Buch
Die Goldenen Zwanziger, spektakuläre Modekollektionen und … Coco Chanel. Fanny hat genug von der altbackenen Mode im familieneigenen Imperium und will in Paris als Modeschöpferin durchstarten. Am Ende hat sie nur als Mannequin Erfolg, und auch dieser glitzernde Traum zerplatzt. 1946 kämpft Tochter Lisbeth im zerbombten Frankfurt ums nackte Überleben – und um das Modehaus ihrer Vorfahren. Erfindungsreich führt sie es in eine neue Zeit, zahlt dafür jedoch einen hohen Preis. 1971 ist Rieke die Liebe wichtiger als das Geschäft. Doch dann steht das Familienunternehmen vor dem Bankrott – und sie vor einer folgenschweren Entscheidung …
Autorin
Die große Leidenschaft von Julia Kröhn ist nicht nur das Erzählen von Geschichten, sondern auch die Beschäftigung mit der Geschichte: Die studierte Historikerin veröffentlichte – zum Teil auch unter Pseudonym – bislang über dreißig größtenteils historische Romane. Mit »Das Modehaus« wagt sie den Sprung vom Mittelalter ins 20. Jahrhundert – und hat dabei einen Heimvorteil: Seit 2001 lebt die gebürtige Österreicherin in Frankfurt am Main, dem Schauplatz des Romans.
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Julia Kröhn
DAS MODEHAUS
Töchter der Freiheit
Roman
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Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen
© 2019 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Margit von Cossart
Covergestaltung und -motiv: Johannes Wiebel | punchdesign,
unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com und Richard Jenkins Photography
KW · Herstellung: sam
Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München
ISBN 978-3-641-21963-5
V002
www.blanvalet.de
September 2000
Liebe Judy,
ich weiß nicht, ob es einen Begriff für das gibt, was wir füreinander sind. Freundinnen, Schwägerinnen oder Cousinen trifft es schon mal nicht. Vielleicht Schicksalsgenossinnen, aber das klingt pathetisch und zugleich so, als hätte das Schicksal uns besonders herausgefordert. In Wahrheit hat dieses Schicksal vor allem unsere Eltern geprüft, und deren Leben hat einen Schatten auf uns geworfen. Bis heute weiß ich nicht, wie dunkel dieser Schatten ist – ich bin mir nur sicher, dass auch in ihm etwas blühen kann.
Wie auch immer. Sie haben mich gebeten, Ihnen mehr von der großen Liebe meiner Mutter zu erzählen. Das will ich tun, aber wenn ich von ihrer Liebe berichten soll, muss ich von ihrem Leben sprechen, und wenn es um das Leben meiner Mutter geht, kann ich das meiner Großmutter ebenso wenig aussparen wie mein eigenes. Lassen Sie uns das Schicksal nicht mit einem Schatten werfenden Ungeheuer vergleichen, sondern lieber mit einem Kleid, dessen Fäden schon lange vor der Geburt meiner Mutter gesponnen wurden. Wobei man bei einem Kleid nie sicher sein kann, welche Naht als Erste angefertigt wurde, während es mir leichtfällt, den Augenblick zu bestimmen, in dem die Geschichte meiner Großmutter begann.
Meine Großmutter hieß Fanny, und als das Jahr 1900 anbrach, war sie bereits sechs Jahre alt. Dennoch behauptete sie später, dass der Anbruch des neuen Jahrhunderts in gewisser Weise ihre zweite Geburtsstunde gewesen sei. »Um ein Haar hätte mich das neue Jahrhundert nämlich getötet«, sagte sie oft.
Ich fand das merkwürdig. Ein Jahrhundert – ob nun ein neues und unschuldig reines oder eines, das aufgrund vieler Kriege frühzeitig ergraut ist – hat schließlich keine Hände, um jemanden zu erdrosseln, ihm ein Messer in die Brust zu rammen oder Gift einzuflößen. Doch wenn ich widersprach, zuckte Fanny nur mit den Schultern und blieb bei ihrer Wortwahl.
