Buch
Deutschland Anfang der 1950er-Jahre. Obwohl die Ärztin Thea Graven in ihrem jungen Leben schon schwere Schicksalsschläge verkraften musste, hat sie sich stets ihre Lebensfreude und ihren Glauben an das Gute bewahrt. Nachdem sie bei einer Operation Zeugin eines tödlichen Kunstfehlers durch einen Chefarzt wird und diesen zur Anzeige bringt, ist es mit ihrer Karriere in Hamburg vorbei. Thea flieht zu ihrer Familie in die Eifel und nimmt dort eine Stelle als Landärztin an. Wenn da bloß nicht die misstrauischen Dorfbewohner wären und ihr neuer Chef Georg Berger – ein bewundernswerter Mediziner, wie Thea zugeben muss, doch ansonsten offenbar ein absoluter Rüpel. Ein Glück, dass ihre Schwestern Marlene und Katja fest an Theas Seite stehen, denn die frischgebackene Landärztin entdeckt bald nicht nur die schönen Seiten ihrer neuen Heimat, sondern auch einige brisante Geheimnisse …
Folgen Sie der jungen Landärztin Dr. Thea Graven in die malerische Eifel und begleiten Sie sie auf ihrem Weg in ein neues Glück!
Autorin
Felicia Otten ist das Pseudonym der erfolgreichen Autorin Beate Sauer. Geboren in Aschaffenburg, studierte sie zunächst Philosophie und katholische Theologie in Würzburg und Frankfurt am Main. Nach ihrem Diplom absolvierte sie eine journalistische Ausbildung. Doch dann erkannte sie, dass sie viel lieber Geschichten erzählen wollte. 1999 erschien ihr erster Kriminalroman, diesem folgten zahlreiche weitere Krimis und historische Romane. Die Autorin lebt mit ihrem Mann in Bonn und zahlreiche Ausflüge in die malerische Eifel haben sie zu ihrer Geschichte um die junge Landärztin Thea Graven inspiriert.
Von Felicia Otten erschienen
Die Landärztin – Aufbruch in ein neues Leben
Die Landärztin – Der Weg ins Ungewisse
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FELICIA OTTEN
Die Landärztin
Aufbruch in ein neues Leben
ROMAN
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Redaktion: Gisela Klemt
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WR · Herstellung: sam
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN 978-3-641-27452-8
V001
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Kapitel 1
Dr. Thea Graven starrte durch das Fenster des Busses. An diesem kalten Märzmorgen war es ganz beschlagen und die Straße mit ihren Gründerzeithäusern dahinter nur zu erahnen. Nun tauchte der schemenhafte Umriss einer Kirche draußen auf. Gleich darauf verlangsamte der Bus seine Fahrt und kam zum Halten. Zwei Stopps waren es noch bis zum Hamburger Universitätsklinikum. Bis zu ihrem Dienstbeginn um sechs Uhr hatte Thea noch reichlich Zeit. Rasch stand sie auf und schob sich zwischen den Passagieren hindurch zur Tür.
Trotz der Kälte und der Dunkelheit hing eine Ahnung von Frühling in der Luft. Was vielleicht am Gesang der Vögel lag oder auch an den Schneeglöckchen, die jetzt, Ende März, durch das Gras in den Vorgärten spitzten. Thea vergrub die Hände in den Taschen ihres Mantels und ging schnellen Schrittes in Richtung Kirche. Mit dem niedrigen Turm und dem breiten, gedrungenen Schiff wirkte St. Johannis wehrhaft und wie ein Zufluchtsort. Fast auf den Tag genau hatten Hans und sie vor neun Jahren dort geheiratet. Und in dieser Nacht hatte sie auch wieder von ihm geträumt. Thea erinnerte sich nicht mehr an Einzelheiten, nur an ihr tiefes Glücksgefühl beim Aufwachen. Denn in dem Traum war Hans am Leben und bei ihr gewesen.
Dieses Gefühl begleitete sie nun schon seit dem Aufstehen. Wie ein zartes Gespinst oder ein schützender Kokon umgab es sie. Aber da war ebenso eine große Wehmut. Denn Hans war tot. Er ruhte auf einem Friedhof am Rand eines italienischen Bergdorfes.
