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ÜBER DIE AUTORIN

Milena Moser, 1963 in Zürich geboren, ist eine der erfolgreichsten Schriftstellerinnen der Schweiz. 2015 emigrierte sie nach Santa Fe und lebt heute in San Francisco. Bei Kein & Aber erschienen bisher Das schöne Leben der Toten (2019) und Land der Söhne (2020).

ÜBER DAS BUCH

Helens Kindheit ist keine unbeschwerte. Ihre Mutter verarbeitet die Trennung von Helens Vater Luc vornehmlich mit Alkohol, während sich dieser eher seinem Reporter-Job und seinen wechselnden Freundinnen widmet, als sich seiner Verantwortung zu stellen. So lernt Helen früher als ihr lieb ist, wie man sich allein für den Kindergarten bereitmacht und die Ausbrüche der Mutter vor den schaulustigen Nachbarinnen vertuscht. Glücklicherweise wohnt da auch die Familie Esposito mit Sohn Frank, der Helens Hand hält und sein Lunchpaket mit ihr teilt. Als Luc eines Tages das Sorgerecht beansprucht, steht Helen vor einer grundlegenden Entscheidung. Welchen Lauf wird ihr Leben nehmen? Wird sie erfolgreich sein, verheiratet mit ihrer Sandkastenliebe, aber belastet mit einer Schuld, die das Familienglück trübt? Oder will sie nur weit weg, endlich unabhängig sein, sich ausprobieren und neu erfinden? Man lebt schließlich nur einmal – oder?

Kein & Aber

HELEN

1975

1.

Es war heute. Heute war der Tag, das wusste Helen gleich. Sie war aufgewacht, weil sie den Wecker gehört hatte, im Zimmer ihrer Mutter auf der anderen Seite des Flurs. Sie hörte ein einziges Klingeln und ein dumpfes Geräusch und dann nichts mehr. Ihre Mutter hatte den Wecker gehört und ausgeschaltet. Aber sie war nicht aufgestanden.

Helen wartete, warten konnte sie gut. Sie wartete darauf, dass ihre Mutter aufwachte. Sie wartete darauf, dass Mama Frühstück machte. Sie wartete auf Papa, der versprochen hatte, sie abzuholen und mit ihr in den Zoo zu fahren, wo es echte Löwen gab und Elefanten. Sie wartete auf die Gutenachtgeschichte im Fernsehen, die einzige Sendung, die sie sehen durfte. Sie wartete, bis die großen Jungen den Spielplatz freigaben. Sie wartete darauf, dass sie einschlief. Sie wartete.

Es machte ihr nichts aus. Helen hatte ein Haus in ihrem Kopf. Das Haus war voller Türen und hinter jeder befand sich ein Zimmer, immer ein anderes und immer eine Überraschung. Manche waren voller Bilderbücher, andere voller Süßigkeiten. In einem schwebten alle Möbel an der Decke, in einem anderen stand ein Pferd auf einem Teppich aus Gras.

Am Anfang hatte sie immer nur das Haus gesehen, in dem sie früher gewohnt hatte, bevor sie mit ihrer Mutter in diese Siedlung gezogen war. Sie sah das rote Samtsofa gleich hinter der Eingangstür, das Wohnzimmer mit dem flauschigen weißen Teppich und dem alten Ledersessel, in dem ihr Vater immer saß und die Zeitung las und rauchte. Der Sessel erinnerte Helen an einen Elefanten, seine graue zerknitterte Haut, die sie im Zoo einmal von ganz nahe gesehen hatte. Helen lag auf dem Bauch auf dem flauschigen Teppich, die Wollflusen bewegten sich wie Grashalme und kitzelten sie. Dann war sie in der Küche und half ihrer Mutter, frische Apfelschnitze auf dem Kuchenteig anzurichten, immer rund und rund im Kreis herum wie ein Schneckenhaus. Sie sah ihr Zimmer. Es hatte schräge Wände, die ihre Mutter mit dünnem Vorhangstoff bespannt hatte. Wenn man das Fenster öffnete, bauschte sich der Stoff im Wind. Manchmal stellte Helen sich vor, sie sei auf einem Schiff. Ihr altes Zimmer war größer gewesen als das hier in der Siedlung, sie hatte nicht all ihre Sachen mitnehmen können. Aber vor allem war ihr Vater nicht mitgekommen.

