Wer Adoption sagt, muss auch B sagen
Die Zwillinge Sonja und Senta fallen aus allen Wolken, als sie erfahren, dass sie beide unfruchtbar sind. Doch dank ihrer Männer stehen sie den endlosen Adoptionsmarathon durch, und so finden nach und nach zehn Kinder zu ihnen. Jedes hat einen anderen erschütternden Hintergrund – traumatisierte Kinderseelen, die Halt und Liebe brauchen. Die Zwillinge öffnen Haus und Herz, lieben bedingungslos und gründen eine turbulente Großfamilie, die stark genug ist, alle zehn Kinder aufzufangen …
Eine berührende Geschichte voller Mut und Konsequenz und dem unerschütterlichen Glauben an die Kraft der Familie
Als sie dreißig sind, ist der Traum von eigenen Kindern ausgeträumt. Nach erfolglosen Hormonbehandlungen fassen die Zwillinge Sonja und Senta zusammen mit ihren Ehemännern den festen Entschluss: Sie wollen trotzdem eine Familie gründen. Ein langer Marathon durch die Jugendämter beginnt, bis Sonja und Paul endlich ein Kind zugesprochen wird: ein Junge, dessen Mutter Alkoholikerin ist. Sie zögern keine Sekunde, lieben ihn vom ersten Moment an und ahnen noch nicht, dass bei traumatisierten Kindern Liebe allein nicht ausreicht. Senta und Markus adoptieren kurz darauf ein Mädchen von einer minderjährigen Prostituierten und schweben im Elternglück. Der drei Monate alte Sohn einer Rechtsradikalen folgt, ebenso zwei kleine iranische Schwestern, die von der Mutter in einer Wohnung zurückgelassen wurden. Schließlich kommen ein Frühchen aus der Babyklappe, das kaum Überlebenschancen hat, und ein Waisenmädchen aus Kenia hinzu. So gründen Senta und Sonja eine turbulente Großfamilie mit insgesamt zehn Kindern. Doch werden die Kinder es schaffen, ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen?
HERA
LIND
Kuckucksnest
Roman nach einer wahren Geschichte
Für das Beste, was uns je passiert ist:
unsere Kinder
1
SENTA
Januar 1992
Nebenan fiel eine Tür ins Schloss. Hallende Schritte durchquerten den Flur. Ich kniff die Augen zusammen, hielt den Atem an und biss mir fest auf die Lippen. Mit eiskalten Händen krallte ich mich an Markus.
Jetzt würde sich alles entscheiden: Würde ich Mutter werden? Würde mein größter Lebenstraum endlich in Erfüllung gehen?
»Komm, Senta, das wird schon«, murmelte Markus, genauso nervös wie ich.
Wir hockten Seite an Seite da wie zwei Schüler, die gleich gesagt bekommen, ob sie versetzt werden oder nicht, als die Tür zum Sprechzimmer der Kinderwunschpraxis aufflog. Unwillkürlich zog ich den Kopf ein. Der Gott in Weiß, auf den wir seit drei Jahren alle unsere Hoffnung setzten, kam mit wehenden Kittelschößen herein. Ein Blick auf seine ernste Miene, auf seinen mahlenden Kiefer, und alle Hoffnung war dahin. Ich würde nicht Mutter werden. Niemals.
»Es tut mir leid, aber nach Durchsicht der Befunde ist es so gut wie ausgeschlossen, dass Sie jemals schwanger werden können.«
Dr. Brechts Blick war ernst. In seinen Brillengläsern spiegelte sich mein verzweifeltes Gesicht – mein halb offener Mund und meine weit aufgerissenen Augen, die sich mit Tränen füllten. Ich fühlte mich schlaff und schwer wie ein Sandsack, und meine Kehle war wie ausgedörrt. Irgendwie hatte ich es immer noch nicht begriffen.
»Können Sie … Wie – endgültig ist das jetzt?«
»Nach der Biopsie der Gebärmutterschleimhaut kann ich mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass sich aufgrund der Laborbefunde keine Eizelle einnisten wird.«
Ein riesiger Kloß saß mir im Hals. Die endgültige Gewissheit überrollte mich wie eine eisige Welle. Ich war wie erstarrt.
Markus und ich waren seit vier Jahren zusammen. Er hatte sein Musikstudium beendet, war inzwischen Mitglied im Rundfunksinfonieorchester, und wir hatten ein Haus gebaut. Ein Haus mit drei Kinderzimmern! Denn ich wollte nie etwas anderes als Mutter werden, Mutter sein! Das war der Sinn meines Lebens – einen kleinen Menschen auszubrüten, ihn wachsen und gedeihen zu sehen, ihn zu lieben und zu behüten und ihm die Welt zu erklären. Gab es ein größeres Glück auf Erden? Und nicht nur ein Menschlein wollte ich ins Leben begleiten, sondern gleich mehrere. In meinem Herzen war so viel Platz!
Wir, Markus und ich, wir hatten ein Nest! Ein warmes, heimeliges, kuscheliges Fachwerkhaus am Stadtrand von Köln, inmitten von bewaldeten Hügeln, Wiesen und Kuhweiden, wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagten und man trotzdem die Domtürme von ferne am Horizont sehen konnte. Und nun wollten wir es mit Küken füllen!
