Erster Band

Inhaltsverzeichnis

Dem Dichter,

den er vor allen lebenden bewundert,

Franz Grillparzer

widmet in freudiger Verehrung

dieß Buch

H. H.

I

Inhaltsverzeichnis

In einer guten, deutschen Stadt, deren Namen ich Euch nicht zu nennen brauche, in einer Stadt, welche, Gott sei Dank! nachgerade zu groß geworden ist, um noch länger eine Kleinstadt heißen zu wollen, und welche mit Gottes Hülfe niemals groß genug werden wird, um eine Großstadt sein zu können – in eben derselben guten deutschen Stadt stand noch vor unlanger Zeit ein altes graues, hochgegiebeltes Haus, in dessen Erdgeschosse die Fuhrleute, welche die Landstraße gegen Süd-Osten bewanderten, ihre Pferde beschlagen ließen. Vor einem Dutzend von Jahren etwa hat die Bauwuth der Neueren Haus und Schmiede abgebrochen und es würde mir heute schwer werden, auch nur genau die Stelle anzugeben, wo sie gestanden. Denn selbst Grund und Boden der damaligen abschüssigen und gewundenen Straße ist theils abgetragen, theils aufgeschüttet worden und nur um ungefähr die Lage zu bestimmen, sage ich Euch, das Haus war etwa da zu suchen, wo jetzt die »neue Lessingstraße« den »kleinen Hegelplatz« durchschneidet, um dann geradewegs zu dem schöngepflasterten Quai »Ulrich von Hutten« zu führen, welch letzerer in neuester Zeit die Xylographen aller illustrirten Wochen- und Monatsschriften so sehr beschäftigt.

Damals, als ich mich des Häufigeren in der Nachbarschaft umhertrieb, gab es für das Haus Pyrian weder einen Lessing noch einen Hegel und noch viel weniger einen Ulrich von Hutten, sondern überhaupt Nichts und Niemand als zum ersten, zweiten und dritten Mal den Grundeigenthümer und Schmiedmeister Chrysostomus Pyrian, alsdann in vierter Linie dessen Kinder und verschiedenartige Geschäftsleute, ferner das Bürgermilizgrenadierbataillon, welchem der rüstige Schmied bei feierlichen und anderen Gelegenheiten als commandirender Major voranritt, weiter des Genannten lebendige Kinder, soweit sie nicht verheirathet waren; endlich seine Miether und Aftermiether, welche bis hoch unter dem Dach über einander aufgeschichtet saßen; und ab und zu noch – so oft es die Wahrung Pyrianischer Ehren und Würden zu verlangen schien – die Bewohner des rückwärtsgegenüber liegenden Hauses, welches sich mit dem vorgenannten in die Gemeinschaft des Hofraums und der Wassergelegenheit theilen mußte und durch Flügelbauten und Feuermauern mit demselben verbunden stand.

Lange schon waren zu beiden Seiten des genannten sämmtliche Gebäude in das Eigenthum des Stadtrathes gefallen, welcher sie zum Zweck genehmigter Straßenerweiterung hatte niederreißen lassen. Auch bei Vater Pyrian hatten schon viele Verkaufsanerbietungen und Tauschvorschläge eingesprochen. Allein war es, daß dieselben seinem kaufmännischen Geiste, der Geld und Geldeswerth gar wohl zu schätzen wußte, kein Genüge zu leisten vermochten, war es, daß sein conservativer Sinn, der mit zähem Selbstbewußtsein am vorväterlich Ueberkommenen haftete, vom Verlassen des ererbten Besitzthums nichts wissen wollte, gleichviel, das Haus Pyrian stand einsam und unverletzt in altersgrauer Würdigkeit da und ragte trotz seines schmalen Unterbaus mit riesigem Giebel in die wandernden Wolken.

Es war ein sonderbares Ueberbleibsel nachmittelalterlicher Bauart. Auf einen schmalen Flächenraum zwischen zwei älteren Häusern angewiesen, hatte der sündhafte Maurerpolier, der es vor Zeiten aufzurichten unternommen, dem Gebäude an Tiefe und Höhe zu ersetzen gesucht, was ihm an Breite schlechterdings nicht zu gewähren war. Jedes Stockwert zählte nach der Straße hin nur drei Fensterkreuze, aber über der vierten Etage thürmte sich ein Giebel, der für sich allein so lang war wie das von ihm bedachte Haus. Des lebendigen Pyrian weiser Vater hatte es einzurichten gewußt, dieß todte Kapital von Holzgebälk und Schindelverkleidung dadurch zu verwerthen, daß er seinen Dachboden zu Wohnungen für Handwerker, Künstler, Studenten und ähnliches Miethervolk letzter Klasse urbar machen lassen.

Einer dieser Miether, der zunächst unter dem Wetterhahn seine Schlafstelle bezogen, hatte dem Hause Pyrian den Namen gegeben, mit welchem es von Kindern und Erwachsenen im ganzen Stadtquartier genannt wurde, solange es noch auf dem Erdboden stand. Dasselbe hatte durch den Wegfall der Nachbarhäuser und die auf allen Seiten durch Flügelbauten und Feuermauern zu Tage tretende Verbindung mit dem Hinterhause auf der einsamen Höhe der abschüssigen Straße ein eigenthümlich finsteres, abgeschlossenes Ansehen erhalten, so daß manch' einer es einer »Burg« vergleichen mochte. Der Miether unter der Blitzstange nun, welcher, wie er sich auszudrücken pflegte, »über vier Stiegen, drei Leitern und zwei Seilen« wohnte, war ein lustiger Kauz, aber er krankte an der Lungentuberkulose und konnte sich trotz alledem doch nicht entschließen, von der schlechten Gewohnheit des guten Trunks abzulassen. Als es dann mit ihm zu Ende gieng und Freunde und Nachbarn sein Sterbelager besuchten, klagte er die Höhe seiner Wohnung, die »vier Stiegen, drei Leitern und zwei Seile« an, daß sie ihm sein hartnäckig Leiden zugezogen hätten und seit seiner Todesstunde hat das Haus Pyrian den Namen »die Tuberkelburg« bekommen und behalten bis es selbst zu den Todten gieng.

Im Erdgeschoß der Tuberkelburg befand sich in tiefstehender Bogenhalle die Werkstätte des Hufschmieds. Unter einem geräumigen Holzdach, welches die ganze Breite des Trottoirs einnahm und von sechs grünen Säulen getragen wurde, standen Tag aus Tag ein die Schellenbehangenen Fuhrmannsgäule mit ihren landesüblichen, hohen, ledernen Halsstulpen, darum rüstige, feuergeschwärzte Knechte, plaudernde Kutschersleute, marktende Pferdemäkler.

Drinnen in der Halle sprühte die knisternde Esse ihr tagtäglich Feuerwerk und fröhlich zwischen den Tactschlag der fleißigen Hämmer klang das Geräusch tiefer Männerstimmen, das Wiehern der Rosse, ein warmhaltender Fluch oder der Absatz eines Trutzliedes, wie man's beim Amboß eben zu singen pflegt.