Jedenfalls war es am Silvesterabend 1899 das erste Mal, dass Fanny bis Mitternacht aufbleiben und bei den Frauen ihrer Familie sitzen durfte, die in Erwartung des Jahreswechsels immer das Gleiche taten: trinken und nähen. Das heißt, Fannys Großmutter Elise trank nur, sie nähte nicht. Sie behauptete, nicht mehr gut genug sehen zu können, um gleichmäßige Stiche zu machen. Allerdings war sie nicht zu blind, um aus Früchten und Kräutern Schnaps zu brennen. Zwölf Zutaten bedurfte es für ihr Spezialgebräu, Tausendgüldenkraut und Kirsche, Schafgarbe und ungeschwefelte Backpflaumen, Johanniskraut und Johannisbeeren – an die restlichen sechs konnte sich nach Elises Tod niemand mehr erinnern. Der Schnaps konnte auf jeden Fall Tote nicht nur wecken, er bewirkte, dass diese vor Schreck, wieder am Leben zu sein, sogar schluchzten und heulten. Von Toten wusste Fanny damals noch nichts, aber als sie sich einmal über ihr Glas beugte, schienen allein vom Geruch ihre Nasenhärchen zu versengen.
Fannys Mutter Hilde wiederum nähte eifrig – meist an einem Unterrock, denn sie trug stets mindesten sechs Unterröcke übereinander – , trank seit dem Tod von Fannys Vater jedoch keinen Schluck mehr. Hilde sagte, er sei ein guter Mann gewesen, Elise hingegen nannte ihn die »dumme Saufkrenke«, wobei sie durchaus Verständnis dafür zeigte, dass er manches Mal einen über den Durst getrunken hatte, dagegen nicht, dass er einmal im Vollrausch einen Becher Kali, eigentlich zum Färben von Kautschukmasse bestimmt, zu sich genommen hatte und ihm davon Kehle und Gesicht verätzt worden waren. »Was war es schwierig, ihn für die Beerdigung anständig herzurichten«, murmelte Hilde mehr als einmal. Es war das einzige Zugeständnis an seinen unrühmlichen Tod, ansonsten erwähnte sie die genauen Hintergründe nie.
Die Dritte im Bunde war Fannys Tante Alma, die in besagter Silvesternacht, statt zu nähen und zu trinken, ihrem neuesten Lieblingszeitvertreib nachging – der sogenannten Brandmalerei. Wie diese genau funktioniert, kann ich Ihnen, liebe Judy, nicht sagen. Jedenfalls war dafür ein Apparat mit Spiritusflamme, Gebläse und Gummischlauch erforderlich, mit dem man einen Stift bis zur Rotglut erhitzte. Mit diesem Stift wiederum wurden Arabesken, Landschaften und Figuren in Truhen, Schränke und Lederstühle eingebrannt – oder, wie an jenem Abend, das Wappen des Frauenvereins in den Deckel einer Holzkiste. Das Wappen bestand aus einem Kreuz, einem Lorbeerkranz und den Dornen einer Rose, doch nachdem Elise einen großen Schluck aus ihrem Schnapsglas genommen hatte, bemerkte sie trocken: »Deine Rose sieht wie ein Gänseblümchen aus. Und wenn Christus an diesem Kreuz gehangen hätte, wäre es zusammengekracht, ehe er seinen Geist hätte aushauchen können. Man stelle sich vor, wie der Holzbalken Maria Magdalena und die Gottesmutter erschlagen hätte.«
Hilde sog empört Luft ein, woraufhin sie prompt husten musste. Elise wiederum lachte, und dann hustete sie ebenfalls, sodass Hilde ihr auf den Rücken schlug.
»Lass mich nur husten, vielleicht habe ich Glück und ersticke.«
»Red keinen Unsinn!«
»Oder hau ein wenig fester zu, dann bersten womöglich meine Knochen.«
»Man muss für das Leben dankbar sein, ganz gleich, wie alt man ist«, sagte Hilde in demselben Tonfall, in dem sie Fanny immer befahl, ihren Grünkohl aufzuessen. »Bis zur Neige gilt es, den Krug zu leeren. So hat Gott es gewollt.«
»Na, einen Krug leeren, das kann ich«, erklärte Elise, hob ihr Glas und kippte dessen Inhalt in sich hinein.
Jetzt kam kein Husten mehr aus ihrem Mund, nur mehr ein Lallen. Hilde vermied es, noch einmal tief Luft zu holen, sondern rümpfte die Nase, woraufhin nun Alma schallend lachte.
»Ich verstehe nicht, warum ihr an einem Tag wie heute lachen könnt.« Hilde machte schnelle, zornige Stiche, mehrmals stieß die Nadel gegen ihren Fingerhut.