Ich war dreißig, die biologische Uhr tickte erbarmungslos.
»Aus medizinischer Sicht sind Sie bereits eine Spätgebärende!« Der Arzt schüttelte bedauernd den Kopf. »Sie sollten sich keine weitere Tortur mehr antun.«
Wir hatten verdammt noch mal vier Behandlungszyklen hinter uns, in denen meine Eierstöcke dermaßen mit Hormonen überstimuliert worden waren, dass sich bis zu sechzehn befruchtungsfähige Eier entwickelt hatten. Ich konnte vor Schmerzen kaum noch laufen, mir war ständig übel, und ich kämpfte mit Schwindelattacken. Wir hatten lange, zähe Monate des Hoffens und Bangens hinter uns. Mein Markus war angetanzt, wenn das Thermometer es für gut befunden hatte. Wir hatten »es« diszipliniert durchgezogen wie eine militärische Übung. Doch jedes Mal hatten sich wieder verräterische rote Tropfen in meine Slipeinlage gestohlen, und ich hatte heiße, bittere Tränen geweint.
Was ich auch jetzt tat.
Sie kullerten über meine Wangen, sammelten sich an meinem Hals und ergossen sich in meinen Schoß wie ein Murenabgang im Hochgebirge. Wütend und beschämt wischte ich sie mit dem Handrücken weg. Der Arzt schob mir diskret die Packung mit den Papiertaschentüchern hin.
Diesmal gab es keine Hoffnung mehr. Wir würden keinen neuen Behandlungszyklus mehr beginnen, in der Hoffnung, dass es vielleicht diesmal doch noch klappen würde. Es war aus. Endgültig aus.
»Es tut mir so leid für Sie beide.«
Dr. Brecht sah uns mitfühlend an. »Ich weiß, dass Sie mit dieser Nachricht erst mal fertigwerden müssen.« Er machte eine Pause und ließ mich weinen. Seine Fingerspitzen trommelten aufeinander, während ich von Schluchzern geschüttelt wurde. Ich wusste gar nicht mehr, wohin mit meiner verzweifelten Trauer. Markus tätschelte mir unbeholfen das Knie und reichte mir mit der anderen Hand ein Papiertuch nach dem anderen, in dem Versuch, eine Überschwemmung zu vermeiden.
Meine Tränenflut reichte, um die ganze Praxis feucht auszuwischen.
»Aber das bedeutet nicht, dass Sie keine Kinder HABEN können.« Der Arzt beendete seinen Trommelwirbel und faltete die Hände wie in der Kirche.
»Wie?« Ich hob den Blick und starrte ihn an. Hatte der Gynäkologe doch noch ein Ass im Ärmel? Immerhin war er Spezialist für Frauen mit unerfülltem Kinderwunsch.
»Für ein Kind würde ich alles tun! Auch Kreide fressen oder mir noch ungetestete Medikamente spritzen lassen!«
Tausend kleine Fältchen bildeten sich um Dr. Brechts Augen. Ein winziges Lächeln stahl sich auf seine Lippen. »Na, na, na, es gibt auch andere Möglichkeiten. Eine Adoption zum Beispiel. Denken Sie mal darüber nach.«
2
SONJA
Januar 1992
»Soll ich?«
»Wenn du meinst …«
»Ich bin drei Tage drüber, Paul! Das war ich noch nie! Ich hab seit LETZTEM Jahr meine Tage nicht mehr gekriegt!«
»Ja, dann mach mal. Aber pinkel nicht daneben.«
»Und du wartest hier?«
»Nee, ich heirate inzwischen eine andere.«
»Ach, Blödmann!« Lachend schlug ich mit der Serviette nach meinem Liebsten. Aber so schelmisch, wie er mich ansah, konnte ich ihm kein bisschen böse sein.
Wir hatten den Jahreswechsel auf Sylt verbracht und saßen dort nun in unserer heimeligen Ferienwohnung, bereit für wundervolle Neuigkeiten. Es war ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit meiner Zwillingsschwester Senta. Wir beide versuchten seit drei Jahren verzweifelt, endlich schwanger zu werden, waren beide in der nicht gerade preiswerten Behandlung bei Dr. Brecht in Köln-Hoffnungsthal, der beliebten Kinderwunschpraxis.
Unsere Männer standen nicht nur finanziell Gewehr bei Fuß, sondern auch sonst. Und nun sollte ich, Sonja Wegener, das Rennen machen? Senta würde sich jedenfalls neidlos freuen.
»Diesmal hat es geklappt!«
»Vielleicht liegt es ja an der frischen Seeluft …?«, versuchte mein Mann mich zu ermuntern.
»Was? Dass ich vielleicht schwanger bin? Paul, Schatz, ich würde sagen, du hast in Biologie nicht aufgepasst.«
Kopfschüttelnd ließ ich ihn am Frühstückstisch sitzen und verschanzte mich im Bad. Wir hatten das Frühstück extralange hinausgezögert, und ich hatte in Wahrheit kaum einen Bissen hinunterbekommen. Da konnte ich noch so lange auf dem letzten Brötchenkrümel herumkauen und in mich reinhorchen, ob da womöglich schon ein Embryo rumkrabbelte, der ein Schild mit der Aufschrift »Gewonnen!« schwenkte: Irgendwann musste ich Farbe bekennen. Nein, falsch. Dieser Streifen musste Farbe bekennen, auf den ich soeben gepinkelt hatte.