Etliche Viertelstunden des Tages stand der Herr der »Tuberkelburg« vor der Schmiede, besah Eisen und Pferde und mischte sich mit bewußter Herablassung in das Gespräch der Kunden und Händler. Er selbst rührte an den Hammer seit Jahren nicht mehr, seit ein rüstiger Sohn seine Stelle am Amboß vertrat wie in der Oberleitung des ganzen Geschäfts.

Böse Menschen wollten sogar wissen, Pyrian sei niemalen ein sonderlicher Schmied gewesen; sicher ist, daß ihn das Handwerk nicht vermißte, seit er lediglich seinen Korn- und Geldspeculationen oder seinen stillen Passionen nachgieng, nur ab und zu sich in der Werkstatt zeigte und auch dann nur um denen, die sich im Schweiß des berußten Angesichts den Unterhalt der Woche verdienten, das fleckenlose wohlgenährte imponirende Antlitz des mühelos, aber rechtmäßig Besitzenden zu zeigen.

Sein Stolz war: der Sohn seines Vaters, dessen einziger Erbe und der Vollbürger einer königlichen Residenzstadt zu sein. Er hatte in seinem Leben wenig gelernt und dieß wenige – die vier Species ausgenommen – so ziemlich wieder vergessen. In seiner Wohnung war außer etlichen Gebetbüchern, die von seinen sanft im Herrn entschlafenen Frauen auf deren Töchter übergegangen waren, außer dem Sulzbacher Kalender und den Reglementsanweisungen für Bürgermilizofficiere kein gedrucktes Buch zu finden. Der regelmäßige Gang seines Lebens hatte niemalen in ihm den Gedanken erregt, gegen ein Gesetz seines Landes, ja auch nur gegen eine Handels-Gewerbs-Sitten- oder überhaupt polizeiliche Verordnung zu verstoßen. Er liebte alle Gesetze mit fanatischer Leidenschaft, denn die Gesetze waren es ja, die vor Communisten und Proletariern Eigenthum und Besitz versicherten und er besaß und eignete.

Dabei wußte er wohl, daß Alles Gute von Oben käme, vom Vater der Lichter, und in dankbarer Freude, daß er nicht war, wie dieser oder jener, gab er den Armen gerne, betete vor und nach dem Essen und gieng zu Beicht und Communion an denselben Quartaltagen, an welchen auch Vater und Urgroßvater die Gnade Gottes von Angesicht zu Angesicht zu suchen, seit unvordenklicher Zeit die Gewohnheit gehabt hatten.

Er hatte nacheinander drei Frauen genossen und begraben, alle drei wohlhabende Kinder wohlhabender Eltern, die ihm auch viele Kinder geboren hatten. Als er hinter dem Sarge der zweiten schwer am Leide tragend dreingieng, mußte er unter Thränen unwillkührlich denken: »Es ist doch wie ein Gottesurtheil: ehrlich währt am längsten!« Nachdem er nun gar auch die dritte seiner Lebensgefährtinnen zur Erde bestattet, hielt er sich für einen der ehrlichsten und der gottgesegnetsten Menschen unter der Sonne und darin hatte er wirklich Recht.

Das loyale Bewußtsein, mit dem er auf die Welt gekommen, das mit ihm gewachsen und fett geworden war, verlieh seinem äußern Wesen auch die Sicherheit des Tritts, den Stolz der Haltung, den geraden Blick des behaglich rollenden Auges und mit diesen Eigenschaften die schätzenswerte Gabe, Gleichgesinnten und Untergebenen zu imponiren. So kam es, daß er von seinen Mitbürgern nicht selten an die Spitze von Deputationen, gemeinnützigen Versammlungen, gemüthlichen Gesellschaften gestellt wurde. Solche Auszeichnungen nahm er dann auch hin, wie sie genommen werden müssen, als selbstverständlich. Sie stärkten seine Verdauung, erhöhten seine Selbstzufriedenheit und da er, was man ihm zugemuthet, allemal mit Würde, Loyalität und Genauigkeit zum Ende führte, fanden auch die Vertrauengeber ihren Zweck auf's Herrlichste erfüllt.

Pyrian war eines jener immer seltener werdenden Muster des dritten Standes, die sich »stolz fühlen in der nothwendigen Beschränkung ihrer socialen Existenz« und mit dem »Behagen« an Spieß und Pfahl auch deren eigenthümlichen »Zauber« zu genießen befähigt und geübt sind.

Zwar selbst der Stärkste hat seine Schwächen und selbst der Nüchternste seine Träume; auch der Zufriedenste denkt einmal in einer müßigen Viertelstunde der Siesta: was wäre doch aus mir geworden, wenn ich mit meinem Hirn und meiner Faust in anderen Standesverhältnissen wäre geboren oder erzogen worden?

In solchen Augenblicken sah sich Pyrian auf schäumendem, bäumendem Berberroß, die Brust voll Orden und das Haupt voll Narben, vor ihm die Geister des Schreckens und der Bewunderung, hinter ihm Staub, Trommelwirbel, türkische Musik, blitzende Bayonette und der grunderschütternde Marschschritt schnurrbärtiger Bataillone – so trabte er dahin über die Zugbrücken eroberter Städte aus denen ihm zitternde Magistratsräthe, die Schlüssel der Gewalt auf seidensammetnen Polstern ehrfurchtsvoll und schicksalsgewärtig entgegentrugen.

Als er noch ein junger Bürgerssohn war, der an schönen Sommersonntagabenden sich über zwecklosen Regungen ertappen darf, hieng er diesem Traumbild öfters nach; nachdem er aber älter, Vollbürger, Bürgermilizmann, Bürgermilizgrenadier, Grenadierofficier und endlich gar Bataillonschef geworden, da war seinen Wünschen auch der Jugendtraum zur Wahrheit geworden und Ideal und Wirklichkeit tauschten friedfertig unter einander die Krone der Vollendung aus.

Wenn er nun so an festlichen Tagen der Kirchenparaden im vollen Waffenschmucke, sicher, aufrecht und ein ganzes Selbst, durch die schweigende Werkstatt kam, da wichen ihm die feiernden Knechte ehrerbietig zu beiden Seiten aus, die Kinder auf der Straße grüßten ihn mit leuchtenden staunenden Augen und die Mägde am Brunnen sahen ihm nach, so lang' es angieng. Er aber schritt langsam und würdevoll die steile Straße hinab und betrachtete wohlgefällig seinen riesigen Schatten, welchen die Morgensonne weithinab über das abschüssige Pflaster vor seine Füße legte wie einen mit ihm wandelnden Teppich. Dann schüttelte er wohl zuweilen leise das Haupt, als ob ihm die wuchtige Bärenmütze noch nicht fest genug säße, und sah nach dem zackigen Schattenspiele des Federbusches, das zwanzig Fuß weit vor ihm der kurzen Bewegung seiner Stirne gehorchend erzitterte.

