Love me snowly

Love me snowly

JESSICA WISMAR

Drachenmond Verlag

Inhalt

Triggerwarnung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Epilog

Nachwort

Drachenpost

Triggerwarnung

In diesem Buch sind Szenen mit Drogenkonsum (Cannabis) vorhanden. Weiterhin enthält dieses Buch Szenen zum Thema Belästigung. Dabei hat die Protagonistin anfangs teils relativierende Gedanken, die übergriffiges Verhalten verharmlosen. Im Laufe der Geschichte kommt es zu einer konkreten Belästigungsszene, die Trigger für betroffene Personen enthalten kann. In der anschließenden Aufarbeitung werden Victim Blaming und Female Empowerment thematisiert. Der beschriebene Umgang damit möchte ein realistisches Bild schaffen und dient nicht als idealisierter Ratschlag, wie man im Fall einer Belästigung richtig handelt oder denkt. Elinas Handeln sowie ihre Gedanken basieren dabei auf Berichten betroffener Personen.

Ich widme dieses Buch meiner großen Kleinen, weil ich ohne dich diesen Traum jetzt nicht leben könnte.

Einen Menschen nicht trotz, sondern wegen seiner Ecken und Kanten zu achten, bedeutet grenzenlos zu lieben.


- Jessica Wismar

Kapitel 1

– 09.12. –

»Darling!«

Der Ruf schallte durch das Treppenhaus bis hinauf in mein Zimmer unter dem Dach. Augenrollend sah ich über meine Schulter zur offenen Tür.

»Das macht sie echt jedes Mal, oder?« Lisa klang amüsiert.

Ich drehte mich wieder zu dem kleinen Laptop auf meinem Schreibtisch um und grinste entschuldigend in die Kamera. »Da schlagen eben ihre britischen Wurzeln durch.«

»Ach, komm schon, das ist komplett lächerlich. Sie klingt, als wäre sie sechzig. Ben ist auch Brite, und der sagt nie …«

Das Bild fror ein. Lisas Gesicht starrte mich regungslos vom Bildschirm an. Eine Augenbraue gehoben, ihr Mundwinkel abwertend heruntergezogen. Ich brauchte keine Worte, um ihre Meinung zu meiner Mutter herauszufinden. Schlimm genug, dass ich dieser Lästertante anvertraut hatte, dass Marion meine Stiefmutter war. Ich liebte sie wie meine leibliche Mutter.

Ein vernehmliches Räuspern aus Richtung meiner Couch ließ mich innerlich aufseufzen. »Du solltest wirklich schon rübergehen. Ich komme nach, sobald ich mit Lisa fertig bin«, schlug ich Rivera zum gefühlt hundertsten Mal vor.

»Nein, nein. Ich warte.« Meine Schwester blätterte in einem dieser dicken Hochzeitsmagazine. Sie würdigte mich keines Blickes, als sie ihre Beine überschlug und einmal theatralisch seufzte.

»Hallo? Antwortest du auch mal?«, beschwerte sich meine Studienkollegin, als die Übertragung wieder einsetzte.

»Entschuldige, du hast gehangen.«

»Du meinst wohl, du hast gehangen!«, korrigierte Lisa mit eingeschnapptem Unterton. Ich sparte es mir, ihr zu sagen, dass man das bei einem Zweierstream nicht beurteilen konnte. In Gruppen war das leicht. Wenn alle Bilder hingen, war man es selbst, ansonsten der andere.

»Jedenfalls sollten wir die PowerPoint noch dieses Wochenende fertig machen«, wechselte ich das Thema. »Am Ende hat die Frau mit ihrer Planung mal wieder den Flip, sie könnte das Referat doch vorziehen, und dann sind wir diese statt nächste Woche dran.« Ich musste nicht unbedingt wissen, wie Lisa in der Zeit der Übertragungslücke über meine Mutter vom Leder gezogen hatte. Ich mochte Marion. Ich hätte Lisa meine Lebensgeschichte nie so offen erzählen sollen. Seither hatte sie zu wirklich allem etwas zu sagen, Raphael fand sie grob, Sophia kindisch und Rivera eingebildet. Ich wurde es nie müde, meine Geschwister zu verteidigen, auch wenn sie mit Raphael und Rivera durchaus einen Punkt hatte. Aber Sophia war erst neun, die durfte kindisch sein.

»Pff. Ist doch nicht unser Problem, wenn die Schreckschraube von Anatomiedozentin keine Organisationskompetenzen hat«, hielt Lisa dagegen. »Außerdem habe ich morgen ein Hockeyturnier.«

»Jetzt noch? Ist das nicht viel zu kalt?«

»Doch nicht draußen, du Dummerchen! In der Halle. Ist so ein Benefizding für irgendeine Kinderkrebsstiftung.«

Ich schürzte meine Lippen. Das war natürlich ein guter Grund. Nur hasste ich es, unvorbereitet zu sein und meine Aufgaben auf den letzten Drücker zu erledigen. Nicht dass ich das nicht quasi immer tun würde. Aber es machte mein Leben so viel schwerer, alles bis zum letzten Moment aufzuschieben; deshalb hatte ich mir fest vorgenommen, das zu ändern.

»Vorschlag: Ich mache eine erste Version morgen und du schaust Montag drüber. Dann haben wir notfalls für Dienstag etwas vorzuweisen.«

Lisa runzelte die Stirn. »Wie willst du denn die Folien zu meinem Teil machen?«

Nichtssagend zuckte ich mit den Schultern. Ich war kein Fan von Arbeitsteilung. Am Ende musste ich sowieso auch Fragen zu Lisas Teil beantworten können, daher würde ich die Inhalte so oder so lesen. »Nur ein paar Stichworte. Ein bisschen was hatten wir ja schon in der Vorlesung.«

»Na, wenn du dir unbedingt unnötig Arbeit machen willst.«

Ich sah ihr an der Nasenspitze an, dass sie sich ins Fäustchen lachte, dass ich ihre Arbeit auch noch freiwillig übernahm. Die Wahrheit war, ich hasste Gruppenarbeiten mit zugeteilten Partnern. Da machte ich die ganze Arbeit lieber selbst, dann wusste ich wenigstens, dass es gut war und erledigt wurde.

»In Ordnung, dann machen wir das so. Ich muss jetzt. Tschüssi.« Noch bevor ich geantwortet hatte, verließ Lisa die Facetime-Übertragung. Ich starrte auf den Bildschirm, auf dem mich jetzt nur noch mein eigenes Gesicht anblickte. Wundervoll.