Ihre Eltern waren getrennt. Getrennt, das war, wenn sauer gewordene Milch im Kaffee flockte und in schmutzigen Wolken auf der Tasse schwamm, statt zu dem perfekten Hellbraun zu verschmelzen, das Mama so liebte. Helen wusste nicht, wie man Kaffee kochte, aber sie konnte die Milch dazugießen und umrühren, sie wusste genau, wie der Kaffee aussehen musste, damit ihre Mutter ihn gerne trank. Milch, die sich vom Kaffee trennte, war etwas Widerwärtiges. Getrennte Eltern auch. Man durfte nicht darüber reden, das Wort nicht mal aussprechen. Sie presste immer die Lippen zusammen, wenn die anderen Mütter danach fragten: »Wo ist denn dein Vater, Helen? Kommt er bald wieder vorbei? Sind deine Eltern getrennt?«

Wenn Mama so etwas hörte, antwortete sie scharf: »Wir sind nicht wirklich geschieden! Nur auf dem Papier.«

Wenn Helen nur wüsste, wo dieses Papier war. Dann könnte sie es einfach mit der Schere zerschneiden und alles wäre wieder gut. Schere, Stein, Papier!

Ihre Eltern hatten immer schon viel gestritten. Oder laut geredet. Das sagte Mama jeweils, um sie zu trösten: »Wir reden nur laut.« Und Vera hatte immer schon »Launen« gehabt. »Deine Mutter und ihre Launen«, sagte Luc immer. Mit einem Seufzen in der Stimme, als rede er über das Wetter, über etwas, das man einfach hinnehmen musste. Man konnte nie wissen, ob sie lachen oder weinen würde, wenn sich ihr Mund verzog. Helen studierte die Mundwinkel ihrer Mutter, wie sie zitterten und zuckten, nach unten zeigten oder manchmal auch nach oben, wie sich ihre Lippen kräuselten oder streckten. Sie kannte jede ihrer Regungen. Und konnte sie doch nie richtig einschätzen. Schon ganz früher, vor der Trennung, im alten Haus, war Veras Stimmung manchmal ganz plötzlich umgeschlagen. Ohne die geringste Vorwarnung. Eben noch hatte sie liebevoll den Tisch gedeckt, ein von Helen bemaltes und mit einem Strauß Gänseblümchen aus dem Garten bestücktes Joghurtglas in die Mitte gestellt. Doch plötzlich sackte sie in sich zusammen, als hätte ihr jemand die Luft abgelassen, wie bei einem Ballon. Dann setzte Vera sich auf den Boden und weinte, während das Essen im Ofen verbrannte und die Küche sich mit Rauch füllte. Manchmal hielt sie mitten im Putzen inne, schaltete den Staubsauger aus und legte stattdessen eine Schallplatte auf. Dann wirbelte sie mit Helen durchs Wohnzimmer, hielt sie an den Händen und schwang sie hoch, hoch, hoch bis unter die Zimmerdecke. Helen konnte nie wissen, was als nächstes passieren würde. Sie hielt deshalb immer ein wenig den Atem an.

Später wurde ihre Mutter immer öfter wütend, sie warf Gläser an die Wand, Teller, Tassen. Einmal hatte sie Papas Anzüge im Kamin verbrannt, das ganze Haus hatte tagelang nach verkohltem Plastik gestunken. Ein andermal hatte sie seine Bücher aus dem Fenster geworfen. Doch dann hatte es zu regnen begonnen. Barfuß war sie hinausgerannt, um die Bücher zu retten, aber es war zu spät, sie waren ruiniert. Als Papa schließlich eines Abends mit zwei Koffern im Flur stand, fiel Mama laut schluchzend auf die Knie und klammerte sich an seine Beine. Er musste ganz komische, steife Schritte machen wie ein Storch. Helen war damals erst vier, aber sie wusste, dass es kein Spiel war. Ihr Vater meinte es ernst. »Papa!«, rief Helen und warf sich neben Mama auf den Boden, klammerte sich an sein anderes Hosenbein. Und da blieb er stehen. Er ging in die Knie und hob Helen vom Boden auf, nahm ihr Gesicht in beide Hände und sagte: »Du nicht, Prinzessin, du nicht!«

Zu Vera sagte er: »Wie tief kannst du noch sinken?« Er schüttelte sie beide ab, stieg mit einem großen Schritt über sie hinweg und zur Tür hinaus. Sie hörten seinen VW Käfer husten und knattern und schließlich davonfahren. Mama heulte auf wie ein Tier, kroch auf allen Vieren zur Tür und hämmerte mit den Fäusten dagegen. Helen wusste nicht mehr, wie es weitergegangen war, irgendwie war es weitergegangen.