Erklang in der Kirche gedämpfte Orgelmusik, oder bildete sie sich das nur ein? Thea lauschte. Ja, tatsächlich, jemand spielte zu dieser frühen Stunde auf der Orgel, und hinter den Kirchenfenstern war ein schwacher Lichtschein zu sehen. Eigentlich hatte sie nur ein paar Minuten vor der Kirche innehalten wollen. Doch nun drückte sie versuchsweise auf die Klinke. Die Tür ließ sich öffnen, und Thea schlüpfte nach drinnen. In einer der hinteren Bänke ließ sie sich nieder.
Der Altar und das schlichte Kreuz dahinter waren auch in dem dämmrigen Licht gut zu erkennen. Dort hatten Hans und sie während der Trauung gekniet. Die Hochzeit war improvisiert gewesen, wie so viele während des Krieges, mit zwei zufällig vorbeikommenden Passanten von der Straße als ihre Trauzeugen und ohne Gäste. Aber in dem Moment, als sie sich die Ringe übergestreift und sich das Eheversprechen gegeben hatten, war das alles unwichtig gewesen. Nur Hans’ Lächeln, sein inniger Blick und die Hoffnung auf eine gemeinsame, glückliche Zukunft hatten gezählt.
Thea schloss die Augen. So viele Träume und Pläne hatten Hans und sie gehegt! Der schönste war der von einem kleinen Haus in einem Hamburger Vorort gewesen. Immer wieder hatten sie es sich beschrieben und ausgemalt. Es sollte grüne Fensterläden und ein weit heruntergezogenes Dach haben und Raum für Theas gynäkologische Praxis bieten. Ihre Kinder würden durch die Zimmer und den Garten toben. Und unter dem Dach oder in einem Schuppen würde Hans sein Atelier einrichten und dort malen und zeichnen und seinen Weg als Künstler weiterverfolgen. Aber der Krieg hatte dies durchkreuzt.
Hans, ihre große Liebe … Für ihn hatte sie mit dem Vater gebrochen und auf ein komfortables Leben als Tochter aus großbürgerlichem Hause verzichtet. Sie hatte es nie bereut.
Noch für einige Momente gab sich Thea den bitter-süßen Erinnerungen hin. Dann verschloss sie ihren Kummer in sich. Bei aller Wehmut und Trauer um den geliebten Mann wollte sie dem Schicksal gegenüber nicht undankbar sein. Schließlich war ihr ein Traum geblieben. Schon als kleines Mädchen hatte sie Ärztin werden wollen, und mit ihrer Prüfung zur Fachärztin für Gynäkologie in einem knappen Jahr würde er endgültig in Erfüllung gehen.
Thea blickte noch einmal zum Altar. »Danke, Hans, für deine Liebe«, flüsterte sie. Dann stand sie auf und verließ die Kirche.
Thea schritt schnell aus, und nach zehn Minuten hatte sie das Universitätsklinikum erreicht. Ihre melancholische Stimmung verflog endgültig. Welche Herausforderungen würde ihr dieser Tag wohl bringen? Gespannt sah sie ihrem Dienst entgegen.
Hinter dem Eingangsgebäude erstreckte sich das riesige, wie ein Park angelegte Krankenhausareal. Inmitten von ausgedehnten Rasenflächen standen die Backsteinhäuser, in denen die einzelnen Stationen untergebracht waren – links von der zentralen Straße die der Frauen, rechts die der Männer. Vor einem der »Pavillon« genannten Gebäude begegnete Thea einer Gruppe junger Schwestern und erwiderte freundlich ihren Gruß.
Fünf Jahre nach dem Ende des Krieges lagen einige Häuser immer noch in Trümmern. Doch die meisten waren wieder in Stand gesetzt und jetzt, kurz vor sechs Uhr morgens, hell erleuchtet. Krankenhausdiener schoben das Frühstück von der Küche auf Karren zu den einzelnen Stationen. In den Sälen füllten die Hilfsschwestern Malzkaffee und Tee aus großen Blechkannen in die Tassen, und die ersten Patienten wurden zum Operationshaus transportiert. Der Krankenhausalltag nahm seinen Lauf.
