnen war. Da versank in dämmriger Ferne der trübe, graue Schatten, der noch immer nicht den Sonnenschein in seinem Innern wollte aufleuchten lassen. Ein stilles, friedvolles Behagen spann die Seele ein, und die innerliche Teilnahme an den schlichten, kerngesunden Leuten hier oben weckte neu keimendes Vertrauen zu Welt und Menschen.
»Juhuhu!« scholl es aber plötzlich von draußen, ein heller, kräftiger Doppelruf aus weiblichen Kehlen. Der Jäger hob lauschend den Kopf.
»Da kimma gar no' Weiberleit. – Sommergäst« entschied er sofort mit geübtem Ohr.
»O Mara 'nd Josef!« staunte die Liesel. »Fraunb'such bei dem Wetter?« Und sie trat neugierig hinaus vor die Tür, nach den unerwarteten Ankömmlingen zu sehen.
Wenige Augenblicke später wurden diese schon hörbar, wie sie mit Liesel draußen Zurufe wechselten, dann hörte man auf der Steinschwelle das Aufstampfen derber Nagelschuhe, helles Lachen und Schwatzen, und nun traten die neuen Gäste mit Liesel ins Gemach, zwei junge Damen in grauen einfachen Bergsteiggewändern.
»Grüß Gott!« scholl es laut und zutraulich von den Lippen der zuerst Eingetretenen, einem zierlichen lebhaften Mädchen, während sie lustig um sich blickte. »Dös war aber a Hetz' – gelt Ruth'l?« Nach der größeren Gefährtin hinlachend, zog sie das kecke, grüne Hütchen vom wirren Blondhaar und schwenkte es dann energisch auf die Diele aus, unbekümmert darum, daß der Sprühregen dem daneben sitzenden Jägersmann ins Gesicht spritzte. Der wischte sich mit gemachtem Schrecken die braune Backe.
»Sackra! Moanst, i war heut' no' nit g'nua naß word'n?«
Aber da trafen ihn die lachenden Braunaugen. »Ui jeh! Warst mir scho a rechter Bua, wenn di so a biss'l Wasser verschwemma tut.« Und mit Fleiß spritzte ihm der Übermut den Rest der Tropfen vom Hut ins Gesicht.
»Aber, Fränzl, geh! Du bist doch gar zu arg!« schalt die Begleiterin, die wie in ihrer äußeren Erscheinung so auch feiner in ihrem Wesen war.
Fränzl blickte mit ihren Schelmenaugen zu dem Fremden in der Ecke hinüber, dem sie trotz seiner derben Bergtracht doch sofort den Städter angesehen hatte; aber als sie sein leises Lächeln wahrnahm, platzte sie unbeirrt heraus:
»Was denn, Ruth'l! Denkst du, der Jäger nimmt mir das krumm? – Gelt, Bua, mir bleib'n do guet Freund mitnander.« Und sie fuhr ihm herzhaft mit der Rechten entgegen. Des Weidmanns derbe Rechte umschloß flugs mit Vergnügen die kleine, aber feste Hand, und seine munteren Augen glänzten schalkhaft die Blonde an.
»Ja, freili. Du g'fallst mi scho', Dirndl!«
Der wackern Liesel, die sich pflichteifrig schon wieder ihrem Kaffeetopf zugewandt hatte, schien es nun doch an der Zeit, dem flatterhaften Verehrer einen leisen Wink zu geben.
»Wer g'fallt dir scho' nit – du windiger Jaga!« warf sie mit geringschätzigem Blick hinüber.
»Moanst?« Gelassen sog er an der Pfeife. »I woaß aber oane, die mir nit g'fallt, weil ihr' Zung gar so viel spitz is'!« Und bedächtig tat er einen Zug aus seinem Maßkrug.
Unterdes hatten die beiden neuen Gäste am Tisch beim Jäger Platz genommen.
»Burgei, Lenerl, Zenzi oder wie d' sonst hoaßt – kinna ma schnell an Kaffee ham?« forschte angelegentlich die resolute kleine Wortführerin.
»Wenn Eahne der Herr da a Portion abgeb'n will, nachher wird's scho gehn.« Liesel nickte zu dem Gast in der Ecke hinüber.
»O, wenn wir recht schön bitten –.« Fränzl sandte dem Fremden einen Blick, halb schelmisch, halb unsicher, wie er ihren scherzhaften Ton aufnehmen würde. Eben fühlte sie denn auch Ruths abwehrenden Druck unterm Tisch. Der da drüben hatte, wenn er auch unter dem kurzen Schnurrbart vorhin ein paarmal gelächelt, doch so etwas gemessen Ernstes im Gesicht; man konnte also nicht wissen. – Doch nun verbeugte er sich verbindlich zu ihr hinüber.
»Aber bitte, mein Fräulein – selbstverständlich teilen wir uns Liesels Vorrat.«
»Nachher dank' i a schön«, machte Franzi treuherzig, während sie die Freundin vergnügt unterm Tisch wieder puffte: »Siehst du, er ist gar nit so'n Brummbär, wie er aussieht! Wie man in die Leute hineinruft, so schallt's halt heraus!«
Unterdes musterte der Jäger interessiert seine Tischgenossinnen, besonders die flotte Nachbarin, die zutraulich dicht an ihn herangerückt war und nun auf seinen Rucksack auf der Bank mit dem Finger tippte.
»Hast wohl an Bock g'schoss'n?« Dann aber seinen Blick bemerkend: »Was schaust mi denn so an, Jaga? Ma' könnt' si' ja schier fürcht'n vor dir!«
»Sackra, sackra, Teifi, Teifi! Mad'l, a G'schau hast du, ganz hoaß kunnt's oam dabei wer'n«, und der junge Jägersmann lüftete wirklich den Hut mit dem Gemsbart, sich bedenklich das braune Kraushaar kratzend. »Du bist a sackrisch fesches Dirndl! 's is nur gut, daß i bald wieder furt muß von der Alm, sonst tat' i mi gar no in di verlieb'n.«
»Dös hat er mi vor an'r halb'n Stund' a grad g'sagt!« warf Liesel kaltblütig ein. Dem Schöntuer da mußte sie doch mal tüchtig eins drauf geben.
