»Nein, Kapitän, es konveniert mir nicht, Ihnen den Platz zu räumen!«
»Bedaure, Herr Graf, Ihre Prätensionen werden aber die meinigen nicht verringern.«
»Gewiß nicht?«
»Gewiß nicht.«
»Ich mache Sie indessen darauf aufmerksam, daß der Zeit nach mir der Vorrang gebührt.«
»Und ich antworte Ihnen hierauf, daß die Anciennität allein keinerlei Recht begründen kann.«
»Ich werde Sie zu zwingen wissen, mir den Platz zu räumen.«
»Das glaube ich nicht, Herr Graf.«
»Ich denke, so ein Hieb mit dem Degen …«
»Nicht mehr, als ein Pistolenschuß …«
»Hier meine Karte!«
»Und hier die meine!«
Nach diesen Schlag auf Schlag hervorgestoßenen Worten wechselten die beiden Gegner ihre Karten.
Auf der einen las man:
Hector Servadac.
Kapitän im Generalstabe.
Auf der anderen:
Graf Wassili Timascheff.
An Bord der Goëlette Dobryna.
»Wo und wann treffen meine Sekundanten die Ihrigen?« fragte Graf Timascheff, bevor sich beide trennten.
»Heute um zwei Uhr, wenn es Ihnen beliebt, im Generalstabsamte«, erwiderte Hector Servadac.
»In Mostagenem?«
»Zu dienen.«
Nach diesen Worten grüßten sich Kapitän Servadac und Graf Timascheff kalt aber höflich. Als sie schon im Fortgehen waren, machte Graf Timascheff noch eine Bemerkung.
»Kapitän«, sagte er, »ich glaube, es ist besser, über den wahren Grund unseres Renkontres zu schweigen.«
»Ganz meine Meinung«, antwortete Servadac.
»Es wird kein Name genannt!«
»Keiner.«
»Nun, aber der Vorwand?«
»Der Vorwand …? Nun, sagen wir eine musikalische Diskussion, wenn das Ihnen recht ist, Herr Graf.«
»Gewiß«, erwiderte Graf Timascheff; »ich habe z.B. Wagners Partei genommen, das entspräche ganz meinen Anschauungen.«
»Und ich die Rossinis, das harmonierte mit den meinigen«, entgegnete lächelnd Kapitän Servadac.
Nach diesen Worten grüßten sich der Stabsoffizier und Graf Timascheff noch einmal und gingen auseinander.
Die eben geschilderte, mit einer Herausforderung endende Szene spielte um die Mittagszeit am äußersten Ende eines kleinen Kaps der algerischen Küste zwischen Tenez und Mostagenem, etwa drei Kilometer von der Mündung des Cheliff. Jenes Kap erhob sich gegen zwanzig Meter aus dem Meere; an seinem Fuße erstarben die blauen Wellen des Mittelmeeres und leckten an den von Eisenoxyd geröteten Felsen des Ufers. Die Sonne, deren schräge Strahlen sonst an jedem vorspringenden Punkt der Küste sich flimmernd widerspiegelten, war jetzt hinter einem dichten Wolkenschleier verborgen. Ein undurchdringlicher Nebel lagerte über Land und Meer. Unerklärlicherweise hüllten diese Nebelmassen schon seit länger als zwei Monaten die ganze Erdkugel ein und legten der Kommunikation zwischen den verschiedenen Erdteilen recht empfindliche Hindernisse in den Weg. Indes, hiergegen war nichts zu tun.
Als Graf Wassili Timascheff den Stabsoffizier verließ, lenkte er seine Schritte nach einem Boote mit vier Ruderern, das ihn in einer der kleinen Buchten des Ufers erwartete. Sobald er darin Platz genommen, stieß das leichte Fahrzeug ab und legte an einer Goëlette an, welche in der Entfernung weniger Kabellängen verankert lag.
Kapitän Servadac rief durch einen kurzen Pfiff einen Soldaten herbei, der gegen zwanzig Schritte hinter ihm gewartet hatte. Schweigend führte der Soldat ein prächtiges arabisches Pferd heran. Der Kapitän sprang gewandt in den Sattel und wandte sich von seiner ebenso gut berittenen Ordonanz begleitet auf Mostagenem zu.
Es war Mittag, als die beiden Reiter den Cheliff auf der erst unlängst von den Genietruppen geschlagenen Brücke passierten, und genau 1¾ Uhr, als ihre schaumbedeckten Rosse durch das Tor von Maskara stürmten, eine der fünf Pforten, welche in der krenelierte Umfassungsmauer der Stadt angebracht sind.
Jenerzeit zählte Mostagenem ziemlich 15000 Einwohner, darunter gegen 3000 Franzosen. Es bildete von jeher eine wichtige Arrondissements-Hauptstadt der Provinz Oran und war nicht minder von Bedeutung in militärischer Hinsicht. Hier fabrizierte man noch verschiedene Nahrungsmittel für das Ausland neben kostbaren Geweben, zierlichen Mattengeflechten und Artikeln aus Maroquin. Der Export nach Frankreich lieferte Getreide, Baumwolle, Wolle, Tiere, Feigen und Weintrauben. Zur Zeit, in der unsere Erzählung spielt, hätte man aber vergeblich den alten Ankerplatz gesucht, auf dem sich ehedem die Schiffe vor den gefährlichen West-und Nordwestwinden nicht zu halten vermochten. Mostagenem besaß jetzt einen wohlgeschützten Hafen, welcher der Verwertung der reichen Produkte der Mina und des unteren Cheliff ungemein förderlich war.
Dank diesem sicheren Zufluchtsorte konnte es die Goëlette Dobryna wagen, an einer Küste zu überwintern, welche sonst fast nirgends einen Schutz gewährte. Hier flatterte schon seit zwei Monaten an ihrer Gaffel die russische Flagge und am Top des Großmastes der Wimpel der Yacht Club de France mit dem unterscheidenden Zeichen: M.C.W.T.
Kapitän Servadac eilte, sobald er in die Stadt kam, nach dem Militärquartier von Matmore. Dort begegnete er einem Offizier vom 2. Tirailleur-und einem Kapitän vom 8. Artillerie-Regimente – zwei Kameraden, auf welche er sich verlassen konnte.