Seit einigen Wochen arbeitete Thea auf der Männerstation für Chirurgie. Wegen der vielen Kollegen, die aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrten, waren die Stellen für Assistenzärzte rar und gerade die für Chirurgie heiß begehrt. Deshalb war Thea froh, wenigstens eine bei den Männern ergattert zu haben, wenn sie schon keine auf der Frauenstation bekommen konnte. Denn sie wollte ihr allgemeines medizinisches Wissen unbedingt noch vertiefen.
»Frau Dr. Graven …«
Thea hatte den Eingang der chirurgischen Station fast erreicht, als sie ihren Namen rufen hörte. Sie blieb stehen und drehte sich um. Eine rundliche Frau in einem abgetragenen Mantel hastete auf sie zu. »Ach, Frau Dr. Graven, wären Sie vielleicht so nett und würden meinem Karl die Schneeglöckchen und die Wurstkonserve bringen?«, stieß sie atemlos hervor. »Ich schaff’s heute Nachmittag nicht, zur Besuchszeit zu kommen, ich hab keine Aushilfe für den Laden.«
»Das tue ich gern«, erwiderte Thea herzlich und nahm das Sträußchen und die Dose entgegen. Sie mochte Frau Hansen und deren Mann, der wegen eines komplizierten Beinbruchs auf der Station lag, wirklich sehr. Das Ehepaar betrieb im Stadtteil Moorburg einen Kolonialwarenladen, und trotz des weiten Wegs kam Frau Hansen ihren Gatten jeden Tag besuchen. Es berührte Thea, wie sehr die beiden aneinander hingen. Und Herr Hansen war immer freundlich und geduldig, obwohl er schon einige Operationen über sich hatte ergehen lassen müssen.
»Das ist sehr nett von Ihnen, Frau Doktor. Und sagen Sie meinem Karl bitte, dass im Laden alles in Ordnung ist. Und er soll genug essen und trinken. Seit er im Krankenhaus ist, hat er abgenommen.«
Dieser Meinung war Thea zwar nicht, aber sie versprach, auch das auszurichten. Dann verabschiedete sie sich.
»Guten Morgen, Frau Kollegin.« Dr. Julius Engelhardt, der Nachtdienst auf der Station gehabt hatte, war vor den Eingang getreten und zündete sich eine Zigarette an. »So so, Sie haben also einen Botendienst übernommen.«
»Ja, warum nicht?« Nach Theas Geschmack achtete der Kollege manchmal zu sehr auf seine ärztliche Würde. »Gab es irgendwelche besonderen Vorkommnisse heute Nacht?«
»Nein, nur das Übliche. Ein paar Patienten haben über Schmerzen nach der Operation geklagt. Ich hab ihnen die entsprechenden Medikamente gegeben und das jeweils im Patientenbogen vermerkt. Ein junger Mann hat sich erbrochen. War wahrscheinlich eine Folge der Narkose. Ansonsten verlief die Nacht ruhig und gesittet. Wobei ich natürlich nichts über die unkeuschen Träume einiger Patienten weiß.« Dr. Engelhardt grinste.
»Hauptsache, Sie waren nicht so tief in einem unkeuschen Traum versunken, dass Sie die Notfallklingel überhört hätten«, erwiderte Thea trocken.
»Jetzt seien Sie doch nicht immer so protestantisch prüde und pflichtbewusst!« Der Kollege stieß den Zigarettenrauch aus. »Aber vielleicht wollen Sie ja wenigstens die wichtige Neuigkeit hören?«
»Nein, eigentlich nicht.« Thea reichte es allmählich mit dem Geplänkel.
»Das wäre aber dumm von Ihnen.« Dr. Engelhardt machte eine Kunstpause und vollführte eine theatralische Geste. »Der Alte wird heute die Visite leiten. Das hat mir der Oberarzt vorhin mitgeteilt.«
»Oh, tatsächlich? Aber heute ist doch gar nicht Mittwoch?« Thea schreckte auf. Der Alte, Professor Dr. Friedrich Arnhem, war der Chefarzt der Chirurgie und eine Koryphäe. Seine wöchentliche Visite war immer ein Fegefeuer für die Assistenzärzte, denn er war äußerst penibel und duldete keine noch so kleine Nachlässigkeit.