Ein helles Auflachen der beiden Mädchen.
»Schau, Jaga – da bist aber jetz' schö' ang'schrieb'n!« spottete Fränzl. »Sag', bist überhaupt no a Jagersbua oder gar scho a Jagersmo? Hast ebber scho' Weib und Kind dahoam sitzen, du Schlank'l?«
Aber der Gefragte ging auf diesen heiklen Punkt nicht ein, sondern fragte seinerseits interessiert: »Dirndl, du red'st ak'rat, als wärst hier z' Haus. Geh, sag, bist aber do' a Stadtkind aus Minka oder darum?«
»Na, fehlg'schoss'n, Jaga! Kennst mi denn net? I bin do' die Stadler-Franzl aus Berchtesgaden, dem Inschinier Stadler sei' Ältste.«
»Sackra! Den Herrn Berginschinier sei' Ältste? Schau, dös bist du, Mad'l? Aber i hab di do' mei Lebtag noch nie drunten derblickt.«
»Dös glab i scho', Jaga. I bin a viele Jahr' furt gwest, in an Inschtitut in Münch'n. Aber jetz' san ma wieder dahoam. Und jetz' bleib'm ma a da. – Gelt Ruth'l? – in unsern lieben, schönen Bergen! Juh!« Unbekümmert um den Fremden in der Ecke stieß sie, sich vor Jugendlust reckend, ihren hellen Freudenschrei aus, der ihr ehrlich aus dem heißblütigen Herzen kam.
Inzwischen war der Kaffee fertig geworden, den nun die Liesel herzutrug. Sein aromatischer Duft, der allerdings eine starke Beimischung von Zichoriengeruch aufwies, verbreitete sich anreizend im Gemach. Eifrig nestelte Fränzl an einem Päckchen, das sie in der Tasche ihres Jäckchens mitgeführt hatte. Ein leises Tuscheln mit der Freundin, dann legte sie zwei Scheiben von dem mitgeführten Kuchen auf ihre Untertasse und ging zu dem Fremden hinüber, vor den Liesel auch bereits eine große Tasse ihres Gebräus gesetzt hatte.
»Sie waren so liebenswürdig, uns von Ihrem Kaffee abzugeben – dürften wir uns vielleicht auf diese Weise revanchieren?«
Ganz seltsam berührte den Fremden plötzlich der weiche, helle Klang der Mädchenstimme dicht neben ihm, und er schaute voll die freundliche Geberin an, die ihm jetzt mit städtischer Anmut das Gebäck präsentierte. Wie so im Moment die lachenden Braunaugen ihn anglänzten, da hatte er das Empfinden, als wäre eben aus der Nebelwand draußen ein Sonnenschein ins Stübchen gehuscht und wollte ihm nun auch ins Herz hineinlachen.
Aber sonderbar! Im selben Augenblick regte sich auch schon ein Gefühl heftigen Widerstrebens in ihm. Sprach nicht da aus diesen schmeichelnden Blicken auch eine übermütige Siegesgewißheit? Wußte sie nicht allzu gut nur, daß niemand ihrem herzigen Schelmenwesen widerstehen konnte? Aber diese Sicherheit gerade reizte ihn. Sie sollte sich irren! Er wollte sich nicht von diesem Allerweltslächeln kirren lassen – von diesem glitzernden Tand unwiderstehlicher Liebenswürdigkeit, der nur die Unerfahrenen blendete. Er nicht! Und so klang es in kühler Ablehnung von seinem Munde:
»Sehr gütig, aber ich muß vielmals danken.«
Ganz betroffen schauten ihn plötzlich die großen Augen an ... Warum auf einmal der Ton? Was hab' ich dir denn getan? Eine leise Röte stieg ihr eilends ins Antlitz – das peinliche Gefühl, mit freundlichem Anerbieten abgewiesen zu werden. Schnell wandte sie sich ab, nur mit einem kurzen: »Ach, dann entschuldigen Sie vielmals.«
Auch der Begleiterin Fränzls war das Benehmen des Fremden unverständlich, der doch bisher anscheinend mit Wohlgefallen dem munteren Treiben ihrer Freundin zugeschaut hatte. Aber sie sagte natürlich nichts, man hätte ja selbst ein Flüsterwort am Nebentisch gehört; nur ihre Augen blickten befremdet zu dem ungemütlichen Gast hinüber, der ihrem lustigen kleinen Waldvogel so plötzlich das fröhliche Zwitschern verleidet hatte.
In der Tat saß Fränzl ein Weilchen stumm, ein feines Fältchen zwischen den hochgeschweiften Brauen. Sie war zornig und zugleich beschämt. Der Mensch da hatte ihr offenbar eine Lektion erteilen wollen wegen ihres ungezwungenen Wesens. Ruth hatte ihr ja auch so manchmal schon geraten, sich nicht so gehen zu lassen. Aber was hatte er denn da vorhin so unverwandt hergestarrt? Und überhaupt, wenn er solch ein steifleinener Pedant war, was kam er da erst herauf auf die Alm, wo man doch den Salonmenschen abstreift? Aber pah – sie wollte ihm gar nicht die Ehre antun, sich noch länger über ihn zu ärgern! Und so kehrte denn Fränzl mit energischem Ruck dem Gast am Ofen halb den Rücken zu und begann mit dem Jäger und der Freundin ein absichtlich laut und lebhaft geführtes Gespräch.
