Der Autor
Fedor Ruhose ist hauptberuflich Staatssekretär im Ministerium für Arbeit, Soziales, Transformation und Digitalisierung Rheinland-Pfalz. Er ist zudem Policy Fellow beim Berliner Think Tank »Das Progressive Zentrum«. Zwischen 2014 und 2021 arbeitete er als Geschäftsführer der SPD-Fraktion im Landtag Rheinland-Pfalz. Davor war der Diplom-Volkswirt in unterschiedlichen Funktionen im Leitungsstab der Ministerien für Wirtschaft, Verkehr, Landwirtschaft und Weinbau sowie für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Demografie des Landes Rheinland-Pfalz und auch schon einmal in der SPD-Fraktion im Landtag Rheinland-Pfalz als Geschäftsführer tätig.
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Umschlagabbildung: Blick in den leeren Plenarsaal des Deutschen Bundestags, Foto: picture alliance/dpa, Michael Kappeler.
1. Auflage 2022
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-041034-3
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-041035-0
epub: ISBN 978-3-17-041036-7
Für Rahel –
Danke, dass wir gemeinsam leben, was ich immer erträumte: Familie.
Für meine Kinder Noomi, Joscha und Leonid –
in der Hoffnung, dass ihr in einer starken demokratischen Gesellschaft groß werdet.
Für mich ist das Fegefeuer, wenn ich in die Fraktion muss.
(Konrad Adenauer)
Jede Bundestagsfraktion ist auch ein Kernelement im komplizierten Gewebe einer Partei.
(Hans-Peter Schwarz)
Einfache Dinge zu denken, wie zum Beispiel die Fraktion in einem modernen Parlament, ist gar nicht so einfach.
(Joachim Raschke)
Dieses Buch beschreibt den Maschinenraum der deutschen Politik. Denn dort arbeiten – abseits vom öffentlichen Interesse – die Abgeordneten an der Gestaltung der deutschen Politik. Oppositions- und Regierungsfraktionen tragen große Verantwortung für unser Zusammenleben. Ihr Wirkungskreis ist das Parlament, in dem es einem weitverbreiteten Mythos zum Trotz eben nicht nur um den öffentlichen Streit geht. Vielmehr sind Parlamente zusätzlich »Gesetzeswerkstatt und Kontrollinstanz« (Schäfer 2020: 2). Diese beiden wichtigen Funktionen übernehmen in unserem Parlamentarismus die sich freiwillig zu Fraktionen zusammenschließenden Abgeordneten. Doch wie kommt es zu den Ergebnissen oder der Kritik an der Regierung, über die Deutschland dann diskutiert und die in Wahlen als »gut« oder »schlecht« bewertet werden können?
Gebe es keine Zusammenschlüsse von Abgeordneten, man müsste sie wohl erfinden, um unserer parlamentarischen Demokratie eine funktionierende Arbeitsweise zu geben. Denn Fraktionen geben Abläufe, Struktur, sortieren politische Debatten vor und tragen zur politischen Meinungsbildung bei. Ein Blick in die Geschichte des deutschen Parlamentarismus weist der Möglichkeit der Bildung von Fraktionen ein klar emanzipatorisches Moment unserer Demokratisierung zu. Dennoch sind die Fraktionen »sowohl in der Parteien- als auch in der Parlamentsforschung vielfach zu kurz gekommen« (von Beyme 2000: 167).
In seinen Erinnerungen gibt Wolfgang Schäuble seine Abschiedsrede als Fraktionsvorsitzender am 22. Februar 2000 wieder. Für ihn sei die Fraktion immer »eine besonders schöne politische Führungsaufgabe« (Schäuble 2000: 278) gewesen. Gleichzeitig beschreibt er die Fraktion im Allgemeinen als »das schwierigste aller Gremien, dass ich jemals zu leiten gehabt hatte« (ebd.). Einig sind sich auch die Beobachter der Berliner Politik, »daß es kompliziertere psychologische Gruppenbildungen kaum gibt« (Hofmann 1994: 325). Auch wenn Fraktionen oftmals ein »Schattendasein« (ebd.) führen, gilt, dass sie einer der zentralsten Akteure unseres politischen Systems sind.