Helen lauschte. Beide Zimmertüren standen offen. Sie konnte nachts nicht schlafen ohne das helle Flurlicht, das schräg in ihr Zimmer fiel. Mama machte ihre Tür manchmal nachts zu. Dann schlich sich Helen aus dem Bett und öffnete sie wieder, ganz leise. War ihre Mutter einmal eingeschlafen, konnte man sie kaum aufwecken. Häufig schnaufte sie dabei laut, trotzdem fühlte Helen sich besser, wenn ihre Zimmertür offenstand.

Es war so still, meist konnte sie die Nachbarn durch die dünnen Wände hören, ihren Fernseher, das Radio, ihre Stimmen. Frau Hofstetter auf der anderen Seite schrie immer ihren Mann an. Ihre Mutter sagte, das sei, weil er nicht mehr gut hörte. Er schrie nie zurück.

Helen stand auf. Auf dem Bettrand lagen ihre Kleider ausgebreitet wie die einer Papierpuppe. Neben dem Bett standen die neuen Pantoffeln, die sie mitbringen musste, und die kleine Tasche aus rotem Leder, die sie mit einem Fix-und-Foxi-Aufkleber verziert hatte. Er saß ein wenig schief.

Vor einem Jahr hätte Helen schon den Kindergarten besuchen sollen, zusammen mit ihrer Freundin Susanne, die damals an derselben Straße wohnte. Doch Mama hatte sie zurückbehalten. Helen hatte sich das Wort gemerkt. Mama hatte sie zurückbehalten, bei sich behalten. Weil Papa nicht mehr da war und sie tagsüber nicht allein sein wollte. Aber vielleicht war es auch, weil sie jetzt morgens immer sehr lange schlief. Sie holte immer mehr Weinflaschen aus dem Keller und trank sie ganz allein aus. Früher hatte Papa ihr dabei geholfen. Doch seit Papa weg war, war alles anders. Mama war jetzt immer müde, lachte nicht mehr und tanzte nicht mehr. Sie nannte Helen nicht mehr »mein Mädchen«. Sie kochte nicht mehr, bügelte nicht mehr, fegte den Küchenboden nicht mehr. Helen versuchte verzweifelt, die Handreichungen, die sie so oft beobachtet hatte, aus dem Gedächtnis nachzuahmen. Sie hatte Mama doch immer geholfen, sie war ihr durchs Haus gefolgt wie ein Hündchen, von oben nach unten, von einem Zimmer zum nächsten. Sie wusste genau, was Mama jeden Tag getan hatte: lüften, Betten machen, abstauben, staubsaugen … Aber wenn sie es allein versuchte, konnte sie es nicht.

Und dann sagte Papa, sie könnten das Haus nicht länger halten. Das war Mamas Beruf, das Haus zu halten. Das sagte sie doch immer. Wie sehr sie es liebte, das Haus zu halten, und dass es nichts gäbe, was sie lieber tun würde. Aber offenbar nur, wenn Papa auch in dem Haus war. Helen allein war nicht genug.

Statt einem Haus, das sie nicht halten konnten, hatten sie nun zwei Wohnungen, eine in der Siedlung und eine in der Nähe von Papas Arbeit. Das war kein guter Tausch, fand Helen. Papa hatte beim Umzug geholfen. Er hatte an den Türen geklingelt und sich den Nachbarinnen vorgestellt. Alle mochten ihn. Sie kannten ihn vom Fernsehen und waren ganz aufgeregt, ihn persönlich kennenzulernen. Auch deshalb ging Helen nicht gern in den Hof hinunter zum Spielen oder zu den anderen Kindern nach Hause. Wegen der Mütter. Ständig fragten sie nach ihrem Papa. Wie es ihm ginge und wann er wiederkäme. Vielleicht war das auch der Grund, warum Mama nur noch selten die Wohnung verließ.

Papa kam oft vorbei, aber immer nur kurz und nie dann, wenn er es versprochen hatte. Er hatte die Lampen in der Küche montiert und den Bücherschrank an die Wand geschoben. Er öffnete die Briefe von der Bank und vom Steueramt, er legte die Rechnungen in ordentlichen Stapeln auf den Küchentisch und half Mama, die Einzahlungsscheine auszufüllen. Manchmal ließ er auch Geld auf dem Tisch liegen, zerknitterte Noten, die Mama mit der Handkante glattstrich als wären es Briefe.

»Natürlich liebt er uns noch«, sagte Mama. »Er braucht nur etwas Abstand. Das tut jeder Beziehung gut. Und dein Vater ist nun mal ein Freigeist.«

Jetzt hörte sie eine Tür schlagen, das Getrampel von Füßen im Hausflur, die laute Stimme von Frau Huber. »Dani, deine Turnsachen! Barbie, die Jacke!« Ihre Stimme war schrill. Wie ein Messer, das auf dem Teller abrutschte. Frau Huber hielt sich für etwas Besseres, sagte Mama immer.