Also war Pyrian und also blieb er lange Zeit. Da ich selbst ihn zum ersten Male sah und kennen lernte, mochte er den Sechzigen näher gehen als den Fünfzigen; sein Haar zeigte nur wenige graue Spuren, sein Schnurrbart, den er kurz und stramm nach antiquirter Art der alten Garde du Corps trug, war schwarz und glänzend und hielt Farbe oder Färbung. Sicher, aufrecht und ein ganzes Selbst wie in den besten Tagen imponirte er um sich her und erfreute jeden Menschenfreund durch die ungebrochne Kraft seiner erprobten Mannheit. Sein Wesen machte einen wohlthuenden Eindruck auf mich, der ihm in befreundetem Kreise entgegengeführt worden war, nur daß zuweilen ein bitterer Gedanke seiner Unterhaltung sich bemächtigte und dann sprach er auffallend viel von seinem »großen Unglück«.

Sein »Unglück« war damals auch wirklich groß genug; in jener Zeit aber, mit welcher ich – der ich heut einmal nicht eben aufgelegt bin, um schulgerecht mit gleichen Füßen in medias res zu springen – in jener Zeit, mit welcher ich unsere Geschichte anheben will, da war sein »Unglück« noch gar klein und winzig und unbedeutend. Es pflegte baarfuß zu laufen und in den Händen eine mäßig lange Peitsche zu tragen, mit der es fünf bis sechsmal hintereinander durch die sonnige Luft und durch den Staub der Landstraße zu knallen liebte. Blondhaarig, mit fürwitzig aufgestülpter Nase, früh verwaist und ledig aller Zucht, ein »Gemeindekind« auf einem großen wohlhabenden Dorfe, das bei einem Häusler untergebracht war und da es zu nichts Anderem noch gut und tauglich erschien, dessen Gänse hütete.

Ich würde Euch den Namen des Dorfes gerne nennen, müßt' ich Euch nicht versichern, daß ich denselben vergessen hätte. Ich würde Euch aushülflicher Lokalerörterung zuliebe mindestens den Namen des Wassers, an welchem es gelegen, anführen; aber dasselbige Dorf lag weder an einem See, noch an einem Fluß, noch an einem namentlichen Bach; es hatte außer dem Marktbrunnen und einigen Quellen keine Wasser aufzuweisen, als einen stehenden, von der Landstraße breit überbrückten Weiher, dessen sumpfende Fläche mit einer gleichmäßigen hellgrünen Schichte von Schlamm und Wassermoos friedfertigst überzogen war.

Eines schönen Sommernachmittags, da die Sonne den müdfliegenden Staub der Landstraße vergoldete, saß das Gemeindekind auf dem breiten Steingeländer jener Brücke neben einem hohen Pappelbaum. Seine Füße hiengen dem Wasser zugekehrt; unter jedem der kleinen Arme hielt es eine mächtige zappelnde Gans fest und sah mit glückseligen Blicken hinab auf den Schlamm des Weihers, dessen friedliche grünliche Decke durch eine Heerde stattlich gemästeter Schweine zerrissen wurde, welche behufs jahreszeitgemäßer Abkühlung zu wiederholten Malen und wenig wider Willen von ihren sorgsamen Treibern durch das einzige Wasser der Umgegend gejagt wurden.

Die Schweine plätscherten, spritzten weitumher Wasser und Schlamm und grunzten dabei vor Leibesanstrengung und Wohlbehagen; die Gänse zappelten und schnatterten vor Angst und Mißtrauen. Pyrians wachsendes Unglück aber hielt die beiden Anvertrauten krampfhaft unter seinen Ellenbogen fest, schlenkerte die nackten Beine vor großem Vergnügen gar geschwind hin und her und lachte dazu aus vollem Halse, daß es das Grunzen und Schnattern weithin übertönte.

Da kam der Pfarrer des Dorfes, der eben von seinem Spaziergange heim wandelte, über die Brücke, legte dem lautvergnügten Unglück die Hand auf die Schulter und sagte mit wohlwollendem Vorwurf:

»Vitus, Du bist ein abscheulicher Tagdieb!«

»– Ah na!« erwiderte der Angeredete kecklich und unverdrossen, »ich hüte meine Gänse und schau den Schweinen zu, die sich baden müssen, hohoh!«

Der Pfarrer, der von dieser Rechtfertigung des angefochtenen Zeitvertreibs wenig befriedigt schien, hieß den Jungen von der Steinbrüstung herabsteigen, die Gänse loslassen und ihn heimgeleiten.

Die arme Thiere streckten ihre rücksichtslos zerdrückten Flügel von sich und wackelten dann zufrieden vor den beiden Menschen her, die eine Zeitlang schweigend nebeneinander ihre Straße dahingiengen.

Zuweilen sah Veit wie fragend nach dem Pfarrherrn auf, dessen klarer Blick, dessen ernste Züge seine tobende Kinderseele erst in Ruhe, dann in Sorge versetzten, er möchte sich vergangen und Strafe verdient haben.

Der Geistliche war für die einträgliche Pfarrei, die er bekleidete, noch jung zu nennen, aber trotzdem schon seit manchem Jahr der verehrte Liebling aller seiner Sorge untergebenen Seelen, das Vertrauen von Jung und Alt. Eine tiefgründige, abgeschlossene Natur, den friedlichen Ausdruck selbstgewählten Beschränkens seiner Wünsche in den Zügen; ein pflichtgetreuer Geist, ein reiches Gemüth, welches die wenige Lieb' und Güte, so es von Anderen im Leben erfahren hatte, verschwenderisch heimzahlte an den Nächsten, der ihm jederzeit der Beste war.

Er hatte den kleinen Veit von der Schule her liebgewonnen, wo er durch den Eifer seiner Auffassung, durch die Gier das Wenige, was ihm an Wissen und Können geboten wurde, rasch auszulernen, sich vor Anderen hervorgethan. Oft schon war dem Pfarrherrn der Gedanke aufgestiegen, von dem, was er seinen »Ueberfluß« nannte, dem begabten Waisenkinde soviel zukommen zu lassen, daß es Stadtschulen besuchen und ein »Studierter« und mit der Zeit und Gottes Hilfe im Heimathdorfe sein Nachfolger werden könnte.