»Da hast du dich ja mal wieder sauber ausnutzen lassen.«

Ich holte tief und beruhigend Luft. Einundzwanzig, zweiundzwanzig. »Wieso ausnutzen? Mir ist es so doch lieber.«

»Wenn du dir immer noch mehr Arbeit freiwillig selbst auflädst, kommen wir nie dazu, meine Hochzeit zu planen!«

»Das ist keine Zusatzarbeit, die hätte ich sowieso machen müssen. Das Referat macht fünfzig Prozent der Note für das Anatomiemodul. Das muss perfekt werden.« Ich gab mir die größte Mühe, ihr zu erklären, wie es an der Uni lief. Rivera hatte sich von Anfang an gegen das Studieren entschieden, sie konnte nicht wissen, was ich fachlich alles in mich reintrichtern musste.

»Ich habe noch nie verstanden, warum du in der Uni immer alles perfekt machen musst. Hier zu Hause bist du die größte Faulenzerin.«

»Bin ich doch gar nicht.«

»Klar. Du lässt dich bekochen, wohnst kostenlos hier und diese Frau wäscht sogar deine Wäsche.«

Das alles traf auch auf sie zu, nur das mit der Wäsche nicht. Aber nicht weil Rivera bemüht wäre, sie selbst zu waschen, sondern weil sie Marion so sehr hasste, dass sie unsere Mutter nicht an ihre Wäsche heranließ.

»Außerdem dachte ich, du studierst Chemie. Wieso hast du überhaupt Anatomie?«, beschwerte meine Schwester sich weiter.

»Ich studiere Biomedizinische Chemie. Da haben wir natürlich auch Biomodule.«

Rivera winkte ab. »Chemie, Biodingsda, das macht doch keinen Unterschied. Du warst doch mal so interessiert an Philosophie, das solltest du studieren.«

Ich seufzte innerlich auf. Natürlich hätte ich gern studiert, wofür ich am meisten brannte. Den Mut wie Rivera, ihrer Leidenschaft zu folgen und einen Weg einzuschlagen, mit dem ich am Ende vielleicht niemals meine Miete würde zahlen können, hatte ich allerdings nicht.

»Elina!«, klang es keuchend hinter mir und ersparte mir die müßige Diskussion über Jobchancen und die Notwendigkeit finanzieller Sicherheit. Ich wirbelte herum und sah meine schwer schnaufende Mutter im Türrahmen stehen, José auf ihrer Hüfte balancierend. »Süße, hast du mich nicht gehört?«, fragte sie sanft.

Entsetzt riss ich meine Augen auf. »Entschuldige, Marion.« Ich hatte ihr einfach nicht geantwortet, ich Esel. Jetzt war sie die kompletten drei Stockwerke zu mir hochgestiefelt.

»Es gibt Essen«, informierte sie mich und wuchtete den kleinen Faulpelz auf die andere Seite ihrer Hüfte. José hielt seine Trinkflasche in der Hand und kaute auf dem Sauger herum. Den anderen Arm hatte er um seine Mutter geschlungen. »Mach bitte Schluss für heute und komm dann runter. Du auch, Rivera.«

»Ja, klar. Wir kommen.« Mit einem durch und durch schlechten Gewissen steckte ich noch schnell das Ladekabel ein, damit mein Laptop nicht ausging, immerhin lud ich seit gefühlt einer halben Ewigkeit das neueste Add-on für PowerPoint herunter. Dann wollte ich Marion hinterhereilen, doch sie stand noch im Türrahmen und machte eine nachdenkliche Miene.

»Es war keine Absicht, meine Studienkollegin hat mich abgelenkt«, versprach ich mit eingezogenem Kopf.

Rivera schnaubte. »War es bestimmt nicht. Bloß taucht die kleine Streberin komplett ab, wenn es um ihr komisches Studium geht. Mich lässt sie auch schon ewig warten.«

Ich zuckte zusammen, überging Riveras sicher nicht so harsch gemeinte Spitze und sah Marion entschuldigend an. Sie war ganz umsonst die vielen Stufen hinaufgekommen. Alles nur, weil ich nicht das kleine Wörtchen Ja herausgebracht hatte. Dabei hatte ich sie wirklich lieb.

»Das weiß ich doch, Darling«, versicherte sie mir. Ihr Blick huschte zu meiner Schwester. »Rivera, Schatz, sei so gut und bring José schon mal runter.« Damit lud sie den kleinen Wonneproppen auf den Arm meiner Schwester, die das Magazin gerade noch rechtzeitig auf meinen Schreibtisch warf und nach einem vernichtenden Blick in Marions Richtung mit unserem Halbbruder hinausging. Marion wartete, bis Rivera mein Zimmer verlassen hatte, ehe sie sich mir wieder zuwandte. »Ich habe mir gedacht, vielleicht solltest du doch auf diese Freizeit gehen.«

Ich presste die Lippen zusammen. Langsam wusste ich nicht mehr, wie ich dieses Thema freundlich beenden sollte. Ich war es leid, immer und immer wieder Nein zu sagen. Und wieso hatte sie dafür bitte Rivera subtil hinausgeworfen?

»Ich wäre Weihnachten nicht da«, brachte ich das zwingendste Argument, das einer familienliebenden Mutter wie ihr den Wind aus den Segeln nehmen sollte.

»Ich weiß, mein Schatz. Ich dachte nur, du könntest Abstand gebrauchen. Es wird sowieso schon so voll. Raphael kommt ja dieses Jahr mit Neele und ihrem kleinen Raoul. Und Rivera hat vorhin erzählt, dass Sam auch da sein wird.«

Sie wusste es! Irgendwoher wusste sie es. Ich sah es in ihren Augen. Dieser traurige, mitleidige Blick, der mich durchbohrte und mir gerade durch die Blume sagte, dass ich sicher nicht dabei sein wollte. Und sie hatte recht.

»Ich überleg es mir noch mal«, lenkte ich ein und ebnete den Weg für meine Flucht. Nun gut, dann würde ich dieses Jahr Weihnachten eben nicht im Kreis der Familie verbringen. Wer wollte das auch schon?

Ich schluckte die bittere Galle hinunter, zog noch eine weitere schützende Mauer um mein Herz hoch und legte das perfekte Lächeln der letzten Wochen auf mein Gesicht.

»Mach das, mein Schatz. Isabelle wird sich sicher freuen. Ihre Mutter hat mich immer wieder gefragt, ob du nicht doch fahren willst.«

Kapitel 2

– 21.12.–

Isabelle freute sich überhaupt nicht. Die gesamte Zugfahrt von Stuttgart nach Lindau nörgelte sie mir die Ohren voll. Ich nahm mir vor, mich in der Bimmelbahn von Lindau ins Montafon bis nach Schruns weit weg von dieser Ziege zu setzen.