Mit großem Ernste vernahmen die beiden Offiziere das Verlangen Hector Servadacs, ihm bei dem bevorstehenden Ehrenhandel als Zeugen zu dienen; aber sie lächelten, als ihr Freund ihnen als wirkliche Ursache dieses Zweikampfes eine musikalische Diskussion angab, die zwischen ihm und Graf Timascheff stattgefunden habe.
»Vielleicht ließe sich das beilegen?« äußerte der Kommandant der Tirailleure.
»Das darf nicht einmal versucht werden«, entgegnete Hector Servadac schnell.
»Einige unwesentliche Zugeständnisse …« fuhr der Artillerie-Kapitän fort.
»Zwischen Wagner und Rossini ist keine Annäherung möglich«, erwiderte ernsthaft der Stabsoffizier. »Beide sind Originale. Übrigens ist Rossini in diesem Falle der Beleidigte. Dieser Narr, der Wagner, hat über Rossini verschiedene Albernheiten geschrieben; ich will Rossini rächen.«
»Im schlimmsten Falle«, meinte der Kommandant, »ist ein Degenhieb nicht allemal tödlich.«
»Vorzüglich, wenn man, wie ich, entschlossen ist, einen solchen gar nicht zu erhalten«, bestätigte Hector Servadac.
Nach dieser Antwort hatten die beiden Offiziere nichts anderes zu tun, als sich nach dem Generalstabsgebäude zu begeben, woselbst sie, genau um zwei Uhr, die Sekundanten Graf Timascheffs treffen sollten.
Es sei hier die Bemerkung eingeschoben, daß der Kommandant der Tirailleure und der Kapitän der Artillerie sich von ihrem Kameraden keineswegs hatten düpieren lassen. Doch, was war in Wirklichkeit der Grund, der ihm die Waffen in die Hand drückte? Sie ahnten ihn vielleicht, hatten aber nichts Besseres zu tun, als jenen Vorwand gelten zu lassen, den ihnen mitzuteilen dem Kapitän Servadac gefallen hatte.
Zwei Stunden später waren sie zurück, nachdem sie die Zeugen des Grafen getroffen und mit ihnen die Einzelheiten des Duells verabredet hatten. Graf Timascheff, Adjutant des Kaisers von Rußland, wie so viele Russen, welche sich im Auslande aufhalten, hatte sich für den Degen, die Waffe des Soldaten, entschieden. Beide Gegner sollten sich nächsten Tages, am 1. Januar morgens neun Uhr, an einer drei Kilometer von der Mündung des Cheliff entfernten Stelle treffen.
»Also morgen, mit soldatischer Pünktlichkeit«, versicherte Hector Servadac.
Kräftig drückten die beiden Offiziere die Hand ihres Freundes und begaben sich nach dem Café Zulma, um dort ihre gewohnte Partie Piquet zu spielen.
Kapitän Servadac dagegen drehte wieder um und verließ eiligst die Stadt.
Seit etwa vierzehn Tagen befand sich Hector Servadac nicht in seiner gewöhnlichen Wohnung in dem Waffenplatze. Betraut mit einer topographischen Aufnahme, hauste er jetzt in einem Gourbi (arabische Hütte) an der Küste von Mostagenem, etwa acht Kilometer vom Cheliff, wo ihm nur seine gewöhnliche Ordonnanz Gesellschaft leistete. Es war daselbst nicht gar zu reizend und jeder andere, als der Kapitän des Generalstabes, würde sein Exil auf diesem abscheulichen Posten mehr für eine Strafe angesehen haben.
Er machte sich also in der Richtung nach seinem Gourbi auf den Weg und quälte sich mit einigen Reimen ab, die er sich Mühe gab, in die etwas veraltete Form eines Rondeaus einzufügen. Dieses beabsichtigte Rondeau – es ist ja unnütz, es verheimlichen zu wollen – war für eine junge Witwe bestimmt, die er heimzuführen gedachte; jetzt suchte er ihr dichterisch zu beweisen, daß, wenn man in seiner Lage sei, eine der höchsten Achtung würdige Person zu lieben, dieses »auf die einfachste Weise von der Welt« geschehen müsse. Ob diese Aphorisme viel Wahrheit enthalte oder nicht, darüber grämte sich Kapitän Servadac nicht im mindesten; er reimte eben, um Verse zu machen.
»Ja, ja!« murmelte er, während die Ordonnanz schweigsam an seiner Seite dahintrottete,»ein tiefgefühltes Rondeau verfehlt nie seinen Zweck. Sie sind rar, diese Rondeaus, hier an der Küste Algiers, und das meinige wird deshalb hoffentlich eine desto bessere Aufnahme finden!«
Und der Dichter-Kapitän begann folgendermaßen:
Bei Gott! Wenn innig liebt der Mann,
ist es voll Einfachheit…
»Jawohl! Einfach, d.h. ehrlich, sowohl dem winkenden Ehebunde, als auch mir gegenüber, der so zu Ihnen spricht… Ja, zum Teufel, das reimt sich aber nicht! Die fatalen Reime auf ›an‹ sind doch recht unbequem. Eine sonderbare Idee, daß ich mein Rondeau gerade so anfangen mußte. He! Ben-Zouf!«
Ben-Zouf war die Ordonnanz des Kapitän Servadac.
»Herr Kapitän«, erwiderte Ben-Zouf.
»Hast du wohl manchmal Verse gemacht?«
»Nein, Herr Kapitän, aber ich habe welche machen sehen.«
»Von wem?«
»Nun, in der Bude einer Hellseherin, eines Abends, bei einem Feste auf dem Montmartre.«
»Und hast du sie wohl noch im Kopfe?«
»Gewiß, hören Sie, Herr Kapitän:
Herein! Das höchste Glück hier blüht,
es reut keinen, der’s probiert.
Denn die ihr liebt, hier jeder sieht,
und die euch wieder liebt!«
»Mordio, deine Verse sind aber abscheulich!«
»Das kommt daher, weil ihnen die Begleitung einer Flöte fehlt, mein Kapitän! Sonst wären sie gewiß so gut wie viele andere.«
»Schweig still, Ben-Zouf!« rief Hector Servadac. »Schweig still. Jetzt finde ich eben den dritten und vierten Reim!«
Bei Gott! Wenn innig liebt der Mann
ist’s voller Einfachheit…
Vertrau dich mehr der Liebe an,
als selbst dem Eid!
