Eine aufrüttelnde Reise ins Herz der deutschen Finsternis
Amalia, Josef, Gero und Bodo, Freunde seit Kindheitstagen, haben sich zu einer sommerlichen Kanutour verabredet. Kaum sind sie an ihrem Ausflugsziel angekommen, verdichten sich die Anzeichen, dass sie hier nicht willkommen sind. Vor allem Josef, der schwarz ist, bekommt die Ablehnung von Menschen zu spüren, die aus Prinzip gegen alles fremd Aussehende sind. Doch soll man sich von ein paar ewiggestrigen Provinzlern einschüchtern lassen? Klein beigeben? – Amalia, Josef, Gero und Bodo entscheiden sich dafür, zu bleiben, und ab da gibt es kein Zurück mehr. Jeder Schritt weiter ist einer auf den Abgrund zu. Alle ahnen, dass dieser Ausflug kein gutes Ende nehmen wird. Doch keiner will es wahrhaben. Schon bald geht es nicht mehr um ein sommerliches Abenteuer, sondern nur noch darum, mit heiler Haut davonzukommen.
Dirk Kurbjuweit, geboren 1962 in Wiesbaden, zählt zu den vielseitigsten und produktivsten Autoren unserer Gegenwart. Als Zeit- und Spiegel-Reporter einer breiten Leserschaft bekannt, überzeugte er schon früh als Erzähler. Nach dem Debüt »Die Einsamkeit der Krokodile« (1995) wurden besonders die Novelle »Zweier ohne« (2001) und der Roman »Angst« (2013) von der Kritik gefeiert. Etliche seiner literarischen Erfolge dienten als Vorlage für Verfilmungen, Theaterstücke und Hörspiele.
»Solche Romane braucht das Land.« FAZ über »Angst«
»›Angst‹ zeigt eindringlich, wie dünn und wenig belastbar die Haut der Zivilisation in Wahrheit doch ist.« Der Tagesspiegel
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DIRK KURBJUWEIT
DER AUSFLUG
ROMAN
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in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
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Umschlaggestaltung: Sabine Kwauka
Satz: Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-27087-2
V002
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I
Als sie die Autobahn verließen, sagte Josef, wer als Erster einen Storch sehe, müsse sein Abendessen nicht bezahlen.
»Es gibt keine Störche mehr«, sagte Bodo.
»Hier schon«, sagte Amalia und ärgerte sich über ihren Ton. Die Schwester, die den kleinen Bruder belehrt. Das wollte sie längst nicht mehr sein.
»Warum hier schon?«, fragte Bodo, ohne Protest in der Stimme.
Er war schläfrig, da konnte er offenbar kleiner Bruder sein, dachte sie. »Oberschwester«, schob er nach, lächelte sie an.
»Weil sie hier ihre Ruhe haben«, sagte Gero. »Hier war nie was, hier ist nichts, und hier wird nie etwas sein.«
»Warum sind wir dann hier?«, fragte Bodo.
»Deshalb«, sagte Gero.
Weite Felder, gelb glänzend, von der tief stehenden Sonne mit Lack überzogen. In der Ferne ein Höhenzug, der kahl zu sein schien und bläulich schimmerte. Ein Mähdrescher kroch in einer Wolke aus Staub. Am Straßenrand wartete ein Traktor mit zwei leeren Anhängern. Der Fahrer schlief zusammengefaltet auf dem Sitz. Ein Raubvogel kreiste.
Josef drehte abrupt am Lenkrad, um einem Schlagloch auszuweichen, der Wagen brach nach rechts aus, Josef lenkte gegen, zu ruppig, der Wagen schlingerte, krachte in das nächste Schlagloch. Ein Klirren.
»Pass doch auf.«
»Sorry.«
Der Geruch von Alkohol breitete sich im Auto aus, einem neuen BMW, der bis zu diesem Moment nach seinen Ledersitzen gerochen hatte.
»Eine der Flaschen ist zerbrochen«, sagte Amalia und schaute in die Tasche, die zu ihren Füßen stand.