»… und überhaupt, was willst du hier? Du bist doch sonst nie auf Party aus«, schnaubte die Zimtzicke mir gegenüber. Isabelle war eines der schönsten Mädchen, das ich je gesehen hatte. Ihre blonden Haare fielen in Wellen über ihre Schultern und ihren Rücken, sie sahen aus wie fließendes Gold. Ihr Körper war schlank und wohlproportioniert. Ihre Beine waren verboten lang und ihr Hintern war der einzige, den ich kannte, der sogar in einem engen Kleid perfekt aussah. Dort wackelte nichts, und dennoch war er rund und weiblich. Ich seufzte innerlich jedes Mal sehnsüchtig auf, wenn ich sie musterte. Ach, und ihr Gesicht war schlicht engelsgleich. Sie war einfach perfekt … äußerlich.

»Hallo? Erde an Trotteline! Was willst du hier?«, fragte sie giftig. »Du versaust mir meinen ganzen Spaß.« Mürrisch verschränkte sie die Arme vor ihrer Brust. »Dass ich dein Händchen halte und dir alles zeige, kannst du vergessen. Am besten, du redest gar nicht mit mir. Wenn die Jungs denken, wir kennen uns, kann ich gleich wieder einpacken. Keiner will mit einer Betrügerin befreundet sein.«

Okay, das war jetzt unfair. Ich war keine Betrügerin. Ich schlief nicht einmal mit vielen Kerlen, und niemals mit vergebenen. Außerdem war das ja wohl meine Sache. Und der Partymuffel, das war Vergangenheit. Dennoch, ich war verletzt … und wütend. Aus dem Fenster sehend zog ich meine Augenbrauen hoch und zickte zurück: »Prima. Dann rede am besten gar nicht mehr mit mir, ich werd’s genauso machen.«

Pah, perfekte Diva! Ich verkniff mir nur gerade so ein Siegesgrinsen. Diese blöde Schnepfe. Den restlichen Weg bis nach Schruns herrschte eisiges Schweigen zwischen uns.

Schnaufend stellte ich meinen Koffer zwischen meinen Beinen ab, wobei ich darauf achtete, dass der Schnee am oberen Rand meiner Socken nicht den Stoff des Koffers berührte. Schlimm genug, dass meine Füße pitschnass und eisig kalt waren.

Mein Rücken ächzte, als ich mich aufrichtete. Dieses alte Gepäckstück die fünfhundert Meter von der Mittelstation bis hier hinauf zum Haus Sarazena zu schleppen, ließ meine Rückenmuskeln immer noch brennen. Warum noch mal hatte ich mich nicht dazu durchringen können, Rivera um ihren Koffer mit Rollen zu bitten? Tja, mein Stolz bescherte mir jetzt mindestens drei verkantete Wirbel und höllische Rückenschmerzen. Wenn ich erst in meinem Zimmer war, würde ich dafür sorgen, dass alle Wirbel wieder richtig saßen. Das laute Knacken hatte schon häufig für seltsame Reaktionen gesorgt, und ich hatte wenig Lust, dass das mein erster Eindruck in dieser Gruppe sein würde.

Statt etwas gegen meinen zwickenden Rücken zu tun, ließ ich meinen Blick durch den urigen Raum schweifen. Es war nur der Flur mit einem großzügigen Treppenhaus, doch alles hier schrie nach Skihütte. Die Garderobe, die ein Hängegestell für Skischuhe beinhaltete, der Fliesenboden, der angenehm warm unter meinen Socken war, die Balken mitten im Raum und unter der Decke und natürlich der wundervolle Geruch nach Bergluft und Holz. Ich liebte diesen Ort jetzt schon.

Fünf junge Männer und Frauen standen hier im Halbkreis vor den beiden Skilehrern, alle etwa Anfang zwanzig, soweit ich das in der E-Mail, die ich von Isabells Mutter weitergeleitet bekommen hatte, richtig verstanden hatte. Die beiden vor uns mussten die erwähnte Betreuerin und der Skilehrer für die kommenden drei Wochen sein. Der Mann, Daniel, wenn die Mail stimmte, ließ gerade seinem Frust freien Lauf: »Ich weiß gar nicht, warum ich mir das hier antue. Drei Monate im Verleih sind besser, als hier drei Wochen Babysitter für euch zu spielen. Also reißt euch zusammen. Die Regeln sind klar: kein Alkohol, Musik nicht zu laut, um Mitternacht zu Hause sein. Ich schließe um eine Minute nach zwölf ab, wer dann nicht drin ist, hat Pech gehabt, und ich bin sicher, Herr Minnard setzt euch sofort in den nächsten Zug nach Hause. Morgen gehen wir gemeinsam auf die Piste und ich werde euch kategorisieren. Falls ihr alle fahren könnt, dürft ihr in kleineren Gruppen, mindestens zu dritt, die Pisten selbstständig unsicher machen. Sollte einer verloren gehen, werdet ihr alle dafür zur Rechenschaft gezogen, egal ob derjenige Teil eurer Gruppe war oder nicht. Ihr seid von heute an eine Einheit. Ihr esst, schlaft und fahrt zusammen Ski.«

Dafür, dass der Typ eigentlich kaum älter wirkte als ich und ich bei einem Skilehrer irgendwie automatisch eine coole Socke erwartet hatte, war er ganz schön … bieder. Und überhaupt, was hatte er für ein Problem? Wir waren hier auf Freizeit und nicht in irgendeinem Trainingslager!

Die große Frau an seiner Seite mit den beiden geflochtenen Zöpfen und dem Dauergrinsen wirkte in ihrer sportlichen Skihose mehr nach meinem Geschmack, schwieg allerdings bei dieser Begrüßungsrede. Sie verlor nur ihr Lächeln.

»Dann kommen wir jetzt zur Zimmereinteilung. Es sind fünf Mädchen und fünf Jungs hier. Die Zimmer sind Dreierzimmer und ihr könnt selbst zählen, es wird also zwei Mädchen- und zwei Jungenzimmer geben. Denkt gar nicht erst daran zu mischen«, knurrte er.

Das würde er kaum verhindern können, wenn er nicht die ganze Nacht Wache hielt.

»Äh, Daniel? Könnte ich bitte in ein anderes Zimmer als Elina kommen?«, fragte Isabelle zuckersüß lächelnd. Na, danke.

Ein Raunen ging durch die Gruppe und alle Blicke schwenkten zu mir, manche auffälliger als andere.

»Und du bist?«

»Isabelle, aber man nennt mich Belle«, säuselte sie. Ich konnte mir ein Schnauben nicht verkneifen.

Daniel zog eine Augenbraue hoch, ehe er auf seine Notizen sah. »Ihr seid sowieso in zwei verschiedene Zimmer eingeteilt. Hättest du gewartet, bis ich die Einteilung vorgelesen habe, wäre deine Bitte unnötig gewesen.«

Das wiederum ließ mich doch noch mit ihm sympathisieren.

