Theodor Lipps

Der Streit über die Tragödie (Theorien & Psychologische Modelle)

Die "Resignation" des tragischen Helden; Die "poetische Gerechtigkeit"; Tragödie und ernstes Schauspiel; Die Bestrafung der Bösen und die Macht des Guten Die poetische Motivierung

e-artnow, 2017
Kontakt: info@e-artnow.org
ISBN 978-80-268-7322-8

INHALTSVERZEICHNIS

Einleitung

Die "Resignation" des tragischen Helden

Die "poetische Gerechtigkeit"

Schuld und "Strafe"

Die "sittliche Weltordnung"

Das Ende der "poetischen Gerechtigkeit"

Die "vorübergehende Schmerzempfindung"

Das Mitleid

Genaueres über die Bedeutung des Leidens

Die Bestrafung der Bösen und die Macht des Guten

Zwei Gattungen der Tragödie

Tragödie und ernstes Schauspiel

Die poetische Motivierung

Der Untergang des Helden

Schluß

EINLEITUNG

Inhaltsverzeichnis

So wenig wie die künstlerische Thätigkeit, ebenso wenig ist auch unser Kunstgenuß bedingt durch die verständesmäßige Einsicht in die Gründe, auf denen die Wirkung des Kunstwerkes beruht. Und es ist gut, daß es sich so verhält. Wäre es anders, aller Kunstgenuß geriete ins Schwanken. Vor allem dürfte kein tragisches Kunstwerk auf eine sichere und bei allen gleichartige Wirkung rechnen. So groß ist die Unsicherheit und Gegensätzlichkeit der Anschauungen über den "Grund unseres Vergnügens an tragischen Gegenständen."

Die verstandesmäßige Einsicht bedingt nicht den Kunstgenuß. Aber die vermeintliche Einsicht, die falsche Theorie vermag ihn empfindlich zu schädigen. Nicht bei solchen, die die Theorie haben, aber klug genug sind, von ihr angesichts des Kunstwerkes keinen Gebrauch zu machen; die sich zu Hause an ihrer Theorie der Tragödie, im Theater an der Tragödie erfreuen. Sie schaffen sich nur einen doppelten Genuß. Für sie ist die Theorie ein Luxus, den man ihnen wohl gönnen mag. Wohl aber muß die falsche Theorie Schaden stiften bei denjenigen, die damit praktisch Ernst machen. Sie suchen, durch die Theorie verleitet, im Kunstwerk, was die Theorie vorschreibt, und finden natürlich, was sie suchen. Und sie übersehen mit ihrem durch die Theorie mißleiteten Blick, was das Kunstwerk bieten will und bietet.

Vielleicht beruht die falsche Theorie immerhin auf ästhetischem Boden; sie ist hervorgegangen aus oberflächlicher und einseitiger Betrachtung des Kunstwerkes. Dies ist der bei weitem günstigere Fall. Schlimmer ist es, wenn eine der Kunst fremde Theorie, eine Welt- oder Lebensauffassung, wie sie der "Philosoph" aus der Betrachtung der Wirklichkeit gewonnen oder in seinen Mußestunden erträumt hat, dem Kunstwerk untergeschoben, und dies zum Mittel gemacht wird, jene Welt- oder Lebensauffassung zu verkündigen oder zu bestätigen.

DIE "RESIGNATION" DES TRAGISCHEN HELDEN

Inhaltsverzeichnis

Es giebt eine Weltanschauung, die, ausgehend von der Betrachtung des Leides in der Welt, zur Überzeugung gelangt, daß es besser wäre, die Welt wäre nicht. Das Leid in der Welt fordere eine Erlösung. Diese sei gegeben in der Abkehr vom Leben, der Preisgabe des Daseins, der "Weltüberwindung" in diesem Sinne. Im Aufhören des Daseins, im Nichtsein also, sei die Disharmonie der Welt in "Harmonie" aufgelöst; hier sei "Ruhe, Versöhnung, Frieden".

Lassen wir dahingestellt, wie der Verkündiger dieser "pessimistischen" Weltanschauung seine Lehre zu beweisen gedenkt. Nur dies interessiert uns hier einigermaßen, wie er die sonderbare Vorstellung rechtfertigen will, daß das Individuum nach Preisgabe seines Daseins, daß also das nicht mehr existierende Individuum, doch noch von eben dieser Nichtexistenz etwas habe; daß es, obgleich nicht mehr empfindend, doch sein Nichtsein als Harmonie, Versöhnung, Ruhe, kurz irgendwie befriedigend empfinde. Denn die Befriedigung, die ich nicht empfinde, ist ja doch für mich keine Befriedigung, so sehr sie es für einen anderen sein mag; Erlösung, Versöhnung, Harmonie, das alles sind Worte, die auf das nicht mehr existierende also auch nicht mehr empfindende Individuum angewandt völlig ihren Sinn verlieren. Was, frage ich, veranlaßt den Vertreter jener Theorie trotzdem mit diesen Worten zu spielen, statt überall das so klare und viel einfachere Wort "Nichts" an die Stelle zu setzen.

