Rüdiger Standhardt

TAO – Training Achtsamkeit in Organisationen

Die Kunst, sich selbst und eine Organisation
achtsam zu führen

Buch & zwei Hör-CDs

Mit einem Vorwort von Kai Romhardt
und einem Beitrag von Britta Hölzel

Klett-Cotta

Impressum

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Klett-Cotta

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© 2022 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Printed in Germany

Cover: Bettina Hermann, Stuttgart

Zeichnungen: Bernd Stummeyer, Heuchelheim; Stefanie Lemke, Oftersheim

Autorenfoto (S. 310): Rolf K. Wegst, Buseck

CD-Bearbeitung von Volker Seidler, Lollar

Gesetzt in den Tropen Studios, Leipzig

Gedruckt und gebunden von Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg

ISBN 978-3-608-98483-5

E-Book: ISBN 978-3-608-11876-6

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20561-9

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar

In Dankbarkeit
für alle Menschen,
die ich in den letzten
40 Jahren
auf ihrem Lebensweg begleiten durfte
und die mich in meinem Lernen
und Wachsen inspiriert haben.

Jetzt ist ein Aufbruch von innen
wichtiger denn je, geht es doch um nicht weniger
als um das Überleben auf unserem blauen Planeten.
Wir sind herausgefordert, dieses wichtigste Menschheitsthema
engagiert anzupacken, anstatt den Untergang
in Ruhe und Ordnung abzuwarten.

Die elementare,
uns in jedem Augenblick
unseres Daseins zum Bewusstsein
kommende Tatsache ist:
Ich bin Leben, das leben will,
inmitten von Leben,
das leben will.

Albert Schweitzer

Vorwort

Dieses Buch lädt dazu ein, uns selbst zu erforschen. Es lädt uns zur Meditation und Achtsamkeitspraxis ein und vertraut darauf, dass wir so zu glücklicheren, mitfühlenderen und friedvolleren Menschen werden können. Indem wir uns selbst liebevoll und furchtlos und in all unseren menschlichen Handlungen betrachten, vertieft sich das Verständnis unserer selbst. Durch geduldige und entschlossene Übung gewinnen wir Klarheit und einen Kompass für ein Leben in Verbundenheit. Einen Kompass für ein Leben, das der omnipräsenten Trennung und Ausbeutung unserer Zeit etwas Schönes, etwas Heilsames entgegensetzt – im Innen und Außen.

Mein Lehrer, der Zen-Meister und Friedensaktivist Thich Nhat Hanh, vergleicht das menschliche Bewusstsein gerne mit einem Garten, der alle möglichen Samen enthält. Samen der Freude, des Mitgefühls und der Zufriedenheit, aber auch Samen der Gier, der Missgunst und des Ärgers schlummern in uns und warten auf die richtigen Bedingungen zur Manifestation. All diese Samen stellen Potentiale dar – Richtungen – in welche sich unser Leben entwickeln kann. Freuen uns die kleinen Dingen oder regen wir uns über kleine Dinge auf? Welche Samen gewinnen die Oberhand?

Wer sich auf den Weg der Meditation begibt erkennt rasch, dass die Qualität der Samen in unserem Bewusstsein die Qualität unseres Lebens bestimmt. Doch wie wirken wir auf diese Qualität ein? Was müssen wir tun (und lassen) damit heilsame Samen wie Freude oder Gelassenheit in uns wachsen und wir gleichzeitig unseren Ärger, unsere Ruhelosigkeit oder unsere Unzufriedenheit besser verstehen? Wir sollten nicht auf klassische Glücksversprechen wie Karriere, Geld, Einfluss oder Popularität vertrauen. Sie führen uns in die Irre. Wir müssen vielmehr selbst zu Gärtnern und Gärtnerinnen unseres Bewusstseins werden und einen eigenen Maßstab für »Erfolg« finden. Und das können wir nur, wenn der Samen der Achtsamkeit, der Bewusstheit, der klaren Wahrnehmung in uns wächst. Ohne Achtsamkeit entgeht uns Wesentliches. Ohne Achtsamkeit sind wir halbblind, nicht selten reaktiv und werden von falschen Wahrnehmungen und Glaubenssätzen geblendet. Achtsamkeit ist die Lampe, der Kompass, der uns den Weg zeigt. Achtsamkeit lässt uns die wechselseitige Verwobenheit allen Lebens erfahren. Und diese lebendige Erfahrung von Verbundenheit ändert alles.

Dieses Buch stellt den Weg der Achtsamkeit im Arbeitsleben vor. Achtsamkeit ist hierbei kein theoretisches Konzept oder eine ethische Maxime, sondern ein lebendiger Geisteszustand, den wir stärken und trainieren können. Durch kontinuierliche Übung, Sammlung und Selbstreflexion gewinnen wir Schritt für Schritt Klarheit darüber, was wir ganz konkret in einer Situation fühlen, denken und spüren. Wir blicken tiefer und erkennen die wahre Motivation unserer Worte und Handlungen. Wir übernehmen Verantwortung. Wir wenden uns unseren Verletzungen zu. Wir blicken gnädiger auf uns selbst und andere. Ich habe viele Menschen erlebt, denen die Achtsamkeitspraxis ihre Zufriedenheit, ihr Lächeln und ihre Lebensfreude zurückgeschenkt hat.