Auch die Liesel gesellte sich der Gruppe zu, und so saß denn der Fremde allein abseits. Er empfand natürlich die überflüssige Rolle, die er hier spielte. Die behagliche Stimmung, die ihn vorhin umfangen und ihm diesen Raum so anheimelnd gemacht hatte, war mit einemmal verflogen – durch seine eigene Schuld. Stirnrunzelnd mußte er es sich eingestehen. Er war wirklich ein unverbesserlicher Narr. Da hatte er sich hierher geflüchtet, ins Berchtesgadener Land, um im Jungbrunnen herb wehender Bergluft abzuwerfen, was ihn vor der Zeit alt und verbittert gemacht hatte, um die verlorene Jugend wiederzufinden – und nun, wo sie ihn anstrahlte mit lenzfrischen, lustigen Augen, da verdroß ihn wieder ihr silbernes Lachen. Nun, ihm war eben nicht zu helfen. Wohin er auch ging, er konnte sich selbst nicht entrinnen. Ein heller Ingrimm gegen sich lohte in ihm auf.
»Lies'l!« herrisch klang es zum Nebentisch hinüber.
»Ja – was wünscht der Herr?« Fast erschrocken eilte das Mädchen herzu, den Fremden verwundert ansehend. Was hatte denn der vorhin doch so freundliche Mann? Der Gast las in ihrer Miene, und sein Ton wurde milder.
»Ich möchte zahlen, Lies'l.« Er legte ein Geldstück hin, verzichtete auf das Herausgeben und griff schnell nach seinem Filzhut und dem Eichenstock.
»Guten Abend!« Ohne sich nach der kleinen Gesellschaft am Fenster umzusehen, die in Schweigen verharrte, entbot der Fremde kurz seinen Gruß und schritt hinaus. Nur Liesel dankte, und der Jäger lüftete mit einem »Grüß Gott« den Hut. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloß.
»Na, Gott sei Dank, daß der Griesgram fort is!« rief Fränzl erleichtert aus, und schlug kräftig mit den kleinen Fäusten aus den Tisch. »Der kunnt ei'm ja schier die Laune verderben. Solche Holzstöck sollt' man gar nit einalass'n hier auf d' Alm – gelt, Jaga?«
Ungehindert klang wieder ihr helles Lachen in den Raum hinein. Der Störenfried war ja nun weg. »Aber du sagst ja nix, Ruth,« fuhr sie plötzlich zur Freundin herum.
Die saß halb zum Fenster hingewandt und schaute mit ihren ernsten, klaren Augen dem Fremden nach, der sich draußen mit eiligen Schritten entfernte, die Stirn finster gefurcht. Vielleicht war ihm eben noch Franzis helles Lachen spöttisch ins Ohr geklungen.
»Er sieht aus, als hätte er ein schweres Unglück durchzumachen gehabt. Er möchte wohl froh sein und kann doch nicht. Eigentlich sollten einem solche Menschen doch leid tun.«
»Wirklich? – Woher weißt du nur bloß so was, du kluge Sibylle! Ich würde doch im Leben nicht darauf kommen.«
Ein feines Lächeln umspielte Ruths Mund. Jetzt, wo die lebhafte Röte des Aufstiegs von ihren Wangen gewichen war, sah man übrigens, daß ihr Antlitz von zartem Teint war und daß die Haut nicht mehr den Schmelz erster Jugend auswies. Sie legte liebkosend ihren Arm um den schlanken Leib der kleinen Freundin.
»Das lehrt einen Leben und Leiden,« sprach sie leiser. Doch innig preßte sie dann ihren jungen Schützling an sich. »Aber du sollst sie beide noch nicht kennen lernen – noch lange nicht, gelt, Fränzl?«
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Hallo!
Dicht preßte sich Kurt Holten seitlich an die Felswand. Die Warnung des Wirts drunten war also doch nicht ohne Grund gewesen. Das gelb schäumende Wasser der Klamm, das nach dem heftigen Gewitter, fast einem Wolkenbruch, wild kochend in dem engen Felsenkessel umhergequirlt wurde, führte neben kleinerem Waldabraum auch recht ansehnliche Äste und Klötze mit sich, und da war er eben nur hart an einem wuchtigen Butzen vorbeigeglitten, der im Vorüberschießen sein Wurzelgewirr wie Fangarme heimtückisch nach ihm ausgestreckt hatte, ihn in den gurgelnden Schlund zu ziehen.
Ob er nicht lieber doch umkehrte? Aber nein! Es reizte ihn gerade, diesen Wildbach in enger Felsenklause – sonst eine harmlose Sommerfrischlerpartie ohne jede Fährnis – einmal im Zustand aufbrausender Empörung zu sehen. Ihn lockte es gerade, der drohenden Naturgewalt zu trotzen. Das war doch endlich einmal etwas, was die Nerven spannte, die faul schlafende Manneskraft aufrüttelte.
Fester krümmte sich Holtens Rechte um den Griff seines Eichenstocks, und die nägelbeschlagenen Bergschuhe bohrten sich scharf in den schlüpfrigen Felsgrund des schmalen Pfades, den der Gischt des Wassers beständig netzte. Ja, hier und da spülte der rasend schnell hochgeschwollene Wildbach sogar meterlang über den Pfad hinweg. So hieß es denn, vorsichtig Fuß um Fuß vorwärts setzen, daß nicht ein Ausgleiten sicheren Tod brachte.
Er wäre übrigens nicht der erste gewesen. Ein Marterl vorhin, und hier schon wieder eines, ein halb verwischtes, naives Bildchen auf verwitterter Holztafel gab Kunde davon, daß der »ehrbare Junggeselle Tobias Birnbaumer am Lichtmeßtage Anno 1874 hier ein unerwartetes Ende gefunden«. »Bet' für die arme Söl'n!«, die unvorbereitet hinweggerufen, wie das Bild belehrte, nun im Sterbehemd im Fegefeuer schmachtete – so mahnte die Schlußinschrift den Wanderer.