Das Spiel ist ja allzuleicht zu durchschauen. Ruhe ist ein doppelsinniges Wort. Ruhe ist Abwesenheit der Bewegung, Mangel des Lebens, also Tod, Starrheit, gleichförmiges Einerlei. Solcher Ruhe "erfreut" sich der Stein gegenüber der Pflanze, die durch Entziehung der Wärme erstarrte Natur gegenüber der lebendigen. Ein ander Mal ist "Ruhe" gleichbedeutend mit "Ausruhen". Solches Ausruhen ist nicht Mangel des Lebens, sondern ungestörter Ablauf desselben; nicht aufgehobene Bewegung, sondern ungetrübtes Gleichmaß vorhandener Bewegung. Jene Ruhe hat nichts Erfreuliches; mit Bewegung und Leben ist ja auch das Fühlen aufgehoben. Diese schließt eine eigene und beglückende Art des Lebens- und Selbstgefühls in sich. Nur wenn man mit logischer Taschenspielerkunst jenem negativen Begriff der Ruhe diesen positiven Begriff unterschiebt, kann man auch jenen mit scheinbarem positivem Inhalte erfüllen.

Noch schlimmer steht es mit den anderen, an Stelle des "Nichts" gesetzten Begriffen. Aufgehobene Disharmonie ist nicht ohne weiteres Harmonie, sie ist an sich bloß nicht vorhandene Disharmonie, Leere, ein Nichts an Stelle der Disharmonie. Nicht, wo nichts mehr erklingt, sondern wo Klänge ungestört zusammenklingen, ist Harmonie. Und solche Harmonie muß da sein, wo Disharmonie in Harmonie "aufgelöst" werden soll. Ohne die nachfolgende Harmonie ist die "Auflösung" ein leeres Wort, eine sonderbare Erschleichung.—Und nicht anders ist es mit dem "Frieden", der "Versöhnung". Ich frage, ist es recht, solchen Begriffsbetrug zu üben? Oder wie glaubt man dergleichen logischen Leichtsinn verantworten zu können?

Jener "Weltanschauung" aber soll nun auch die Tragödie zur Bestätigung dienen. Wir erfahren: in der Tragödie vollziehe der Held die Abwendung vom Dasein und Leben; daraus gewinne der Zuschauer den Trost, daß auch ihm ein Gleiches zu thun offen stehe. Die Tragödie erschließe so dem Geiste "seine wahre Heimat und die Aussicht auf den stillen Hafen hinter der sturmbewegten See des Lebens."

Hier haben wir zunächst neue Worte an Stelle des "Nichts". Schade, daß sie, so poetisch auch immer, und so wohlgeeignet die Leere des Nichts gefällig zu verschleiern, doch auch nicht das Nichts in ein Etwas, wohl gar in ein beglückendes Etwas zu verwandeln vermögen. Man könnte meinen, trotz der schönen Worte bleibe der Gedanke an jene Leere vielmehr der erschrecklichsten einer, und jene "trostreiche" Aussicht sei alles eher als trostreich.

Doch streiten wir darüber nicht.—Der Zuschauer soll jenen trostreichen Gedanken haben. Gemeint kann aber doch wohl nur der Zuschauer sein, der an die pessimistische Lehre glaubt, und auch der nur unter der Voraussetzung, daß er im Trauerspiel, das ja von allerlei redet, nur nicht von ihm und seinen persönlichen und realen Interessen, noch die Zeit findet, zu diesen Interessen abzuschweifen. Oder wo pflegen Tragödien von Zuschauern und ihren Wünschen und Aussichten zu handeln? Welche Tragödie fällt so aus der Rolle?

Ich fürchte nicht, daß man den Sinn und die Bedeutung dieser Frage verkenne. Die Fabel mag ausdrücklich enden mit dem "Fabula docet", der Nutzanwendung, die sich an den Leser oder Hörer wendet; das Gleichnis mag sagen: "Gehe hin und thue desgleichen". Und wenn sie es nicht ausdrücklich thun, so sollen wir doch die Lehre oder Nutzanwendung aus ihnen ziehen. Beide sind eben Belehrungen in künstlerischer Form, nicht reine Kunstwerke. Dagegen will das reine Kunstwerk nicht belehren, am wenigsten über unsere "Aussichten". Oder was würde man sagen, wenn jemand aus dem Lustspiel, in dem der Held durchs große Loos aus materieller Not befreit wird, den tröstlichen Gedanken zöge, daß auch ihm dergleichen begegnen könne. Was würde man sagen, wenn er uns gar erklärte, dieser tröstliche Gedanke sei eben der Grund und eigentliche Inhalt seines Kunstgenusses? Nun, genau dasselbe muß man von demjenigen sagen, der den Genuß am tragischen Kunstwerk auf irgend welche trostreiche Aussicht gründet, die er für sich daraus zieht.