Weiter vermochte den Kapitän Servadac aber nicht die größte poetische Anstrengung vorwärts zu bringen, und als er gegen sechs Uhr seinen Gourbi erreichte, stand er noch immer bei seinem ersten Vierzeiler.
In der Offiziersliste des Kriegsministeriums für jenes Jahr, von dem wir sprechen, konnte man lesen:
»Servadac (Hector), geb. am 19. Juli 18.. in St. Trélody, Kanton und Arrondissement Lespare, Department der Gironde.
Vermögensverhältnisse: 1200 Francs Rente.
Dienstzeit: 14 Jahre, 3 Monate, 5 Tage.
Spezialisierung des Dienstes und etwaiger Feldzüge: Schule von St.-Cyr: 2 Jahre. Schule für praktische Ausbildung: 2 Jahre. Beim 87. Linienregimente: 2 Jahre. Beim 3. Jägerregimente: 2 Jahre. In Algier: 7 Jahre. Feldzug in Sudan. Feldzug in Japan.
Rang: Kapitän des Generalstabes in Mostagenem.
Dekorationen: Ritter der Ehrenlegion am 13. März 18..«
Hector Servadac zählte dreißig Jahre. Eine Waise, ohne Familie, fast ohne Vermögen, ehrgeizig, etwas Tollkopf, voll Mutterwitz; immer bereit zum Angriff wie zur schlagenden Verteidigung, edelmütig, tapfer, offenbar ein Schützling des Gottes der Schlachten, dem er freilich manche Angst machte, für einen Sprößling seiner Heimat nicht gerade ein Schwätzer, zwanzig Monate genährt von einer kräftigen Winzerin, ein leibhaftiger Abkömmling jener Helden, welche zur Zeit der kriegerischen Großtaten blühten – das war, nach geistiger Seite, unser Kapitän Servadac, einer jener liebenswürdigen Leutchen, welche die Natur schon zu Außerordentlichem bestimmt zu haben scheint, und an deren Wiege die Fee der Abenteuer und die des glücklichen Erfolges Patenstelle vertraten.
Äußerlich repräsentierte Hector Servadac einen hübschen Offizier: 5 Fuß 6 Zoll groß, schlank und graziös, natürliche dunkle Locken, schöne Hände und proportionierte Füße, wohlgepflegter Schnurrbart, blaue Augen mit offenem Blicke, mit einem Worte, geschaffen zu gefallen, und gefallend, ohne sich darauf besonders etwas einzubilden.
Wir müssen zugeben, daß Hector Servadac, der es übrigens offen eingestand, nicht klüger war, als eben notwendig. »Wir treiben keine Torheiten«, sagen gern die Offiziere der Artillerie. Bei Hector Servadac war das nicht der Fall. Zu mancher Tollheit aufgelegt, war er von Natur Flaneur und schreckenerregender Poet; bei seiner leichten Auffassungsgabe und der Gewandtheit, sich alles ohne Anstrengung zu assimilieren, hatte er seine Vorschule doch mit so gutem Erfolge absolviert, daß er in den Generalstab Eintritt fand. Er zeichnete ziemlich gut, saß bewunderungswürdig zu Pferde, ja selbst der sonst unübertroffene Springer der Manege von St.-Cyr, der Nachfolger des weitberühmten Onkel Tom, hatte in ihm seinen Meister gefunden. Seine Dienstzeugnisse meldeten, daß er mehrmals in den Tagesbefehlen erwähnt worden war – jedenfalls nur ein Akt der Gerechtigkeit.
Man erzählte sich folgenden Zug von ihm:
In einem Laufgraben führte er einmal eine Abteilung Jäger zu Fuß. An einer Stelle hatte die von Geschossen durchwühlte Schulterwehr vor dem Graben nachgegeben und bot den Soldaten keine hinreichende Deckung mehr gegen den Kugelregen. Jene zauderten, vorüber zu marschieren. Da stieg Kapitän Servadac aus dem Graben herauf und legte sich quer vor die Bresche, welche er gerade mit seinem Leibe ausfüllte.
»Nun, marsch vorüber!« kommandierte er.
Die Kompanie zog inmitten des heftigen Gewehrfeuers vorbei; der mutige Stabsoffizier blieb unverletzt.
Seit seinem Austritt aus der Schule für praktische Ausbildung diente Hector Servadac, mit Ausnahme der beiden Feldzüge in Sudan und Japan, ununterbrochen in Algier. Zur Zeit funktionierte er als Offizier beim Stabe der Subdivision von Mostagenem. Betraut mit mehreren topographischen Aufnahmen der Küstenstrecke zwischen Tenez und der Mündung des Cheliff, bewohnte er den erwähnten Gourbi, der ihm wohl oder übel Obdach gewährte. Er war indes nicht der Mann, sich wegen Kleinigkeiten graue Haare wachsen zu lassen. Er liebte es, in der freien Gottesluft und derjenigen Freiheit zu leben, die einem Offizier eben nachgelassen ist. Bald mühte er sich zu Fuß durch den Sand der flachen Ufer, bald strich er zu Pferde über andere Küstenstrecken, jedenfalls beeilte er sich aber nicht über die Maßen mit der ihm zugeteilten Arbeit.
Dieses so gut wie unabhängige Leben sagte ihm besonders zu. Dazu nahm ihn seine Beschäftigung nicht so unausgesetzt in Anspruch, daß es ihm nicht möglich geworden wäre, wöchentlich zwei-oder dreimal die Eisenbahn zu benützen, um entweder zu den Empfangsabenden des Generals in Oran oder bei den Festlichkeiten des Gouverneurs in Algier zu erscheinen.