»Warum mussten wir auch Rotwein mitnehmen?«, fragte Gero.
»Weil wir hier keinen ordentlichen bekommen«, sagte Amalia.
»Nur Gülle«, ergänzte Bodo.
Sie beugte sich über die Tasche und zog die größeren Scherben raus.
»Mach das doch, wenn wir dort sind«, sagte ihr Bruder.
»Damit uns das Glas die Tüte zerschneidet und die Äpfel zermatscht?«
»Gibt’s hier etwa auch keine ordentlichen Äpfel?«
Amalia schnaubte und zog weiter Scherben aus der Tasche.
Der BMW rollte durch ein Dorf, kleine, niedrige Häuser, die dringend einen Anstrich brauchten, Rost am Schmiedeeisen, das die Grundstücke begrenzte, gepflegte Gärten, angegraute Gardinen. Auf der Straße war niemand.
»Ein Storch«, sagte Bodo.
»Wo?«
Alle sahen aus den Fenstern.
»Rechts oben«, sagte Bodo.
Auf einem der Dächer stand ein Storch in seinem Nest. »Wow«, sagte Josef und übersah das nächste Schlagloch, der BMW setzte scheppernd auf.
»Aua!«, schrie Amalia.
»Sorry.«
»Ich habe mich an der Scheißscherbe geschnitten.« Sie lutschte am Ballen ihrer rechten Hand, trotzdem tropfte Blut auf ihr Sommerkleid.
»Zeig mal«, sagte Bodo.
Sie reichte ihm ihre Hand, ein langer, tiefer Schnitt, viel Blut.
Bodo zog sein T-Shirt aus und wickelte es um Amalias Hand.
»Hast du einen Verbandskasten?«, fragte er Josef.
»Ich bin Apotheker, Mann«, sagte Josef.
Er lenkte den BMW vor eine Toreinfahrt und hielt. Die drei Männer stiegen aus, Amalia blieb sitzen. Bodo öffnete ihre Tür links hinten, kniete sich neben die Schwelle.
»Bist du okay?«, fragte er.
»Es tut weh«, sagte Amalia, »es tut verdammt weh. Und wie soll ich mit der Hand paddeln?«
Josef holte den Verbandskasten aus dem Kofferraum. Bodo wollte ihn nehmen, aber das ließ Josef nicht zu. Er kniete sich neben Bodo und nahm Amalias Hand, untersuchte die Wunde.
»Fabian wäre das nicht passiert«, sagte er.
»Was?«, fragte sie erschrocken.
»Er wäre nicht zwei Mal in ein Schlagloch gekracht.«
»Hör auf.«
Schweigend verband er ihre Hand, sah Amalia nicht an. Sie schaute auf seinen Schädel, den er sich kahl rasiert hatte. Sie dachte an das dichte, wollige Haar von früher und wollte ihre Hand auf seinen Kopf legen, um den Unterschied zu spüren, zuckte zurück.
»Mir wäre wohler, wir würden die Wunde klammern«, sagte er. »Wollen wir zu einem Arzt fahren?«
»Auf keinen Fall, hier gehe ich nicht zu einem Arzt.«
»Hier gibt es gar keinen Arzt«, sagte Gero.
»Es tut mir so leid«, sagte Josef.
»Nicht deine Schuld«, sagte Bodo, »es war der Storch.«
Das Dorf lag still in der Sommersonne. Ein alter Mann fuhr mit einem klapprigen Fahrrad die Straße entlang. Im Anhänger lag ein totes Ferkel. Der Alte starrte sie an, Gero winkte. Keine Reaktion. Eine Gardine bewegte sich, der Storch stand reglos auf dem Dach, ein Bein angewinkelt.
Bodo stellte sich in die Mitte der Straße, beugte den Oberkörper zurück, stieß den linken Arm vor, machte eine Faust, als würde er einen Bogen umklammern, legte den Daumen und zwei Finger der rechten Hand aneinander, als hielte er das Ende eines Pfeils, führte die beiden Hände zusammen, zog dann langsam den rechten Arm zurück, als spannte er den Bogen, visierte den Storch an, sehr lange, korrigierte, blinzelte, korrigierte noch einmal.