Der Kindergarten begann später als die richtige Schule, wusste Helen. Aber wie viel später? Sie würde sich besser auch langsam bereit machen. Auf Sockenfüßen schlich sie zu Mamas Zimmer, doch sie ging nicht hinein. Sie blieb in der Tür stehen, mit sicherem Abstand zum Bett. Ihre Mutter hatte die Decke abgeworfen. Sie trug noch das Kleid vom Vorabend, das Gelbe mit den dicken, weißen Blumen, das Helen so gern mochte. Jetzt war es ganz zerknittert.

»Mama, Mama!«, rief sie vom Türrahmen aus. »Wach auf!« Ihre Mutter seufzte und drehte sich um, aber sie öffnete nicht die Augen. Ihr schönes Kleid hatte vorne einen großen, dunklen Fleck. Schon gefiel es Helen nicht mehr. Sie drehte sich um und ging in ihr eigenes Zimmer zurück. Sie zog sich fertig an, wusch sich die Hände im Bad, fuhr sich mit der Bürste durch die Haare. Eigentlich müsste sie auch die Zähne putzen, aber das war ihr jetzt zu viel. Helen nahm die neue Kindergartentasche vom Stuhl und legte sich den Riemen quer über die Brust. Die Tasche war leer. Sie versuchte sich zu erinnern, was ihre Mutter gestern gesagt hatte. Musste sie etwas mitbringen? Etwas zu essen? Hatte Mama etwas für sie vorbereitet?

Sie öffnete den Kühlschrank. Die Auswahl war nicht groß. Den offenen Milchkarton konnte sie nicht gut einpacken. Sie öffnete alle Klappen und zog an allen Schubladen, bis sie etwas fand, das sie einstecken konnte. Dann schlüpfte sie in ihre Gummistiefel, die einzigen Schuhe, die sie allein anziehen konnte. Im Kindergarten würde sie lernen, ihre Schuhe zu binden. Das hatte Frank ihr erzählt, der es wiederum von den älteren Kindern wusste, die im Hof spielten. Frank war ein Jahr jünger als Helen, aber er wusste mehr als sie. Frank war ihr Freund.

Sie trat in den Flur hinaus und zog die Tür hinter sich zu. Einen eigenen Schlüssel hatte sie nicht. Aber ihre Mutter war ja zu Hause. Sie würde aufwachen und sich erinnern. Vielleicht sogar rechtzeitig, um sie nach dem Kindergarten abzuholen.

Helens Plan war ganz einfach: Sie würde im Treppenhaus warten, bis Frank sich auf den Weg machte und ihm folgen.

2.

Frau Esposito trug einen Regenmantel, der falsch zugeknöpft war, darunter schaute ihr Nachthemd hervor. Barfuß schlüpfte sie nur in ein Paar Gummistiefel, die neben der Tür standen. Schwarz mit einem kleinen Absatz. Lippenstift trug sie keinen, und die langen Haare waren zu einem strubbeligen Pferdeschwanz gebunden. Sie sah müde aus. Herr Esposito kam nicht wie die anderen Väter jeden Abend von der Arbeit nach Hause, sondern nur alle zwei Wochen. Dafür blieb er dann gleich ein paar Tage. Er fuhr einen Lastwagen. Alle zwei Wochen tönte Musik aus ihrer Wohnung und im Treppenhaus roch es tagelang nach Essen. Alle zwei Wochen föhnte Frau Esposito ihre langen Haare glatt, bis sie wie ein glänzender Vorhang über ihre Schultern fielen, und trug rosa Lippenstift auf. Alle zwei Wochen lachte sie.

Jetzt verschwand sie nochmal in der Wohnung und kam mit einem Deckenbündel zurück, in dem die kleine Maja schlief, die alle Meieli nannten. Den zweijährigen Marco hatte sie in eine Art Geschirr geschnallt, an dem ein Riemen befestigt war. Wie die Zügel der Ponys im Kinderzoo, dachte Helen. Frank hatte sich die Haare mit Wasser zurückgekämmt, seine Locken klebten am Kopf fest. Helen konnte die Linien sehen, die der Kamm gezogen hatte. Fragend schaute er sie an, hob stumm seine blaue Kindergartentasche hoch und zeigte ihr den Schlumpf-Aufkleber auf der Klappe.