Mann, was zitterten mir die Finger! Hoffentlich hatte ich auch getroffen. Aber diesmal täuschte ich mich nicht! Oder doch? Der Schwangerschaftstest, den ich seit Tagen in der Handtasche mit mir herumgetragen hatte wie eine Waffe gegen das Schicksal der Unfruchtbarkeit, würde gleich Klarheit in unser weiteres Leben bringen. Ich war dreißig und mein Liebster sogar schon vierzig. Paul hatte aus erster Ehe bereits einen fast erwachsenen Sohn. Er war ein wundervoller Vater. Mit ihm wollte ich einen ganzen Stall voller Kinder haben! Wir besaßen ein gemütliches Stadthaus in einer stillgelegten Spielstraße am Kölner Stadtwald, direkt am Tiergehege, wo täglich kleine Menschlein die Ziegen und Ponys streichelten. Mit viel Glück würde ich im nächsten Jahr mit einem Kinderwagen dabei sein. Und im Jahr darauf vielleicht schon mit einem Bollerwagen UND einem Kinderwagen …
Ich holte tief Luft und atmete einmal ganz tief in den Bauch. So, Embryo. Melde dich.
Jetzt oder nie. Los, dein Auftritt!
Mit zusammengekniffenen Augen starrte ich auf den Teststreifen. Ein roter Balken hatte sich schon mal gebildet. Das bedeutete, dass ich sehr wohl getroffen hatte.
Zehn Minuten warten, hieß es im Beipackzettel. Wenn sich dann ein zweiter roter Streifen gebildet haben würde, würde ich Mutter werden! Mein Herz schlug jetzt schon Purzelbäume vor Freude.
»Liebes? Alles in Ordnung bei dir da drin?« Paul klopfte sanft an die Tür. O Gott. Waren die zehn Minuten etwa schon rum?
»Ja! Alles bestens! Ich komme gleich!« WIR kommen gleich, hätte ich beinahe gerufen. Nur Geduld. Diesmal würde es klappen! Ich war mir ganz sicher. So oft wie Paul und ich uns in letzter Zeit geliebt hatten, müssten es eigentlich Vierlinge oder Fünflinge werden. Ich hörte Paul in der Küche rumoren. Bestimmt hielt er bereits die eisgekühlte Flasche Sekt in der Hand, die noch von Silvester übrig war, um sie zu köpfen.
Ich starrte in den Spiegel. Eine blonde Frau mit kecken Ponyfransen und wachen blauen Augen sah mir entgegen. Hätte Senta nicht den kleinen Leberfleck über der Oberlippe, könnten wir uns selbst kaum unterscheiden. Wir strotzten vor Lebensfreude, Übermut und Optimismus. Wir liebten einander und hielten zusammen wie Pech und Schwefel. Geht nicht, gab’s nicht. Das hatten wir vermutlich in unserer unbehüteten Kindheit gelernt. Wir waren der fleischgewordene Überlebenswille! Wie konnte es dann sein, dass sowohl Senta als auch ich seit Jahren vergeblich auf ein Baby warteten? Paul hatte eine eigene gut gehende Werbeagentur, in der auch wir Mädels arbeiteten. Sentas Markus, der Geiger, verdiente ebenfalls gutes Geld. Die beiden waren zwar nicht verheiratet, aber auch ein perfektes Paar. Bessere Voraussetzungen für eine gemeinsame Großfamilie waren eigentlich kaum denkbar.
»Schatz?« Paul trommelte gegen die Klotür. »Du sollst nicht neun Monate da drin bleiben! Lies die Packungsbeilage noch mal genau durch!«
»Jetzt warte doch, verdammt!«
Nicht der Anschein eines zweiten rosa Streifens wollte sich einstellen. Ich hob den Teststreifen und hielt ihn gegen das Licht, ging damit zum Fenster. Riss die Gardine auf. Vielleicht bei Tageslicht? Hielt ihn gegen die Sonne. Schüttelte ihn wie ein Fieberthermometer.
Bitte, lieber Gott. Bitte mach, dass der Test positiv ist! Bitte! Ich will endlich ein Baby! Das ist doch nicht zu viel verlangt!
Der Teststreifen verhöhnte mich mit seiner Einstreifigkeit. Er dachte gar nicht daran, seine vornehme Blässe zu verändern.
Mir schossen Tränen in die Augen. Warum denn ausgerechnet ich! Wie viele Frauen beten darum, endlich ihre Tage zu kriegen! Sogar das Weihnachtsoratorium war zur Hymne solchermaßen erleichterter Frauen geworden: »Jauchzet, frohlocket, auf, preiset die Tage!« Diese Frauen sehnten die erlösenden roten Tropfen herbei, damit sie sich selbst verwirklichen konnten, die Karriereleiter raufklettern, reisen, frei sein, Spaß haben! Weil sie nicht mit dem richtigen Mann geschlafen hatten oder weil sie einfach noch nicht reif für ein Kind waren.