Bei einer solchen Veranlassung sah er zum ersten Male auch Madame L…, der jenes prächtige Rondeau, von welchem freilich nur die ersten vier Zeilen das Licht der Welt erblickt hatten, gewidmet werden sollte. Jene junge, schöne, sehr zurückhaltende, ja vielleicht etwas hochmütig stolze Frau, die Witwe eines Obersten, bemerkte die ihr dargebrachten Huldigungen entweder wirklich nicht oder wollte sie nicht beachten. Auch Kapitän Servadac hatte sich noch zu keiner Erklärung ermutigt gefühlt, trotz seiner Kenntnis mehrerer Rivalen, zu denen, wie der Leser nun wohl erriet, auch jener Graf Timascheff gehörte. Eben diese Wettbewerbung hatte den beiden Gegnern jetzt, ohne daß die junge Frau davon das geringste ahnte, die Waffen in die Hände gegeben. Wie uns bekannt, war ihr Name bei dieser Affäre auch völlig außer dem Spiele geblieben.
Mit Hector Servadac hauste in dem Gourbi dessen Ordonnanz, Ben-Zouf.
Dieser Ben-Zouf war dem Offizier, bei dem er die Ehre hatte, als »Bursche« zu dienen, mit Leib und Seele ergeben. Zwischen der Stellung eines Adjutanten beim Generalgouverneur von Algier und der einer Ordonnanz bei Kapitän Servadac wäre ihm die Wahl nie schwer geworden. Wenn er aber in bezug auf seine Person jedes Ehrgeizes ermangelte, so war das doch ganz anders bezüglich seines Offiziers, und jeden Morgen unterwarf er die Uniform seines Herrn der sorgsamsten, eingehendsten Musterung.
Sein Name Ben-Zouf könnte zu der Annahme verleiten, daß dessen Träger ein Landesabkömmling aus Algier wäre. Nicht im mindesten. Es war jenes nur ein Zuname. Warum nannte man den Burschen, der ursprünglich Laurent hieß, aber Zouf? – Warum Ben, da er doch aus Paris und noch dazu vom Montmartre stammte? Das ist so eine jener Sprachanomalien, welche auch die gelehrtesten Etymologen niemals zu ergründen vermögen.
Ben-Zouf entsproß nun nicht allein dem Quartier Montmartre, sondern speziell dem berühmten Erdhügel dieses Namens, da er seinerzeit zwischen dem Solferinoturm und der Galette-Mühle das Licht der Welt erblickte. Hatte man aber das Glück, unter solchen exzeptionellen Verhältnissen geboren zu werden, so erscheint eine rückhaltlose Bewunderung seines Geburtshügels, neben dem in der Welt nichts Großartiges existiert, nur zu natürlich. Auch in den Augen des Offiziersburschen galt der Montmartre als der einzige ernsthafte Berg in der Welt, und das Quartier dieses Namens setzte sich für seine Anschauung aus allen Weltwundern zusammen. Ben-Zouf war auch gereist. Hörte man ihn reden, so hatte er in jedem beliebigen Lande nur lauter Montmartres gesehen, die vielleicht etwas höher sein mochten, aber jedenfalls minder pittoresk waren, als sein Berg in der Heimat. Besitzt der Montmartre nicht tatsächlich eine Kirche, die der Kathedrale von Burgos die Wage hält? Nicht Marmorbrüche, die denen des Penthelikon nicht nachgeben? Eine Wasserfläche, welche das Mittelmeer zur Eifersucht reizt? Eine Mühle, welche nicht nur gewöhnliches Mehl, sondern auch die weitberühmten Brotkuchen liefert? Den Solferinoturm, der wahrhaftig gerader steht, als jener Turm in Pisa?
Einen Rest von Wäldern, die beim Einfalle der Kelten gewiß noch jungfräuliche Wälder zu nennen waren? Und endlich einen Berg, ja, einen wirklichen, leibhaftigen Berg, den nur Neid und Mißgunst durch den entehrenden Namen »Erdhaufen« zu erniedrigen versuchen konnten? Ben-Zouf hätte sich eher in Stücke hacken lassen, ehe er zugegeben hätte, daß dieser »Berg« nicht 5000 Meter hoch wäre.
Wo auf dem weiten Erdboden könnte man so viele Wunder auf einen einzigen Punkt vereinigt wiederfinden?
»Nirgends, nirgends!« behauptete Ben-Zouf gegenüber jedem, der seine Ansichten etwas übertrieben fand.
Bei dieser gewiß unschuldigen Manie beherrschte Ben-Zouf nur eine Sehnsucht, einmal nach dem Montmartre zurückzukehren, um seine Tage auf dem Erdhügel zu schließen, auf dem sie einst einmal begonnen hatten – natürlich mit seinem Kapitän, das verstand sich von selbst. Auch Hector Servadacs Ohren hallten unausgesetzt wider von den unvergleichlichen Wundern des XVIII. Arrondissements von Paris und wurden ihm allmählich zu Schrecken.
Indes, Ben-Zouf zweifelte niemals an der endlichen Bekehrung seines Herrn und beharrte bei dem Entschlusse, jenen nun und nimmer zu verlassen. Seine Dienstzeit war abgelaufen. Er hatte schon zweimal den Abschied erhalten und wollte im Alter von achtundzwanzig Jahren den Dienst verlassen, ein einfacher berittener Jäger erster Klasse vom 8. Regiment, als er zur Ordonnanz Hector Servadacs erhoben wurde. Er zog mit seinem Herrn ins Feld. Er schlug sich mehrmals an seiner Seite, und zwar mit solcher Auszeichnung, daß ihm ein Kreuz verliehen werden sollte; er schlug das aber aus, um als Ordonnanz bei seinem Kapitän bleiben zu können. Rettete Hector Servadac in Japan einst Ben-Zouf das Leben, so vergalt ihm Ben-Zouf diesen Liebesdienst in dem Feldzuge von Sudan. Das sind Sachen, welche sich nun und nimmermehr vergessen lassen.
Kurz, das ist der Grund, weshalb Ben-Zouf dem Dienste bei seinem Stabsoffizier zwei »durch und durch gehärtete« Arme widmete; eine durch alle Klimate erprobte Gesundheit von Eisen; eine physische Kraft, die ihm gewiß das Prädikat »das Bollwerk des Montmartre« erworben hätte, und endlich ein Herz, das alles wagte, und eine Ergebenheit, die alles ausführte.
Hier sei auch erwähnt, daß, wenn Ben-Zouf auch nicht für einen Dichter, wie sein Herr, gelten konnte, er doch eine lebendige Enzyklopädie darstellte, eine unerschöpfliche Buchsammlung aller unsinnigen Redensarten und aller Possenstreiche des Soldatenhandwerks. Nach dieser Seite besiegte er leicht jedermann, da sein wunderbares Gedächtnis ihm die Witze und Spottreden gleich dutzendweise lieferte.