»Ein neues Jahrhundert beginnt«, rief Alma, »da kann man doch frohgemut sein.«
Hilde hielt kurz inne. »Hast du etwa vergessen, dass wir erst kürzlich unsere gute Cousine verloren haben?«
Fanny zuckte zusammen. Sie war vor dem Gestank der Spiritusflamme unter den Tisch geflohen und spielte dort mit dem Inhalt des Nähkastens ihrer Mutter. Die Fingerhüte benutzte sie als kleine Tassen für ihre Puppe, das Nadelkissen als Polster und das Nähgarn als Kette. Die Puppe war eigentlich nach der Kaiserin Auguste Victoria benannt worden, wurde aber von Elise als Schreckgespenst bezeichnet, seitdem sie eines ihrer Glasaugen verloren hatte. Aus unerfindlichem Grund war das merkwürdige Leinengebilde, das Hilde nachts um den Kopf trug, damit sie kein Doppelkinn bekam, ebenfalls in den Nähkasten geraten, und weil es zu groß für eine Augenbinde war, die aus dem Schreckgespenst eine Piratin gemacht hätte, beschloss Fanny, es als Puppenhängematte zu benutzen.
Jetzt war ihr Spiel jäh gestört worden, denn die tragische Geschichte ihrer Großcousine Martha machte ihr Angst und steckte außerdem voller Worte, die Fanny nicht verstand – zum Beispiel »Bordell« und »Verführer«. Zumindest bezeichnete Hilde den Mann, der Martha auf dem Gewissen hatte, stets als solchen. Alma sah das etwas anders. Sie und Hilde erzählten die Geschichte von Martha grundsätzlich in zwei Varianten, auch an jenem Abend.
»Sie war eine junge, abenteuerlustige Frau«, behauptete Alma.
»Sie war nicht mit dem ihr von Gott zugewiesenen Platz im Leben zufrieden«, tadelte Hilde.
»Sie hat von einem neuen Leben in Amerika geträumt«, konterte Alma.
»Wie kann man nur so dumm sein, in einem Land ohne Kaiser leben zu wollen«, schimpfte Hilde.
»Sie hat sich in einen Mann verliebt, der sie überredete, mit ihm auszuwandern«, fuhr Alma fort.
»Unsinn!«, rief Hilde. »Sie ist einem Mann auf den Leim gegangen, der aus ihren Träumen ihr Totentuch webte.«
Alma ließ den Spiritusbrenner sinken. »Seit wann bist du so poetisch?«
»Die Poesie ist nicht schuld daran, dass er sie nach Genua lockte und dort nicht auf ein Schiff brachte, nein, in eine finstere Hafenspelunke, die sich als Bordell herausstellte. Um dem schrecklichem Schicksal zu entgehen, das ihr drohte, ist sie aus dem Fenster gesprungen und hat sich beide Beine gebrochen.«
»Und daran ist sie gestorben?«, fragte Elise. Sie kannte die Geschichte zwar, hatte die Details aber wohl wieder vergessen.
Fanny lauschte zunächst wie erstarrt, dann kroch sie unter demTisch hervor und huschte zur Tür. Das Gerede von Amerika setzte ihr zwar nicht zu, umso mehr dagegen das von finsteren Spelunken. Als sie zum ersten Mal von den gebrochenen Beinen gehört hatte, hatte sie zwei Nächte lang schlecht geträumt. Und keinesfalls wollte sie ein weiteres Mal das Ende von Marthas Geschichte hören, die mit den gebrochenen Beinen in ein Krankenhaus eingeliefert worden und dort an Typhus gestorben war. Fanny wusste zwar nicht, ob man bei Typhus erst ein blaues und danach ein schwarzes Gesicht bekam, wie eine Freundin behauptet hatte, ob einem die Hände und Beine abstarben, was ein Dienstmädchen glaubte, oder ob man sich die Seele aus dem Leibe schiss, wie Großmutter Elise sich ausdrückte – eine schlimme Krankheit war es auf jeden Fall. Sie wollte weder sich selbst noch dem Schreckgespenst Einzelheiten zumuten.
Erst als sie schon aus dem Raum gehuscht war, fiel ihr ein, dass sie die Kinnbinde ihrer Mutter – oder vielmehr die Hängematte für die Puppe – unter dem Tisch vergessen hatte, und beschloss, das Schreckgespenst in einem selbst gebauten Bett schlafen zu lassen. Als Matratze wollte sie die Kokosfasern verwenden, mit denen die Schneiderpuppen im Geschäft ihrer Mutter Hilde ausgestopft waren. Eine dieser Schneiderpuppen befand sich gerade in deren Schlafzimmer, weil sie an der Seite aufgerissen war und ihre Mutter noch keine Zeit gefunden hatte, sie zu reparieren.