Schadenfroh blickte ich die blonde Zimtzicke an. Belles verschlagener Gesichtsausdruck überraschte mich allerdings. Sie nahm sich die Rüge kein bisschen zu Herzen. Dieses Biest hatte es nur darauf angelegt, mich vor der Gruppe zu demütigen!

»Also, Dina und Isabelle sind in Zimmer eins, Elina, Nell und Ann-Josefine in Zimmer vier. Noah und Kai in Zimmer drei und Felix, Alexander und Lysander in Zimmer zwei. Bezieht eure Betten, packt aus und macht euch fertig. Um sieben Uhr gibt es Abendessen, wie jeden Abend. Danach werden Alice und ich euch alles zeigen und erklären.« Kaum, dass er seine Predigt runtergerattert hatte, wandte er sich ab und marschierte mit dem Klemmbrett unterm Arm davon, Alice folgte ihm nach einem unsicheren Blick zu uns. Na, das konnte ja heiter werden.

Sofort setzten die Gespräche ein, während wir unser Gepäck nahmen und uns auf den Weg zu unseren Zimmern machten. Irgendwie verpasste ich den Moment, jemanden zu fragen, wo Zimmer vier lag. Isabelle und ein weiteres Mädchen waren bereits dabei, den Flur entlangzugehen und dort hinten nach links in ein Zimmer abzubiegen. Die anderen beiden Mädchen unterhielten sich angeregt mit zwei der Jungs. Da zu unterbrechen war irgendwie unangebracht.

Kurz entschlossen wuchtete ich meinen Koffer die Treppen hinauf. Wenn Zimmer eins hier im Erdgeschoss lag, wäre es doch logisch, dass Zimmer vier weiter oben zu finden war. Bevor ich vollkommen allein und hilflos auf diesem Flur stehen blieb, lief ich lieber ein paar Meter umsonst.

Im ersten Stock lag der identische Flur wie unten, nur anstelle der ausladenden Garderobe stand hier ein riesiger Weinkühlschrank. Sofort musste ich an reiche Pinkel denken, die hier abends am Kaminfeuer ihren Wein schlürften.

Schmunzelnd richtete ich mich zuerst nach rechts. Doch ich kam kaum zwei Schritte weit.

»Wo willst du denn hin?«, erklang eine amüsierte Stimme hinter mir.

Ich wirbelte herum und sah eines der Mädchen auf dem Treppenabsatz hinter mir stehen. Sie war eher klein und etwas stämmiger. Ihr rundes Gesicht wirkte unfassbar freundlich und hübsch.

»Ich suche mein Zimmer«, gestand ich.

»Sicher nicht auf dieser Etage. Das ist das Männerreich.« Sie deutete die Stufen hinauf. »Komm mit.«

Die hölzernen Stufen knarzten bei jedem ihrer Schritte eine Etage weiter hinauf ins Dachgeschoss. Mit beiden Händen umfasste ich den Griff meines schweren Koffers und folgte ihr. Der Duft nach altem Holz stieg mir erneut in die Nase. Sofort fühlte ich mich wohl.

Hinter uns kam ein weiteres Mädchen die Treppe hinauf. Sie trug statt eines Koffers zwei Taschen, einen Rucksack und ihr Handy an einer Wollkordel wie eine Schärpe über ihrer Brust. Das gesamte Set war schwarz-weiß gemustert und perfekt aufeinander abgestimmt, sogar die Handyhülle.

Das Mädchen vor mir meinte über ihre Schulter: »Ich bin Nell und das da ist AJ.«

Ich sah über meine eigene Schulter in ein lächelndes Gesicht. »Hi.«

»Hi, ich bin Elina.«

»Wissen wir«, entgegnete AJ schmunzelnd.

Klar, Isabelle hatte dafür gesorgt, dass das jetzt jeder hier wusste. Mürrisch stapfte ich weiter hinauf und schnaufte angestrengt. Nur noch vier Stufen, dann konnte ich dieses Mistding von Koffer endlich abstellen.

Oben mündete die Treppe in einen vergleichsweise kleinen Flur. Nell zog gerade ihre Skijacke aus und hängte sie an einen der drei schwarzen Haken, die links an der Wand in verspielten Schnörkeln angebracht waren. Dann drückte sie die Türklinke herunter und gab den Blick auf ein absolut cooles Zimmer frei. Vollkommen abgelenkt blieb ich, kaum angekommen, einfach auf dem Treppenabsatz stehen. AJ rannte prompt in mich hinein. Ich stolperte nach vorn und hörte gleichzeitig so einiges hinter mir die Treppe hinunterfallen.

»O Gott, entschuldige!« Ich wirbelte herum und eilte AJ hinterher, um ihre Taschen aufzusammeln. Sie selbst hatte sich wohl gerade noch so am Geländer festhalten können. Ihr erst sehr wütender Gesichtsausdruck wurde sofort sanfter.

»Schon gut. Ich bin ja in dich hineingelaufen. Wieso bist du stehen geblieben?«

»Ich war so abgelenkt von dem Zimmer.«

AJs Mundwinkel verzogen sich zu einem amüsierten Schmunzeln. »Kann ich verstehen. Das erste Mal, als ich es gesehen habe, kam ich auch aus dem Staunen nicht mehr heraus.«

Erleichtert lächelte ich sie an und reichte ihr ihre Taschen. Gemeinsam erklommen wir die letzten Stufen und betraten dann unser Zimmer.

Kapitel 3

Kaum über der Schwelle, erkannte ich, dass das Zimmer noch viel größer war, als mein erster Blick offenbart hatte. Es nahm beinahe das komplette Dachgeschoss ein. Nell lief gerade in die hintere rechte Ecke, wo ein wirklich bequem aussehendes Einzelbett unter einer Regalwand voller Bücher stand. »Badezimmer«, sie zeigte auf eine offen stehende Holztür rechts von sich, »begehbarer Kleiderschrank«, kurzer Wink nach links, »und dahinten die Küchenzeile mit Minibar.«

Mir klappte sprichwörtlich die Kinnlade herunter.

»Richtig nice, oder?« AJ grinste mich an, als sie an mir vorbeiging und geradeaus auf das riesige Doppelbett zusteuerte. Damit hatten die Mädels dann auch entschieden, wer wo schlafen würde. Da es mir komplett egal war, zuckte ich mit den Schultern und lief AJ hinterher. Wobei ich mich wunderte, dass die beiden sich nicht das Doppelbett teilten. Sowohl AJ als auch Nell wirkten, als wären sie nicht zum ersten Mal hier.