Kurt Holten stand still, auch noch, nachdem er die halbverlöschten Buchstaben entziffert hatte; aber sein Blick hatte sich von dem Marterl fort dem brausenden Wasser drunten zugewandt, das in stetem Wirbel, wie vergeblich nach einem Ausweg aus dem steinernen Gefängnis suchend, an der Kesselwand wild schäumend und tobend herumjagte. Glatt poliert wie von Menschenhand war die fast kugelförmige Felshöhlung und mit einer schwarzen, schleimigen Schicht bedeckt. Ein düsterer Schlund, aus dem das rätselhafte Ungeheuer mit glühenden Augen heraufgierte, das sie den Tod nennen. Fest sah ihm Holten in die dämonisch gleißenden Lichter, die schwache Seelen so gut zu bannen und zu sich hinabzuzwingen wissen. Seinen Mund umzog ein trotziges, verächtliches Lächeln. Ihn zwang es nicht – auch kein plumper Zufall, wie den armen Tobias Birnbaumer – er war gefeit. Er hatte gerungen mit dem da drunten, und er hatte ihn niedergezwungen. Er gehörte dem Leben zu, denn er wollte es so. Noch war Kraft in ihm, starke, schaffensbegierige Kraft, und nur der, der nichts mehr vollbringen kann hier auf Erden, der ist dem da unten verfallen, der hat ein Recht, sich wegzustehlen. Nicht aber der, der will und kann!
Hart stieß Holten die Eisenspitze seines Stockes auf den Felsen, und dann wandte er sich weiter schluchtaufwärts. Doch nicht lange war er so geklommen, vorsichtig, langsam wie vorher, da stockte sein Fuß. Klang da nicht trotz des Tosens des Wassersturzes in der Klamm eben ein Schrei an sein Ohr? Ein Angstschrei aus Menschenmund? Er stand und lauschte. Richtig, da wieder! Ein lauter Hilfeschrei – von vorn um die Ecke herum, die die Felsschlucht hier machte.
Schnell ging Holten vorwärts, die Vorsicht war plötzlich vergessen, schon bog er um die Felskante, und nun sah er, wer in Not da war: Zwei Frauen, anscheinend jung, in grauen Touristenkostümen – wahrhaftig, kein Zweifel, die beiden neulich aus der Scharitzkehlhütte!
Über eine Woche war seitdem vergangen, aber er hatte nichts mehr von ihnen gesehen, obwohl er anderen Fremden sonst häufig an den bevorzugten Ausflugspunkten wieder begegnet war. Und nun traf er sie hier an und in einer Lage, wo sie in der Tat seine Hilfe brauchten.
Die jungen Mädchen standen ein Stückchen weiter oben auf dem Wege, der sich hier nur noch zu einem mannesbreiten Band verengte und dann nach Holtens Standpunkt hin sich überhaupt ein paar Fuß lang verlor. Das noch jetzt hart bis zur Weghöhe reichende, ungestüm dahinschießende Wasser hatte den schmalen Holzsteg fortgeschwemmt, der vorher über diese Unterbrechung hinweg die Passage ermöglicht hatte – eine seiner Planken tanzte in dem brandenden Wassertrichter darunter noch wild auf und nieder – und ebenso war das Holzgeländer fortgerissen, das früher die Wegenge oben bei den Mädchen geschützt hatte.
Diese standen dicht aneinander geschmiegt an die Felswand zu ihrer Linken gepreßt und ließen so ihren Hilferuf ertönen. Vorwärts konnten sie ja nicht, und vielleicht waren hinter ihnen auch Schwierigkeiten, die ihnen die Umkehr zum oberen Klammausgang verboten. Als sie den Mann unten um die Wegbiegung kommen sahen, überflog ein freudiges Aufleuchten ihre Gesichter. Gott sei Dank, ihre Rufe hatten geholfen; der Retter aus dieser bösen Klemme war da! Nun aber erkannte die vorderste, die größere und schlankere, den Herannahenden.
»Du, Fränzl, der von der Almhütte!« Und sie wandte halb lachend, halb verlegen, den Kopf zu der Freundin hinter ihr.
»Was? Nicht möglich!« Ganz verblüfft steckte Fränzl, sich vorbeugend, den Kopf um die Schulter der Freundin herum. »Wahrhaftig. – Du, nein! Von dem laß ich mir nicht helfen. Lieber kehr' ich um!« Und eilends wollte der kleine Heißsporn seinen Worten die Tat folgen lassen.
Aber die besonnene Freundin hielt sie mit Gewalt hinter sich fest. »Bist du toll?« schalt sie leise. »Denke doch an die wacklige Galerie oben. Zum zweitenmal geh' ich da nicht drüber. Vielleicht liegt sie jetzt überhaupt schon im Wasser!«
Fränzl mußte ihr wohl oder übel recht geben; dennoch murrte sie halblaut: »Aber ich würdige ihn keines Blicks! Das sag' ich dir!«
Inzwischen war Holten unter ihnen bis an die Stelle gelangt, wo früher das jenseitige Ende des Steges aufgelegen hatte. Nun warf er seinen Stock zu Boden und rief ihnen mit lauter Stimme zu: »Einen Augenblick Geduld! Ich hoffe, die Planke herauszufischen!«
Sofort begann er am Rande des Wassertrichters hinabzuklimmen, um das dort einige Fuß tiefer im Gischt auf und nieder tanzende Brett zu erhaschen. Es sah gefährlich aus, wie er so zu dem wildkochenden Strudel herniederstieg, vorsichtig tastend, mit dem Fuß einen Halt auf den schlüpfrigen Vorsprüngen des Gesteins suchend und mit den Händen sich an den Rissen des Felsens festklammernd. Mit stockendem Atem sah droben das größere der Mädchen dem waghalsigen Vorhaben zu, das ihnen galt, und auch das kleinere blickte nun doch mit lebhafter Spannung zu ihm hinab. Aber es glückte ihm. Nun war er unten; dicht über dem brandenden Gischt beugte er sich nieder, sich nur noch mit der Rechten haltend, und griff nach der umherwirbelnden Planke. Ein paar Fehlgriffe, aber nun hatte er sie gepackt und an sich gezogen. Das Rettungswerkzeug war in seiner Hand.