Kapitän Servadac kannte den Wert seines Mannes. Er schätzte ihn und sah seiner Montmartre-Manie durch die Finger, da sie der ungetrübte Humor der Ordonnanz meist erträglicher erscheinen ließ; bei Gelegenheit wußte er ihm auch Sachen zu sagen, die den Diener nur noch unlösbarer an den Herrn zu fesseln pflegen.
Eines Tages, als Ben-Zouf so recht gemütlich im Sattel saß und sein Steckenpferd weidlich im XVIII. Arrondissement herumtummelte, begann der Kapitän:
»Weißt du wohl, Ben-Zouf, wenn der Montmartre nur 4705 Meter höher wäre, daß er dann sogar den Montblanc erreichte?«
Bei dieser Bemerkung schossen des ehrlichen Burschen Augen zwei Blitze der innigsten Befriedigung, und von dem Tage ab verschmolzen der heimatliche Erdhügel und der Kapitän in seinem Herzen zu einer anbetungswürdigen Vorstellung.
Ein Gourbi ist nichts anderes als eine aus Rüststangen erbaute und mit Stroh, das die Eingeborenen »Driß« nennen, gedeckte Hütte. Etwas mehr als ein arabisches Zelt, bleibt eine solche Wohnung doch weit hinter einem Haus aus Bruch-oder Backsteinen zurück.
Der von Kapitän Servadac bewohnte Gourbi bestand alles in allem aus einem einzigen Zimmer, das seinen Gästen kaum den notdürftigsten Raum gewährt hätte, wenn er nicht mit einem verlassenen, aus Steinen errichteten Wachthause zusammengehangen hätte, das Ben-Zouf und die beiden Pferde beherbergte. Früher diente dieses Wachthaus einer Genieabteilung und enthielt noch einige Werkzeuge wie Hacken, Äxte, Schaufeln, usw.
Von Komfort konnte in dem Gourbi natürlich keine Rede sein, er bildete ja auch nur einen provisorischen Zufluchtsort. In bezug auf Nahrung und Wohnung waren übrigens weder der Kapitän noch seine Ordonnanz besonders wählerisch.
»Mit ein wenig Philosophie und einem guten Magen ist man überall gut aufgehoben«, wiederholte Hector Servadac gern.
Mit der Philosophie stand’s bei ihm aber wie mit dem Geld beim Gaskogner, der immer etwas in der Börse hat, und was den Magen betraf, so hätte das ganze Wasser der Garonne durch den des Kapitäns laufen können, ohne ihn nur einen Augenblick zu belästigen.
Ben-Zouf, wenn wir einmal die Metempsychose gelten lassen, mußte in seinem früheren Leben ein Strauß gewesen sein, von dem er sich noch jene phänomenalen Eingeweide bewahrt hatte, welche Kieselsteine ebenso leicht verdauen wie Hühnerpastete.
Die beiden Einsiedler in dem Gourbi waren übrigens mit Vorräten für einen Monat wohlversorgt; eine Zisterne lieferte ihnen Trinkwasser im Überfluß, die Dachsparren des Stalles strotzten von Futter, und dazu konnte die überaus fruchtbare Ebene zwischen Tenez und Mostagenem mit den reichen Gegenden der Mitidja wetteifern. Das Wild war hier nicht gar so selten, und einem Offizier des Stabes ist es niemals verboten, bei seinen Streifzügen eine Jagdflinte mitzuführen, wenn er nur seine Winkelmaßinstrumente und das Zeichenbrett nicht vergißt.
Als Kapitän Servadac nach dem Gourbi zurückgekehrt war, aß er mit einem Appetite, den die Promenade fast zum Heißhunger ausgebildet hatte. Ben-Zouf verstand sich ausgezeichnet auf die Verwaltung der Küche. Aus seiner Hand konnten geschmacklose Gerichte gar nicht hervorgehen. Er salzte und würzte und pfefferte militärisch. Aber, wie gesagt, er sorgte auch für zwei Magen, welche der schärfsten Gewürze spotteten und über die die Gastralgie keine Herrschaft hatte.
Nach dem Essen und während seine Ordonnanz die Reste der Mahlzeit sorgfältig in seinem »Unterleibsschranke« unterzubringen suchte, verließ Kapitän Servadac den Gourbi, um frische Luft zu schöpfen, und promenierte rauchend am Rande der Küste.
Die Nacht sank herab. Schon seit einer Stunde war die Sonne verschwunden hinter den dichten Wolken und unter dem Horizonte, den die Ebene in der Richtung nach dem Cheliff zu scharf abgrenzte. Der Himmel bot einen eigentümlichen Anblick, den kein Beobachter kosmischer Erscheinungen ohne Erstaunen wahrgenommen hätte. Gegen Norden nämlich, wo es schon so dunkel war, daß sich der Gesichtskreis etwa bis auf einen halben Kilometer einengte, zitterte ein rötlicher Lichtschein auf den oberen Dunstschichten der Atmosphäre. Man entdeckte weder regelmäßige Streifen, noch eine deutliche Lichtstrahlung von einem gemeinsamen Mittelpunkte aus. Nichts ließ also etwa ein Nordlicht vermuten, dessen prächtige Erscheinung übrigens fast ausschließlich nur unter dem Himmel höherer Breitengrade sichtbar wird. Ein Meteorolog wäre also gewiß in Verlegenheit gekommen, zu sagen, von welchem Phänomen diese herrliche Beleuchtung der letzten Nacht des Jahres herrührte.
Kapitän Servadac war aber kein Meteorolog vom Fach. Man darf annehmen, daß er seit dem Verlassen der Schule seine Nase wohl niemals wieder in das Lehrbuch der Kosmographie gesteckt hatte. Gerade diesen Abend war er auch keineswegs in der Stimmung, die Himmelskugel mit besonderer Aufmerksamkeit zu betrachten. Er flanierte und rauchte. Dachte er vielleicht allein an das Rencontre, das ihn morgen früh mit Graf Timascheff zusammenführen sollte? Wenn ein solcher Gedanke manchmal sein Hirn durchkreuzte, so geschah es gewiß nicht, um ihn mehr als nötig gegen den Grafen einzunehmen. Die beiden Gegner fühlten in der Tat keinen Haß gegeneinander, trotzdem sie Rivalen waren. Es handelte sich hierbei ja nur darum, einer Situation ein Ende zu machen, bei der einer von zweien allemal zuviel ist. Hector Servadac hielt Graf Timascheff gewiß für einen Ehrenmann, und der Graf seinerseits konnte für den Offizier nur die höchste Achtung haben.