Sind die »Parteien im Parlament« normalerweise »Stiefkinder« (Schüttemeyer 1997) der Politikwissenschaften, so haben in jüngster Zeit insbesondere Vorgänge in den Landesparlamenten, wie beispielsweise um die Wahl des FDP-Politikers Kemmerich zum Kurzzeit-Ministerpräsidenten von Thüringen, die Diskussionen um die Parlamentskontrolle im Verlauf der Corona-Pandemie und die Weigerung der CDU-Landtagsfraktion in Sachsen-Anhalt, den Rundfunkbeitrag zu erhöhen, den Scheinwerfer wieder auf die Rolle der Parlamentsfraktionen in unserem politischen System gelegt. Das Zustandekommen der Ampel-Koalition auf Bundesebene hat den Blick ebenfalls auf »die wahren Machtzentren« dieser Konstellation gerichtet (Doll et al. 2021b). Fraktionen sind einer der wichtigsten und gleichzeitig unbekanntesten »Machtfaktoren« (Schwarz 2009) der Politik. Wichtige Politikerinnen und Politiker bekleideten Ämter in der Fraktionsführung – Kohl, Schmidt und Merkel waren vor ihrer Kanzlerschaft auch Fraktionsvorsitzende ihrer Bundestagsfraktionen und viele Ministerpräsidenten waren vor ihrer Amtszeit ebenfalls Vorsitzende ihrer Landtagsfraktionen.
Der ehemalige Bundestagsfraktionschef der SPD, Peter Struck, formulierte den Anspruch seiner regierungstragenden Fraktion im »Struckschen Gesetz«: Kein Gesetz verlasse das Parlament in der Form, in der es zum ersten Mal beraten wurde (Bicher 2018). Meinel (2019: 169) weist darauf hin, dass man eines Tages erfahren werde, »[w]ie weit zum Beispiel Angela Merkels Kehrtwende in der Flüchtlingspolitik im Verlauf des Jahres 2016 auch aus der CDU/CSU-Bundestagsfraktion heraus erzwungen wurde«. Die Fraktionen wissen um ihre besondere Position als wichtige Machtzentralen in unserer parlamentarischen Demokratie.
»Als die Grünen sich 1998 in Bonn von einer Oppositions- in eine Regierungsfraktion wandelten, nahm Peter Struck, damals Fraktionschef der SPD, seinen grünen Amtskollegen Rezzo Schlauch zur Seite: ›Du weißt schon, dass du jetzt der zweitwichtigste Mann in Bonn bist?‹, so Struck. Für den wichtigsten Mann hielt Struck sich selbst.« (Doll et al. 2021 b: 5).
Fraktionen verrichten ihre Arbeit im Maschinenraum der Politik. Zwar geht es im Parlament natürlich um die große Rede und die großen Linien in der Politik. Es wird aber sehr schnell konkret und fassbar, wie Politik »wirklich« funktioniert, wenn man sich mit dem Alltag der Fraktionen befasst: Wie sind sie aufgebaut? Durch welche Arbeitsweise zeichnen sie sich aus?
In diesem Buch soll die Rolle von Fraktionen im parlamentarischen System vorgestellt werden. Das geschieht in zwei Teilen, die sich an den genannten Fragen orientieren: Im ersten Teil werden die juristischen und formalen Grundlagen für die Bildung und die Arbeit einer Fraktion dargestellt. Dabei wird auch das Spannungsfeld zwischen den Rechten der freigewählten Abgeordneten und ihrem Zusammenschluss zu einer schlagkräftigen Einheit, der Fraktion, beleuchtet. Der zweite Teil wirft einen Blick auf die vielfältigen konkreten Arbeitsfelder der Fraktionen im parlamentarischen Alltag und stellt dar, wie politische Meinungsbildung und Entscheidungsprozesse in der Praxis ablaufen.