Aber ich hatte den richtigen Mann, das richtige Alter, war finanziell abgesichert, gesund, jung, intelligent und voller positiver Energie!
Warum bekamen solche Frauen Kinder?
Und ich nicht?
Wir nicht? Senta und ich?
WIR nicht? Paul und ich? Ein heftiges Schluchzen brach aus mir heraus.
»Liebes, ich bin hier.« Ich hörte, wie Paul dezent den Kühlschrank öffnete und die ungeöffnete Sektflasche zurückstellte.
»Du bist nicht allein.« Seine Stimme war ganz sanft. »Komm raus, Süße.«
Schweigend ließ ich mich in Pauls ausgebreitete Arme fallen und vergrub mein tränenüberströmtes Gesicht an seinem Hals.
Zum Glück sprach er nicht weiter. Paul ließ mich einfach nur weinen und strich mir dabei tröstend über den Rücken. Nie wieder würde ich meinen Körper einer schmerzhaften Hormonbehandlung aussetzen. Nie wieder meine Psyche in dieses Wechselbad der Gefühle tauchen. Es sollte nicht sein. Ich fühlte mich leer. Von innen ausgehöhlt. Um meine weibliche Bestimmung gebracht. Meine Eingeweide zogen sich schmerzhaft zusammen, ballten sich wie eine wütende Faust.
Es war vorbei. Es war endgültig vorbei.
3
SENTA
Januar 1992
Ein letztes Mal schritten wir die Stufen der Kinderwunschpraxis hinunter. Meine Finger glitten haltsuchend über das Geländer, auf dem Eiskristalle in der Wintersonne glänzten. Sie tanzten vor meinen Augen wie ein Tischfeuerwerk. Als wollten sie mich verspotten. Markus reichte mir etwas unbeholfen die Hand, aber ich wollte die schmerzende Kälte dieses Geländers fühlen. Wahrscheinlich um zu testen, ob ich überhaupt noch etwas fühlen konnte. Außer dieser Leere in mir. Markus schien zwar auch enttäuscht zu sein, aber offensichtlich traf mich die Härte der Diagnose mit voller Wucht, während sie für ihn nur so etwas wie ein Streifschuss war. Er hatte sein Orchester, seine Reisen, seine Schüler … Ich hatte nichts. Nein, schimpfte ich innerlich mit mir.
Ich hatte meine Schwester Sonja, der es genauso ging wie mir. Natürlich. Das war ein großes Geschenk. Auch die Arbeit in der Firma meines Schwagers Paul am Friesenplatz, mitten im Herzen von Köln, machte uns viel Spaß. Das war schon sehr viel. Aber mein Lebenstraum von einer eigenen Familie würde sich nicht erfüllen.
Schweigend fuhren wir in die Innenstadt. Was sollten wir mit diesem sonnigen Wintertag noch anfangen?
Markus hatte die ganze Zeit noch kein Wort gesagt und ich, ganz entgegen meiner sonstigen Veranlagung, auch nicht. Sonja und ich litten normalerweise nicht an Sprachlosigkeit oder Wortfindungsstörungen – wir waren zwei rheinische Frohnaturen, um nicht zu sagen sprudelnde Quasselstrippen, deren Mitteilungsdrang und Ideenreichtum unerschöpflich waren. Die Sonne schien für uns auch, wenn sich schwarze Wolkenberge türmten.
Aber jetzt war ich stumm wie ein Fisch.
Sonja und Paul, die Menschen, die mir am nächsten standen, waren auf Sylt, und ich wollte sie mit meinen schlechten Nachrichten und meinem Weltschmerz nicht aus ihrer Winterferienlaune reißen. Die beiden arbeiteten hart und hatten ihre Auszeit wirklich verdient. Und vielleicht hatte es ja bei Sonja inzwischen geklappt?
Ich ertappte mich dabei, dass ich es mir sehnlich für sie wünschte. Wenigstens Tante konnte ich ja noch werden.
»Ähm … Wollen wir noch einen Spaziergang am Rhein machen?«, fragte Markus vorsichtig.
»Mir egal.«
Wir saßen schweigend da und betrachteten die kleinen Wellen, die der Wind auf dem Rhein tanzen ließ.
»Ach, Senta. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als nach vorne zu schauen!«
»Dir vielleicht.«
»He!« Er knuffte mich zärtlich. »So kenne ich dich ja gar nicht!«
»Dann wird es aber Zeit.« Ich setzte mich intuitiv auf meine Hände, damit er aufhörte, danach zu greifen. Komisch, aber im Moment konnte ich seine Berührungen nicht ertragen. Ich ließ den Blick über den grauen Fluss gleiten und dachte an das sich darüber und darunter tummelnde Leben. Nur in mir tummelte sich kein Leben! Niemals würde geschehen, worauf ich seit Jahren so inbrünstig hoffte. In meinem Kopf war nichts als Trostlosigkeit, gepaart mit Zorn über die Ungerechtigkeit, dass ausgerechnet ich – also, natürlich wir, kein Baby haben würden. Und alle anderen Leute schon. Ich sah in die vorbeifahrenden Autos hinein, in denen Familien hockten, als wäre das alles vollkommen selbstverständlich. Waren diese Ignoranten sich ihres Glücks überhaupt bewusst? Wieder traten mir Tränen in die Augen. Wütend wischte ich mir mit dem Ärmel über die Nase.