»Na, dachte ich es mir doch, dass Sie das interessiert.« Dr. Engelhardt wirkte sehr zufrieden mit sich. »Der Professor hat ab Mitte der Woche wohl für ein paar Tage Urlaub genommen. Deshalb findet die Visite schon heute statt.«
Noch ein Grund mehr, die Zeit nicht mit Geplänkel zu vergeuden. Thea nickte dem Kollegen zu. »Dann bis zur Visite.« Sie eilte in das Arztzimmer.
Dort zog sie ihren Mantel aus und schlüpfte in den gestärkten weißen Kittel. Nachdem sie ihn zugeknöpft hatte, betrachtete sie sich prüfend im Spiegel. Aus ihrem straff zurückgekämmten und im Nacken zu einem Knoten gebundenen Haar löste sich keine Strähne. Dies, verbunden mit der dunklen, wuchtigen Hornbrille, verlieh ihrem ungeschminkten Gesicht eine gewisse geschlechtslose Strenge.
So war es gut. Während des Studiums und dann in den Jahren als Assistenzärztin hatte sie gelernt, ihre Weiblichkeit möglichst zu verbergen, denn obwohl Frauen das Medizinstudium in Deutschland nun schon seit über vierzig Jahren offenstand, galten sie bei den männlichen Kollegen und den vorgesetzten Ärzten immer noch oft als schwach, viel zu emotional und wenig belastbar. Das Opfer, unattraktiv zu sein, brachte sie gern für ihren Beruf. Und seit Hans, ihr geliebter Mann, nicht mehr am Leben war, war es ihr ohnehin gleichgültig, wie sie aussah.
Rasch las Thea die Patientenbogen durch, die auf dem Schreibtisch lagen. Dann – an der Tür, auf dem Weg zu den beiden Krankensälen, die sie betreute – kehrte sie noch einmal um. Sie hätte die Schneeglöckchen und die Konserve für Herrn Hansen fast vergessen.
In dem dreißig Betten zählenden Krankenhaussaal räumten die Hilfsschwestern das Frühstück ab und rissen den zu langsamen Kranken das Geschirr und das Besteck aus den Händen. Patienten mit ganz unterschiedlichen Krankheitsverläufen und Beschwerden lagen hier. So waren neben der Unfall- auch die Thorax- und die Viszeralchirurgie vertreten, also jene Gebiete der Chirurgie, die den Brust- und den Bauchraum betrafen.
Ehe Thea die Vor-Visite begann und sich reihum nach dem Befinden der Patienten erkundigte, ging sie schnell zu Herrn Hansen, dessen eingegipstes Bein hochgelagert war, und stellte die Konserve und die Schneeglöckchen in einem Glas mit Wasser auf seinen Nachttisch. »Herr Hansen, das hat mir Ihre Frau vorhin gegeben. Sie kann heute Nachmittag leider nicht zur Besuchszeit kommen. Herr Hansen …?« Thea stutzte. Der ältere Mann, der sie sonst immer freundlich und mit einem Scherz begrüßte, lag apathisch in seinen Kissen. Sein Gesicht war gerötet, als ob er Fieber hätte. »Herr Hansen, geht es Ihnen nicht gut?« Thea beugte sich zu ihm.
»Mit mir ist alles in Ordnung.« Er rang sich ein Lächeln ab. »Danke, dass Sie mir die Sachen gebracht haben, Frau Doktor.«
»Von wegen, alles in Ordnung, heute Nacht hat er zweimal gebrochen«, mischte sich der Patient aus dem Nachbarbett ein. »Ich konnt ihm gerade noch rechtzeitig ’ne Waschschüssel bringen. Sonst hätt er sich und das Bett vollgekotzt.«
»Das ist aber nicht in Ihrem Patientenbogen vermerkt, Herr Hansen.«
»Er hat mir verboten, dass ich ’ne Schwester oder den Arzt alarmiere«, bemerkte wieder Herrn Hansens Bettnachbar.