Die Intention dieses Buches folgt der Einschätzung von Raschke zur Rolle der Fraktionen:
»Was heute wie ein bloßes technisches Hilfsmittel aussieht, ohne das man ein Parlament nicht betreiben kann, ist eine höchst voraussetzungsvolle Institution, die sich historisch gesehen keineswegs von selbst verstand und zu der es Alternativen gab.« (Raschke 2020: 437)
Historisch hat sich die Fraktion als die entscheidende Form der Koordination der Abgeordneten durchgesetzt. Dieses Buch ist aber keine historische Ausarbeitung zum Parlamentarismus. Es ist auch keine rein juristische Darstellung über Recht und Rechtsstellung der Fraktionen, sondern bezieht die politische Dimension mit ein. Dabei geht es um Fragen, wie Fraktionen politisch wirken, wie sie »ticken« und warum sie einen großen Einfluss auf die Politikgestaltung haben, obwohl ihre Vorsitzenden oder die Abgeordneten nur selten große mediale Wirkung entfalten. In diesem kurzen Lehrbuch sollen Fraktionen als besondere Machtfaktoren deutscher Politik dargestellt werden.
Natürlich gibt es Unterschiede zwischen den Fraktionen. Gerade, wie sie ihre Arbeit organisieren, unterscheidet sich oftmals sehr deutlich und es gibt keinen »verbindliche(n) Bauplan« (Schäfer 2020: 2) für Fraktionsarbeit. Aber es gibt eine Reihe von allgemeinen Entwicklungen, die, schematisch dargestellt, helfen können, die Arbeit innerhalb des politischen Systems und innerhalb der so zentralen 1. Gewalt, der Legislativen, zu verstehen. Dabei werden politikwissenschaftliche Überlegungen mit Beobachtungen aus dem parlamentarischen Alltag verbunden. Dieser Blick erscheint angebracht, da sich in der »komplexen Republik« (Höreth 2016) aufgrund des Wandels des Parteiensystems immer mehr lagerübergreifende Regierungskoalitionen herausbilden und diese der Koordination der Fraktionen eine noch größere Bedeutung verleihen. Gleichzeitig verändern sich dadurch auch die Anforderungen an die Oppositionsfraktionen.
In der politikwissenschaftlichen Literatur ist das letzte einführende Werk über die Parlamentsfraktionen von 1992 (Kretschmer 1992). Seitdem hat sich einiges getan. Zwar gibt es grundlegende wissenschaftliche Werke über die Arbeitsweise der Fraktionen (Schüttemeyer 1997, Krahnenpohl 1999) und kurze Darstellungen im Rahmen der Einführungen in das politische System. Auch gibt es umfassende Dissertationen zu dem Thema, die zeitlich im Umfeld der Konkretisierungen des Abgeordnetengesetzes Mitte der Neunziger Jahre entstanden sind. Allerdings stellt keine Monografie auf eine kurze und allgemeinverständliche Darstellung von Bedeutung, Arbeitsweise und Wandel der Aufgaben von Parlamentsfraktionen ab. Zu erwähnen sind aber die lesenswerten Blog-Beiträge von Jan-Philipp Roth (2013 a, 2013 b, 2013 c) auf dem Spreepublik-Blog, die sich sehr anschaulich mit dem Maschinenraum Fraktion befassen. Kurz gesagt: Nahezu jedes juristische Problem mit Blick auf die Fraktionen ist umfassend analysiert worden, die politische Bedeutung von Fraktionen ist jedoch selten Gegenstand der Analyse und wissenschaftlichen Darstellung. Dieses Buch soll helfen, diese Lücke etwas kleiner zu machen.
Der Autor war selbst viele Jahre als Fraktionsgeschäftsführer tätig. Er war und ist somit auch in den hier skizzierten Kontroversen eine beteiligte Partei und vertritt Interessen. Versucht wurde dennoch (und es gelang hoffentlich), neutral die Konfliktlinien darzustellen. Denn sie sind wichtig und es ist richtig, dass es darüber den öffentlichen Streit gibt. Wie sich die Mittelverwendung der Landtagsfraktion darstellt, für die der Autor Mitverantwortung getragen hat, kann transparent in den entsprechenden Drucksachen des Landtags nachgelesen werden. Der aktuelle Prüfbericht des Rechnungshofs für die Zeit seiner Arbeit in der Fraktion ist mit allem Lob und Tadel unter der Drucksache 17/13403 des Landtags Rheinland-Pfalz abrufbar.