Markus warf mir einen besorgten Seitenblick zu. Entschlossen setzte er den Blinker und fuhr die Rheinpromenade entlang.
»Zoo?«
Ich presste die Lippen aufeinander. Wirklich, sehr einfühlsam!
»Damit wir lauter glücklichen Familien mit kleinen Kindern begegnen?!«, giftete ich ihn an.
»Oh, sorry. Vermintes Gelände. Natürlich kein Zoo.«
Mit verschränkten Armen beobachtete ich sein Einparkmanöver an der Bastei.
Er lief um den Wagen herum und half mir heraus – ich wehrte seine Hände ab und kam mir scheußlich gemein und zickig vor. Störrisch und stumm lief ich neben ihm her, in Richtung Dom. Mit schräg gelegtem Kopf musterte mich Markus von der Seite und versuchte auf seine rührende Art, mich aus der Reserve zu locken. Normalerweise fing ich dann sofort an zu kichern, aber jetzt brauchte ich meine Zeit.
Der Dom ragte majestätisch hinter der Zoobrücke empor, als wollte er mir signalisieren, dass er schon ganz andere Probleme und Sorgen überstanden hatte. Die kalte klare Luft und der Anblick des zufrieden vor sich hin glucksenden Rheins weckten meine Lebensgeister wieder. Trotz all meines Kummers empfand ich dieses Bild als wunderschön. Zwei kleine Blondschöpfe rannten schreiend im Kreis herum, ein dick eingepacktes Mädchen im roten Anorak und ein etwas kleinerer Junge, der einen Stock trug, über den er bestimmt gleich stolpern würde. Ich schluckte und zog die Nase hoch.
»Es tut mir leid, Markus. Ich musste gerade erst mal mit meiner Trauer und dem Schock fertigwerden.«
»Ist schon okay, Süße. Ich bin auch traurig.« Er legte mir den Arm um die Schultern und stupste mir mit seiner kalten Nase ans Ohr, bis ich lächelte. Jetzt hatte er mich so weit, und ich war dankbar, dass er mich aus meiner Erstarrung geholt hatte.
Wieder griff Markus nach meiner Hand, und diesmal ließ ich es geschehen.
»Von mir aus können wir ruhig über eine Adoption nachdenken«, sagte Markus und steckte meine Hand in seine Manteltasche. Augenblicklich fühlte ich mich gewärmt und beschützt. Ganz plötzlich wurde mir bewusst, dass ich nicht alleine dastand mit meiner inneren Leere. Wir waren zu zweit. Und wir konnten einander immer noch ausfüllen und wärmen. Unser nächster Sex würde keine Pflichtnummer mehr sein. Sondern endlich wieder entspannt und liebevoll.
»Meinst du das ernst?«
Er zögerte einen Augenblick. Doch dann verkündete er enthusiastisch: »Natürlich. Dr. Brecht hat total recht! Wir können immer noch eine Familie gründen, wenn es dein innigster Wunsch ist.«
»Und deiner?« Skeptisch sah ich ihn von der Seite an. Die Frage war mir wie von selbst über die Lippen gekommen, so schnell ließ ich nicht locker. Markus sah mich aufrichtig an, und seine Augen bekamen einen warmen Glanz.
»Ich will nichts lieber als Kinder mit dir haben, Senta. Du wärst die Traummutter für jedes Kind.«
Mit einem Schlag war meine Traurigkeit wie weggeblasen.
Das wäre immerhin eine Möglichkeit! Warum eigentlich nicht? Wie viele elternlose Kinder lebten in Heimen und warteten nur darauf, ein liebevolles Elternhaus zu bekommen? Am liebsten wäre ich sofort in ein Kinderheim gefahren und hätte mir die einsamen Seelen dort angeschaut. Um dann gleich drei von ihnen mitzunehmen.
Aber das ging natürlich nicht. Ich ahnte, dass eine Adoption ein langwieriger Prozess werden würde. Aber wir hatten wieder ein Ziel vor Augen!
Der gemeinsame Gehrhythmus einte uns, und unsere Atemwölkchen vermischten sich.
»Du könntest dir das also wirklich vorstellen?«
»Natürlich«, sagte Markus. »Ich will nur, dass du glücklich bist.«
Plötzlich war ich meinem Freund und Lebensgefährten wieder ganz nah.
Wie oft hatte er in den letzten Jahren pünktlich auf der Matte gestanden, passend zur Fruchtbarkeitskurve – meist zwischen Probe und Konzert. Hatte er sich jemals beschwert und gesagt, dass er keine Lust mehr hatte?
Und nun schaute er schneller wieder nach vorn als ich selbst: ein Mann zum Festhalten.
»Wir kriegen bestimmt kein Kind«, wandte ich ein und sah ihn von der Seite an: Er war wirklich ein gut aussehender Mann mit seinen dunklen vollen Haaren, seiner sportlichen Figur und seinen sanften braunen Augen. Von seiner Musikalität ganz zu schweigen. Wenn er Geige spielte, schmolz die Welt. Wie schade, dass sich sein Erbgut nun nicht mehr durchsetzen würde!