Allein der Schulmeister des Orts, ein braver und geschickter, aber schwacher Mann, der von des verwahrlosten Gemeindekindes Unarten über Gebühr und Geschmack zu leiden hatte, meinte Seiner Hochwürden diese große Güte immer ausreden zu müssen. Der böse Vitus habe kein Sitzfleisch und werde nimmerdar ein gottseliger friedliebender Mensch werden, er sei nicht nur, was man ein lebhaftes Kind nennt, sondern in ihm stäcke eine Art von Teufel, der ihn nicht ruhen ließ, Mensch und Vieh zu plagen, der ihn frech und übermüthig schwatzen und an Lärm und Arg unbändige Freude haben hieße. Des Abends, wenn die Knechte von der Arbeit heimgekommen, säße er oft lange Stunden in fremder Leute Ställen und plagte die Bursche, bis sie ihm ihre verlogenen Streiche erzählt und ihn gelehrt, was sie an Schelmenliedern und Trutzgesängen nur wüßten. Wenn zuweilen auf Kirchweih oder Tanzmusik groß Raufens wäre, so liefe der Veit sicher zwischen dem Handel herum und trüge regelmäßig derjenigen Partei, so da Streit gesucht und gefunden, Stöcke und Steine bei und gäbe aus seinem kleinen Schnabel die bissigsten Scheltworte hinzu. Im ganzen Dorf sei kein Hund und keine Katze, ja kaum ein Fenster aufzuweisen, nach welchen die künftigen Hochwürden noch keinen Stein erhoben. Der Veit könnte, so jung er sei, nicht vergessen, daß er vordem wohlhabender Leute Kind gewesen, ehe Krankheit und Unfälle seinen Eltern erst ihr Gut und bald darnach ihr Leben benommen. Der Vater, wenn er Leben und Vermögen behalten, würde ihn sicherlich zu keiner »sitzenden Profession« bestimmt, sondern durch viele und harte Arbeit seinen Körper so angestrengt und abgemüdet haben, daß dem Teufel, der in diesem hause, Zeit und Lust vergangen wären, sich seiner zu bedienen. Dem guten Pfarrer würden aus seiner Menschenfreundlichkeit, die er an den Wechselbalg vergeudete, nur Aergerniß und Unheil erwachsen. Denn »geistlich« würde der Vitus all sein Lebtag nicht.

Der Seelsorger, dessen Gewohnheit es ganz im Gegensatz zu der des Schulmeisters war, nur selten und auch dann nur das Nöthige zu sprechen, gab auf die so oft wiederholten Beschuldigungen wenig Antwort. Er schien demselben, indem er sein Vorhaben nicht zur Ausführung brachte, im Stillen Recht zu geben, oder aber von Zeit und eigener Einsicht diejenige Entscheidung zu erwarten, welche ihm die Einwürfe des Schullehrers lediglich verzögerten.

Während nun die beiden Hirten schweigend nebeneinander auf der Heerstraße dahingiengen, überlegte der Aeltere die Bestimmung des Knaben noch einmal für und wider. Er mißtraute seinen eigenen Entschlüssen, denn er mußte sich gestehen, daß er den Knaben lieb hatte, ja daß ihm dieser näher ans Herz getreten war als irgend ein anderes seiner Beichtkinder. Seit seinem vierten Jahr war Veit eine Doppelwaise, bettelarm an Gut und Liebe, der sorglosen Obhut fremder, harter, gleichgültiger Menschen von Amtswegen überantwortet, die ihrer Pflicht vorwurfsfrei genügten, wenn sie ihm nur nothdürftig zu essen, hinreichend zu arbeiten gaben und ihn im Uebrigen wachsen und laufen ließen, wie's Gott gefiel. War er, der kinderlose Mann der ernsten ungetheilten Pflicht, nicht der natürliche Vater der Waisen, und von Gott berufen, dem Darbenden zu geben, was er in Fülle hatte?

Während der Geistliche also überlegte, drückte die Schwüle des Schweigens auf die gewaltsam verhaltene Munterkeit des Jungen. Allmälig schüttelte er die Verlegenheit, welche ihm die Ueberraschung aufgenöthigt, ab und wie ein gebadeter Pudel, der in der Sonne trocken geworden, dacht' er in wohliger Haut wieder an Zeitvertreib und Bewegung.

Erst schlenkerte er ab und zu mit dem einen Fuß durch den gefurchten Staub, daß seine Gänse in Wolken einhergiengen, wie die homerischen Götter. Als dies von dem in Nachdenken versunkenen Pfarrer nicht übel vermerkt wurde, nahm Veit in fortschreitender Behaglichkeit einen platten Kiesel auf und schleuderte ihn schulgerecht zwischen den beiden Vögeln hindurch, daß sie mit lautem Aufschrei auseinander gackelten, während der Stein in Absätzen aufspringend weit über die sonnige Straße dahinflog.

Der Junge lachte laut auf und griff nach einem zweiten Kiesel. Da sah ihn der Pfarrherr schweigend an. Veit ließ die Faust sinken und den Stein zur Erde fallen und wischte die rechte Hand mit ängstlicher Sorgfalt am Hemdärmel ab, gerade als hätte er sich arg beschmutzt.

»Vitus!« sagte da der Seelenhirt mit ernster langsamer Stimme, »Vitus, willst Du einmal der Pfarrherr im Dorfe werden?«

Der kleine Gänsehirt öffnete sprachlos den Mund und in die weitstaunenden Kinderaugen traten die hellen Thränen. Der Pfarrherr war ja nach seinen Begriffen der erste und oberste aller Menschen, die er jemals von Angesicht geschaut, und es wäre ihm im selben Augenblick ganz einerlei gewesen, ob man ihm die Frage so gestellt hätte: Vitus, willst Du nicht einmal der liebe Herrgott werden?

Der Pfarrer nahm den verdutzten Knaben mit nach Hause und machte ihm nach und nach begreiflich, wie es denkbar und möglich wäre, daß einer, der noch kein Pfarrer wäre, ein solcher werden könne, und schon nach kurzen Wochen dachte Vitus an wenig andere Dinge mehr als an mensa mensae, an amo amas amare, an Predigt und Paramente.

So war denn das Gemeindekind auf Wunsch des Hochwürdigen im Pfarrhause untergebracht, es aß an seinem Tische und schlief neben seiner Kammer. Des Morgens, wenn dieser die Messe las, versah jenes den Dienst des Ministranten; dann schrieb und memorirte es aus Leibeskräften, was ihm sein Meister aufgegeben. Des Nachmittags schickte der Pfarrer seinen Pflegebefohlenen weite Wege über Land, um Bestellungen zu besorgen, die er ihm auftrug, oder er ließ ihn Arbeiten in Hof und Haus verrichten, wie sie seinen jungen Kräften nicht zu schwer wurden. Des Abends saßen sie dann beisammen, der Junge wiederholte, was er des Morgens gelernt, oder er erzählte, was er Tags über in Feld und Wald gesehen, und befriedigte seine Neugier und seine kindischen Gedanken an der gütigen Belehrung seines ernsten Wohlthäters, für den er eine abgöttische Verehrung empfand, wie sie nur Kinder und nur für gute Eltern und Lehrer zu empfinden vermögen.

Der Geistliche, der das Wesen seines Zöglings wohl erkannt hatte und recht gut wußte, wie viele von den Vorwürfen ihre Berechtigung hatten, welche der nunmehr vor dem heißhungrigen Fleiße des entwachsenen Discipels verstummende Schulmeister dereinst erhoben, der Geistliche hütete sich wohl, den rührigen Sinn des lebhaften Jungen müßiggehen zu lassen; er gab ihm soviel zu tragen, als er nur halten konnte, hinderte ihn aber auch wenn er rastete, mit der Arbeit zu spielen.