Das darstellende Kunstwerk will wirken durch das, was es darstellt, durch die Gestalten, die es uns vorführt, und das, was diese Gestalten innerhalb des Kunstwerkes,—nicht irgend jemand sonst, am wenigsten wir selbst, außerhalb desselben,—sind und denken, thun und erleiden. In die Gestalten, in ihr Denken, Thun und Leiden sollen wir uns in unserer Phantasie hineinversetzen und unser reales Ich mit seinen Wünschen und Aussichten, und damit zugleich die ganze sonstige Welt der Wirklichkeit nicht hineinmengen, sondern vergessen. Die Welt des darstellenden Kunstwerkes ist nicht eine wirkliche, sondern eben eine dargestellte; eine Welt der bloßen Vorstellung, der Phantasie, des Scheins. Sie ist jedesmal eine Welt für sich, von der Welt, in der wir existieren, durch eine absolute Kluft getrennt. Diese Welt und sie allein geht uns an, wenn wir uns dem Kunstwerk hingeben; aus ihr allein können wir schöpfen, was wir aus dem Kunstwerke schöpfen wollen.

Es besteht aber gerade das Besondere des darstellenden Kunstwerkes, dasjenige, was es vor dem Schönen der Wirklichkeit jederzeit voraus hat, darin, daß es eine solche Welt für sich bildet, aller wirklichen Welt transcendent, völlig losgelöst von unseren Wirklichkeitsinteressen; es ist das Auszeichnende des Genusses am darstellenden Kunstwerke, daß das Schöne in ihm zur Geltung kommt und wirkt, wie es an sich ist, genossen wird in dem Werte, den es an sich hat, nur verflochten in die Beziehungen, in die es im Kunstwerke verflochten erscheint.

Dagegen hebt jede Einmischung eines Gedankens, der sich auf das bezieht, was außerhalb des Kunstwerkes liegt, jede Herzubringung eines Interesses außer dem Interesse am Kunstwerk selbst und seinem Inhalte das eigentliche Wesen des Kunstwerkes auf. Die Vermengung ist nicht klüger als die von Traum und Wirklichkeit, der Versuch vor allem, "trostreiche" Gedanken für die Wirklichkeit aus dem Kunstwerke zu ziehen, nicht geistreicher als der Versuch, das Kapital, das man im Traume gewonnen, im wachen Leben auf Zinsen zu legen.

Doch weiter. Aus gewissen Bedingungen folgt jedesmal in der Tragödie das Preisgeben des Daseins seitens des Helden. Er wendet sich vom Leben—wenn er es thut—nicht auf Grund einer philosophischen Reflexion über die Vortrefflichkeit der Nichtexistenz, sondern weil ein großes Leid, ein unlösbarer Konflikt über ihn hereingebrochen ist. Warum dies?

Man sagt uns, der Held müsse durch die Unlösbarkeit des Konfliktes erst dazu gebracht werden, die Welt zu überwinden, die instinktive Todesfurcht abzuschütteln, das Nichtsein begehrenswert zu finden. Wie ihm das Leiden, so solle uns der Anblick des Leidens die Vortrefflichkeit des Nichtseins im Vergleich zu den Leiden des Daseins zum Bewußtsein bringen. Auch sei die Preisgabe des Lebens für den Helden erst auf Grund der Unlösbarkeit des Konfliktes verzeihlich. Denn von Hause aus habe der Einzelne die Pflicht sich dem Leben und seinen Aufgaben zu erhalten, obgleich diese Aufgaben zuletzt auf nichts anderes hinauslaufen, als darauf, auch die übrige Welt zur Abkehr vom Leben reif zu machen.

Aber ist damit nicht die ganze "tröstliche Aussicht" wiederum illusorisch gemacht? Angenommen der Held entschlösse sich zur Preisgabe des Daseins ohne besondere Veranlassung, etwa unter Recitation einiger "Lichtstrahlen" aus pessimistischen Werken. Dann könnten wir vielleicht aus seinem Verhalten die tröstliche Zuversicht gewinnen, daß auch uns, denen einstweilen die besondere Veranlassung fehlt, ein gleiches Verhalten möglich sei. Wie aber, wenn das Gegenteil dieser Annahme stattfindet?

Daß die Veranlassung zur Preisgabe des Daseins beim Helden der Tragödie eine besondere, daß die Bedingungen seines Unterganges außerordentliche zu sein pflegen, das tut ja doch wohl keine Frage. Man hat sogar diese Besonderheit oder Außerordentlichkeit über Gebühr gesteigert. Der tragische Konflikt, sagte man, setze jederzeit eine "Überhebung" seitens des Helden voraus. Dies bezweifle ich. Ich wüßte wenigstens nicht, worin die Überhebung einer EMILIA GALOTTI bestehen sollte. Aber lassen wir diesen Punkt hier noch unentschieden. Uns genügt, daß unter Voraussetzung gewisser, nicht alltäglicher Bedingungen, und nur unter Voraussetzung derselben, der tragische Held sich vom Leben abzuwenden pflegt.

Diese Bedingungen müssen gewiß, so wenig alltäglich immer, mögliche und naturgemäße, sie müssen "normale