»Dann beantragen wir eines.«
»Nein, ich meine, wir kriegen bestimmt kein Kind, weil wir nicht verheiratet sind.«
»So was hat meine katholische Tante Lilli allen Ernstes auch geglaubt.«
Jetzt lachte Markus und blitzte mich übermütig von der Seite an.
»Wir kriegen kein Kind, wenn wir nicht verheiratet sind«, beharrte ich trotzig. »Das sind die Spielregeln, Markus. Vom Jugendamt. Das weiß ich von meiner Kollegin Tanja, ihre Cousine hat doch letztes Jahr einen kleinen Jungen adoptiert. Und die musste deswegen ihren Freund heiraten.«
»Ach so! Jetzt kapier ich es. Aber meine liebste Senta, dann wirst du eben Frau Schilling. Lass uns heiraten!«
»Wie? Heiraten fanden wir doch immer total spießig und überhaupt nicht notwendig für eine glückliche Partnerschaft.«
»Wir lieben uns, wir haben zusammen ein Haus gebaut, wir wollen Kinder …«
Und ehe ich michs versah, fiel Markus vor mir auf die Knie. Fast wäre ich über ihn gestolpert. Er spielte auf einer imaginären Geige und sah mich unverwandt an.
»Markus, was soll das? Die Leute gucken ja schon …«
»Willst du meine Frau werden?«
Mir verschlug es die Sprache. Verlegen knetete ich auf meinem vollgeweinten nassen Taschentuch herum, das ich immer noch in Händen hielt.
»Markus, du musst mich jetzt nicht aus lauter Mitleid … Ich meine, nur um meine Laune wieder zu heben … Ich komm schon klar, wir kriegen das schon hin …«
»Pssst!« Markus legte mir seinen Zeigefinger auf die Lippen. »Sei ausnahmsweise mal einsilbig.«
Einige Spaziergänger lachten und blieben abwartend stehen.
»Das sah nicht nur wie ein Heiratsantrag aus, das war auch einer«, rief eine Frau entzückt.
Hinter ihr hopsten ein paar Rheinmöwen herum und schlugen aufgeregt mit den Flügeln, wie um ja nichts zu verpassen.
»Was, Karl-Heinz? Ich HAPPES gesacht! Der Mann macht ihr einen Heiratsantrag!«
»Die SIND aber auch ein schönes Paar.«
Karl-Heinz zückte sogar seinen Fotoapparat. »Wie romantisch«, hörte ich ihn sagen. »Sagen Sie Ja, junge Frau! Das kann ja nur eine glückliche Ehe werden!«
Ich hielt die Luft an.
Markus. Ja, natürlich, Markus. Wer denn sonst!
Wir hatten zwar nie heiraten wollen, aber jetzt schien es die Voraussetzung für unser weiteres Glück zu sein.
Für unser Kinderglück.
Ich wollte unbedingt eine Familie. Natürlich mit Markus. Mit meinem musikalischen, sensiblen, wundervollen Markus, dem das Publikum jeden Abend zu Füßen lag.
In meinen Ohren rauschte das Blut.
Was für ein schicksalsschwerer Tag!
Wie auf Knopfdruck begannen die Domglocken zu läuten. Tröstlich, zuversichtlich. Die Sonne schob sich ganz langsam hinter der Zoobrücke hervor und tauchte die zwei schweren Türme in ein fast kitschiges Rot.
»Ja, lass uns heiraten und dann einen Adoptionsantrag stellen!«, sprudelte es nur so aus mir heraus. Ich zog Markus auf die Füße und fiel ihm halb lachend, halb weinend um den Hals. Mein Optimismus hatte mich wieder.
Die Leute applaudierten. Die Möwen applaudierten auch und flatterten davon.
»Habe ich nicht soeben was von EINSILBIG gesagt?«, flüsterte Markus.
»Was willst du denn! Ich habe Ja gesagt!«, flüsterte ich zurück.
»Okay, dann schaffen wir eventuell sogar noch die Sportschau?« Markus strahlte mich an. »Heute hat der 1. FC Köln gespielt!«
»An mir soll’s diesmal nicht scheitern«, sagte ich tapfer.
Und dann rannten wir Hand in Hand zum Auto zurück.
4
SONJA
Mitte Februar 1992
»O Gott. Was wollen die denn alle hier!«
Auf dem Informationsabend des Kölner Jugendamts für Adoptionswillige war es brechend voll. Nervös stand ich am Eingang und schaute auf die Uhr. Ohne Paul würde ich hier einen ziemlich unvollständigen Eindruck machen! Mein Blick glitt über die vielen Paare, die hier zusammengedrängt auf den schmucklosen Holzstühlen hockten, Mantel an Mantel, Kapuze an Kapuze. Ein leises Raunen erfüllte den Saal. Alle waren nervös, alle schauten sich verstohlen nach den anderen um. Mein Herz raste wie vor einer Theateraufführung, bei der ich nicht nur zuschauen, sondern mitspielen sollte. Nein, ich wollte sogar eine Hauptrolle ergattern!
Mein Gott. So viele Leute wünschten sich alle vergeblich ein Kind?
Ich schluckte trocken. Bei DER Konkurrenz würden wir wohl kaum eine Chance haben!