Helen hob zur Antwort ihre rote Tasche hoch. Sobald sie Frank sah, fühlte sie sich besser. Wenn sie mit ihm zusammen war, konnte ihr nichts passieren.

»Kommst du mit uns?«, fragte Frau Esposito und Helen nickte. Sie stellte keine weiteren Fragen. Wo ist deine Mutter, zum Beispiel. Bist du ganz allein? Weiß deine Mutter denn nicht, dass heute der Kindergarten beginnt?

»Halt mal«, sagte sie nur und reichte ihr die Riemen, die an Marcos Geschirr befestigt waren. Dieser scharrte mit den Füßen wie ein richtiges Pferdchen.

Im Erdgeschoss musste Frank mit dem Kinderwagen und der Tür helfen. Frau Huber hatte Unterschriften gesammelt gegen das Abstellen des Kinderwagens im Eingang. Helens Mutter hatte sich geweigert, zu unterschreiben. Sie hatte Frau Huber etwas von Frauensolidarität erzählt und dass sie sich schämen sollte und ihr dann die Tür vor der Nase zugeschlagen. Das hatte sie bei den anderen Müttern nicht gerade beliebter gemacht.

Endlich zogen sie los. Eine Mutter mit vier Kindern. Kein ungewöhnlicher Anblick in der Siedlung. Auch ganz allein würde Helen schon morgen nicht mehr auffallen. Nur am ersten Tag wurden die Kinder von ihren Müttern begleitet.

Die älteren Jungen rannten über die Straße, ohne das grüne Männlein abzuwarten, manchmal blieben sie nicht mal auf dem gelben Streifen. Helen beobachtete solches Verhalten mit Interesse. Man musste sich schon sehr sicher fühlen, um so etwas zu tun. Helen blieb lieber auf dem Gehsteig.

Als sie vor dem Kindergarten ankamen, wartete Fräulein Imbach, die Kindergärtnerin, ungeduldig vor der offenen Tür. Von weitem sah sie jung und lustig aus, mit bunten Ringelstrümpfen unter dem kurzen Rock und langen, schwarzen Haaren, die seitlich zu wippenden Zöpfen gebunden und mit roten Bommeln geschmückt waren. Doch je näher sie kamen, desto älter und missmutiger wirkte sie. Tiefe Linien zogen sich um ihren Mund wie bei einem Clown. Scheu duckte Helen sich hinter den Kinderwagen.

»Da seid ihr ja endlich«, rief Fräulein Imbach. »Du musst wohl Franco sein.«

»Ich heiße Frank.« Sein Vater hieß Franco, das hatte Frank mal erzählt, ganz leise, als sei es ein Geheimnis. Und dass er Italiener sei. Das wusste Helen aber schon.

Fräulein Imbach schaute auf ihre Liste. »Frank, also. Und du bist die Helen?«

Helen nickte schüchtern.

»Dann mal rein mit euch, ihr seid die Letzten.« Durch die offene Tür konnte Helen in den Raum sehen. Kleine Stühle waren im Kreis angeordnet, auf jedem saß ein Kind und hinter jedem Stuhl stand eine Mutter. Frau Esposito würde sich also nicht vor der Tür von ihnen verabschieden, nein, sie würde mit hineinkommen und hinter Franks Stuhl stehen. So dass alle sehen konnten, wer zu wem gehörte und wer niemanden hatte, nämlich sie. Helen.

Doch dann fing Meieli an, zu weinen und Marco stimmte mit ein. Frau Esposito schaute nach rechts und nach links, knöpfte das Verdeck des Kinderwagens auf und machte Anstalten, Meieli hinauszuheben. Fräulein Imbach nahm Helen und Frank an der Hand.

»Sie können gerne gehen, Frau Esposito, wir kommen schon zurecht.« Es klang nicht besonders freundlich. Fräulein Imbach ging schnell, die Kinder mussten laufen, um mitzukommen, Helens Handgelenk schmerzte im harten Griff.

»Hier könnt ihr eure Schuhe wechseln.« Sie zeigte auf die letzten beiden Haken ganz am Ende der Wand. Frank setzte sich hin und nahm seine Pantoffeln aus der blauen Tasche.

Die Pantoffeln! Sie hatte die Pantoffeln vergessen, die Mama extra für den Kindergarten gekauft und zusammen mit ihren Kleidern für heute bereitgelegt hatte. Sie waren schwarz getupft und hatten einen roten Bommel. Und Helen hatte sie unter ihrem Stuhl stehen lassen. Sie biss sich auf die Lippen, um nicht zu weinen.