»Schieß endlich«, sagte Gero, der am BMW lehnte und rauchte.
Bodo tat, als ließe er den Pfeil los und sähe ihm gespannt nach. »Getroffen.« Er ballte eine Faust.
»Störche stehen unter Naturschutz«, sagte Gero.
»Das war ein Pfeil mit einer Gummispitze.«
»Dein Glück.«
»Andererseits: Der Storch ist ein Scheißnazivogel.«
»Warum ein Nazivogel?«, fragte Gero.
»Rote Beine, roter Schnabel, schwarze und weiße Federn, die Farben der Hakenkreuzfahne.«
»Und der Fahne des Kaiserreichs«, sagte Amalia.
»Du weißt mal wieder Bescheid«, sagte Bodo.
»Meine Hand pocht wie ein Hammerwerk«, sagte Amalia. »Ausgeschlossen, dass ich damit paddeln kann.«
»Die Wunde ist nicht da, wo du das Paddel hältst«, sagte Josef. »Es wird schon gehen.«
Der alte Mann kam zurück, der Anhänger war leer. Bodo postierte sich am Straßenrand und verbeugte sich schwungvoll. Der Alte nahm das aus den Augenwinkeln wahr, reagierte aber nicht. Josef verstaute den Verbandskasten im Kofferraum, die drei Männer stiegen ein. Sie fuhren weiter, parallel zu dem bläulichen Höhenzug.
Die Dörfer, die sie passierten, sahen mehr oder weniger gleich aus, eine Reihe kleiner Häuser links und rechts der Straße, dahinter eine zweite oder dritte Reihe, ein Gasthof, manchmal verlassen, manchmal nicht, geduckte Kirchen mit niedrigen, plumpen Türmen.
Es dämmerte. Plötzlich lag Nebel über den Feldern, weiße Flecken, dicht über dem Boden. Bodo begann leise zu singen:
»Auf unsrer Wiese gehet was, watet durch die Sümpfe,
Es hat ein schwarz-weiß Röcklein an und trägt rote Strümpfe,
Fängt die Frösche, schnapp, schnapp, schnapp,
Klappert lustig klapperdiklapp –
Wer kann das erraten?«
Er begann noch einmal, die anderen stimmten lachend ein, ahmten den klappernden Schnabel mit den Armen nach. Josef hupte dazu.
II
Es dämmerte, als sie vor dem Gasthof hielten, in dem sie Zimmer gebucht hatten. Er stand einsam an der Straße, umgeben von Bäumen, ein längliches Haus, zwei Stockwerke, ein spitzer Giebel in der Mitte. Blätternde Fassade, gelbliche Gardinen. Trunkenes Gejohle drang bis zum Parkplatz, der nahezu voll besetzt war.
»Feiern wir mit«, sagte Josef.
Sie holten ihre Taschen aus dem Kofferraum, gingen ins Haus. Holz an den Wänden, auf dem Boden Linoleum, das sich sanft wellte. Die Rezeption war nicht besetzt, Amalia drückte die Klingel. Sie warteten. Niemand kam. Das Gejohle aus der Gaststube, die hinter einer Tür lag, schwoll an, ebbte ab.
Bodo öffnete die Tür, verschwand, kam kurz darauf wieder.
»Lustig«, sagte er.
Sie warteten schweigend, bis endlich ein schmaler, kleiner Mann kam und sie einbuchte, ohne ein Wort zu sagen. Er schob ihnen Anmeldeformulare zu, drehte sich dann um zu dem kleinen Regal, wo die Zimmerschlüssel hingen, nahm einen Schlüssel, hängte ihn zurück, nahm einen anderen, machte eine Weile so weiter, als müsse er ein kompliziertes Rätsel lösen, dachte Amalia. Sie malte eine runde 5 und eine eckige 3, als sie ihre Adresse in das Formular eintrug, und ärgerte sich darüber. Bodo und Amalia teilten sich das eine Zimmer, Josef und Gero das andere. Die Bäder waren auf dem Flur.