Am liebsten wäre ich auf die Bühne gesprungen und hätte Pauls und meine Vorzüge angepriesen! Wir sind das perfekte Paar! Wir sind beruflich erfolgreich, gebildet, sportlich, liebevoll, humorvoll, stark und zuverlässig. Wer bietet mehr? Ob wir je so auf einem Elternabend sitzen würden? Ich würde mich auch freiwillig als Elternbeiratsvorsitzende melden! Meinetwegen für neun Jahre! Und Protokoll führen, Kuchen backen, Laternen basteln, beim Sankt-Martins-Umzug einmal um den Kölner Dom laufen und hinter dem Pferd die Köttel aufsammeln!
»Da bist du ja!« Endlich tauchte mein Liebster auf, mit wehendem Schal, den er sich noch im Laufen vom Hals riss.
»Im ganzen Severinsviertel wieder mal kein Parkplatz!« Er küsste mich flüchtig auf den Mund. »Ach du Schreck! Was wollen die denn alle?«
»Das hab ich mich eben auch gefragt!«
Eilig huschten wir auf zwei freie Plätze in der vorletzten Reihe.
Es roch ziemlich muffig, nach nassen Mänteln, Nervosität und Schweiß.
Soeben betrat Frau Hohlweide-Dellbrück das Podium. Eine farblose Mittfünfzigerin im graugrünen Strickwestenensemble über lila Bluse mit Schlüpp, die ihre Haare struppig aufgesteckt trug. Ihre strammen Beine steckten in soliden Schnürschuhen. In rheinischem Singsang begrüßte sie uns als »Elternanwärter« und machte uns erst mal mit den Spielregeln vertraut. Und die waren nicht ohne.
»Um Ihnen dat Verfahren der Adoption zu erläutern«, begann sie mit resoluter Stimme, »muss isch Ihnen als Erstes mitteilen, dass auf jedes zur Adoption freijejebene Kleinkind vier interessierte Adoptivelternpaare warten.«
Fast hätte sie »lauern« gesagt, so schien es mir, wenn ich mich hier im Saal umsah. Vielleicht hatten einige gedacht, die zur Auswahl stehenden Babys und Kleinkinder stünden hier zum Abholen bereit?
»Im Anschluss an diese Veranstaltung können diejenjen unter Ihnen, die dann immer noch Interesse ham, die Adoptionsantragsformulare mitnehmen«, stellte sie uns in Aussicht. »Aber damit geht der janze Papierkram erst los! Se müssen alle erssma ’nen ausführlichen Lebenslauf schreiben, natürlich mit der Hand, und bitte vier Fotos von Ihnen dazulegen. Dann jehense alle zu Ihrem Hausarzt und lassen einen gründlichen Gesundheitscheck machen, das vom Arzt abjestempelte Jesundheitszeuchnis brauchen wa ebenfalls.«
Alle schrieben eifrig mit.
»Dat müssen normal Schwangere doch auch nicht!«, ließ sich eine schräg hinter mir vernehmen. Sämtlichen Frauen sah man ihre Hormonschleuder-Vergangenheit an. Die armen Gatten hatten bestimmt schwere Zeiten hinter sich.
»Jedenfalls nicht die Männer«, bekräftigte ihr Begleiter im grob gestrickten Pullover. »Die ham normalerweise noch Spaß beim Kinderbestellen.«
Hahaha!, dachte ich genervt. Hol doch den Storch, du Eierloch.
»Hamse dat?«, fragte Frau Hohlweide-Dellbrück ungerührt. »Dann lassense sich vonna Behörde ein erweitertes Führungszeugnis ausstellen.«
»Alles, was über fünfzehn Punkte in Flensburg hat, kann gleich wieder gehen«, versuchte ein Neunmalkluger vorn rechts einen Scherz. Inzwischen wurde hinter vorgehaltener Hand leise gestöhnt.
»Dat is doch total ungerecht, is dat!«, schimpfte mein linker Nebenmann, der ziemlich streng nach nassem Hund roch, und seine dazugehörige Gattin nickte betroffen in ihren Juterucksack hinein.
»Die biologischen Eltern brauchen den janzen Kram doch auch nicht!«
»Sollten sie mal besser«, mischte sich einer aus der ersten Reihe ein. »Dann jäbet nit so viele verwahrloste Kinder!«
Das fand ich zwar auch, enthielt mich aber jeden Kommentars.
»Dann kommt natürlich ’ne Sozialarbeiterin bei Ihnen vorbei und schaut mal nach dem Rechten«, fuhr Frau Hohlweide-Dellbrück unbeeindruckt fort. »Sie sollten also drauf achten, datse besser keine Alkoholbatterien rumstehen haben, auch überquellende Aschenbecher werden nicht jern jesehen. Und wennse überall Spinnweben haben und dat unjespülte Jeschirr sich türmt, dann hamse auch keine juten Schangsen.«
Sie zwinkerte uns zu: »Kleiner Scherz am Rande.«
»Pornos wechräumen«, rief ein Witzbold aus der letzten Reihe. »Brauchen wir ja nun nicht mehr!«
Paul und ich wechselten einen vielsagenden Blick. Das nannte ich Galgenhumor!
Inzwischen lachte das ganze Auditorium. Wir auch. Was sollten wir auch sonst machen?