Doch jetzt kam erst das schwierigere Stück der Arbeit, das Hinaufklimmen mit der Last. Vorsichtig begann Holten das mühselige Werk, schon hatte er zwei, drei Stufen aufwärts erklettert, da rutschte plötzlich sein linker Fuß von dem Felsvorsprung ab – einen Moment lang hing die ganze Last des Körpers in heftigem Schwanken fast nur an der Rechten.
Ein gellender Angstschrei aus Franzis Mund, und ihre Finger umklammerten die Arme der Freundin vor sich, die stumm, aber mit weit aufgerissenen Augen auf den Mann da unten starrte. Sie erwarteten beide, ihn im nächsten Augenblick im tosenden Strudel versinken zu sehen. Aber schon hatten seine beiden Füße wieder einen Halt, und nun versuchte er einen anderen Ausweg. Er schob mit der Linken die Planke mit ihrem oberen Ende an die Weghöhe oben hinauf, und mit einem kraftvollen Ruck gelang es ihm dann, sie ganz auf den Weg hinaufzuschleudern. So, nun hatte er beide Hände frei und kam eine Minute später selber wieder oben auf sicherem Boden an. Ihm zitterten von der ungewohnten Anstrengung die Knie, als er nun oben stand, aber dennoch schwellte ein frohes Kraftgefühl seine Brust. Er hatte der gierigen Bestie da unten die Beute glücklich aus dem Rachen gerissen. Wie wohl tat solch Kräftemessen.
Ein herzhaftes Händeklatschen. – »Bravo, bravo!« scholl es von drüben. Fränzl, in dem plötzlichen Übergang ihrer Stimmung von tödlichem Schreck zu heller Freude, vermochte nicht an sich zu halten. Lächelnd schaute er, während seine Brust noch nach Atem rang, zu ihr hinüber, wie sie ihm so ihre Teilnahme bezeugte. Sie war doch ein herzensgutes Kind; diese Minute zeigte es ihm, und er bat ihr nun doppelt ab, was er ihr neulich in grämlicher Stimmung angedichtet hatte. Aber nun traf sein Blick auch Ruth. Sie sah ganz bleich aus. Noch immer ruhten ihre Augen auf ihm, aber sie gab keinen Laut von sich. Sie hatte sich vielleicht noch mehr als die andere um ihn geängstigt.
Aber es war keine Zeit zu psychologischen Untersuchungen; die armen Mädchen drüben, die vielleicht schon lange angstvoll nach Hilfe ausspähten, mußten in Sicherheit gebracht werden. Und wer wußte, ob es überhaupt so gehen würde? Holten nahm die Planke und ließ sie langsam über den Wassertrichter fallen. Sie reichte gerade hinüber, aber es war eine gefährliche Brücke, dieses lange, schmale, schlüpfrige Brett, nur zwei Hände breit, das da nun den Steg über das heimtückisch fauchende Wildwasser bilden sollte.
Doch es mußte versucht werden. Er trat auf die Planke, probierte sie – sie lag leidlich fest auf, hüben und drüben – nun der erste Schritt, der zweite, das schwanke Brett bog sich wippend unter seinem Tritt, aber es war doch wohl stark genug, außer ihm auch noch eines der Mädchen zu tragen.
So stand Holten denn nun drüben vor Ruth. Ein kurzer Gruß.
»Sind Sie schwindelfrei?«
Sie nickte.
»Nun, dann können wir es wohl getrost wagen. Bitte, kommen Sie vor mich – so.« Er drängte sich an ihr vorüber, zwischen sie und Fränzl.
»Sie müssen nun einen Moment hier warten, aber nur keine Angst! Halten Sie sich nur am Felsen fest und sehen Sie nicht ins Wasser hinunter,« mahnte er die Kleinere, die entschlossen nickte. Ihre Tapferkeit gefiel ihm.
Nun faßte Holten Ruth fest mit den Händen um die Hüften. »Bitte vorwärts – recht ruhig. Es passiert nichts.« Gedämpft klang seine Stimme an ihr Ohr, so dicht, daß sie seinen Atem spürte; ihr fester zuversichtlicher Klang machte sie wirklich ganz ruhig. So traten sie hintereinander auf das schwanke Brett. Es bog sich tief unter der doppelten Last, aber sie kamen wohlbehalten drüben an.
Ein erleichtertes, tiefes Aufatmen – Gott sei Dank, daß die Sache so gut abging! – und zum zweitenmal schritt Holten hinüber. Er nahm Fränzl in derselben Weise vor sich und betrat nun auch mit ihr den gefährlichen Steg. Rasch schritt sie darauf los, sie wußte offenbar nichts von Schwindel. »Vorsichtig! Nicht so schnell!« mußte er mahnen. Aber nun, gerade in der Mitte, jetzt ein leichtes Schwanken der Planke. Um festeren Halt mit dem Fuß zu gewinnen, machte Fränzl eine Bewegung, sie war wohl zu heftig – plötzlich verlor sie das Gleichgewicht und kam ins Wanken. Unwillkürlich warf sie sich mit dem Oberleib rückwärts, an Holten einen Halt suchend. Trotz der gefährlichen Lage durchrieselte diesen doch einen Augenblick ein eigenes, zärtliches Empfinden, wie er diesen schlanken Mädchenleib so schutzsuchend dicht an dem seinen fühlte, und fester umklammerten seine Hände ihre schmiegsame Taille. Mit aller Kraft hielt er sie im Gleichgewicht und drängte sie vorwärts. »Nur zu! Um Himmels willen nicht stehen bleiben! Schnell, schnell – gleich sind wir drüben.«
Besorgt streckte Ruth vom jenseitigen Ufer aus Holtens eilends ergriffenen Eichenstock Fränzl entgegen, diese packte zu, und so gelang es, auch sie glücklich hinüber zu bringen.