Amalia war als Erste in der Gaststube. In einer Ecke stand ein großer Ofen mit grünen Kacheln, die Wände getäfelt, braunes Holz, das nach oben hin dunkler wurde, an der Decke fast schwarz war, gefärbt von Zigarettenqualm aus Jahrzehnten. Auf dem Boden lag auch hier Linoleum, das die Zeit gewellt hatte. Auf jedem Tisch eine Topfblume, die nach Plastik aussah. Hinter der Theke stand der Mann, der sie eingebucht hatte, und zapfte Bier, wobei er den Hahn nie abstellte, sondern mit flinken Händen eine große Zahl Gläser hin und her schob wie ein Hütchenspieler. Er ließ kurz Bier einlaufen, bis der Schaum fast über den Rand quoll, fegte das Glas mit einer schnellen Handbewegung weg, zog ein anderes herbei.
Es war voll, es war laut. Fast nur Männer, stille Tische, lebhafte Tische, gut gefüllte Aschenbecher, dicke Luft. Neben der Tür saßen junge Leute, darunter Mädchen, und machten paarweise ein Trinkspiel. Sie stellten je ein Glas an die Längsseiten der Tische und warfen dann mit einem Tischtennisball nach dem Glas auf der anderen Seite. Wenn jemand ins Glas traf, musste es der Kontrahent in einem Zug leeren. Sie lachten und riefen sich Ermunterungen zu.
Amalia steuerte einen Tisch am Fenster an, sich der Blicke bewusst, die an ihren Beinen und ihrem Hintern klebten. Es war leiser geworden. »Be my guest«, dachte sie und setzte sich. Nach und nach kamen die anderen, Josef zuletzt. Plötzlich Stille, als würden alle Geräusche abgesaugt.
Amalia lächelte ihn an, lächelte, als wolle sie ihn damit an den Tisch lotsen.
»Dein Heimatlächeln« hatte er es einmal genannt. Was das heiße, hatte sie wissen wollen.
»Du willst mir zeigen, dass ich dazugehöre.«
»Tust du ja auch.«
»Sowieso«, hatte er gesagt, ein bisschen patzig, wie ihr schien.
Er setzte sich, Gemurmel, als müsse sich eine Ratsversammlung über die neue Lage austauschen, dann der alte Geräuschpegel.
Eine ganze Weile wurden sie nicht bedient, merkten es zunächst nicht, weil sie sich belustigt darüber austauschten, wie heruntergekommen ihre Zimmer waren, wie laut die Dielen knarzten.
Der Wirt stoppte den Bierfluss und stellte die vollen Gläser auf ein Tablett, mit dem er von Tisch zu Tisch ging. Nachdem er das Bier verteilt hatte, stellte er sich wieder hinter den Tresen, setzte sein virtuoses Zapfspiel fort.
»Entschuldigung, können wir etwas bestellen?«, rief Amalia.
Plötzlich war es still. Die Männer sahen zu ihnen herüber, harte, abschätzige Blicke. Der Wirt zapfte weiter, hatte Augen nur für seine Arbeit. Schaum stieg weiß die Gläser hinauf, als würde er von der nachfolgenden gelben Flüssigkeit gejagt. Manchmal blieb nur die Flucht über die Ränder.
»Wir haben Durst, wir haben Hunger«, sagte Amalia.
Noch ein Glas, noch eins, noch eins. Sie klirrten gegeneinander, der Lieblingssound der Durstigen, dachte Amalia, während sie sich ärgerte. Schließlich drückte der Wirt den Hebel hoch, ganz langsam, betrachtete nachdenklich den dünner werdenden Strahl, die langen Tropfen, die kurzen, bis er sich losriss, einen Stift nahm und einen kleinen Kellnerblock. Damit trat er an den Tisch der vier, sagte nichts, ließ aber als Zeichen seiner Bereitschaft die Spitze seines Kugelschreibers über dem feuchten Block schweben.