AJ ließ ihre Taschen vor dem Schrank auf ihrer Bettseite auf den Boden plumpsen und band ihre schwarzen Haare mit geübten Griffen zu einem lockeren Dutt zusammen. Sie schälte sich aus der schwarzen Lederjacke, stemmte tatkräftig ihre Hände in die Seiten und hob dann den Blick. »Auspacken oder erst einkaufen?«

»Erst auspacken«, entschied Nell und wuchtete ihren Koffer auf ihr Bett. Sie öffnete den Reißverschluss ihres Rollis und begann, ihre Kleidung in die Kommode neben dem Bett einzuräumen. Was für mich die Frage aufwarf, wozu es einen begehbaren Kleiderschrank gab.

»Was hast du Belle denn getan?«, fragte AJ und hielt ihr Handy für ein Selfie vor sich hoch. Sie bewegte ihren Kopf zur Seite und zwinkerte in die Kamera, vermutlich machte sie ein Boomerang für Instagram. Ich war gerade in die Hocke gegangen, um meinen eigenen Koffer zu öffnen. Nun verharrte ich mitten in der Bewegung und sah zu AJ hinauf, die mich über das Bett hinweg aus ihrem sonnengeküssten Gesicht feixend anstrahlte.

Ihre Formulierung wunderte mich etwas, und so stellte ich intuitiv die Gegenfrage. »Kennst du sie?« Ich war eine Fettnäpfchenqueen und witterte eine neue Falle.

»Klar. Wir vier anderen Mädchen waren letztes Jahr schon zusammen hier.«

Na, das erklärte, warum sich alle hier so gut auskannten. Alle außer mir.

»Isabelle hat uns von dir erzählt. Sie sagte, ihre Mutter habe dich aufgetrieben. Uns sind zwei Mädels abgesprungen und es dürfen nur ebenso viele Männer wie Frauen mit, deshalb brauchten wir dringend Ersatz«, offenbarte AJ.

Oh, na super. Ernsthaft? Ich kam hier in eine eingeschworene Clique und alle liebten meine Feindin. Yippie! Ich wollte gar nicht wissen, was Belle ihnen über mich erzählt hatte. Das hier hätte meine Flucht sein sollen. Hätte ich eine persönliche Hölle haben wollen, wäre ich zu Hause geblieben.

»Charmant«, murrte ich und wandte mich ab, um einen Stapel Longsleeves ins oberste Fach im Kleiderschrank zu legen. Als ich die leise quietschende Tür öffnete, wehte mir ein urig holziger Geruch entgegen, der mich an Urlaub und Österreich erinnerte. Ich atmete ihn so tief ich konnte ein und entspannte mich wieder.

Hinter meinem Rücken kommunizierten die zwei bestimmt still miteinander. Na und? Sollten sie doch.

»Entschuldige«, sagte AJ. Verwirrt lugte ich um meine Schranktür und musterte sie. Sie entschuldigte sich? Wieso das denn?

AJ setzte sich im Schneidersitz auf ihre Bettseite. »Ich bin manchmal ein wenig taktlos, ohne dass ich das merke. Ja, wir kennen uns schon alle. Das heißt natürlich nicht, dass du automatisch an eurem Streit schuld sein musst, und es heißt auch nicht, dass wir dich jetzt ausgrenzen oder so«, erklärte sie ganz direkt.

Perplex starrte ich sie an. »Alles klar.«

Nell grinste aus ihrer Ecke rüber. »Daran gewöhnst du dich«, versprach sie und zwinkerte mir zu.

Das brachte mich zum Schmunzeln, ich mochte die beiden auf Anhieb. Kurz entschlossen streifte ich meine Schuhe ab, hüpfte auf mein Bett und machte es mir mit einem Bein angezogen und dem anderen aufgestellt auf der Decke bequem. »Dann klärt mich mal über alles auf, was ich wissen sollte«, forderte ich die beiden auf, die einen feixenden Blick tauschten und dann zu mir kamen. AJ lümmelte sich ans Fußende meiner Bettseite, Nell dagegen nahm auf AJs Seite Platz. Sie saß auf ihrer linken Pobacke und hatte ihre Beine seitlich angewinkelt. Irgendwie schaffte sie es, mit der gepufften Daunenbettwäsche um sich herum dabei würdevoll auszusehen. Ich selbst lehnte mich mit einem Kopfkissen im Rücken an mein Kopfteil.

AJ kuschelte sich mit funkelndem Blick auf die Decke, die sie als Stütze unter sich zusammendrückte. »Schieß los, Nell.«

Nell schien einen Moment nachzudenken, dann erzählte sie: »Also, unsere AJ hier ist ein regelrechtes Schandmaul. Sie benimmt sich wie eine raue Draufgängerin, aber Hunde, die bellen, beißen nicht. Die Kleine sucht sich immer einen Kerl aus und bleibt die komplette Zeit bei ihm. Letztes Jahr war es Florian, der Skilehrer.«

Ich fühlte mich für einen Moment unwohl, doch als ich AJs breites Grinsen sah, entspannte ich mich und musste über die offene verspielte Art der beiden lächeln.

»Ah ja, hoffe, er ist wieder da. Dieser Daniel ist nicht gerade mein Typ. Und Flos bestes Stück war yummie!«, schnurrte sie und wir prusteten los.

»Ich selbst bin keine Konkurrenz, was die Männer angeht. Ich bin lesbisch«, erklärte Nell mit scheinbar keckem Blick. Die Röte auf ihren Wangen verriet sie allerdings.

»Also zweimal keine wirkliche Konkurrenz.« Ich hakte eine imaginäre Liste ab und streckte AJ, die empört aufgeschrien hatte, die Zunge raus. Gerade so wehrte ich die Packung Taschentücher ab, die sie nach mir warf. »Hey!«, beschwerte ich mich ausgelassen.

Nell, die herzhaft über uns lachte, holte tief Luft, um fortzufahren. »Dina und AJ waren letztes Jahr ein Kopf und ein Arsch. Wie mir scheint, haben sich die beiden Hübschen inzwischen in unterschiedliche Richtungen entwickelt.«

»Sie«, schnaubte AJ.

»Auf jeden Fall sind sie zwar noch befreundet, aber nicht mehr unzertrennlich. Dina ist … freizügig«, formulierte Nell es bedacht und kassierte einen Das-ist-voll-untertrieben-Blick von AJ.

»Also Konkurrenz.« Ich nickte mit bemüht ernster Miene und Nell stutzte. Dann verzog sie schmunzelnd ihre Lippen und erhob tadelnd ihren Zeigefinger. »Ein kleiner Teufel, was?«

»Gut, auf wem war sie schon alles drauf? Will ja nichts Ausgelutschtes«, verkündete ich, um derb zu sein, schüttelte aber schon im nächsten Moment über mich selbst schockiert meinen Kopf. »Entschuldigt, das geht mich nichts an!« Ich war entsetzt. Das war so typisch. Immer redete ich erst und dachte dann nach. Scham brannte in meinen Wangen und in meiner Brust.