Die meisten Lehrer begabter Kinder versehen es nicht selten zum unwiderbringlichen Nachtheil der letzteren und zu ihrem eigenen Aerger damit, daß sie, sobald einmal das Fassungsvermögen der Kleinen in Aufregung ist, dem Einen wie dem Andern, dem Faullenzer wie dem Lernbegierigen, dem Blöden wie dem Aufgeweckten gleiche Kost zumessen und so dem Wissenshunger und der Verdauungskraft der Gescheiteren zu wenig geben. Indem diese nun verhallten und mit retardirenden Wiederholungen dessen, was sie längst inne haben, gelangweilt werden, gewöhnen sich ihre Fähigkeiten an Müßiggehen, an Träumereien und Allotrien, die ihnen bald zur anderen mächtigeren Natur werden, wenn das Glück nicht die weise Nachhilfe des Vaters oder einen günstigen Zufall ergänzend walten läßt, der den flanirenden Kinderverstand auf fruchtbare Wege bringt. Die Kinder sind klüger und aufmerksamer als die meisten Menschen glauben wollen, und was sich ihren empfänglichen Gemüthern an Eindrücken mittheilt, prägt sich zwar nicht so klar aus wie bei Erwachsenen, aber es haftet nachhaltiger und folgenschwerer. Der bei weitem größere Theil von dem, was wir unsern Charakter und unser Talent nennen, ist das Ergebniß einer großen Summe unberechenbarer, von unsern Erziehern zumeist unbeachtet gebliebener Eindrücke, die unser Wesen im zarten nachgiebigen bildungsgierigen Alter gemodelt und gestempelt haben. Jene haben die Ursachen zumeist übersehen, wir haben sie größtentheils vergessen, aber die Folgen tragen wir in uns auf Lebensdauer und können uns darüber beklagen oder glücklich preisen, je nach dem.

Als Veit in's Pfarrhaus gezogen war, mochte er just das zehnte Jahr überschritten haben. Am vierten Jahrestag seiner Bestimmungswandlung erklärte ihm der väterliche Freund, daß er nun bald sein Bündel schnüren und in die Hauptstadt wandern müßte, um dort alles dasjenige sich anzueignen, was er auf dem Dorfe nicht erlernen könnte. Der gute Pfarrer hatte seinem Schüler in den vier Jahren den größten Theil dessen beigebracht, was er selbst von Humanioribus wußte. Er war seiner Zeit ein tüchtiger Lateiner gewesen, und da er seinem zur Unbändigkeit geneigten Gänsehirten immer weniger Gelegenheit zum Müßiggehen ließ, da bei der wiederholten systematisch aufsteigenden Durcharbeitung einst geliebter Studien sein eigener Eifer in wohlthuende Aufregung versetzt worden war, so hatte er mit seinem Jünger am Schluß dieses merkwürdigen Quadrienniums nicht nur etliche dem gewöhnlichen mageren Schulpensum entsprechende Seiten jedes vorgenommenen Klassikers, sondern nach und nach den größten Theil der Werke des Cornelius, des Cäsar, des Ovid, des Sallust, des Livius und des Virgil durchgearbeitet.

Aber so sichtlich sich der gute Pfarrer an den Fortschritten des weiland arg verketzerten Gemeindekindes auch erbaute, so durfte er sich doch die Einseitigkeit seiner Lehrmethode sowohl wie seiner Lehrtüchtigkeit nicht über die Zeit hinaus verheimlichen, nach welcher dieselbe der Fortbildung seines Zöglings schädlich werden mußte. Außer seinem Latein und etwas Religionsunterricht hatte Veit keinerlei Kenntnisse erworben. Für alle Rechenkunst hatte der Seelsorger einen sattsam ausgesprochenen Mangel an Talent; er addirte mittels seiner zehn Finger und vermochte jede andere, auch die einfachste Bethätigung der übrigen Species nicht ohne Bleistift und Papier zu Stande zu bringen, wollte er anders gegen groben Irrthum sicher sein; von Geographie hatte er nur sehr unzulängliche, zuweilen ganz märchenhafte Vorstellungen; Geschichte war vollends niemals seine Passion gewesen; die Erziehung, welche er genossen, legte auf die genauere Wissenschaft der Muttersprache so wenig Gewicht, daß auch er nie daran zu zweifeln in Versuchung verfallen, ob einer, der deutsch reden könnte, denn nicht schon deßhalb auch deutsch zu schreiben verstehen müßte. Um so wichtiger däuchte ihn die Erlernung des Griechischen; aber all sein Griechisch war im Lauf der Zeit verloren gegangen; die kleinen Buchstaben des Alphabets waren Alles, was er seinem hoffnungsvollen Lateiner beizubringen im Stande war; bei den Zeichen der großen fühlte er sich schon nicht mehr recht sicher.

Die nothwendige Kenntniß des Griechischen und der von dieser abhängig gemachte Eintritt in ein Gymnasium war denn das drohende Schreckbild, das da immer näher und fürchterlicher in den stillen Frieden jenes glücklichen Zusammenlebens hereinragte, welchem der arme Veit die ersten und wie ihm der Schulmeister bei jeder Gelegenheit ehrerbietigst versicherte, nicht unbedeutenden Fortschritte auf der Bahn gelehrter Studien verdankte.

Mit leisen Kernsprüchen gegen die Graecia mendax verlängerte Veit sein Nachtgebet; er erwachte früh vor Tag und wälzte sich mit Schreckensgedanken im Bett herum, denn die Sprache der Hellenen, welche er gleich jenen Mönchen des Mittelalters für eine Erfindung des Satans hielt, däuchte ihn das schwierigste und abscheulichste sein zu müssen, was es von Plagen für angehende Seelenhirten zu bestehen gäbe. Wie sollte er sich unterwinden, einer Sprache Meister zu werden, von welcher derjenige Mann, in welchem für ihn die höchste Weisheit und das tiefste Wissen Fleisch geworden waren, von welcher sein geliebter Lehrer nichts mehr wußte als das kleine Alphabet? Und warum sollte er überhaupt griechisch lernen müssen, um Pfarrer werden zu können, da der beste Pfarrer, den die Sonne beschien, doch kein Griechisch verstund?

In diesen Nöthen quälte sich sein Verstand ab, um ein Mittel zu finden, das drohende Unheil abzuwenden und seinen Meister in Rührung zu bewegen. Erst wollte er es versuchen, seine Angst in etlichen lateinischen Distichen dem Lenker seines Schicksals ans Herz zu legen. Aber er fand keine Worte, die ausdrückten, was er sagen wollte und sich seiner ungelenken Kunst gefügt hätten; da fiel es ihm zu Sinne, daß der Geburtstag seines Wohlthäters nahe bevorstände, und er kam in seiner Verzweiflung auf ein sehr entlegenes Mittel, um durch Ueberraschung Mitleid zu erregen.