Um acht Uhr abends kehrte Kapitän Servadac zurück in das einzige Zimmer des Gourbi, das neben seinem Feldbette einen kleinen Arbeitstisch auf Stellhölzern und einige Koffer enthielt, die den Dienst von Schränken verrichteten. Die nötigen Küchenarbeiten besorgte die Ordonnanz nicht in dem Gourbi, sondern in dem benachbarten Wachthause, und dort schlief der brave Bursche auch, wie er sagte, den »Schlaf des Gerechten«! Das hinderte ihn aber nicht, volle zwölf Stunden zu schlafen, und auch darüber hinaus wäre er noch eine Wette mit einem Murmeltiere eingegangen.
Kapitän Servadac, der gar nicht solche Eile hatte, zu schlummern, setzte sich an den mit seinen Instrumenten bedeckten Tisch. Mechanisch ergriff er mit der einen Hand den roten und blauen Stift und mit der anderen den Reduktionszirkel. Dann begann er auf dem Pauspapier vor sich verschieden gefärbte ungleiche Linien zu ziehen, welche einer strengen topographischen Aufnahme nicht im geringsten ähnlich sahen.
Unterdessen wartete Ben-Zouf, der noch keinen Befehl erhalten hatte, sich schlafen zu legen, in einer Ecke, und versuchte zu schlafen, was ihm nur die sonderbare Aufgeregtheit seines Kapitäns sehr erschwerte.
In der Tat hatte nicht der Stabsoffizier, sondern der gaskognesche Poet an dem Arbeitstische Platz genommen. Ja? Hector Servadac quälte sich auf die beste Art und Weise. Er bearbeitete mit aller Kraft dieses Rondeau, das sich so ungeheuer bitten ließ. Focht er wohl mit dem Zirkel, um seinen Versen eine genaue mathematische Form zu sichern? Verwandte er einen mehrfarbigen Stift, um den rebellischen Reimen mehr Abwechslung zu geben? Fast hätte man das glauben können. Doch, wie dem auch sei, es war eine sauere Arbeit.
»Ei, zum Kuckuck!« rief er, »was mußte ich auch diese Form eines Quatrain wählen, die mich zwingt, die Reime, wie die Flüchtlinge in einer Schlacht, immer wieder vorzuführen? Aber bei allen Teufeln, ich werde kämpfen! Man soll nicht sagen, daß ein französischer Offizier vor einigen Reimen Reißaus genommen hätte. Ein einzelner Vers, der gleicht etwa einem Bataillon! Die erste Kompanie hat schon Feuer gegeben! – Er wollte sagen, das erste Quatrain. – Nun, vorwärts die anderen!«
Die bis aufs Messer verfolgten Reime schienen endlich zu gehorchen, denn bald entstand eine rote und eine blaue Linie auf dem Papier:
Was nützt das schöne Reden all,
das sich Vertrauen stiehlt!…
»Was Teufel quält sich nur mein Kapitän?« fragte sich Ben-Zouf, der sich hin-und herdrehte. »Da ficht er nun schon eine Stunde herum, wie ein Gelbschnabel, der vom halbjährigen Urlaub zurückkehrt.«
Hector Servadac durchmaß den Gourbi, eine willenlose Beute seiner dichterischen Begeisterung:
Wenn bei der leeren Worte Schwall
das Herz nichts fühlt?
»Es steht fest, er macht Verse», sagte sich Ben-Zouf, indem er sich in seine Ecke zurückzog. »Ja, das ist ein geräuschvolles Geschäft, da ist nicht an schlafen zu denken.« Er ließ ein dumpfes Knurren hören.
»He, Ben-Zouf, was hast du denn?« fragte Hector Servadac.
»Nichts, mein Kapitän, mich drückt nur der Alp!«
»Der Teufel soll dich holen!«
»Wäre mir schon recht, und zwar gleich auf der Stelle«, murmelte Ben-Zouf, »vorzüglich wenn der Gottseibeiuns keine Verse macht!«
»Dieser Esel hat mich im schönsten Fluß unterbrochen!« wetterte der Kapitän. »Ben-Zouf!«
»Hier, Herr Kapitän!« versetzte die Ordonnanz und erhob sich, die eine Hand an der Mütze, die andere an der Hosennaht.
»Muckse nicht, Ben-Zouf! Muckse nicht, ich bin eben bei der glücklichen Vollendung meines Rondeau!«
Und mit begeisterter Stimme und den Gestikulationen eines großen Poeten fügte Hector Servadac hinzu:
Oh, glaub mir, meine Lieb’ ist echt,
ich ruf dir’s ehrlich zu,
daß ich dich liebe heiß und recht.
Und für…
Das letzte Wort war noch nicht gesprochen, als Kapitän Servadac und Ben-Zouf mit unerhörter Gewalt zu Boden geworfen wurden.
Wie kam es, daß der Horizont sich eben jetzt so auffallend und plötzlich verändert hatte, daß auch das geübte Auge eines Seemanns die Kreislinie nicht hätte erkennen können, in der sonst Himmel und Wasser verschmolzen? Warum türmte das Meer jetzt seine Wogen auf eine Höhe empor, welche die Gelehrten bis dahin nie für möglich gehalten hätten?
Auf welche Weise entstand bei dem Krachen des zerreißenden Bodens ein solcher Höllenlärm mit den verschiedensten Geräuschen, mit dem Knirschen der gewaltsamen Verschiebung der Rippen der Erdkugel, mit dem Rauschen des bis auf ungeahnte Tiefen aufgewühlten Wassers, mit dem Pfeifen der Luftmassen, die in eine Zyklone hereingerissen schienen?
Woher dieser außergewöhnliche Glanz am Himmel, der die Strahlung eines Nordlichtes bei weitem übertraf, ein Glanz, der das ganze Firmament einnahm und vorübergehend die Sterne jeder Größe verlöschte?