Jetzt kam es. Es musste ja kommen: »Und wo ist deine Mutter?«

»Sie ist krank.« Ohne zu überlegen sagte sie das. Zum ersten Mal. Mit der Zeit würde sie es fast selbst glauben: Ihre Mama war krank. Schließlich lag sie hinter heruntergelassenen Läden im Bett und stöhnte im Schlaf.

»Krank, so.« Fräulein Imbach schien ihr nicht zu glauben. »Und die Hausschuhe hast du auch nicht?«

Stumm schüttelte Helen den Kopf. Fräulein Imbach nickte ein paar Mal. Ihre Lippen bewegten sich, als wollte sie etwas sagen.

»Nimm meine«, sagte Frank. Er rutschte auf der Bank zu ihr hinüber, streifte seine Pantoffeln ab und schob sie ihr hin. Dankbar schlüpfte sie hinein. Sie waren aus dunkelblauem Kordsamt und ein bisschen zu groß für sie. »Jungshausschuhe«. Franks Socken hatten Löcher, auf einer Seite schaute sein großer Zeh heraus, doch das schien ihn nicht zu kümmern. Er stand auf und nahm Helens Hand. Ohne Fräulein Imbach weiter zu beachten, zog er sie in den Kindergarten hinein, an den Kindern und Müttern vorbei zu den letzten beiden freien Stühlen.

3.

Frau Esposito kam zu spät. So lange Franks Mutter noch nicht hier war, dachte Helen, konnte ihre ja auch noch kommen. Während sie vor dem Kindergartentor warteten, hörten sie Fräulein Imbachs aufgeregte Stimme und dazwischen die der anderen Mütter.

»… etwas unternehmen«, hörten sie. »Nie erlebt.« Und immer wieder »Zwiebel!«

Helen wollte sich die Ohren zuhalten, aber Frank hielt ihre Hand und ließ sie nicht los. Sobald sie Frau Esposito an der Ampel entdeckten, rannten sie ihr entgegen. Sie fragte nicht, wie der erste Tag gewesen war, sie drückte ihnen je eine Einkaufstasche in die Hand und sagte beiläufig zu Helen: »Du bleibst zum Mittagessen, ja?«

Jetzt musste Frank Helens Hand loslassen, um die Tasche entgegenzunehmen. Helens Hand fühlte sich verlassen an. Sie steckte sie in den Jackenärmel und schüttelte tapfer den Kopf. »Meine Mutter wartet mit dem Essen auf mich«, behauptete sie. Herausfordernd schaute sie Frau Esposito an. Doch diese dachte nicht daran, ihr zu widersprechen und nickte nur. Meieli fing wieder an zu weinen, Marco stimmte mit ein. Helen vermutete allerdings, dass er nur so tat. Seine Augen blieben trocken und er schielte immer wieder zu seiner Mutter hinüber, die sich um Meieli bemühte. »Du saugst mich noch ganz aus«, sagte sie. Das sagte Helens Vater auch manchmal, in demselben erschöpften Ton, allerdings zu ihrer Mutter. Helen wunderte sich.

Dann setzte sich Marco einfach auf den Boden, mitten auf dem Gehsteig, und brüllte mit weit aufgerissenem Mund. Helen konnte sein Halszäpfchen sehen. Eine Frau, die einen Einkaufswagen aus kariertem Stoff hinter sich herzog, sagte ganz laut: »Immer diese Italos, missratene Tschinggenbande!« Jetzt hatte auch Frau Esposito Tränen in den Augen. Helen dachte, dass der Unterschied gar nicht so groß war. Zwischen ihrer Mutter und der von Frank.

Schließlich nahm Frau Esposito Meieli aus dem Wagen und hielt sie in einem Arm, während sie mit der anderen Hand die Leine festhielt, die an Marcos Gürtel befestigt war. Frank legte seine Einkaufstüte in den Wagen und bedeutete Helen, ihre dazuzulegen. Gemeinsam schoben sie den Wagen auf die andere Straßenseite, in die Siedlung hinein, und trugen ihn dann die Treppe in den zweiten Stock hinauf, was gar nicht so einfach war. Immer wieder kippte er, eine der Einkaufstüten fiel herunter und zwei große Kartoffeln kullerten die ganze Treppe hinunter. Helen wollte den Kartoffeln nachjagen, als der ganze Wagen umkippte. Frank fluchte.

Frau Esposito war schon oben, sie hatte die Wohnungstür offengelassen, sie konnten Meieli schreien hören. Dann verstummte das Schreiben abrupt, als ob man auf einen Knopf gedrückt hätte.