Nachdem der Pfarrer an seinem Festtage vom Gottesdienst heimgekommen und gefrühstückt hatte, bat ihn Veit um geneigtes Zuhören, stieg auf einen Stuhl und sagte ihm in Einem Fluß Cicero's Rede pro Ligario auswendig vor, das neuste Stück, welches er mit seinem Lehrer zu bewältigen unternommen hatte. Während seiner nachmittägigen Gänge und in Stunden, die er sich des Nachts vom Schlaf abgestohlen, hatte er sich mit zitternder Sorgfalt eine Periode um die andere in der heiligen Ueberzeugung eines Verurtheilten eingeprägt, daß einzig und allein vom Gelingen dieses Vorhabens seine Begnadigung zu hoffen wäre. Seite für Seite, Wort für Wort stand dieses Meisterstück oratorischer Schlauheit mit Riesenlettern vor seiner geängstigten Kinderseele. Kein Punkt, kein Tüpfelchen auf dem i konnte ihm entfallen, und als die Stunde der Entscheidung gekommen, drängten und hasteten die Worte aus seinem Munde hervor wie losgewordenes Steingeröll, das unaufhaltsam von Berg zu Thal muß. Heller Schweiß perlete über die zitternden Wangen des Knaben; der Pfarrer hörte ihm mit Thränen der Rührung und gefalteten Händen zu, und als nach zwanzig Minuten der Redner zum Schluß kam und mit erhobenen Händen ausrief: longiorem orationem causa fortasse postulabat, tua certe natura breviorem da lachte lautauf unter weinenden Augen der Gefeierte und Veit's nächstes Schicksal war entschieden.

Der Pfarrherr herzte und küßte den lieben Jungen, welcher sich heimlicher Weise so bitterlich geplagt hatte, »um ihm an seinem Festtage unerwartete Freude zu bereiten.« Aber die Folgen, die ein kindliches Gemüth von dieser Freude erwartet hatte, verkehrten sich ganz ins Gegentheil seiner Hoffnung. Die dröhnenden Phrasen, welche dereinst die Verbannung des edlen Römers beendet hatten, beschleunigten dießmal nur den Machtspruch, welcher den gewesenen Gänsehirten aus dem Paradies seiner Pfarrwohnung in die Verbannung der von griechisch redenden Gymnasiallehrern verpesteten Hauptstadt verwies. Des Pfarrers Gewissen rief laut aus ihm: solch unvergleichliches Gedächtniß, solch rührender Fleiß dürfte den Wissenschaften nicht länger aus kleinlicher Liebe zur gewohnten Hausordnung vorenthalten werden und die Abreise nach dem Orte der Bestimmung ward sofort unwiderruflich festgesetzt auf den anderen Tag.

II

Inhaltsverzeichnis

– – Am anderen Tag nach dem anderen Tage (es war ein Freitag, also böser Vorbedeutung), sah man einen Mann, der den langschößigen Sonntagsrock und die troddelgeschmückten Kniestiefel eines Landpredigers trug, die gewundene steile Straße hinaufsteigen, in welcher wir uns bereits Eingangs dieser Geschichte befunden haben. Er zog einen Knaben an der Hand nach sich, einen kleinen Jungen von großem Kopf und kurzen Beinen, dessen Wachsthum hinter seinen Jahren zurückgeblieben war, da er obwohl schon über vierzehn alt, doch das Ansehen eines eilfjährigen hatte.

Vor der Schmiede Pyrian's angekommen, machte der Pfarrer Halt, um sich bei einem der mit glühendem Hufeisen in der Zange daherschreitenden Knechte endgültige Auskunft zu erholen.

Der Junge fuhr sich derweilen mit der Hand über die Augen und that einen Schluchzer, dann sah er auf das laute Treiben in der rührigen Schmiede und dachte an die stille Sauberkeit des sonntäglichen Pfarrgärtleins; er dachte an den wilden Wein, der über der Pforte des heimathlichen Hauses bis an die Stufen niederrankt, und vertiefte sich, das junge Herz von trüben Ahnungen beklommen, in die drei Mischgestalten von Affe, Hund und Flügelthier, deren graugrün übertünchte Relieffe über der Pforte des Hauses Pyrian auf ihn niedergrinsten.

Da Beide über die erste Treppe waren, trafen sie auf ein Paar gesunder Jungen von zwölf bis dreizehn Jahren, zwei aufblühende Bürgergrenadiere der Zukunft, die mit wilden Kastanien spielten und über das unverhoffte Erscheinen niegesehener Fremdlinge in lachenden Zorn geriethen.

»Bauernfünfer! Mistgabelglachel!« schrieen sie aus kichernden Hälsen und warfen mit vollen Händen dem Pfarrer ihre Kastanien an den Kopf, daß ihm der struppige Hut dumpfaufknallend die Stiege hinabfiel.

Als er mit diesem wieder heraufkam, fand er seinen Pflegling, der die beiden würdebewußten Stadtkinder am Kragen hielt und ihre Köpfe an die Kanten des Stiegengeländers drückte, daß sie aufschrieen wie die Kälber unter dem Stich.

Während der Pfarrer mit salbungsvollen Verweisen, die er dem unschuldig in Händel Verfallenen gab, eine Treppe nach der andern erklomm, schrieen die Mißhandelten weinend nach dem Vater.

Die Fremdlinge waren schon über den fünften Stock gekommen und drehten sich rathlos zwischen den wurmstichigen Thüren der Mansardenwohnungen um. Da sahen sie ein kleines Mädchen von etwa acht Jahren neben einer offenen Dachlucke sitzen. Der tanzende breite Sonnenstrahl, der sich quer über das dunkelbraune Gelaß legte, streifte goldbeschimmernd ihr rothblondes Haar, nach dessen niederhängenden Zöpfen eine kleine Katze mit spielenden Pfötchen griff. Das Kind hatte große graue Augen, eine blasse vorgeneigte Stirne, und lange rothe Hände; in diesen hielt es ein mächtiges, altes, in Schweinsleder gebundenes Buch, dessen krausbärtige Holzschnitte sie in der stillen Zurückgezogenheit ihres Dachwinkelchens ungestört bewunderte.

Als die Neuangekommenen sich bei ihr um die Wohnung des Herrn Professors Beißerle erkundigten, stand die Kleine auf, hüstelte ein Bißchen und kletterte den Fragenden voran über etliche, fastgerade aufstehende Treppen, welche allerdings einer Leiter ähnlicher sahen als einer Stiege. Die kleine graue Katze hüpfte hinter ihr drein.

Der Herr Professor Beißerle wohnte in jener Kammer unter dem Blitzableiter, deren vorhergehender Miether durch sein Leiden und seinen Tod der Tuberkelburg ihren volksthümlichen Namen gegeben hatte. Der Professor litt nicht auf der Brust; er gieng langsam und vorsichtig und besprach sich auf jedem Stockwerk ein Weilchen mit einem der Hausgenossen. Neben der seinigen hielt er zwei andere kleinere Stuben, in welchen er ein halbdutzend böser Buben verschiedenen Alters untergebracht hatte. Diesen dreitheiligen Wohnungscomplex zunächst unter den Schindeln nannte man die Pension Beißerle.

Dieselbe stand in großer pädagogischer Renommee; es wurden in sie meist nur solche Zöglinge gesteckt, die in freierer Zucht durchaus nicht hatten gedeihen wollen und, trotz aller gewöhnlichen Anreizungsmethoden zum Studium, hinter ihren Altersgenossen in empfindlicher Weise zurückgeblieben waren. Selten daß es ein Pensionär länger denn anderthalb Jahre unter der Obhut des unerbittlichen Beißerle aushielt; denn alsdann hatte er nicht nur das Versäumte eingeholt, sondern dies Wissen fußte auf einer fleischgewordenen Gründlichkeit, welche für die übrige Dauer der Gymnasialzeit auch bei rückfälligen Sündern nie ganz zu erschüttern war.