»Sei endlich still, Joseph!«, fuhr Herr Hansen ihn an. »Ich hab einfach den Kohl, den es zum Abendessen gab, nicht vertragen, das ist alles. Kein Grund, so ’nen Wirbel zu machen.«
»Lassen Sie mich mal Ihre Temperatur messen.« Zusammen mit einer Schwester half Thea Herrn Hansen aus der Schlafanzugjacke und schob ein Fieberthermometer unter seine Achsel. Als sie es gleich darauf kontrollierte, zeigte es 38,5 Grad an. Die Temperatur war zu hoch.
»Haben Sie Schmerzen in der Bauchgegend? Ist Ihnen übel?«, forschte Thea weiter nach.
»Nein, nein, wie ich schon sagte, mir geht es gut«, wehrte Herr Hansen ab.
»Zeigen Sie mir doch bitte mal Ihre Zunge.«
Herr Hansen seufzte und tat, wie ihm geheißen.
Die Zunge war belegt. Thea drückte auf einen bestimmten Punkt auf der Linie zwischen dem Bauchnabel und dem rechten Hüftkochen.
»Bereitet Ihnen das Schmerzen?«
»Nein, gar nicht.«
»Und das?« Sie strich fest über die Bauchdecke, den Windungen des Darms folgend.
»Auch nicht.«
Zwei wichtige Indikatoren für eine Blinddarmentzündung waren also negativ. Wenn da nur nicht die erhöhte Temperatur und die belegte Zunge gewesen wären … Thea ging mit sich zu Rate. Manchmal war bei älteren Patienten das Schmerzempfinden verringert. Sie wollte kein Risiko eingehen. Deshalb ließ sie die Vorhänge um das Bett zuziehen und drehte zusammen mit zwei Schwestern Herrn Hansen auf die Seite – wegen seines eingegipsten Beines kein ganz einfaches Unterfangen. Die Temperatur im Rektum betrug 39,5 Grad. Eine Differenz von einem Grad zwischen der Körpertemperatur unter der Achsel und im Rektum war unter Umständen doch ein Hinweis auf eine Appendizitis.
»Möglicherweise leiden Sie an einer akuten Blinddarmentzündung, Herr Hansen.« Thea fasste nach seinem Unterarm und suchte nach der Vene. »Ich möchte Ihnen jetzt Blut abnehmen. Eine Laboruntersuchung wird Klarheit bringen.«
»Also bitte, Frau Doktor, jetzt malen Sie mal nicht den Teufel an die Wand.« Etwas von Herrn Hansens guter Laune kehrte zurück. »Ein komplizierter Beinbruch und eine Blinddarmentzündung, das ist ja gewissermaßen ’ne Wahrscheinlichkeit wie ein Sechser im Lotto.«
»Wir werden sehen«, erwiderte Thea nur. Sie schickte eine Schwester mit dem entnommenen Blut zum Labor und trug ihr auf, sie solle auf eine schnelle Untersuchung drängen. Dann begann sie die eigentliche Vor-Visite. Gut drei Stunden blieben ihr noch, dann würde der Chefarzt Professor Dr. Arnhem auf der chirurgischen Station erscheinen.
Kurz vor zehn Uhr wartete Thea zusammen mit dem Oberarzt, dem Stationsarzt, ihrem Kollegen Dr. Engelhardt, drei weiteren Assistenzärzten, der Oberschwester und etlichen anderen Schwestern in der Eingangshalle der chirurgischen Station. Wie immer vor den Visiten des Chefarztes war sie nervös. Dr. Engelhardt ging es nicht anders, mochte er auch versuchen, noch so kühl und gelassen zu wirken. Ihn verriet, dass er noch einmal rasch in den Patientenbogen seiner beiden Krankensäle blätterte.
Um Punkt zehn Uhr fuhr der schwarze Maybach des Professors vor, und ein genau choreografierter Ablauf begann. Während der Chefarzt zum Portal schritt, öffnete eine Schwester die Eingangstür. Thea und der Kollege Engelhardt traten vor; ihnen oblag in diesem Monat die Aufgabe, den Professor zu empfangen. Thea nahm ihm den Regenschirm und die Aktentasche ab, Dr. Engelhardt half ihm aus dem Mantel. Alles wurde einer Schwester übergeben, die damit zum Büro des Chefarztes eilte. Die Oberschwester reichte Dr. Engelhardt einen weißen gestärkten Kittel, und er hielt ihn dem Professor hin, sodass dieser nur noch hineinschlüpfen musste.