Dieses Buch lebt von den vielen gemeinsamen Fraktionserlebnissen mit Alexander Schweitzer und Martin Haller, der großartigen SPD-Landtagsfraktion Rheinland-Pfalz und »meinem« Team in der Geschäftsstelle. Es lebt von dem Wissen und dem freundschaftlichen Austausch mit erfahrenen Akteuren im Parlamentsbetrieb wie Volker Perne, Uschi Molka, Lars Brocker und meinem »parlamentarischen Lehrmeister«, Carsten Pörksen. Dazu gehören ebenso der Dialog mit den Koalitions- und Oppositionsfraktionen sowie meinen ehemaligen Kolleginnen und Kollegen im Bundestag und den Landtagen. Alle Fehler und Ungenauigkeiten in diesem Buch liegen selbstverständlich ausschließlich in meiner Verantwortung.
Dieses Buch wagt einen Blick in den Politikalltag Deutschlands. Damit aber die Grundlagen klar sind, wird in diesem Kapitel ein Überblick über die notwendigen juristischen Begriffe und Diskussionen gegeben. Anders als in anderen Arbeiten, die nur die Bezeichnungen des Abgeordnetengesetzes oder der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts wiedergeben (Kretschmer 1992: 13 f.), wird hier zu Beginn der Einführung eine Definition des Begriffs Fraktion vorgenommen.
Fraktionen werden im Grundgesetz nur an einer Stelle erwähnt, die sich zudem nicht einmal mit ihnen als Organisation oder ihren Grundlegungen im Allgemeinen befasst. Die Verfassungsmütter und -väter haben somit keine Aussage über Existenz, Bildung und Berücksichtigung von Fraktionen in unserem politischen System getroffen. Fraktionen spielen in der Geschichte des deutschen Parlamentarismus seit jeher eine große Rolle (Hagelstein 1992). Es bleibt daher nur zu vermuten, dass diese Nennung (Art. 53a GG) – auch erst 1968 in das Grundgesetz eingefügt – einfach darauf hin deutet, dass Fraktionen schlicht vorausgesetzt werden. In der Praxis bedeutet dies, dass viele Rechts- und Organisationsfragen von der Stellung der frei gewählten Abgeordneten abgeleitet werden, die im Grundgesetz festgeschrieben und konkretisiert ist (Art. 38 GG), und von der engen Verbindung zu ihren Parteien, denen ebenfalls im Grundgesetz breiter Raum gewährt wird (Art. 21 GG). Die genaue Verortung füllt Bände von Literatur, konkret hat sich aber durchgesetzt, dass Fraktionen ihre Legitimation aus dem Recht von Abgeordneten ableiten, sich zusammenzuschließen. Daraus folgt unmittelbar die Definition einer Fraktion: Fraktionen im Parlament sind freiwillige Zusammenschlüsse koalitionswilliger Abgeordneter,1 die sich an einem gemeinsamen politischen Programm orientieren und eigene parlamentarische Rechte und Pflichten haben. Dieser Zusammenschluss wird geprägt und getragen von dem gemeinsamen Willen, über die Zeit der Wahlperiode ein gemeinsames politisches Programm umzusetzen und geschlossen im Parlament abzustimmen. Dadurch geben Fraktionen dem Parlament seine »politische Struktur«, wie es der ehemalige Direktor beim Deutschen Bundestag, Wolfgang Zeh, einmal ausgedrückt hat. Für die Praktikabilität der politischen Arbeit in einem Parlament – sei es nun auf kommunaler oder Landesebene und im Deutschen Bundestag – haben sich deswegen besondere herausgehobene Rechte für Fraktionen entwickelt. Deswegen werden sie in der Begründung des Abgeordnetengesetzes auch als die »wichtigsten politischen Gliederungen« des Bundestags bezeichnet (CDU/CSU-Fraktion / SPD-Fraktion / FDP-Fraktion 1993: 4).
Heute sind Parlamente ohne Fraktionen kaum arbeitsfähig. Auch in supranationalen Einrichtungen wie dem Europäischen Parlament finden sich die Abgeordneten nicht in Vereinigungen ihrer Herkunftsländer, sondern in politisch abgeleiteten Fraktionen wieder. Ein Blick in die aufregende Geschichte des Parlamentarismus zeichnet ihre Bedeutung nach.