»Schön, dass Sie sich die Zeit nehmen«, sagte Amalia.
Der Wirt sah sie ausdruckslos an.
»Haben Sie Rotwein?«, fragte sie.
»Ungarischen.«
»Gut, dann bringen Sie uns bitte eine Flasche von dem ungarischen Rotwein, eine große Flasche Mineralwasser und die Speisekarte.«
»Gibt es nicht.«
»Den ungarischen Rotwein, das Mineralwasser oder eine Speisekarte?«
»Speisekarte.«
»Aber es gibt etwas zu essen?«
»Bratkartoffeln mit Sülze oder mit Wienern.«
»Mehr nicht?«
»Mehr nicht.«
Sie sah resigniert in die Runde.
»Ich nehme Sülze«, sagte Bodo.
Sie bestellten zweimal Sülze, einmal Wiener, einmal nur Bratkartoffeln.
Den Rotwein fanden sie ungenießbar, hatten aber vorgesorgt. In Amalias Tasche steckten zwei Flaschen von dem Blauburgunder, den sie mitgebracht hatten. Sie öffnete eine davon verstohlen unter dem Tisch, schenkte allen ein, stellte die Flasche unter ihren Stuhl. Die vier machten dazu harmlose Gesichter wie bei einem Schülerstreich. Dann prosteten sie einander zu.
»Auf die Kanutour.«
Die Gläser klirrten.
»Seit wann können N… paddeln?«
Amalia stellte ihr Glas zurück auf den Tisch. »Wer hat das gesagt?«, rief sie.
Niemand schaute sie an. Gespräche, Gejohle, als wäre nichts geschehen.
»Wir gehen«, sagte Amalia und stand auf.
Josef zog sie am Arm zurück. Sie tauschten Blicke aus, die sie voneinander kannten. Sie wollte nicht hinnehmen, dass er beleidigt wurde, er wollte nicht der Grund dafür sein, dass ein Abend platzte. Amalia setzte sich wieder.
»Es ist in Ordnung«, sagte Josef, »das kennen wir ja.«
»Es ist nicht in Ordnung«, sagte Amalia, »sei nicht immer so defensiv.«
Josef hob sein Glas. Sie stießen noch einmal an und tranken.
Wie immer zu Beginn ihrer Ausflüge musste Josef erzählen, was sich in den vergangenen zwölf Monaten in ihrer Heimatstadt ereignet hatte, weil er der Letzte von ihnen war, der dort noch lebte.
»Jens ist tot«, sagte er.
Jens hatte in der Oberstufe einen Unfall mit seinem kleinen Motorrad gehabt. Er war abends im Podium gewesen, der Bar, wo sie alle hingingen, hatte getrunken und war weit nach Mitternacht mit Ralph auf dem Rücksitz nach Hause gefahren. An der großen Kreuzung bog er nach links ab, das Stoppschild missachtend, wie der Fahrer eines Lastwagens später berichtete. Dieser Mann war auf dem Weg zur Möbelfabrik, hupte, bremste, konnte die Kollision aber nicht vermeiden. So stand es in der Zeitung. Ralph war sofort tot, Jens überlebte mit schweren Verletzungen, an deren Spätfolgen er nun gestorben war.
»Er war ständig bei mir, weil er ohne seine vielen Medikamente nicht lebensfähig war. Ohne Milz hast du auf Dauer ein Problem.«
Josef erklärte, aber Amalia hörte nicht mehr zu, war in eigene Gedanken vertieft. Jens war ihr fremd gewesen, sie hatte kaum etwas mit ihm zu tun gehabt, aber nun wurde sie von dem Gefühl beherrscht, dass Jens und sie Teil einer Reihe waren, in der jeder drankam: der Todesreihe. Da steht man in vielen Reihen, mit Freunden, Geschwistern, Studienkollegen und so weiter, das war ihr klar, aber jetzt war es die Schulreihe, die sie beschäftigte. Es hatte schon am Ende der Mittelstufe angefangen, Platz eins, die Eröffnung der Reihe, für Svenja, die sich eine Überdosis gespritzt hatte, eher aus Unkenntnis als aus Lebensmüdigkeit, dann Ralph, jetzt, auf Platz drei, Jens. Welche Nummer würde sie ziehen? Und Bodo? Und Josef? Und Gero? Plötzlich war sie so traurig, dass ihr Tränen die Wangen herunterliefen.