Anfangs hatte Thea diese Rituale albern gefunden, aber mittlerweile nahm sie sie einfach hin. In Krankenhäusern waren die Hierarchien nun einmal sehr ausgeprägt.
»Frau Dr. Graven, Ihre beiden Säle zuerst«, wandte sich der Chefarzt ihr nun in militärisch knappem Ton zu. Er war ein großer hagerer Mann, der sich, obwohl schon Mitte siebzig, immer noch kerzengerade hielt. Buschige weiße Brauen lagen über seinen Augen, die immer sehr durchdringend und einschüchternd blickten.
»Jawohl, Herr Professor.« Thea atmete tief durch. Wenn ihre Patienten zuerst dran waren, hatte sie die Visite wenigstens bald hinter sich.
Beim Eintritt des Professors verstummten alle Gespräche in dem Krankensaal. Nur vereinzelt war noch ein Flüstern zu hören. Thea trat mit Professor Arnhem, den Kollegen und den Schwestern zu dem ersten Patienten, einem Mann um die dreißig, der vor einigen Tagen wegen eines offenen Magengeschwürs operiert worden war. Der Professor wollte alle Details seines derzeitigen Zustandes wissen, samt der genauen Medikation, des Stadiums der Wundheilung und den Blutwerten, und Thea war sehr froh, dass sie alle Fragen zu seiner Zufriedenheit beantworten konnte. So ging es weiter, von Bett zu Bett, von Krankem zu Krankem.
Thea fing sich zwei Rüffel ein. Einmal war Professor Arnhem mit ihrer Schmerzmitteldosierung bei einem Krebskranken nicht einverstanden, ein anderes Mal fand er es viel zu umständlich, wie sie ihm den Zustand eines Patienten beschrieb, dessen Lendenwirbel hatten versteift werden müssen.
Die Visite im ersten Krankensaal war etwa zur Hälfte bewältigt, als ein Mann in einem Laborkittel sich Thea näherte. »Verzeihung, sind Sie Frau Dr. Graven?«, fragte er.
Der Chefarzt fuhr herum. Offensichtlich war der Mitarbeiter noch neu und hatte keine Ahnung, dass der Professor während der Visite keine Störung wünschte. »Frau Dr. Graven, was soll das?«, fuhr der Professor sie denn auch gleich gereizt an.
»Verzeihung, Herr Professor, ich hatte vorhin die Laborwerte eines Patienten angefragt. Es besteht der Verdacht auf Appendizitis«, erwiderte Thea rasch.
»Und, wie lautet das Ergebnis der Blutuntersuchung?«
Thea studierte den Befund. »Die Zahl der Leukozyten ist stark erhöht«, sagte sie dann. »Ich würde zu einer möglichst baldigen Operation raten.«
»So, tatsächlich, das würden Sie also. Wer ist der Patient?«
O Gott, hoffentlich hatte sie sich mit ihrer Einschätzung nicht geirrt! Thea geleitete den Chefarzt zu Herrn Hansen. Auch Professor Arnhem stellte dem Mann die Fragen, die ihm Thea zuvor schon gestellt hatte, und tastete seinen Bauch ab. Dann nickte er und wandte sich an die Oberschwester. »Sorgen Sie dafür, dass der Patient für die Operation vorbereitet wird, ich führe sie selbst durch. Und Sie beide«, er sah Thea und Dr. Engelhardt an, »werden mir assistieren.«
Dem Chefarzt assistieren zu dürfen! Theas Anspannung wich einem Lächeln. Herr Hansen griff nach ihrer Hand und drückte sie. »Ich bin sehr froh, dass Sie bei der OP dabei sein werden, Frau Doktor«, flüsterte er ihr zu.
Wegen des großen Mangels an Ärzten hatte Thea schon während der letzten beiden Kriegsjahre, obwohl sie erst Medizinstudentin gewesen war, gelegentlich bei Operationen assistiert. Damals fanden diese häufig in den Kellern und unterirdischen Gängen des Krankenhauses statt. Wenn die Bomben niederfielen, ließen die Detonationen den OP-Tisch erzittern. Während sie jetzt auf das Operationsgebäude mit seinen riesigen Fenstern zulief, schien dies alles viel länger als ein paar Jahre zurückzuliegen, und sie war trotz ihres abgeschlossenen Medizinstudiums und ihres Doktortitels ein bisschen aufgeregt.