AJ runzelte mit wachsamem Blick die Stirn. »Bist du ’ne Anständige in der Hinsicht?«

Ich zögerte. »Das war ich mal.« So lautete wohl inzwischen die korrekte Antwort.

»Gebrochenes Herz, mhm?«, meinte AJ in einem wissenden, fast schon melancholischen Tonfall.

Ich stutzte, dann lachte ich, allerdings nur, damit ich nicht weinte, und die zwei merkten das sofort.

»Belle«, erinnerte AJ Nell. Dankbar für den Themenwechsel schob ich all die hochkochenden Erinnerungen zurück in ihre winzige Schublade ganz hinten in meinem Gedächtnis.

Nell nickte eifrig, und ihre kinnlangen roten Locken wippten dabei richtig süß. Schnell fuhr sie fort: »Also, Isabelle ist dezent, aber kein Kind von Traurigkeit. Sie ist letztes Jahr mit Felix zusammengekommen. Nun haben die zwei eine Art Fernbeziehung geführt, bis Isabelle angefangen hat, in Frankfurt zu studieren. Jetzt sehen sie sich während des Semesters, und zwischendrin führen sie weiterhin eine Fernbeziehung«, erzählte Nell.

Das hatte ich gar nicht gewusst. Ich kannte Isabelle auch nur oberflächlich und wusste immerhin, dass sie während ihres Semesters inzwischen in Frankfurt wohnte, sonst war mir kaum etwas über meine Nachbarin bekannt.

»Okay, also ist Felix von den Jungs raus.« Ich nahm meinen alten Faden wieder auf. Nell lächelte sanft, als ich so auf ihren Themenwechsel einging.

AJ wiegte abschätzend den Kopf. »Sollte man meinen, aber der Kerl baggert alles an, was nicht bei drei auf den Bäumen ist. Ich glaube, er liebt Isabelle zwar, nur liebt er eben auch ’ne Menge anderer Frauen, wenn du weißt, was ich meine.«

»Denkst du, er ist untreu?« Es überraschte mich, dass Isabelle das mitmachte.

»Nein«, wehrte Nell entschieden ab. »Ich glaube, er reizt die Grenze aus, soweit er kann.«

Okay, also flirten, aber nicht anfassen, speicherte ich ab. Die Grenzen dessen, was man durfte und was nicht, hatten sich in den letzten Monaten für mich verschoben. Jeder Mensch war selbst verantwortlich für seine Entscheidungen, und ich hatte entschieden, niemals die andere Frau zu werden. Das hinderte mich allerdings nicht daran, den Nervenkitzel eines guten Flirts zu genießen, egal ob mein Flirtpartner vergeben war oder nicht.

»Du wirst es schon noch selbst merken. Felix ist rau und hat einen unbezwingbaren Charme.« AJ lächelte leicht verträumt. »Jetzt Kai«, forderte sie wie ein Kind, das einem Märchen lauschte. Sie lümmelte sich noch etwas tiefer in die Decke und linste hinauf zu Nell.

»Kai ist ein Skater. Ein herzensguter und verdammt sexy Skater. Er hat blaue Augen und schwarze, kurze Haare. Sein schlanker Körper ist voller filigraner Muskeln und seine Hände sind rau und männlich«, seufzte Nell.

Ich runzelte die Stirn. »Ich dachte, du stehst auf Frauen«, rutschte es mir heraus.

»Ich schon.« Nell grinste verspielt. »Aber AJ hat eine Schwäche für ihn. Nur will Miss Flirty das nicht zugeben.« Nell zwinkerte mir verschwörerisch zu. Ihre Augen funkelten wie bei einer liebevollen großen Schwester, wenn sie die kleine neckte.

»Also, Finger weg von Kai«, zog ich meinen Schluss.

»Nein, nein. Nell übertreibt«, meinte AJ. Doch ich sah in ihrem Blick, dass Finger weg genau das war, was sie von mir wollte.

»Weiter.« Bisher hatte mir Nell nur Jungs vorgestellt, von denen ich mich fernhalten sollte … und auch würde.

»Die drei anderen sind sehr unterschiedlich. Sonny, also Alexander, ist ein grundanständiger Kerl, dem man das wegen seiner Kifferei gar nicht zutraut. Er hat die richtigen Ansichten, ist allerdings auch ein Chaot durch und durch. Er feiert gern und hart und ist oft betrunken und beziehungsweise oder stoned. Trotzdem weiß er, was sich gehört.«

»Klingt komisch, ist aber so«, pflichtete AJ ihr auf meinen zweifelnden Blick hin bei.

»Lysander ist groß, kräftig, blond und stark.«

»Wie ein Wikinger«, rief AJ euphorisch.

»Ja, stimmt. Und irgendwie auch wie ein riesiger Teddybär«, ergänzte Nell. »Er und Sonny kicken zusammen in derselben Fußballmannschaft, und ich find sie beide echt toll. So anständige Kerle, das gibt es heutzutage nicht mehr oft. Würden Männer mich interessieren, die beiden wären welche fürs Leben und nicht nur für eine schnelle Nummer.«

»Beruhigt mich zu hören«, brummte ein Hüne von einem Mann, der plötzlich in unserem Türrahmen lehnte. Ich zog betreten meinen Kopf ein, immerhin hatte er uns gerade beim Tratschen erwischt. Wie hatten wir nur die knarzenden Stufen hier herauf überhören können?

Seine schmunzelnden Züge nahmen mir allerdings die aufkeimende Scham sofort wieder. Zum Glück hatte Nell nichts Schlimmes gesagt.

»Ups, hab wohl vergessen, die Tür zuzumachen«, meinte AJ mit gespielter Betroffenheit.

»Na klar«, schnaubte ein schlaksiger Mann mit blauen Augen und schwarzem Haar … äh, Kai? Das musste Kai sein. Ich blickte zu AJ und sah, was Nell meinte. Japp, eindeutig interessiert.

Kai ging durch den Raum und auf uns zu. Er setzte sich ans Fußende des Bettes, wo AJ ihm Platz machte, und tauschte einen Blick mit ihr, der mir das Gefühl gab, in eine intime Szene einzubrechen. Schnell sah ich zu den anderen zwei Männern, die ihm ins Zimmer gefolgt waren. Der Hüne war an der Tür stehen geblieben.