Bodo, der neben ihr saß, legte einen Arm um sie, zog sie zu sich heran.
»Hast du ihn so gemocht?«
Sie musste nicht antworten, weil das Essen kam. Sie aßen die öligen Bratkartoffeln, dazu die Wiener oder die Sülze. Amalia schenkte unter dem Tisch Blauburgunder nach, sie wurden fröhlicher, lauter. Einmal kam der Wirt und fragte, ob sie noch eine Flasche von dem ungarischen Wein haben wollten, aber Amalia sagte nein, sie würden nicht viel trinken, weil sie morgen einen Kanuausflug machen wollten. Als er weg war, prusteten sie, lachten und kicherten.
Bodo ging zur Toilette, stellte sich danach an den Tisch neben der Tür und schaute beim Bier-Pingpong zu. Nach einer Weile fragte er, ob er mitspielen dürfe, und wurde nach kurzer Irritation akzeptiert. Er warf den Ball, traf nicht, verlor die Runde. Er trank sein Glas aus, gewann ein zweites Spiel, kehrte zurück zu seinen Freunden.
Sie löcherten Josef mit Fragen, wer bei ihm welche Medikamente holte, waren vor allem an den ehemaligen Mitschülern interessiert. Er zierte sich, berief sich auf seine Schweigepflicht, sie fragten und fragten, setzten Preise aus, nicht abwaschen müssen auf ihrem Ausflug, nicht die Zelte aufbauen. Keine Chance. Sie bohrten weiter.
»Okay, ohne Namen: Einer aus dem Abijahrgang musste einen Tripper behandeln lassen.«
Sie johlten so laut wie die Leute an den anderen Tischen. Jetzt musste der Name her.
»Ich paddele dich einen halben Tag lang durchs Delta, du musst keinen Finger rühren«, schrie Bodo.
Josef schüttelte den Kopf.
»Einen ganzen Tag.«
Nichts zu machen.
Die dritte Flasche war fast leer. Josef stand auf, wollte auf die Toilette gehen, aber als er nach der Türklinke griff, packte ihn ein Mann am Arm und zog ihn zurück.
»Du nicht.«
»Was heißt das?«, fragte Josef verdutzt.
»Du gehst hier nicht pissen«, sagte der Mann ruhig.
Josef löste seinen Arm aus der Umklammerung, stand unschlüssig da, langte noch einmal nach der Klinke. Der Mann schnellte von seinem Stuhl hoch und drängte sich zwischen Josef und die Tür.
»Hast du mich nicht verstanden?«
Gero, Bodo und Amalia sprangen auf und stellten sich neben Josef.
An dem Tisch nahe der Toilettentür saßen ein halbes Dutzend Männer. Fünf standen ebenfalls auf.
»Was soll das?«, rief Amalia.
»N… pissen draußen. Das ist alles.«
»Achten Sie auf Ihre Sprache«, sagte Gero.
»Meine Sprache«, sagte der Mann, »was hat das mit meiner Sprache zu tun?«
»Sie wissen genau, dass das N-Wort ein rassistischer Begriff ist.«
»Ich kenne kein N-Wort.«
Der Mann, der das sagte, trug eine ausgebeulte Cordhose, die von Hosenträgern gehalten wurde, dazu ein Flanellhemd. Auf seinem Kopf saß eine grüne Kappe mit der Aufschrift »John Deere«, darunter sprang, in Gelb, ein Hirsch. Rechts hatte der Mann ein großes, ovales Auge, links ein schmales, darüber eine hohe, faltige Stirn, trotz der Kappe gut zu sehen, da die vor allem den Hinterkopf bedeckte, der Schirm ragte steil auf. Eine große, großporige Nase, fleischige Lippen, das Kinn nicht wirklich Kinn, vielmehr ein breiter Hautlappen, der den Hals ein Stück weit bedeckte.