Aber es war kein leichtes Stück gewesen. Jetzt erst kam es Holten klar zum Bewußtsein. Einen Augenblick lang, wie er eben mit der Schwankenden allein auf dem schmalen Holzstreifen gestanden hatte, da hatte auch ihn der Gedanke gepackt: Wenn nun das grinsende Ungeheuer da unten doch der Stärkere war? – Denn er hätte ja natürlich seinen Schützling nicht preisgegeben, um sich selbst zu erhalten. Aber nur eines Blitzes Dauer. Dann hatte sich schon wieder sein trotziger Wille zum Leben aufgebäumt. Nun gerade vorwärts! Du bist der Sieger! – Und er war's gewesen. Aber dennoch wischte er sich jetzt mit dem Taschentuch die feuchte Stirn.
Nun drängten sich die beiden Mädchen zu Holten.
»Allerherzlichsten Dank! – Welch Opfer haben Sie uns gebracht!«
Hell leuchteten ihn die warmen Blicke an. Er schüttelte jeder herzhaft die Hand; sie fühlten's alle drei: Sie waren mit einemmal gute Kameraden geworden in diesem Augenblick der Gefahr.
»Keine Ursache, meine Damen! Einfach meine Pflicht. Und ich tat's gern.« Ein Lächeln überflog seine Züge. »Hatte ich doch eine Schuld gut zu machen. Von neulich auf der Almhütte.« Und er wandte sich besonders an Fränzl. »Es tat mir hinterher sehr leid, daß ich so ungemütlich war. Aber Sie dürfen es mir nicht übel nehmen, nicht nachtragen, mein Fräulein – meine bösen Nerven spielen mir ab und zu solchen Streich.« Bittend hielt er ihr nochmals seine Hand hin, mit treuherzigem Blick.
Mit lustigem Lachen schlug die Kleine ein. »Red'n wir nimmer davon! Sie hab'n heut' feurige Kohlen auf unser Haupt g'sammelt. – Gelt, Ruth, daheim würden s' große Augen g'macht haben, wenn wir so mit der ekligen Ache da unten angereist kommen wär'n!«
Mit einem hellen Lachen machte sich Fränzls lang zurückgedrängter Übermut Luft, und ihr kleiner Fuß im derben Nagelschuh schleuderte dem gierigen Gewässer zum Ersatz für die entgangene Beute einen großen Geröllstein zu. »Da – aber verdirb dir net den Magen dran!«
Ruth schüttelte verweisend das Haupt, doch auch ihre feinen, immer noch blassen Züge überflog wider Willen ein Lächeln. Wie entschuldigend wandte sie sich an Holten. »Ein rechter Kindskopf, die Fränzl. Aber es klingt bei ihr immer viel schlimmer, als es ist.«
»Fürchten Sie nicht, daß ich wieder einen Anfall von Pedanterie kriege,« beruhigte sie Holten – sein ganzes Wesen erschien heut überhaupt unvergleichlich jugendlicher und frischer. »Ich glaube, Fräulein Fränzl und ich verstehen uns von heut an ganz gut! Nicht wahr!« Fast übermütig leuchtete sein Auge das jüngere Mädchen an.
Erstaunt sah die zu ihm auf: War denn das wirklich noch derselbe Mann? Wie lustig er sie ansah – und weiß Gott, er hatte ja ein Paar bildhübsche, so recht gute, braune Augen. Hatte er die eigentlich neulich schon? Da hatte er doch so bärbeißig, düster dreingeschaut! Aber um so besser – die Berge, ihre lieben Berge hatten also auch ihn lustig und jung gemacht. Ihren geheimen Gedanken Ausdruck gebend, nickte sie ihm lachend zu und rief ausgelassen vor sich hin:
»Aber g'wiß! So jung komm'n mir ja nie wieder z'samm'. Juhuhu! Jung san ma, und g'sund san m'r a'! Ju–u–uh!« Hell schallte ihr Jauchzer von der Felswand wieder, und sie sprang mit ein paar kecken Sätzen den Weg voran, die Schlucht hinunter.
Holten und Ruth sahen sich einen Augenblick still lächelnd an.
»Unverbesserlich,« seufzte die Freundin scherzhaft und wandte sich dann auch zum Gehen. Holten trat an ihre Rechte, die Außenseite des Weges am Bach entlang nehmend.
»Recht hat sie, Ihre kleine Freundin,« verteidigte er Fränzl heiter. »Jung sei'n ma und g'sund dazu! Also ist's keine Zeit zum Grillenfangen. Eine kleine Lebenskünstlerin! Lassen Sie uns ihr nacheifern.«
Und mit frischen Schritten eilten die Beiden Fränzl nach, die wie eine zierliche Bachstelze flink vor ihnen herhuschte.
Inhaltsverzeichnis
Ein lärmendes Gewimmel unter den alten Bäumen des Gartens und im steingepflasterten Hof des Gasthauses; die Menschen eng zusammengepfercht, zum Teil auf höchst primitiven Sitzen, wie Brettern, Bierfässern und Kisten, umweht von beizendem Zigarrenqualm und Speisegerüchen, aber doch alle urvergnügt, jeder, Mann, Weib und Kind, eine »Maß« vor sich; ein lautes, frohes Geschwätz, dazu Teller- und Krügeklappern vom Ausschank her und droben aus den Fenstern des Tanzbodens, an denen man die rotglühenden Paare sich vorbeidrehen sah, die abgehackten, quietschenden Töne der Dorfmusik – fürwahr, ein echtes Volksfest!