Die übliche Routine vor einer Operation half Thea, ihre Gelassenheit wiederzufinden. Sie bürstete sich gründlich die Fingernägel, wusch ihre Hände und Unterarme in der genau vorgeschriebenen Reihenfolge mit Lysol und ließ sich von den Schwestern in den sterilen Kittel kleiden und in die Gummihandschuhe helfen. Ein rascher Blick in den Spiegel – Mundschutz und Haube saßen korrekt. Dann ging sie in den Operationssaal. Ihr Kollege Dr. Engelhardt wartete dort schon in dem sterilen Bereich und nickte ihr zu.
Gleich darauf wurde Herr Hansen auf einer Liege in den OP gerollt, und der Anästhesist nahm neben den Überwachungsinstrumenten Platz. In der Narkose, den Leib mit sterilen Tüchern bedeckt, wirkte Herr Hansen irgendwie kleiner als sonst und sehr fragil. Nun öffneten sich die Türen wieder, und Professor Arnhem betrat den OP.
»Dr. Graven«, er wandte sich Thea und ihrem Kollegen zu, »Sie sind mein erster Assistent, Dr. Engelhard, Sie der zweite.«
Sie hatte die verantwortungsvollere Aufgabe übertragen bekommen. Wieder fühlte Thea eine Welle der Nervosität in sich aufsteigen. Die OP-Schwester reichte Professor Arnhem das Skalpell. Die ausgesparte Stelle zwischen den sterilen Tüchern schimmerte im Licht der Deckenlampen orangefarben von dem Desinfektionsmittel, und ein Strich markierte die Stelle des Eingriffs über dem entzündeten Blinddarm.
Professor Arnhem vollführte mit dem Skalpell den Bauchschnitt und arbeitete sich dann schnell und präzise in die tieferen Körperschichten vor. Dr. Engelhardt zog die Öffnung in der Bauchdecke mit den Klammern auseinander, und Thea saugte das Blut mit dem Sauger ab, darauf bedacht, dem Chefarzt nie die Sicht auf das Operationsfeld zu versperren. Der entzündete Wurmfortsatz des Blinddarms wurde sichtbar.
Die rechte Hand des Chefarztes mit dem Skalpell bewegte sich. Thea erwartete, dass er den Wurmfortsatz entfernen würde. Doch da erfasste plötzlich ein krampfartiges Zittern seine Hände. Das Skalpell zuckte unkontrolliert hin und her. Thea starrte noch auf die Klinge, konnte nicht fassen, was sie sah, als ein Schwall hellroten Blutes hochspritzte. Eine Schwester schrie auf. Das Skalpell hatte die Beckenaorta durchtrennt.
»Gefäßklemmen, schnell Gefäßklemmen!«, hörte sie Professor Arnhem schreien.
Der Bauchraum füllte sich mit Blut, als ob es das Absaugegerät gar nicht gäbe. Aber Thea hielt es doch in den Händen! Und es hatte keinen Defekt. Sie konnte spüren, wie es leicht vibrierte.
Professor Arnhem griff in den Bauchraum. Für einen Moment bekam er die Beckenaorta zu fassen. Dann entglitt sie seinen Fingern.
Wie von weit her ertönte ein schrilles Piepen, jemand rief: »Der Patient hat keinen Puls mehr!«
»Eine Bluttransfusion, ich brauche eine Bluttransfusion, los, beeilen Sie sich!« Wieder die Stimme des Professors.
Das Transfusionsgerät wurde herbeigeschoben. Endlich bekam der Professor die Beckenaorta zu greifen und konnte die Gefäßklemmen ansetzen. Eine OP-Schwester schob sterile Tücher in die Bauchhöhle, und Professor Arnhem stach mit der Kanüle in Herrn Hansens Armvene. Blut rann durch den Schlauch. Der Infusionsbeutel leerte sich. Doch das schrille Piepen ließ nicht nach.