»Wenn alles so weit jut abjelaufen ist, werden Sie ein paar Mal hier ins Jugendamt einjeladen, für persönliche Gespräche mit verschiedenen Mitarbeitern. Wenn Ihre Unterlagen vollständig sind, reichen Sie die bei uns ein und erhalten einen Termin für weitere persönliche Gespräche. Letztlich entscheiden wir dann als Jugendamt, ob wir Ihnen eine Unbedenklichkeitsbescheinijung ausstellen.«
»Eine was?«, fragte der Mann mit dem Pferdeschwanz, der zwei Reihen vor uns saß.
»Eine Unbedenklichkeitsbescheinijung bringt Sie offiziell für zwei Jahre in den Bewerberpool des Kölner Jugendamts. Sie berechtigt Sie dazu, ein Kind zu adoptieren.«
»Was heißt das genau?«, hakte der Pferdeschwanz nach. Ich empfahl ihm im Stillen, ein Schuppenshampoo zu benutzen, bevor er sich in den Bewerberpool stürzte.
»Das heißt, dass Sie ab dem Zeitpunkt zu den möglichen Eltern zählen, ich sage MÖGLICHEN«, betonte die resolute Jugendamt-Dame mit dem köstlichen Doppelnamen. »Wennse in diesen zwei Jahren kein Kind vermittelt bekommen, sindse automatisch wieder draußen.«
»Warum dat denn!« Der graue Pferdeschwanz schüttelte den Kopf, dass die Schuppen nur so flogen.
»Mein Gott«, entfuhr es mir, und ich verdrehte die Augen.
»Weil es sonst einfach zu viele Bewerber werden.« Frau Hohlweide-Dellbrück stemmte die Hände in die Hüften. »Et jeht ausschließlich um dat Wohl der Kinder, die uns anvertraut sind. – Hat noch jemand Fragen?!«
O ja, die hatten wir! Tausende! Aber ich wollte erst mal nicht unangenehm auffallen.
Eine dicke Teilnehmerin in Großgeblümt, die ihre rosenumrankten Massen erstaunlich platzsparend auf dem Holzstuhl verteilt hatte, winkte heftig mit dem Arm. Der Arm als solcher winkte in seinen Einzelteilen gleich mit.
»Können wir mit dieser Unbeweglichkeitsbescheinigung …«
»Unbedenklichkeitsbescheinigung.«
»Ja, genau. Können wir uns mit diesem – äh – Schrieb auch noch bei anderen Jugendämtern bewerben? Oder geht das nur bei Ihnen?«
»Das würde ich Ihnen sogar dringend raten!« Frau Hohlweide-Dellbrück lächelte ermutigend. »In diesen zwei Jahren nach Erhalt der Unbedenklichkeitsbescheinijung isset sogar sehr anjezeicht, bei allen deutschen Jugendämtern einen Adoptionsantrag zu stellen. Denkense auch an die neuen deutschen Bundesländer! Am besten, Sie legen sich einen eigenen Fotokopierer zu, denn sämtlichen Anträgen müssen wieder alle jenannten Unterlagen beiliegen.«
Paul und ich lächelten uns zuversichtlich an. Wenn wir etwas hatten, dann einen schönen, großen Fotokopierer. Sogar in Farbe.
»Isch hätte da noch mal ’ne Frage!« Die Dicke ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Muss es ein Neugeborenes sein, oder kann dat auch schon wat älter sein? Ich meine, erhöhen sich da unsere Chancen, wenn et schon wat älter ist?«
»Genau«, sagte Frau Hohlweide-Dellbrück nun schon ein wenig freundlicher. »Die meisten Adoptiveltern möchten natürlich ein Neujeborenes oder einen Säugling. Dat is nicht immer möglich. Meistens ist dat Kind schon im Kleinkindalter, es gibt auch Kinder im Vorschulalter, die sind immer schwerer vermittelbar.«
»Und wat is mit Ausländerkindern?«
»Auch hier gibt es Unterschiede in der Erwartungshaltung der Adoptiveltern«, erläuterte Frau Hohlweide-Dellbrück. »Manche wollen auf jeden Fall ein Kind mit ihrer eijenen Hautfarbe, vielleicht auch, um dem Kind vor dem achtzehnten Lebensjahr gar nicht die Wahrheit über seine Herkunft sagen zu müssen.«
Paul und ich wechselten einen verständnisinnigen Blick. Wir selbst würden jedes Kind nehmen, egal welchen Alters oder welcher Hautfarbe, das war für uns selbstverständlich. Und wir würden das Kind auch so bald wie möglich über seine Herkunft aufklären, es von Anfang an mit der Wahrheit halten.
»Nun wünsche ich Ihnen allen jutes Jelingen«, verabschiedete uns Frau Hohlweide-Dellbrück, und ihre energisch gerufenen Abschiedsworte gingen im allgemeinen Stühlerücken unter. »Wappnen Sie sich vor allem mit einem: mit GEDULD!«
Und die hatten Paul und ich ja schon hinreichend bewiesen. Drei Jahre lang hatten wir alles getan, um ein LEIBLICHES Kind zu bekommen. Jetzt würden wir alles tun, um ein KIND zu bekommen.