Das erste frei gewählte Parlament in Deutschland, die Paulskirchenversammlung, hatte keine feste Sitzordnung. Die Abgeordneten saßen nach Regionen verteilt. Auch im Frühparlamentarismus in den Ländern kannte man keine politisch motivierten Zusammenschlüsse. Schon allein »die Angst der Fürsten vor unabhängigen Parlamenten, vor allem vor Parteigeist und Fraktionen« verhinderte so etwas wie parteiliche Zusammenschlüsse (Raschke 2020: 438). In die Vorläufer der Fraktionen, wie zum Beispiel die Badischen »Abteilungen« wurde man hineingelost (ebd.: 439). Zudem wirkten Parlamente natürlich entlang der Stände (Kramer 1968), die eine Zuordnung entlang politischer Interessen ebenfalls verhinderte. Die Rechte für die einzelnen Abgeordneten – unbegrenzte Redezeit und kein Quorum zur Einreichung von Anträgen – wurden formal hochgehalten. Sie dienten aber den Herrschenden vor allem dazu, dass es »keinen Anreiz zur Gruppenbildung« (Raschke 2020: 440) gab. Die Angst der Monarchen vor der Demokratie machte sich hier bemerkbar. Hier zeigt sich, wie wichtig auch beschränkende Regeln und Zusammenschlüsse sind, um Parlamente zu wirksamen Instrumenten werden zu lassen. »Fraktionen sind aus Widersprüchen, nicht aus einer geradlinigen Logik erwachsen« (ebd.: 443). Deswegen setzte sich der Gedanke der Fraktionsbildung am Ende durch und der Reichstag des Kaiserreichs war von Beginn an ein Fraktionenparlament (zum Wandel des politischen Systems in dieser Zeit vgl. Richter 2021).
»Ich hatte bald die Erfahrung gemacht, daß ein vereinzelt Stehender nicht nur ohne allen Einfluß, ohne Aussicht in eine Kommission zu kommen, und selbst fast vom Worte ausgeschlossen sei, sondern es nicht einmal erfahre, was vorgehe.« (Mohl 1902 zit. nach Raschke 2020: 464)
Durch die Erfordernisse, die eine moderne Politikgestaltung und -vermittlung mit sich bringt, haben die zu Fraktionen zusammengeschlossenen Abgeordneten immer größer werdende Fraktionsgeschäftsstellen, die bei der Planung, Gestaltung und Öffentlichkeitsarbeit von Politik zentral unterstützen. Ein Zusammenschluss mit anderen Abgeordneten ermöglicht es dem einzelnen Abgeordneten auch, sich zu fokussieren und so inhaltlich an Schwerpunkten orientiert zu arbeiten. Fraktionen sind somit auch Zusammenschlüsse von Fachpolitikern unterschiedlicher Bereiche, die sich gegenseitig entlang eines gemeinsamen politischen Programms unterstützen – eine Errungenschaft, die gerade durch die zunehmende Europäisierung der deutschen Politik noch einmal an Bedeutung gewonnen hat.
In der Geschäftsordnung des Bundestags (GOBT oder GO-BT), sozusagen der Arbeitsgrundlage unseres Parlaments, ist die Fraktion von Beginn an vorgesehen. Sie regelt neben den »Verkehrsregeln« im Parlament auch explizit die Fraktionsbefugnisse im Parlament. Hierzu gehören:
• Das Recht zur Benennung der Mitglieder des Ältestenrats und der Ausschüsse;
• Das Recht zur Einbringung von Vorlagen und Beantragung von Aktuellen Stunden.