Fanny presste das Schreckgespenst an sich, betrat den unbeheizten Raum und blickte sich fröstelnd um. Da war das breite Himmelbett – auf jener Betthälfte, wo früher ihr Vater geschlafen hatte, lag jetzt ein Rosenkranz – , und da war eine Kommode, auf der ein Waschbecken aus Emaille und ein Zinnkrug standen. Erst am Morgen hatte sich Hilde wie immer am letzten Tag des Jahres darin ihre Haare gewaschen, indem sie diese mit zehn Eidottern und einem halben Glas Cognac eingeschäumt und danach ausgespült hatte.
Die Schneiderpuppe entdeckte Fanny jedenfalls nirgendwo. Sie wollte den Raum schon verlassen, als etwas anderes ihre Aufmerksamkeit auf sich zog: die Truhe aus dunklem, schwerem Eichenholz, deren mit Schnitzereien versehener Deckel überraschenderweise weit offen stand. Mutters heilige Stofftruhe. In der sich vielleicht etwas befand, aus dem sie dem Schreckgespenst zwar kein Bett bauen, aber ein Kleid nähen konnte.
Fanny trat näher, beugte sich über die Truhe und sah, dass sie leer war. Oder nicht ganz leer, auf dem Boden lag ein roter Seidenschal. Zumindest hätte sie schwören können, dass er rot war, obwohl das schummrige Licht vom Gang alles in Grautöne tauchte. Doch selbst wenn der Schal nicht rot gewesen wäre, weich war er auf jeden Fall und außerdem so breit, dass es für ein Ballkleid für das Schreckgespenst reichen würde.
Fanny beugte sich noch tiefer über die Truhe. Nicht dass sie sicher war, ob sie den Schal überhaupt nehmen und ein Puppenkleid daraus machen durfte. Allerdings bestärkte Elise sie gern darin, so gierig in den Apfel zu beißen, dass die Zähne gleich bis zum Kerngehäuse vordrangen. »Wenn du alles willst und das sofort, wirst du am Ende auch alles bekommen«, sagte sie stets.
Mit der einen Hand hielt sie die Puppe, die andere streckte sie nach dem Schal aus. Doch sie ertastete ihn nicht, denn sie war viel zu klein und die Truhe viel zu groß. Sie legte das Schreckgespenst aufs Bett – sicherheitshalber weit genug vom Rosenkranz entfernt – und beugte sich wieder vor, um den Schal mit nunmehr beiden Händen ergreifen zu können. Wieder kein Erfolg. Fanny atmete tief durch, stellte sich auf die Zehenspitzen, probierte es ein weiteres Mal – und dann ging alles ganz schnell: Kopfüber stürzte sie in die Truhe, konnte den Kopf zwar gerade noch zur Seite drehen, sodass sie nur mit der Schulter aufprallte, vernahm aber ein lautes Rums, als der Deckel zufiel. Und sogleich waren da keine Grautöne mehr zu sehen, nur ein Schwarz.
Kein gewöhnliches Schwarz, das von Sternen oder Gaslichtern durchlöchert wurde, ein tiefes, unendliches, erstickendes Schwarz. Ein Schwarz, in dem es kein Oben oder Unten mehr gab, keinen Anfang und kein Ende. Ein Schwarz, das sie ebenso verschluckte wie all ihre Wünsche und Sehnsüchte. Nur die Angst ließ es zurück, und diese Angst wuchs zur Panik. Fanny schrie, das Schwarz blieb. Sie tastete nach dem Truhendeckel, um ihn aufzustoßen, doch der war zu schwer. Sie legte sich auf den Rücken, trat mit beiden Füßen dagegen – auch so gelang es ihr nicht.
Sie holte wieder Luft, begann zu schreien, so laut dieses Mal, dass man sie im Wohnzimmer gewiss gehört hätte – vorausgesetzt, dass in diesem Augenblick nicht die Glocken von sämtlichen Kirchen Frankfurts begonnen hätten, das neue Jahrhundert einzuläuten.
»Hilfe! So helft mir doch!«, schrie sie, bekam aber keine Antwort.