Einer der beiden Eintretenden, ein dünner Mann mit schmalem Gesicht und leichten O-Beinen, lehnte sich neben der Badezimmertür an die Wand und verschränkte seine Arme vor der Brust. »Erklärst also der Neuen, was hier so abgeht, Nellilein?«

Nell streckte ihm die Zunge raus und meinte: »Ist nur fair, wenn sie ein bisschen was erfährt, so als einzige Neue.« Damit wandte sie sich an mich. »Das ist Sonny.«

»Der anständige Kicker, wenn ich es richtig mitbekommen habe«, ergänzte er selbst mit verspielt verzogenen Mundwinkeln.

AJ lachte und der große Mann in der Tür gluckste leise.

»Also, den Wikinger und die anständigen Kerle fürs Leben, das haben wir gehört. Was sagt Nell so über uns zwei?«, fragte der vierte im Bunde, der sich am Fußende auf seine Unterarme gestützt über meinen Bettrahmen lehnte. Das war … äh, verdammt.

»Kai ist ein sexy Skater und du wurdest noch nicht erwähnt«, antwortete ich keck.

»Uh, ich bin sexy«, freute Kai sich.

Der Kerl an meinem Kopfende runzelte die Stirn. Er starrte mir direkt in die Augen. Für einen kurzen Moment fühlte ich mich seltsam nackt. Das Vibrieren meines Smartphones in meiner Hosentasche rettete mich. Ich fummelte es schnell heraus. Eine Nachricht von Rivera. Schon die drei Zeilen, die mir angezeigt wurden, ließen bittere Galle meinen Hals hinaufkriechen.

Du hast immer noch nicht geantwortet,

ob du dich an Sams Geschenk beteiligen

willst. Es ist kurz vor …

Schnell stopfte ich das Handy wieder in meine Tasche und hob meinen Blick, der auf blaugrüne Augen traf.

»Los, beeindruck mich. Wer ist wer?«, forderte er.

Ich zog meine Augenbrauen zusammen und legte meinen Kopf schief. »Beeindruck mich? Ernsthaft?«, fragte ich pikiert. Was bildete der Kerl sich bitte ein? Ich sah durchaus den Schalk in seinem Blick, trotzdem war das absolut chauvinistisch.

»Tja, Casanova, Elina ist zu heiß für dich«, neckte AJ. »Sie hängt nicht sabbernd an deinen Lippen.«

Der Kerl wandte sich AJ zu und ich entdeckte eine Narbe an seinem Hals. Das dunkelblonde Haar verdeckte zwar ihren Ansatz, aber da sie bis zur Mitte seines Halses hinunterreichte, sah ich sie trotzdem sehr deutlich.

»Und keiner sabbert so gut wie Dina«, ätzte er.

»Pfui. Also wirklich. Das wollen wir gar nicht wissen!«, schimpfte Nell wie eine Mutter.

Der Kerl mit der Narbe drehte sich in ihre Richtung und seine Augen blitzten regelrecht auf. »Ach nein?« Er wirkte künstlich schockiert. Seine Stimme hatte einen bitterkalten Ton. »Wo wir hier doch gerade alle in Schubladen packen: Welche hattest du für mich, Nell?«, fragte er in so ruhigem Ton, dass ich mir nicht sicher war, ob er in Zorn schwelte oder nur desinteressiert am Gespräch teilnahm. Ich tippte intuitiv auf Ersteres, aber das war reines Bauchgefühl.

»Mh, Nell … Casanova? … Arschloch? … Sexbesessen?«, schlug AJ mürrisch vor.

»AJ«, rügte ich sie impulsiv. Eigentlich sollte ich mich nicht einmischen, nur war die Stimmung plötzlich so bitter geworden. War das nur neckend oder so ernst, wie es sich für mich anfühlte? Anhand der anderen versuchte ich die Situation einzuschätzen, aber Kai war damit beschäftigt, AJ anzuschmachten, und Sonny betrachtete geflissentlich seine Füße. Nur der Kerl im Türrahmen lächelte. Keine Ahnung, was das bedeutete. Es konnte sein, dass er sich darüber amüsierte, wie der Narbenmann die Weiber auseinandernahm. Es konnte aber genauso gut sein, dass der Typ mit der Narbe uns aufzog und Lysander sich das Grinsen nicht verkneifen konnte.

»Also schön, Grummel«, schnaubte ich. »Bis du reingeplatzt bist, hatten wir ’ne Menge Spaß. Menschen stecken alles in Schubladen. Schluck es und leb damit.«

Der Kerl sah mich direkt an. Sein dunkler Blick fuhr durch alle meine Schutzschichten. Das unangenehme Gefühl, entblößt zu sein, jagte einen Schauer durch meinen Körper. Schnell platzte ich mit dem Ersten heraus, was mir in den Sinn kam: »Also, zu deiner Frage: Lysander ist der Wikinger im Türrahmen, Sonny der Schuhstarrer am Schrank und Kai der blauäugige Skater neben dir. Da Nell zu dir noch nichts gesagt hat, habe ich nur den Eindruck eines Stimmungskillers«, ratterte ich meinen Bericht tonlos herunter. »So, ich hoffe, die Antwort war befriedigend. Und jetzt raus, damit wir wieder lachen können.« Mit meinen Händen wedelte ich in seine Richtung, als wollte ich eine lästige Fliege verscheuchen, und ehrlich gesagt war der Vergleich gar nicht so weit hergeholt. Ich wollte diese durchdringenden Augen wirklich dringend loswerden.

Stille.

Er starrte mich fest an, mir direkt in die Augen.

Ich hielt seinen Blick. Entschlossen, ja nicht zurückzuweichen, blinzelte ich nicht einmal. Es wurde ein regelrechter Wettkampf daraus.

Bis mich ein Kissen von der Seite traf und alle laut loslachten.

Überrumpelt sah ich mich nach dem Werfer um und erfasste ein Bild, das mich selbst zum Schmunzeln brachte. AJ hatte mich attackiert und der Wikinger zeitgleich den Narbenmann. Ich hatte bei meiner Starrerei nicht einmal bemerkt, dass Lysander sich bewegt hatte. Himmel, musste ich gebannt gewesen sein.

Noch bevor einer von uns jedoch etwas sagen konnte, kamen Isabelle und der fünfte Mann ins Zimmer, das hieß, sie blieben dort stehen, wo Lysander zuvor gestanden hatte, händchenhaltend und lächelnd. »Was ist denn hier los?« Isabelle sah sich strahlend im Zimmer um. Ich könnte wetten, dass sie unbedingt teilhaben wollte.

Ich zog meinen Kopf ein wenig ein und hielt geflissentlich die Klappe. Alle hier schienen sie leiden zu können.

»Die Neue schröpft Noah«, berichtete Sonny mit amüsiertem Ton.