Holten stand still und spähte suchend über die Menge hin, die hier im Wirtshaus zu Ilsank vereint war, um das Sommerfest des Verschönerungsvereins von Berchtesgaden zu feiern. Der Ingenieur Stadler war als Mitglied des Vorstandes mit seiner Familie auch mit hinausgegangen, und Holten hatte seinen beiden neuen Bekannten versprechen müssen, mit von der Partie zu sein; er sollte heute Fränzls Eltern vorgestellt werden. Noch irrte Holtens Blick vergeblich über das dichte Gewühl von Köpfen hin, da sah er plötzlich ein weißes Tuch schwenken, hinten aus einer schattigen Ecke des sonnendurchglühten Hofes, und schon eilte ihm auch Fränzl entgegen, an der Hand ein wacker mitspringendes krausköpfiges Büblein.
»Grüß Gott! Grüß Gott!« rief sie ihm noch im Laufen zu. »Dös ist aber lieb, daß Sie do no komm'n san.« Und dann stehen bleibend, zu ihrem kleinen Begleiter: »Schau, Büble – das is' der Onkel, auf den du so neugierig bist, der deiner Fränzl und Tante Ruth über das Wasser geholfen hat. – Er fragt nämlich schon immer nach Ihnen, der kleine Fratz.«
Holten bückte sich freundlich zu dem kleinen Mann, der ihn nun aus großen braunen Augen – Fränzls Augen – frei ansah und ihm zutraulich die Hand hinstreckte.
»Ja, mein Kerlchen, das ist der Onkel. Du hast wohl ordentlich Angst ausgestanden um Schwester Fränzl?« Und er tätschelte den kleinen blonden Krauskopf.
»Ach nein,« erwiderte das Bürschchen gelassen. »Fränzl schwimmt ja so fein.«
»So!« lachte Holten. »Na, das würde ihr in der Ache ja viel geholfen haben.« Er reichte nun Fränzl zum Gruß seine Rechte.
Das junge Mädchen drückte sie herzhaft, während ihn zugleich ihre Augen in heller Freude grüßten, »Ich hatt' schon 'glaubt, Sie würden nit Wort halten.«
Auch in Holtens Mienen leuchtete es auf; wie wohl tat solch herzlicher Empfang. Er hielt ihre Hand fest. »Halten Sie mich für so wenig zuverlässig?«
»Das nit. Aber i' fürchtete, es würde Ihna am Ende doch nit behagen,« sie setzte es leiser mit einem Blick auf das Menschengewühl ringsum hinzu. »So was würden Sie in Berlin doch wohl nit mitmach'n?«
»Allerdings nicht,« lächelte Holten. »Aber hier ist das ganz was anderes. Im Gegenteil, mir macht das Freude – das ist mir ein neues, reizvolles Schauspiel. Ich danke Ihnen, daß ich so etwas einmal kennen lerne. – Aber wo sitzen Sie?«
»Da.« Sie wies nach der Ecke, woher sie gekommen, und sie schritten nun dorthin, zwischen ihnen das Bübchen, das Holten wie selbstverständlich seine andere freie Hand dargeboten hatte.
»Ein lieber, kleiner Kerl!« Holten drückte das warme Kinderpatschchen freundlich an sich.
»Ja, er ist auch mein Allerbester, gelt, Büble?« Fränzl beugte sich mit strahlenden Augen zu dem Kleinen nieder. Wie reizend ihrer mädchenhaften Erscheinung diese mütterliche Zärtlichkeit stand!
Sie waren nun zu dem Platz in der Ecke gekommen.
»Aber es ist mehr als simpel hier,« lachte Fränzl, auf die Bretter deutend, die über ein paar Waschtröge gelegt, die Bänke für den kleinen Familienkreis hier bildeten.
»O, das ist ja reizend – ein wirkliches Idyll!« scherzte Holten, indem er sich vor den aufstehenden Angehörigen Fränzls artig verbeugte.
»Hier, unser Lebensretter, Herr Doktor Holten!« stellte Fränzl ihn lachend vor. »Mein Papa – meine Mama – zwei Schwesterchen, die Irmel und die Trudl, und uns andern kennen Sie ja schon!« Sie deutete auf Ruth, das Brüderchen und sich selbst.
»Freut uns sehr, Herr Doktor, Ihre werte Bekanntschaft zu machen.« Der Ingenieur, ein sonnenverbrannter, starker Mann mit blondem Vollbart und von gutmütigem Aussehen, schüttelte Holten bieder die Hand.
»Wir schulden Ihnen wirklich herzlichen Dank. Wer weiß, wo die Mädels da heut wär'n, wenn Sie nit gekommen wären,« ergänzte Fränzls Mutter, eine rundliche Dame mit lachenden Augen und frischen Farben, gleichfalls mit herzhaftem Händedruck. »Aber bitt' schön, Herr Doktor, woll'n 's Sie sich nit bequem mach'n?« Sie wies einladend, mit scherzender Gebärde auf das Brett gegenüber.
»Danke vielmals, mit Vergnügen!« Holten setzte sich nieder, nachdem er noch Ruth herzlich begrüßt hatte, diese zur Linken, zur Rechten das Bübchen mit Schwester Fränzl. »Ich finde es überhaupt allerliebst hier. Diese behäbige, harmlose Lebensfreude wirkt wohltuend auf uns Großstadtmenschen.«
»Sie sind Berliner, Herr Doktor?« fragte Frau Stadler.
»Ja, meine gnädige Frau.« Er hatte erst geschwankt, ob er so sagen sollte in dieser gemütlichen, anspruchslosen Umgebung. Aber Frau Stadler war in großer Toilette, sie trug ein ganz modernes Foulardkleid und einen gewaltigen Straußenfederhut. Er musterte nun übrigens Fränzl. Er hatte vorhin nur in ihre lachenden Augen gesehen. Aber wahrhaftig, auch sie war ja heut, ebenso Ruth, ganz große Dame in ihrer duftigen Seidenbluse von zartem Blau und dem silberbeschlagenen Ledergürtel um die zierliche Taille. Sie war also heute eigentlich gar nicht das »Fränzl«, zu dem ihm das einfache graue Bergkostüm ganz selbstverständlich zu gehören schien.