Der Landgeistliche hatte nur von Beißerle's griechischem Unterricht Wunder sagen hören, sich aber um die Mährlein, die über dessen Erziehungsmethode umgiengen, wenig oder nichts gekümmert. Das Pensionshonorar war keineswegs geringe, da fast lediglich in den guten und besten Familien die Söhne wider ihren Willen zum Studium genöthigt werden. Und so klopfte Veits Wohlthäter, das hoffnungsstolze Herz mit einer vollen Brieftasche gepanzert, an das unübertünchte, rohgehobelte Brett, welches als Thüre zu dem Heiligthum des greisen Präceptors diente.

»Herein, herein!« sagte eine heisere Stimme wohlwollend zu den Eintretenden und »arbeiten Sie nur ruhig fort!« etwas barscher zu einem hageren Jüngling, der mit den Blicken eines Gemarterten die Neuangekommenen wie unerwartete Erlöser begrüßte.

Der Professor Beißerle, ein dürrer Sechziger hatte in seiner rechten Hand ein breites Lineal, mit dessen Schneide er demonstrirend auf der Tischkante hin und her hämmerte, in der linken einen großen zinnernen Eßlöffel, mit welchem er aus einer colossalen Kaffeeschale saftige Brocken zum Munde führte, so groß als sie eben eingehen wollten.

Vor ihm, zwischen Büchern und Heften, zwischen Federn und Kerzenstümpfchen stand bei sieben Semmeln eine alte Kaffeemaschine über dem Spirituslämpchen, ein großer Milchhafen und ein hölzernes Bureautintenfaß zunächst daran. Der Tisch, auf welchem Beißerle seine Vielseitigkeit bethätigte, hatte nur drei Beine; an Stelle des vierten war ihm ein Stuhl untergeschoben, dessen Höhe soweit mit alten Büchern ergänzt war, bis sie die Leiste der Schieblade erreichte. Das übrige Meublement bestand aus einem noch ungemachten Bette, einem Kanapegestelle ohne Ueberzug und zwei weiteren Stühlen von gleicher Farbe. An der einen geradestehenden Wand der Mansarde lagen etliche fünfzig Bücher dickbestaubt auf ihren Brettern; ein altes werthloses Familienbruststück ohne Rahmen hieng an der andern.

Der stehende Gesichtsausdruck Beißerle's war wohlwollendes Lächeln; die Haltung seines Körpers war die Krümmung dienstfertiger Ergebenheit. Während der halben Stunde, welche er mit dem Pfarrer sprach, hielt er Vitus' zagende Rechte, tätschelnd und streichelnd zwischen seinen runzligen Fingern derweil seine wasserblauen Augen, die er von Zeit zu Zeit wie staunend weit aufriß, unverwandt an den Lippen des Pfarrers hiengen, welche das Lob seines Pfleglings wider Gewohnheit gesprächig gemacht hatte.

Das erste, was der pensionirte Schulmann auf den Antrag des Geistlichen, seinen Veit in Zucht und Kost und Pflege zu nehmen, erwiderte, war:

»Sehen Sie doch, was dieses Zimmer für eine wunderbare Aussicht hat! in der ganzen Stadt finden Sie kein zweites. Die ganze Gebirgskette und die reine Luft!«

Es war eine treffliche Gewohnheit Beißerle's, auf jeden Vorschlag, den man an ihn richtete, mit einer Redensart zu antworten, welche mit jener nur durch einen weitreichenden Faden zusammenhieng. Dadurch verblüffte und ermüdete er seine Antragsteller, gewann Zeit, in seinem Mißtrauen und seiner Gewinnsucht Alles dreimal zu überlegen, bis sich der andere zu nochmaliger Fragestellung aufsammelte, und er hatte außerdem immer die Möglichkeit in der Hand, sobald es ihn gut und förderlich däuchte, die Hauptsache an dem unsichtbaren Verbindungsfaden wieder in's Gespräch zu ziehen.

So erwiderte er dem Pfarrer, als dieser um die Honorarbedingungen fragte mit einer ziemlich weitausholenden Biographie. Er erzählte, wie er als armer Pastorssohn von den Studien gefesselt und von den empfindsamen Schwärmereien jener Zeit getragen worden wäre. Die Erhebung der Freiheitskriege hätte er wegen der Pocken, die ihn damals befallen, nicht werkthätig mitmachen können; aber bei der Leipziger Burschenschaft wäre er vierzehn Tage lang Sprecher gewesen. Nach der Gewohnheit seiner Väter hatte auch er Theologie studirt und selbst, als er die Gymnasialcarriere ergriffen, sich den Eintritt in die gottesdienstliche Aemterfolge bei den Ministerien vorbehalten; dieser Vorbehalt dauerte noch fort bis auf den heutigen Tag, da Niemand wissen könnte, wie ihn noch die Wechselfälle des Erdenwallens sein täglich Brod zu verdienen nöthigen möchten. Also betrachtete er sich gewissermaßen als College des ausübenden Seelsorgers und fand bei der katholischen Geistlichkeit insonderheit die Gewohnheit des Cölibats hoch zu loben, welche einerseits den Mann von irdischen Sorgen loslöste und so in den Stand setzte, einzig und allein seiner Pflicht zu leben, welche anderseits schon den zur Gottseligkeit sich vorbereitenden Jüngling vor den Allotrien zeitraubender Empfindsamlichkeiten zurückhielte, die bei den Studirenden der protestantischen Theologie für fast ebenso unerläßlich gälten, als die Kenntniß der lutherischen Bibelübersetzung.

Was der Pflegevater Veits bei diesen einschmeichelnden Reden empfand, weiß ich nicht; er schwieg in gewohnter Weise und konnte sich denken was er mochte. Unterdessen fuhr Beißerle fort zu berichten, wie er nach viel Jahren der Noth und des Mangels sich endlich zum Gymnasialprofessor emporgeschwungen. Da plötzlich habe das Wiedererwachen Griechenlands den Cosmopolitismus, in dem seine von der Milch der Classiker aufgenährte Seele stets gelebt und gewebt, in einen leidenschaftlichen Philhellenismus verwandelt.

Aber alle Schwärmerei, so sie nicht gegenstandslos wie die Seufzer fünfzehnjähriger Mädchen, wenn sie im Finstern Clavier spielen, kostet meistens Geld, viel Geld, nicht selten unwiederbringliches.

So auch Beißerle die einzige Schwärmerei seines Lebens. Er hatte sie mit dem Eifer eines Coelibatars ergriffen, der unangefochten von niederen Rücksichten einer Familie mit ganzem Wesen der Sache sich hingibt, die er als die seinige erwählt. Das wiedererwachte Hellas brauchte nichts nothwendiger als Geld. Die meisten der Philhellenen waren in allen Liebesdiensten eifriger denn im Zahlen. Anders unser Gymnasialprofessor; er nahm Geld auf unter erschwerenden Umständen und zeichnete Actien die Fülle in den übelbehüteten Stunden seiner Begeisterung.