Isabelles Blick traf mich und mir wurde kalt. Sie sagte nichts, sondern lächelte nur. Und das gekonnt. Wäre ich mir nicht hundertprozentig sicher gewesen, dass sie mich hasste, hätte ich das nicht im Geringsten an ihrem Lächeln erkennen können, nur an ihren Augen.

»Die Neue … Elina, richtig?«, mischte sich Felix ein. Sein süffisantes Lächeln hatte durchaus was für sich. Und sein Körper … wow! Er wirkte wie die Sorte Mann, denen die Frauen einfach zuflogen. Klar, dass er Isabelle bekommen hatte. So eine Schönheit konnte jeden haben, den sie wollte, und Felix schien ihrer würdig. Er hatte dieses Lächeln, das einen schwindeln ließ. Dazu den perfekten Sonnyboylook, und der krasse Kontrast zwischen dunklen Haaren und hellen Augen … tja, er war jedoch mit Isabelle zusammen.

»Richtig«, bestätigte ich freundlich. »Und du musst dann Felix sein.«

»Oh!«, grölte Sonny. »Jeden Namen kennt sie, nur deinen nicht!« Er feixte in Noahs Richtung, der sich an den Tisch direkt unterm Fenster zurückgezogen hatte.

Ich errötete. »Nur weil Nell noch nichts über ihn erzählt hatte«, verteidigte ich mich leise. Ich wollte hier niemanden herabwürdigen. Es war reiner Zufall gewesen, dass ich seinen Namen als einzigen noch nicht kannte, und vielleicht war ich ein wenig garstig gewesen wegen dieser verdammten Nachricht meiner Schwester. Dass sie mich das überhaupt fragte … ich könnte immer noch schreien vor Wut.

»Ha! Da zieht die Katze plötzlich ihre Krallen wieder ein«, kommentierte Lysander und musterte mich nach vorn gelehnt auf das Fußende gestützt wie Noah zuvor.

Ich sackte etwas in mich zusammen und spürte das heiße Glühen in meinen Wangen. Hervorragend, ich hatte es irgendwie geschafft, zum Mittelpunkt des Geschehens zu werden. Ein mieses Gefühl, wenn man keine Ahnung hatte, was die anderen von einem hielten.

»Sie wird ja richtig rot«, stichelte Noah, der hinüber zum Fenster geschlendert war und sich dort auf einen der Stühle gesetzt hatte.

»Rot wie die untergehende Sonne«, stimmte Kai lachend zu.

»Tz«, schnaubte ich trotzig. »Untergehende Sonne. Schwimmst du am anderen Ufer, oder kommen die romantischen Vergleiche durch das Kiffen?«, frotzelte ich bissig. »Man sagt: rot wie eine Tomate oder meinetwegen noch wie die Tapete, oder was sonst gerade rot im Zimmer ist, aber die untergehende Sonne? Schlimmer wäre nur noch wie eine Rose gewesen.« Mit gespielt lieblicher Stimme faltete ich meine Hände in dahinschmelzender Theatralik.

Es herrschte einen kurzen Moment lang Stille. Lange genug, um zu begreifen, dass der Kommentar zum anderen Ufer in Anwesenheit einer Lesbe wirklich unangebracht und auch absolut diskriminierend war. So auf Kai herumzuhacken … verdammt, was war nur in mich gefahren?

»Tada, da sind die Krallen wieder«, kommentierte Felix.

»Und die Röte ist weg«, murmelte Lysander, der mich so intensiv beobachtete, als wäre ich ein spannendes Experiment.

»Ich würde auch beißen, wenn jeder mich anstarrt«, meinte AJ schnippisch und streckte Lysander die Zunge raus. »Und du, Noah, hast das voll provoziert.«

Ich sah unweigerlich zu dem Kerl mit der Narbe. Ein Bein übergeschlagen, saß er lässig auf dem Stuhl und lächelte verschmitzt. »Hab ich wohl.« Wenig reumütig zuckte er mit den Schultern.

Jetzt im Ernst?

»So, Elina, da du sie nun alle kennengelernt hast, was hältst du von Nells Urteil?«, fragte AJ neugierig.

»AJ!«, rügte diesmal Nell sie mit umherhuschendem Blick, nur war ich überhaupt nicht mehr in Spielstimmung. Mir hing mein fieser Kommentar Kai gegenüber noch schwer im Magen. Ich nahm mir vor, mich später zu entschuldigen, wenn wir mal unter uns waren.

»Das würde mich jetzt auch interessieren«, meinte ausgerechnet Kai. Aus dem Bedürfnis heraus, ihn nicht noch einmal vor den Kopf zu stoßen, versuchte ich nun doch mitzuspielen.

»Mh … « Ich tippte mit meinem Zeigefinger auf meine Lippen. »Felix kann ich noch nicht einschätzen. Lysander: stimmt, denke ich, aber ich glaube, wir müssen Stille Wasser sind tief hinzufügen. Sonny und Kai würde ich so unterschreiben.« Noch ehe jemand darauf antworten konnte, blickte ich dem Narbenmann wieder fest in die Augen. »Und Noah ist nicht einschätzbar«, schloss ich.

Noahs Augen blitzten, während die anderen im Raum erheitert lachten.

»Soll ich das als Kompliment oder Beleidigung verstehen?«

Ich legte eine teilnahmslose Miene auf. »Ganz wie du willst.« Damit wandte ich mich wieder an Nell und fragte: »Und der Kerl, der vorhin auf dem Flur diese emotionale Rede geschwungen hat?«

Sie zuckte mit den Schultern, wobei ihre kinnlangen roten Locken wieder so knuffig wippten. »Den kennen wir noch nicht. Er heißt Daniel und ist wohl auch Teil des Alpinlagers.« Also stimmte die Info in der Mail und das war Daniel, unser Skilehrer, gewesen.

»Daniel?«, fragte Noah nach und sah dann Felix vielsagend an.

»Du meinst, der Daniel?«, überlegte Felix laut.

Noah legte unschlüssig den Kopf zur Seite.

»Hallo! Aufklärung bitte!«, forderte AJ.

»Also, das geht so mit den Bienchen und den Blümchen …«, begann ich mit belehrend erhobenem Finger und alle grinsten oder lachten. Alle, bis auf Isabelle. AJ lachte erst mit, ehe sie ein halbwegs empörtes »Hey!« von sich gab und mich gegen die Schulter schubste.

»Daniel ist in Sachen Casanova noch schlimmer als Noah«, meinte Isabelle grinsend, und sie alle sprangen sofort darauf an.

»Das geht?«, fragte AJ.

Noah legte ein genießendes Lächeln auf, während Lysander meinte: »Ihr wärt überrascht.«

»Darüber, wie wenig Casanova Noah in Wirklichkeit ist, oder darüber, dass es tatsächlich schlimmer geht?«, stichelte AJ.

»Beides.«