»Weißt du, wo die Milch herkommt?«, fragte Frank.

»Aus der Packung«, sagte Helen. Manchmal war Frank wirklich komisch.

»Aus meiner Mutter«, sagte Frank. »Ich schwörs!« Sie sammelten die im Treppenhaus verstreuten Lebensmittel zusammen, legten sie wieder auf die gelbe, gehäkelte Wolldecke, und endlich schob Frank den Wagen in die Wohnung hinein. Er winkte Helen, ihm zu folgen und hielt einen Finger an die Lippen: Sie musste still sein. Wie zwei Einbrecher schlichen sie den Flur entlang und blieben vor der Küchentür stehen. Marco saß in seinem Hochsitz und kaute an einer Brotrinde. Dicke, feuchte Krümel klebten in seinem Gesicht und auf seinen Händen. Helen ekelte sich ein bisschen. Dann sah sie Frau Esposito. Sie saß auf der Fensterbank, ein Bein anzogen, Meieli im Arm. Sie hatte ihre Bluse aufgeknöpft und den Büstenhalter nach oben geschoben, so dass man ihre Brüste sehen konnte. Sie waren größer als die von Vera und dunkler, die Brustwarzen waren riesig und fast schwarz. Aus einer tropfte eine durchsichtige Flüssigkeit, die andere steckte in Meielis Mund, die mit geschlossenen Augen daran sog und zufrieden schmatzte. Frau Esposito verzog ein wenig das Gesicht. Das musste doch wehtun, dachte Helen. Beim Spielen hatte sie ihrer Mutter mal den Ellbogen in die Brust gerammt, und sie hatte aufgeschrien. Vera trug allerdings auch keinen Büstenhalter, das fand sie überflüssig.

Auch das unterschied sie von den anderen Müttern. Dass ihre Brüste nicht steif und spitz unter der Kleidung vorstanden, sondern weich und rund waren und sich auf und ab bewegten.

Sie musste nach ihrer Mutter sehen, also schlich sie ebenso leise wieder aus der Wohnung, wie sie gekommen war, bevor Frau Esposito sie bemerkt hatte. Frank folgte ihr.

»Was hab ich gesagt?«

»Das wusste ich schon lange«, behauptete Helen. »Jedes Kind weiß das!« Sie hatte es satt, dass Frank so viel mehr wusste als sie, obwohl er ein Jahr jünger war. Deshalb fragte sie auch nicht, warum die Milch aus Frau Espositos Brust nicht weiß war wie die aus der Flasche, sondern durchsichtig. Langsam ging sie die Treppe hinauf. Ihre Füße wurden mit jedem Schritt schwerer, bis sie sie gar nicht mehr anheben konnte. Helen setzte sich auf die Stufe. Frank war ihr gefolgt und setzte sich neben sie. Manchmal ging er ihr wirklich auf die Nerven. Doch wegschicken mochte sie ihn auch nicht. Und als er ihre Hand in seine nahm, fühlte sie sich wieder etwas besser. So saßen sie einfach da, auf der Treppe, ohne zu reden.

Bis plötzlich Helens Vater an ihnen vorbeirannte. Er nahm zwei Stufen auf einmal, rannte so dicht an ihnen vorbei, dass er sie beinahe getreten hätte, und doch sah er sie nicht. Erst drei Stufen weiter oben blieb er stehen und rief: »Da bist du ja, Prinzessin!« Er kam zurück, hob sie hoch und trug sie in den vierten Stock hinauf. Dort setzte er sie ab und begann, an die Tür zu poltern, was Helen unnötig fand. Sie hatten schließlich eine Klingel.

Sie hörten, wie sich die anderen Türen im Stockwerk öffneten, Frau Hofstetter fragte, ob etwas passiert sei, und Frau Huber erkundigte sich scheinheilig, ob Vera etwa krank sei. »Helen ist heute früh ganz allein in den Kindergarten gegangen, ihre Mutter haben wir heute noch gar nicht gesehen!«

»Stimmt gar nicht, ich bin mit Frank gegangen«, korrigierte Helen, öffnete die Tür und schlüpfte hinein. Sie musste sich beeilen, musste ihre Mutter finden, dann könnte sie das Schlimmste vielleicht noch verhindern. Doch plötzlich konnte sie sich kaum mehr bewegen, ihre Arme und Beine waren wie aus Stein. Sie musste ihren Vater vorbeilassen, schloss die Tür und lehnte sich einen Moment dagegen. Aber die Nachbarinnen würden auch so alles hören.

Schon ging es los.