Schließlich hörte Thea den Anästhesisten sagen: »Wir haben den Patienten verloren.«
Für einen Moment schwankte Professor Arnhem und fasste Halt suchend an den OP-Tisch. Dann richtete er sich auf und vollführte eine resignierte Geste. »Was für ein Jammer, dass der Patient an einem Aneurysma der Beckenaorta gelitten hat. Und wie tragisch, dass es während der Operation gerissen ist. Der bedauernswerte Mann. Aber jede OP, auch ein Routineeingriff, bedeutet nun einmal eine große Belastung für den menschlichen Körper.«
Hatte der Professor das wirklich gesagt? Thea konnte es nicht glauben. Der Anästhesist, Dr. Engelhardt und die Schwestern sahen betreten zu Boden. Auch sie selbst senkte jetzt entsetzt und beschämt den Blick. Nein, das war kein Zusammentreffen unglücklicher Umstände gewesen. Der Professor hatte die Beckenaorta versehentlich mit dem Skalpell durchtrennt und so Herrn Hansens Tod herbeigeführt.
Thea zog die Gummihandschuhe aus. Dann entledigte sie sich der Haube, des Mundschutzes und des OP-Kittels und warf alles in den dafür vorgesehenen Behälter aus Metall. Sie fühlte sich immer noch wie in Trance.
Ihr Kollege Dr. Engelhardt trat jetzt neben sie und legte die OP-Kleidung ebenfalls ab. Aus einem Nebenraum war das leise Klirren von Metall zu hören. Wahrscheinlich reinigten die Schwestern dort die Instrumente.
Seit sie und der Kollege den OP verlassen hatten, hatten sie noch kein Wort miteinander gesprochen. Ja, sie hatten sogar jeden Blickkontakt vermieden. Jetzt schluckte Thea und wandte sich Dr. Engelhardt zu. »Sie … Sie haben es doch auch gesehen. Dass der Patient, Herr Hansen, nicht an einem Aneurysma gelitten hat. Die Beckenaorta ist nicht gerissen. Professor Arnhem hat sie durchschnitten. Seine Hände haben gezittert. Die OP-Schwester hat es wahrscheinlich auch bemerkt. Sie stand ja neben uns.« Ihre Stimme brach.
Dr. Engelhardt lehnte sich gegen einen Metallschrank und wich immer noch Theas Blick aus. »Ja, ich habe es gesehen«, sagte er schließlich leise.
»Wir müssen den Vorfall der Klinikleitung melden.«
»Sind Sie verrückt? Das machen wir auf keinen Fall!«, fuhr er auf.
»Aber …« Thea legte die Hand auf die Brust, eine unbewusste Geste, um ihr wild pochendes Herz zu beruhigen, und schaute ihn entgeistert an.
»Niemand würde uns glauben, dass dem Alten ein solcher Fehler unterlaufen ist«, fiel der Kollege Thea brüsk ins Wort. »Außerdem … Professor Arnhem hat viele Menschenleben gerettet. Er hat es nicht verdient, dass durch einen einzigen Fehler ein Makel auf seine Karriere fällt. Wir beide – Sie und ich – werden wahrscheinlich auch einmal für den Tod eines Patienten verantwortlich sein. Und so furchtbar und bedauerlich das auch sein wird – in diesem Fall hoffe ich dass mir ein Kollege ebenfalls beisteht und mich nicht denunziert.«
»Aber dieses heftige Zittern der Hände? Was ist, wenn der Professor krank ist, wenn er vielleicht einen leichten Schlaganfall hatte und das bei einer anderen Operation wieder geschieht? Wir haben doch eine Verantwortung gegenüber den Patienten! Und wir müssen Professor Arnhem vor sich selbst schützen.« Noch immer klopfte Theas Herz wie wild, und ihr war übel.
»Der Professor würde doch eine Krankheit bei sich selbst als Erster diagnostizieren.« Dr. Engelhardt lachte spröde auf. »Nein, es war ein furchtbarer Fehler. Den wir beide schnell vergessen werden.« Damit ließ er Thea stehen und eilte davon.
Unglücklich und zweifelnd blieb sie zurück. Sie verstand seine Argumente ja. Aber dennoch waren sie nicht richtig.