»Kennt ihr ein N-Wort?«, fragte er seine Trinkgesellen.
Kopfschütteln. »Nie gehört.«
Immer mehr Gäste umringten sie, zwei hielten Baseballschläger in den Händen. Das Bierspiel hatte aufgehört, die Jugendlichen waren herangerückt.
»Warum darf mein Freund diese Toilette nicht benutzen?«, fragte Gero.
Die Männer grinsten, niemand sagte etwas. Bodo packte einen von ihnen, wollte ihn zur Seite drängen, steckte aber sofort in einer Zwangsjacke aus vielen Armen und Händen.
»Ihr Rassistenarschlöcher«, fauchte Amalia, hilflos schon, auf dem Rückzug.
Der Wirt kam hinter seiner Theke hervor, ging zur Tür und schloss sie ab. Den Schlüssel steckte er in seine Hosentasche.
»Die Toilette ist verstopft«, sagte er und stellte sich wieder hinter die Theke, um Bier zu zapfen.
Die Männer grinsten, setzten sich, das Bier-Pingpong ging weiter.
Amalia stellte sich vor den Wirt, schrie ihn an: »Was fällt Ihnen ein, meinen Freund daran zu hindern, zur Toilette zu gehen?«
Keine Reaktion.
Josef legte einen Arm um Amalias Hüfte, zog sie sanft weg.
»Lass es«, sagte er, »es bringt nichts, wir lassen uns dadurch nicht den Ausflug verderben.«
»Das können wir diesen Nazis nicht durchgehen lassen«, fauchte sie.
Jemand lachte laut auf.
Amalia blieb stehen, aber Josef drängte sie zurück zu ihrem Tisch.
»Lass uns wenigstens auf unsere Zimmer gehen, wir können hier nicht mit denen sitzen und trinken«, sagte sie.
Als sie zahlen wollten, berechnete ihnen der Wirt drei Flaschen Rotwein.
»Aber wir haben nur eine Flasche getrunken«, sagte Amalia.
»Es waren drei«, sagte der Wirt.
»Okay, es waren drei«, sagte sie, »aber zwei haben wir selbst mitgebracht.«
»Sie haben in diesem Gasthaus drei Flaschen Rotwein getrunken, also zahlen Sie auch drei Flaschen. Das ist auf der ganzen Welt so. Korkgeld heißt das.«
Amalia zahlte drei Flaschen.
Im Zimmer von Amalia und Bodo berieten sie, ob sie den Ausflug abbrechen sollten.
Gero war dafür, er wolle nicht »herumschippern, wo Nazis ihr Unwesen treiben«.
Josef sagte, sie dürften sich nicht einschüchtern lassen, und wahrscheinlich würden sie draußen auf den Flüssen keinem Menschen mehr begegnen.
Bodo schwieg, weil er bei wichtigen Fragen noch immer dazu neigte, auf die Meinung seiner großen Schwester zu warten, um ihr dann, je nach Laune, euphorisch zuzustimmen oder heftig zu widersprechen.
Sie glaubte, dass er ihr heute eher folgen würde, womit ihre Haltung den Ausschlag gab.
Sie sagte, dass sie für Bleiben sei. Erstens, da sei sie ganz bei Josef, man dürfe vor Nazis nicht zurückweichen, keinen Millimeter, und, zweitens, sehe sie ebenfalls keine Gefahren auf den Flüssen.
»Bodo?«
»Wir bleiben.«
Gero widersprach nicht.
Als Amalia später aus dem Fenster schaute, sah sie, wie Josef auf der Ladefläche eines weißen Pick-ups stand und pinkelte, während er sich einmal um sich selbst drehte.