So lange die Welt steht, wird das Erhabene verlästert und es fehlte nicht an hämischen Ehrabschneidern, die da herumschwatzten, Beißerle wolle mit seinem Philhellenismus blos ein gutes Geschäft machen. Der Erfolg zeigte klar genug, wie eitel diese Lästerungen gewesen.

Es waren schlechte Zahler die im freigebigen Deutschland so vielgeliebten, die allzeit zu spät verketzerten Bastardenkel der homerischen Helden, die geduldigen Objecte schulgerechter Apotheosen; und Ehrenmann Beißerle, der Professor an einem schlechtdotirten deutschen Gymnasium, er der niemalen an den Genüssen eines auch nur mäßigen Luxus genippt hatte, er der filzige Hagestolz, dessen Haupt- und Lieblingsnahrung seit den Tagen seiner Jugend Milchkaffee mit Semmeln geblieben war, er legte sich eines Abends nieder mit dem quälenden Gewissen eines Zahlungsunfähigen, der seine Gläubiger nach Dutzenden zählt.

Da machte er aus der Noth eine Tugend, quittirte sein Amt und suchte von nun an sein Können und Wissen auf möglichst einträglichem Wege zu verwenden. Seine anerkannten Fähigkeiten und die staunenswerthen Proben, welche der pädagogische Wundermann in Bälde ablegte, verschafften ihm Privatstunden, die seine Zeit vom grauenden Morgen bis in die sinkende Nacht in Anspruch nahmen. Es entstand die »Pension Beißerle«, Ruhm und Renten tragend, und ihr Rector zahlte Zinsen und Zinseszinsen und allmälig vom Capital ein Sümmchen nach dem andern ab. Dabei wuchs die Achtung, die ihm allgemeines Vertrauen schenkte, dabei wuchs seine Kenntniß in Geldgeschäften und seine knausernde Schlauheit; seine wachsende Wohlhabenheit war trotz ängstlich beibehaltenen Maske nothdürftiger Armseligkeit längst nur mehr ein öffentliches Geheimniß.

Er selbst lächelte fromm vor sich hin unter zwinkernden Blicken, wenn einer auf sein bitterlich Wehklagen über die griechische Schuld zu entgegnen wagte, daß ihn selbe nicht arg mehr drücken könnte. Dann sagte er wohl zuweilen, daß er freilich keinerlei Verwandte mehr über dem Erdboden habe, allein alle seine Mitmenschen seien von Adam her mit ihm verwandt, seine Glaubensbrüder am nächsten, und wenn sein mühsam Erspartes hinreiche, nach seinem Tode das lang schon als dringend gefühlte Bedürfniß, in hiesiger Stadt eine zweite protestantische Kirche zu erbauen, der Erfüllung näher zu rücken, so werde er sein stilles Wirken segnen können in der Stunde des Absterbens. –

Während Beißerle, dem von verschiedenen Gefühlen bewegten Paar von der Geschichte seiner hellenischen Passion so viel mittheilte als ihm zweckdienlich schien, ward durch die Gewandtheit des Erzählers gleichzeitig auch die Honorarfrage für den neusten Zögling der Pension in's Reine gebracht und der Landpfarrer hatte soeben, den üblichen Gehalt für ein Halbjahr vorausbezahlend, seine Banknoten gegen genaue Quittung ausgetauscht, als ein außergewöhnliches Schreckniß nach barschem Klopfen in die Thüre des Philhellenen trat – Pyrian der Hausherr.

Er schüttelte die Stirne, als trüg' er auch baarhäuptig eine imaginäre Bärenmütze auf dem Kopfe; er räusperte sich und sprach eine längere grimmige Rede, in welcher die Worte: nothwendiges Ehrgefühl, Kindererziehung und Bauernbube zu wiederholten Malen und mit steigender Betonung vorkamen.

Beißerle, der aus dem Scharmützel der Knaben auf der Treppe alle Schauder einer abermaligen Miethzinssteigerung drohend emportauchen sah, lächelte den Schmiedmeister mit süßsäuerlicher Miene an, tätschelte mit den langen Händen und meinte sich nach Kräften entschuldigen zu müssen.

Zwischen den verzweifelnden Kosmopoliten und den scheltenden Partikularisten drängte sich dann in all seiner Bescheidenheit der Geistliche vom Lande mit fruchtlosen Verständigungsversuchen. Zu beiden Seiten des Schauplatzes öffneten sich sachte die Thüren; zur Rechten streckten die Zöglinge der Pension ihre neugierigen Gesichter in die Stube; zur Linken pflanzten sich die gezausten Sprößlinge des Schmiedes und hinter ihnen noch zwei jüngere Brüder auf die Schwelle, um den Vater für die gekränkte Ehre des Hauses donnern zu hören.

Es währte nicht lange, so waren die Putten zu beiden Seiten verschwunden; Pyrian war, nachdem er das Aergste, was er zu sagen gewußt, zwischen Thür und Angel verloren, die Leitern und Treppen hinabgepoltert und der ehrwürdige Wohlthäter hatte mit Ermahnungen zu Fleiß und Friedfertigkeit den kleinen Veit verlassen.

Diesem war zu Muth, als wäre sein guter Engel von ihm gegangen; krampfhaft preßte sich sein junges Herz zusammen und während er die trockenen heißen Augen über den staubigen Wust unfreundlicher Gelehrsamkeit, der ihn umgab, hin und her gleiten ließ, sehnte er sich mit allen Seelenkräften nach dem baarfüßigen Elend auf der Gänseweide zurück. In den Händen wand er ein kleines Büchlein herum, einen Horaz Elzevirescher Ausgabe, eine Kostbarkeit, welche ihm der Pfarrer beim Scheiden geschenkt hatte zu künftiger Freude und Auferbauung für's ganze Leben.

Die Mitpensionäre drängten sich an den neuen Leidensgefährten mit dem offenherzigen Freimuth der ersten Jugend. Der peinigende Unterschied von Rang und Alter, der den meisten Zöglingen anderer Institute den Eintritt oft so widerwärtig macht, existirte hier nicht. Ein eisenfestes Schutz- und Trutzbündniß verband die sechs jungen Bösewichter gegen den gemeinsamen alleinigen Zuchtmeister unterschiedslos und gleichberechtigt. Veit hatte in einer Stunde mehr Schlimmes über den neuen Lehrer zu hören bekommen, als über irgend einen andern Menschen sein ganzes Leben vorher.

Also von verschiedenen Gefühlen bestimmt, versparte Veit seine Thränen bis zur Schlafenszeit. Aber die Ermüdung an Leib und Seele ließ ihn auch dann nicht lange weinen.

Kaum daß er sich in den Armen des ersten Schlummers bequem zu recht gelegt hatte, weckte ihn ein ungewohntes Lärmen, welches in dem Dachstübchen, das den stolzen Namen des »Schlafsaals« zu führen hatte, die Runde machte.