»Schau, Ruth, da bist du ja eine Landsmännin von dem Herrn Doktor. Aber ihr habt euch wohl noch nie da g'sehn, gelt?« forschte Frau Stadler.
Ruth schüttelte lächelnd den Kopf. »Was denkst du dir nur, Tante Emma. Da lebt man ein Menschenleben lang nebeneinander, ohne daß einer vom anderen weiß.«
»Wie, Sie sind Berlinerin, gnädiges Fräulein?« Holten fragte es interessiert. »Ihre Eltern wohnen dort?«
»Ich bin Waise.«
»Ah – bitte vielmals um Verzeihung,« bat Holten ernst. »Ich ahnte ja nicht –«
»Aber bitte – wie sollten Sie denn auch, Herr Doktor.«
»Sie leben dort bei Verwandten, wenn ich fragen darf?«
Ruth schüttelte den Kopf. »Ich stehe ganz für mich allein. Ich bin Lehrerin – an einer städtischen Schule.«
»Lehrerin? Sie, mein gnädiges Fräulein? Wie ist es möglich! Sie sehen aber doch so gar nicht danach aus.« Er musterte sie ungläubig.
Ruth mußte lächeln. »Muß man denn dazu immer notwendig gedrehte Locken, Hornbrille und eine Leichenbittermiene haben?«
»Natürlich nicht,« lachte Holten. »Aber Sie haben so etwas –« sein Blick streifte ihr feines Gesicht und ihre zarte Gestalt im lichten Sommerkleide, sie sah trotz ihrer fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig Jahre wirklich noch ganz jugendlich aus. – »Ich kann mir gar nicht vorstellen, daß Ihre Kräfte den schweren Anforderungen eines so aufreibenden Amtes gewachsen wären.«
»Ich habe sogar eine Jungensklasse.«
»Na, da – pardon, aber von dem Schreck muß ich mich erst erholen.« Holten schlug mit den Händen vor Staunen auf die Bank.
»Gelt? Das sieht man unserer Ruth'l gar nimmer an?« scherzte Fränzl. »Sie schaut aus, als könnte sie nicht bis drei zählen. Aber Sie sollten sie nur so recht inwendig kennen lernen, Herr Doktor! Ui jeh! Stille Wasser sind tief!«
»Aber Fränzl!« mahnte lachend die Mutter, da in Ruths Antlitz eine leise Röte aufzog. Doch schon war der Übermut mit zwei Sprüngen bei der Freundin und preßte deren Kopf an ihre Brust.
»Gelt? Bist doch net bös, Ruth'lmaus? 's is' ja doch alles nur G'spaß! Und der Herr Doktor weiß schon, wie's gemeint is'. Nit wahr, Herr Doktor?« Schmeichelnd bittend sah sie Holten an. Man konnte ihr wirklich nicht bös sein, dem losen Schelm.
Nun trug die Kellnerin auch Holten einen Maßkrug herzu.
»G'sundheit!« Der Ingenieur stieß gemütlich mit dem neuen Bekannten an; auch diese Bewegung und nun das Trinken besorgte er mit einer großen, behäbigen Ruhe, die ihn offenbar nie verließ; das Sprechen dagegen schätzte er anscheinend nicht sehr.
Sonderbar, dachte Holten, wie wenig hatte das quecksilberne Töchterchen doch von seinem Vater. Sie war entschieden ganz nach der Mutter geartet. Die mochte wohl vor zwanzig Jahren auch solch ein Schalk gewesen sein. Dabei mußte er unwillkürlich weiter denken, wie seinerseits wohl das Fränzl nach zwanzig Jahren aussehen würde. Auch so rundlich und behäbig wie ihre Mama? Und vielleicht auch ein halb Dutzend Kinder um sich? Fast mitleidig streifte sein Blick ihre zierlichschlanke Mädchenfigur: Frauenlos. Aber da traf ihn ihr lachender Blick, und fort waren solche Gedanken.
»Zum Wohl allerseits!« Und Holten nickte zu seinen beiden jungen Freundinnen hin, um dann einen herzhaften Schluck zu tun.
»Prosit, Herr Doktor! Zieh gleich mit.« Übermütig führte auch Fränzl den schweren Literkrug ihres Vaters mit beiden Händen zum Munde.
»Nanu? So kommentmäßig?« lächelte Holten.
»Wozu hat man denn einen Bruder Studio auf der Universität?«
»Mein ältester Bub studiert in München auf den Doktor«, erklärte nicht ohne Stolz Frau Stadler.
»Und aktiv ist er auch – bei den Schwaben,« ergänzte noch stolzer Fränzl. »Sie kennen doch die Schwaben?« Es erschien ihr bei einem studierten Mann einfach selbstverständlich.
»Natürlich,« beeilte sich Holten ernsthaft zu versichern. »Es ist das ja wohl ein Korps?«
Fränzl nickte. »Sie waren doch gewiß auch aktiv, Herr Doktor?«
Holten schüttelte lächelnd den Kopf.
»Nein?« Es klang sehr gedehnt und enttäuscht. »Warum denn nicht?«
Sie sah ihn forschend an. Ein so großer, starker Mann. Furcht konnte der doch eigentlich wohl nicht gehabt haben vor dem vollen Humpen und dem blanken Schläger.
Ihre naive Verwunderung belustigte Holten. »Warum? – Können Sie sich nicht vorstellen, daß es auch Leute gibt, denen es nun einmal nicht Spaß macht, die bunte Mütze zu tragen und all den Zwang, den sie mit sich bringt?«
»Ach – die find' ich fad'«, platzte Fränzl ehrlich heraus. »Das heißt – ach pardon, lieber Herr Doktor, san S' mir nur nit gar bös. Ich bin schrecklich ungezog'n, gelt? Aber ich mein das nit so, ich mein' ja bloß die andern –«