»Was hast du dir dabei gedacht?«

»Ich bin einfach so erschöpft, es ist alles zu viel«, weinte Vera. Immerhin: Sie hatte sich angezogen. Und in der Küche roch es nach geschmolzenem Käse – Käseschnitten, dachte Helen, sie hat Käseschnitten gemacht. Das war ihr Lieblingsessen. Heute Morgen war noch nichts im Kühlschrank gewesen. Ihr Mutter musste also auch eingekauft haben. Sie hatte die Wohnung verlassen! Frau Huber war eine Lügnerin!

Helen gab sich einen Ruck. Sie rannte in die Küche und umarmte ihre Mutter und strahlte ihren Vater so breit an, dass ihr die Lippen wehtaten.

»Papa, Papa!«, rief sie als habe es die letzten fünf Minuten nicht gegeben. »Papa, ich war im Kindergarten und wir haben ein neues Lied gelernt und Frank hat mir seine Hausschuhe gegeben!«

Luc blies die Backen auf und schüttelte den Kopf. Schließlich zog er seinen Regenmantel aus und setzte sich auf einen der freien Stühle. Vera zog das Blech aus dem Ofen, der Käse auf den Brotscheiben war perfekt gebräunt, und man konnte die kreisrunden Erhebungen sehen, wo Ananasscheiben unter dem Käse lagen. Diese waren speziell für sie. Ihre Mutter mochte Ananas nicht und legte saure Gurken auf ihre.

Jetzt stellte sie eine Holzschale mit Salat auf den Tisch und Luc mischte die grünen Blätter sorgfältig mit zwei großen Löffeln. Helen liebte dieses Salatbesteck. Die Griffe waren zu Nashörnern geschnitzt. Nur wegen dieser Griffe ließ sie sich überhaupt überreden, Salat zu essen. Vera schenkte Apfelsaft ein und setzte sich hin. Da stand Luc nochmal auf und holte eine Flasche Weißwein aus dem Kühlschrank. Er öffnete den Schrank, in dem die Gläser standen und nahm zwei heraus. Helen hielt den Atem an, doch ihre Mutter schüttelte den Kopf.

»Nicht für mich, danke. Ich mach besser mal eine Pause.«

»Dann helf ich dir, die Versuchung zu eliminieren!«

Sie aßen die Käseschnitten und lachten über die endlos langen Fäden, die sich von den Gabeln zogen. Helen erzählte, wie sie mit Frank den Kinderwagen die Treppe hochgewuchtet hatten, und Vera regte sich einmal mehr über die anderen Mütter auf. »Können sie die Frau nicht in Ruhe lassen? Das machen die nur, weil sie einen Italiener geheiratet hat«, sagte sie. »Reine Schikane!«

Über das Wort dachte Helen noch länger nach. Schikane. Eine schicke Frau, dachte sie, die die anderen plagt. Frau Huber war eine Schikane. Fräulein Imbach. Definitiv eine Schikane. Obwohl, wirklich schick war sie nicht. Mit ihren Ringelstrümpfen und Haarbommeln. Nicht wie ihre Mutter. Wenn ihre Mutter nicht krank war, war sie die schönste Frau, die Helen je gesehen hatte. Und die lustigste.

Luc trank die ganze Flasche leer, »wegen der Versuchung« und legte sich anschließend auf das schmale Sofa im Wohnzimmer, um Mittagsschlaf zu halten. Vera schickte Helen auf ihr Zimmer. Genau wie früher, in ihrem alten Haus, an den Tagen, an denen ihr Vater nicht arbeitete. Nur dass Helen damals noch kleiner gewesen war und selbst Mittagsschlaf hielt. Sie erinnerte sich, wie die Nachmittagssonne durch den orangefarbenen Vorhang in ihr altes Zimmer geschienen hatte. Manchmal dachte sie dann, das Haus stünde in Flammen und begann zu schreien, bis Mama kam und sie aus dem Gitterbett hob. Dafür war sie jetzt zu groß. Helen setzte sich auf den Fußboden und zog ein Buch nach dem anderen aus ihrem Regal und blätterte es durch. Wenn sie nur schon lesen könnte! Sie versuchte, sich an die Worte zu erinnern, die ihre Mutter gebraucht hatte, als sie ihr die Geschichten vorgelesen hatte und die Worte mit den Buchstaben auf den Seiten zu verbinden. Es gelang ihr nicht, es war zu lange her. Sie musste sich die Geschichten selbst zusammensetzen, nur mit Hilfe der Bilder. Im Wohnzimmer machte ihr Vater sonderbare Töne. Doch dann hörte sie ihre Mutter lachen. Wie früher.