Wie kam es, daß das für einen Augenblick scheinbar entleerte Mittelmeer sich ebenso plötzlich wieder mit entsetzlich wild empörten Wogen füllte?
Warum schien die Scheibe des Mondes sich unverhältnismäßig zu vergrößern, als habe das Gestirn der Nacht sich der Erde in wenig Sekunden von 48000 Meilen auf 5000 Meilen genähert?
Woher erschien das neue, ungeheure, flammende Sphäroid am Firmamente, das sich bald hinter der dichten Wolkenschicht verlor?
Welch außerordentliche Erscheinung lag überhaupt dieser Umwälzung zugrunde, welche die Tiefen der Erde, des Meeres, den Himmel und den ganzen Weltraum erschütterte?
Wer hätte es sagen können?
War auf der Erdkugel denn noch ein Bewohner übrig, um auf diese Fragen zu antworten?
Alles in allem schien mit dem algerischen Küstenstriche, der im Westen durch das rechte Ufer des Cheliff und im Norden durch das Mittelmeer begrenzt ist, keine Veränderung vor sich gegangen zu sein. Trotz des fürchterlichen Stoßes zeigte sich weder an dieser fruchtbaren, nur hier und da etwas wellenförmigen Ebene, noch an der unregelmäßigen Uferlinie etwas besonders Auffälliges in der äußeren Erscheinung. Auch das steinerne Wachthaus hatte bei seiner festen Verbindung der einzelnen Mauerteile hinreichend Widerstand geleistet, der Gourbi freilich lag platt auf dem Boden wie ein Kartenhaus, das ein Kind umblies, und seine beiden Bewohner waren unter den mit dem Strohdach bedeckten Trümmern vergraben.
Erst zwei Stunden nach der Katastrophe kam Kapitän Servadac wieder zu sich. Er hatte natürlich einige Mühe, seine Gedanken zu sammeln, die ersten Worte aber, welche über seine Lippen kamen – wen könnte das wundernehmen – waren die letzten Silben des berühmten Rondeaus, bei denen er auf eine so ungewöhnliche Weise gestört worden war:
… heiß und recht,
und für…
Erst nach diesen fragte er sich: »Was zum Teufel ist denn geschehen?«
Die Antwort auf diese an sich selbst gerichtete Frage fiel ihm freilich schwer. Er bohrte mit den Armen nach oben; es gelang ihm, die Strohdecke zu durchbrechen und den Kopf durch das zusammengestürzte Dach zu drängen.
Kapitän Servadac sah sich verwundert um.
»Der Gourbi umgeworfen!« sagte er. »Da wird eine Trombe über die Küste gestürmt sein!«
Er schwieg. Er fühlte keine Verrenkung, überhaupt keine Wunde.
»Mordio, und mein Bursche?«
Er arbeitete sich in die Höhe und rief:
»Ben-Zouf!«
Bei der Stimme des Kapitäns wühlte sich ein zweiter Kopf durch das Strohdach.
»Hier!« antwortete Ben-Zouf.
Es schien, als habe die Ordonnanz nur auf den Appell gewartet, um auf Soldatenart anzutreten.
»Hast du eine Idee davon, was vorgefallen ist, Ben-Zouf?« fragte Hector Servadac.
»Mir sieht es aus, mein Kapitän, als wären wir nahe an der letzten Parade gewesen.«
»Ei was, eine Trombe war es, Ben-Zouf, eine einfache Trombe.«
»Nun, meinetwegen eine Trombe!« erwiderte philosophisch die Ordonnanz. »Nichts Wichtiges gebrochen, Herr Kapitän?«
»Nichts, Ben-Zouf.«
Bald waren beide auf den Füßen; sie räumten den Trümmerhaufen des Gourbi zusammen und fanden die Instrumente, Werkzeuge, Waffen und alles Übrige so ziemlich intakt wieder. Jetzt fragte der Stabsoffizier:
»Um wieviel Uhr mag es wohl sein?«
»Mindestens um acht Uhr«, erwiderte Ben-Zouf, indem er die Sonne betrachtete, welche schon ziemlich hoch über dem Horizonte stand.
»Um acht Uhr?«
»Mindestens, Herr Kapitän.«
»Wäre das möglich?«
»Ja, wir werden aufbrechen müssen.«
»Aufbrechen? Wohin?«
»Nun, nach unserem Rendezvous.«
»Welches Rendezvous?«
»Ei, das Renkontre mit dem Grafen …«
»Mordio«, rief der Kapitän, »das hätte ich fast vergessen!«
Er zog seine Uhr.
»Was sagst du, Ben-Zouf? Du bist ein Narr, es ist kaum zwei Uhr.«
»Zwei Uhr früh oder zwei Uhr Nachmittag?«
Hector Servadac hielt die Uhr ans Ohr.
»Sie geht«, sagte er.
»Und die Sonne auch«, bemerkte die Ordonnanz.
»Wahrhaftig, nach der Höhe über dem Horizont zu urteilen … ah, bei allen Weinbergen Medocs …«
»Was ist Ihnen, Herr Kapitän?«
»Es muß ja um acht Uhr abends sein?«
»Abends?«
»Gewiß, die Sonne steht im Westen, sie ist offenbar beim Niedergehen.«
»Im Untergehen, nein, nein, mein Kapitän«, antwortete Ben-Zouf; »sie steht jetzt auf, wie ein Konskribierter beim Morgenschluß. Da sehen Sie, während wir sprechen, ist sie schon höher gestiegen.«
»So geht die Sonne also jetzt im Westen auf«, murmelte Servadac. »Ach was, das ist ja unmöglich!«
Immerhin war die Tatsache nicht wegzuleugnen. Das Strahlengestirn stieg scheinbar über den Wellen des Cheliff auf und beschrieb seinen Bogen über dem westlichen Horizonte, den es früher erst nachmittags durchmessen hatte.
Hector Servadac sah nun wohl ein, daß ein absolut unerhörtes und ebenso unerklärliches Ereignis, wenn auch nicht die Lage der Sonne in der siderischen Welt, so doch die Richtung der Erdrotation um ihre Achse verändert habe.