Schon nach dem sechsten Glockenschlag schien die Luft knapp zu werden, beim achten wurde ihr schwindlig, beim zehnten sah sie Sternchen. Keine leuchtenden und hellen, nein, nur trostlose Löcher, die sich im Nichts ausbreiteten. Mit dem zwölften Schlag war Mitternacht erreicht, doch die Glocken verstummten nicht, sie begrüßten lautstark das neue Jahrhundert, während Fanny von ihrem Leben ganz leise Abschied nahm.
Das ist gar keine Stofftruhe, es ist ein Sarg, ging ihr durch den Kopf. Das Pochen ihres Herzens schmerzte, das Atmen schmerzte. Was, wenn die Luft nicht mehr reichte, wenn sie erstickte, ihr Kopf erst blau und sodann schwarz werden würde? Es war ja alles schwarz, selbst der Schal!
Der Schal!
Sie ließ die Hände sinken, ertastete den Stoff unter sich, so wunderbar weich und glatt. Eigentlich wollte sie gar kein Ballkleid für das Schreckgespenst daraus machen – Fanny wollte sich den Schal selbst um die Schultern legen und damit tanzen und Äpfel mitsamt ihren Kernen essen.
Der Gedanke daran gab ihr die unverhoffte Kraft, wieder mit beiden Füßen gegen den Deckel zu drücken, und dieses Mal gab er um ein Spaltbreit nach. Hastig steckte sie die Hand, die den roten Seidenschal fest umklammert hielt, hinein, presste das Gesicht an den Spalt, schrie wieder in der Hoffnung, gehört zu werden, steckte die zweite Hand in den Spalt und presste nun mit all der ihr verbliebenen Kraft den Kopf gegen den Deckel, und endlich gab er nach. Fanny glitt mit dem Oberkörper aus der Truhe, atmete begierig die kalte, frische Luft ein. Das einäugige Schreckgespenst starrte sie vom Bett aus an.
Als sie ins Wohnzimmer zurückkehrte, war ihr Gesicht bleich und mit roten Flecken übersät, aber die Frauen bemerkten es nicht. Sie bemerkten auch nicht, dass sie sich einen roten Schal um die Schultern geschlungen hatte. Nachdem das Neujahrsgeläut verklungen war, stritten sie schon wieder oder immer noch über Martha.
»Das eigene Leben ist ein zu hoher Preis für die Ehre«, sagte Alma eben nüchtern.
»Unsere Cousine sehnte sich nun mal nach der Liebe und war bitter enttäuscht, dass sie betrogen wurde«, erklärte Hilde und verdrückte ein Tränchen. Ob über die Cousine oder im Gedenken an die dumme Saufkrenke, das wusste Fanny nicht. Fasziniert beobachtete sie, wie ihre Mutter sich das Tränchen mit dem Fingerhut von der Wange wischte.
»Von wegen«, sagte Alma. »Martha sehnte sich nach Freiheit.«
»Nun ja«, mischte sich Großmutter Elise ein und schenkte sich nach, »eins von beiden kann man haben, ohne dass man sich Magen und Seele verrenkt. Doch sowohl Liebe als auch Freiheit zu erlangen – das ist eine unmögliche Kunst.«
Fanny verkroch sich erneut unter dem Tisch und hustete leise. Mit dem Wort Liebe konnte sie wenig anfangen, Freiheit zu erlangen fühlte sich dagegen wohl genauso an, wie einer finsteren Truhe entkommen zu sein.
»Schenk mir was ein«, forderte Alma ihre Mutter auf, und nachdem sie einen Schluck Schnaps genommen hatte, erklärte sie: »Selbst wenn die Sehnsucht nach Liebe und Freiheit einen ins Unglück stürzt, sollte man dabei wenigstens ein schönes Kleid tragen.«
Oder einen schönen Schal, fügte Fanny in Gedanken hinzu.
So also, liebe Judy, beginnt die Geschichte, die Fannys Geschichte ist, und weil sie sich so entscheidend auf uns auswirkte, auch die meiner Mutter und meine.
Ich denke, für Fanny war die Freiheit stets wichtiger als die Liebe. Meine Mutter wiederum hat nicht immer die Freiheit gehabt, ihre Liebe zu leben. Und ich versuchte mich in jener unmöglichen Kunst, beides zu erlangen. Nur in einer Hinsicht glichen wir drei Frauen uns: Ob wir bekamen, was wir wollten, oder etwa verloren, was wir uns gar nicht gewünscht hatten, ob unser Herz gebrochen oder wieder heil wurde, oder ob wir uns den Kopf an sichtbaren oder unsichtbaren Truhendeckeln anstießen – wir wollten dabei immer gut gekleidet sein …