Am Anfang steht die Absicht, eine Fraktion zu bilden. Der freiwillige Zusammenschluss von Abgeordneten zu einer Fraktion ist im Bundestag (und in den Landesparlamenten) dem Parlamentspräsidenten mitzuteilen. Wenn also am Abend des Wahltags die Balken des Wahlergebnisses nach oben gehen, folgt daraus nicht automatisch, dass sich die von den Parteien entsandten Abgeordneten in den jeweiligen Fraktionen im Bundestag wiederfinden. Der besondere Schutz des freien Mandats verbietet natürlich eine automatische Fraktionsbildung aller der gleichen Partei zugehörigen Abgeordneten. Daher erfolgt nach jeder Wahl die (erneute) Konstituierung der Fraktionen und die Identifikation ihrer (neuen) Mitglieder. Konkret kann eine Fraktion erst nach der Konstituierung des Parlaments entstehen, da Fraktionen – wie gesehen – »Gliederungen des Bundestags« sind. Behelfsmäßig kommen die Abgeordneten daher zwischen Wahltag und Konstituierung in sogenannten »Vorfraktionen« zusammen. Schon vorher im Bundestag vertretene Fraktionen treten bei einer Neukonstituierung die Rechtsnachfolge an. Die AfD-Fraktion nach der Bundestagswahl 2021 hat die Rechtsnachfolge der ersten Fraktion angetreten, die 2017 in den Bundestag einzog. Die FDP hingegen entschied sich 2017, nicht die Rechtsnachfolge der 2013 ausgeschiedenen Fraktion anzutreten.
Fraktionen können also nur aufgrund bestimmter Voraussetzungen gebildet werden. Die verfassungsrechtliche Stellung der Fraktionen ist abzuleiten aus dem freien Mandat, der Selbstorganisation und dem Recht der einzelnen Abgeordneten, sich mit anderen Abgeordneten zusammenzuschließen (vgl. zu diesem Spannungsfeld Demmler 1994). Fraktionen übernehmen und kollektivieren sozusagen die Abgeordnetenrechte für ihre Mitglieder. Neben dem freien Entschluss der Mitglieder ist eine Bedingung, dass alle »derselben Partei oder solchen Parteien angehören, die aufgrund gleichgerichteter politischer Ziele in keinem Land im Wettbewerb stehen« (§ 10 Abs. 1 S. 1 GOBT). Dies kann man unter der Bedingung der politischen Homogenität zusammenfassen. Davon leitet sich auch ab, dass es keine Doppelmitgliedschaften geben kann. Darüber hinaus muss der Zusammenschluss die Mindeststärke von »mindestens fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestags« erreichen (ebd.). Dies dient der Funktionsfähigkeit des Bundestags. In der GOBT gibt es sogar die Formulierung von ausschließlichen Fraktionsrechten. Mit der Bildung einer Fraktion schränken die Abgeordneten selbst ihre individuellen Rechte ein, um die Funktionsfähigkeit des Parlaments zu gewährleisten.
Die zentrale Rechtsgrundlage ist das Abgeordnetengesetz, welches in seinem elften Abschnitt die Regelungen für die Fraktion von deren Bildung bis zur Beendigung trifft. Im Jahr 1994 wurde dieser Teil als
Tab. 1: Übersicht über AbgG, Abschnitt 11: Fraktionen
Quelle: Eigene Darstellung nach AbgG, Abschnitt 11.
»Fraktionsgesetz« ins Abgeordnetengesetz aufgenommen. Er regelt vor allem die Rechtstellung der Fraktion in ihren Außenbeziehungen und ihre Finanzierung. Das Binnenrecht des Parlaments und damit der Fraktionen regeln weiterhin die GOBT und die einzelnen Geschäfts- oder Arbeitsordnungen der Fraktionen, die es gesondert zu bewerten gilt.
Fraktionen können auf viele Weisen beendet werden. Sollte der Wille zum Zusammenschluss nicht mehr bestehen, können sich Fraktionen innerhalb einer Wahlperiode auflösen oder es können so viele Mitglieder die Fraktion verlassen, dass sie nicht mehr die formale Hürde von 5 Prozent der Abgeordneten des Deutschen Bundestags erfüllt. Und natürlich hört sie auf zu existieren, wenn ihre Partei den Wiedereinzug in das Parlament bei der nächsten Wahl nicht schafft.
Die Rechtsnatur der Fraktionen ist dem Parlamentsrecht und damit dem öffentlichen Recht zuzuordnen (Stevens 2000: 149; Kürschner 1995: 74). Wichtig ist, dass Fraktionen rechtsfähig sind und somit am allgemeinen Rechtsverkehr teilnehmen. Außerdem können sie Verfassungsbeschwerde einlegen.