Es war zum Verstandverlieren. Konnte das Unmögliche zur Wahrheit werden? Hätte Kapitän Servadac eines der Mitglieder des Längenvermessungsbüros bei der Hand gehabt, er würde einige Aufklärung zu erlangen gesucht haben. Da er ganz auf sich allein angewiesen war, so tröstete er sich mit den Worten:
»Meiner Treu, die ganze Sache geht im Grunde nur die Astronomen an, ich werde ja in acht Tagen sehen, was sie in den Zeitungen darüber veröffentlichen.«
Ohne sich noch unnötig lange bei der Untersuchung des Grundes dieser seltsamen Erscheinung aufzuhalten, rief er nach seiner Ordonnanz.
»Nun vorwärts! Was hier auch passiert ist und ob die ganze Erde und Himmelsmechanik in Unordnung geraten ist, jedenfalls muß ich der erste am Platze sein, um Graf Timascheff die Ehre zu erweisen …«
»Ihm den Degen durch den Leib zu bohren«, vervollständigte Ben-Zouf den Satz.
Wären Hector Servadac und seine Ordonnanz besonders aufgelegt gewesen, auf die physischen Veränderungen zu achten, die in dieser Nacht vom 31. Dezember zum 1. Januar mit ihnen so plötzlich vorgegangen waren, nachdem sie doch die Modifikation in der scheinbaren Bewegung der Sonne konstatiert hatten, ihr Erstaunen wäre sicher noch mehr gewachsen. Um zuerst von ihnen selbst zu sprechen, so fühlten sie sich etwas beengt, mußten häufiger Atem holen, wie es den Bergsteigern zu ergehen pflegt, so als sei die umgebende Luft minder dicht und folglich auch minder reich an Sauerstoff; dazu erschien ihre Stimme sehr schwach. Entweder also waren sie über Nacht halb taub geworden, oder sie mußten annehmen, daß die Luft plötzlich eine Verminderung ihrer Leitungsfähigkeit für Schallwellen erfahren habe.
Diese physikalischen Veränderungen bekümmerten im gegenwärtigen Augenblicke aber weder Kapitän Servadac noch Ben-Zouf, und beide trabten auf den Cheliff zu, wobei sie dem Wege auf dem steilen Ufer folgten.
Auch das gestern noch sehr dunstige Wetter zeigte sich wesentlich verändert. Ein eigentümlich gefärbter Himmel, der sich schnell mit niedrigen Wolken bedeckte, versteckte bald die Sonne, so daß das Auge ihren Lauf nicht mehr verfolgen konnte. Es drohte ein wahrer sintflutlicher Regen, wenn nicht ein gewaltiges Gewitter, doch gelangten diese Dunstmassen nicht zur Kondensation und schlugen sich also auch nicht nieder.
Zum ersten Male an dieser Küste schien das Meer ganz und gar verlassen. Kein Segel, keine Rauchsäule war auf dem bläulichen Wasser oder an dem grauen Himmel zu sehen. Der Horizont selbst – beruhte das nur auf optischer Täuschung – schien sich ungemein verengt zu haben, und zwar der über dem Meere ebenso, wie der, welcher nach der anderen Seite die Ebene begrenzte. Die ungeheuren Fernsichten waren gleichsam verschwunden, so als ob die Konvexität der Erdkugel sehr stark zugenommen habe.
Kapitän Servadac und Ben-Zouf gingen schnell dahin, ohne ein Wort zu wechseln, und mußten bald die fünf Kilometer zurückgelegt haben, die den Gourbi von dem Platze des Stelldicheins trennten. Beide hätten an diesem Morgen empfinden müssen, daß sie physiologisch ganz anders organisiert waren. Ohne sich besondere Rechenschaft zu geben, fühlten sie sich körperlich so leicht, als ob sie Flügel an den Füßen trügen. Die Ordonnanz mochte ihre Gedanken etwa dahin zusammengefaßt haben, daß heute alles »ferm und flott« gehe.
»Nicht zu vergessen«, murmelte er, »daß wir heute nicht einmal eine ordentliche Ration zu uns genommen haben.«
Es muß anerkannt werden, daß ein derartiges Versehen bei dem braven Soldaten sonst nicht vorzukommen pflegte.
Da ließ sich ein recht widerliches Gebell zur Linken des Fußweges hören. Fast gleichzeitig sprang ein Schakal aus einer dichten Gruppe Mastixbäume. Das Tier gehörte einer besonderen Art der afrikanischen Fauna an, deren Fell regelmäßige schwarze Flecken und einen ebenso gefärbten Streifen an der Vorderseite der Beine hat.
Der Schakal kann gefährlich werden, wenn er in der Nacht in Herden auf Raub auszieht. Einzeln ist er nicht mehr zu fürchten als ein Hund. Ben-Zouf war gewiß nicht der Mann, sich von jenem ängstigen zu lassen, aber Ben-Zouf liebte auch die Schakale nicht – wahrscheinlich weil sie nicht mit einer besonderen Art in der Fauna des Montmartre vertreten waren.
Von dem Dickicht aus lief das Tier auf einen Felsen zu, der mindestens zehn Meter Höhe haben mochte. Mit offenbarer Unruhe betrachtete es die beiden Wanderer. Ben-Zouf tat, als ob er auf dasselbe anlegte, auf welche drohende Haltung das Tier zum größten Erstaunen des Kapitäns und seiner Ordonnanz mit einem einzigen Satz auf die Höhe des Felsens sprang.
»Das nenn’ ich einen Springer!« rief Ben-Zouf, »die Bestie schnellte sich mindestens dreißig Fuß in die Höhe.«
»Wahrhaftig«, antwortete Kapitän Servadac tiefsinnend, »einen solchen Sprung hab’ ich niemals fertiggebracht!«
Der Schakal setzte sich auf dem Gipfel des Felsens nieder und stierte die beiden mit glotzenden Augen an. Ben-Zouf erhob einen Stein, um ihn zu vertreiben.
Der Stein war sehr groß und doch wog er in der Hand der Ordonnanz scheinbar nicht mehr als ein Stück Bimsstein.
»Verdammter Schakal«, sagte Ben-Zouf, »dieser Stein schadet ihm auch nicht mehr als ein Käsekeulchen! Doch warum in aller Welt ist der so groß und doch so leicht?«