Der Autor hat den Segen und das Transformationspotential der Achtsamkeitspraxis persönlich und in der Tiefe erlebt. Aus dieser persönlichen Erfahrung erwuchs seine Motivation, vielen anderen Menschen auf ihrem Weg zu begleiten und zu unterstützen. Hieraus entwickelte Rüdiger unter anderem »TAO«, das strukturierte Trainingsprogramm für Achtsamkeit in Organisationen, auf dessen Erfahrungen dieses Buch maßgeblich basiert. In meiner Arbeit als Koordinator des Netzwerks Achtsame Wirtschaft bin ich immer wieder Menschen begegnet, die von Rüdiger ausgebildet worden sind und mit hoher Wertschätzung von ihm und seiner Arbeit sprachen. Sie integrierten die Praxis in ihr Leben und ihre Arbeit und gewannen so Klarheit, wohin sie ihre kostbare Lebenskraft lenken wollen, um zu den Menschen zu werden, die sie sein wollen und – im Grunde – immer schon waren.

In vielen, kleinen Kapiteln spannt dieses Buch einen weiten Bogen. Von den globalen Krisen unserer Zeit zurück zum Individuum und seiner Arbeit. Vom »Du« der Beziehung zum »Wir« der Organisation. Auf all diesen Ebenen zeigt der Autor auf, wie Achtsamkeit uns dabei helfen kann, ein guter Gärtner, eine gute Gärtnerin zu werden und unser Verständnis zu vertiefen. Manchmal muss man sich beim Lesen anschnallen, um den nächsten Sprung mitzumachen. Psychologen, Philosophen, Wirtschaftswissenschaftler und Unternehmer kommen ebenso zu Wort wie Dharmalehrer, Ökologen und andere Wissenschaftler. Rüdiger geht es hierbei nicht um Vollständigkeit, sondern um die Darstellung und Verknüpfung der verschiedensten Ebenen menschlichen Handelns. Dieses Netz wechselseitiger Abhängigkeit gilt es zu durchdringen und auszuleuchten, ohne uns in ihm zu verlieren.

Hierzu schenkt der Autor uns über 200 Selbstreflexionsfragen und lädt uns freundlich ein, zu den beiliegenden CDs zu greifen und direkt mit der Meditationspraxis zu beginnen. Achtsamkeit ist sehr praktisch und erschließt sich durch konkrete Übung und weniger durch Diskussion. In diesem Buch und auf dem Weg von TAO werden viele Methoden der Achtsamkeitspraxis vorgestellt, wie wir sie auch im Netzwerk Achtsame Wirtschaft und in unserer Meditationsgemeinschaft in Berlin-Zehlendorf regelmäßig üben. Es sind Klassiker der Geistesschulung und wir alle würden auf einem gänzlich anderen Planeten leben, wenn wir diese regelmäßig üben würden.

Zum Abschluss: Dieses Buch ist ein dringender Appell an uns alle, endlich aufzuwachen. Rüdiger beschreibt selbst, wie er sich lange Jahre in seine kleine, komfortable Welt zurückgezogen hat und anschwellende globale Krisen wie den Klimawandel nicht an sich heranließ. Als Meditierende sollten wir es uns nicht auf unserem Sitzkissen gemütlich machen. Wahre Achtsamkeitspraxis öffnet unser Herz für die Schreie der Welt. Wenn wir gleichzeitig noch unseren eigenen Unzulänglichkeiten und Unvollkommenheiten wohlwollend zulächeln können, werden wir nicht nur uns selbst, sondern allen Wesen mit Freude und in Aufrichtigkeit dienen können. Möge dieses Buch uns alle auf diesem Weg unterstützen.

Berlin, im Oktober 2021

Dr. Kai Romhardt

Einleitung

Zum ersten Mal in der Geschichte
hängt das physische Überleben der Menschheit
von einer radikalen seelischen
Veränderung des Menschen ab.

Erich Fromm[1]

Der Zustand unserer Erde ist viel zu ernst, als dass ein distanziert-akademisches Reden angemessen ist. Ich blicke zurück auf das Jahr 1990: Das Studium der Erziehungswissenschaften ist zu Ende. In meiner Diplomarbeit schreibe ich über die Aspekte einer Bildungsarbeit, die für mich angesichts der globalen Krise wesentlich sind. Der Titel der Arbeit lautet: Meditation, Kommunikation und Politik. Wege zu einer holistischen Pädagogik.[2] Meine Absicht ist, drei unterschiedliche Wege zu beschreiben und in Beziehung zu setzen, die ich in den vergangenen Jahren in Theorie und Praxis erforscht und eingeübt habe und die aus meiner Erfahrung untrennbar zusammengehören: Meditative Praxis in der Form von Zen und Yoga bei Hugo Makibi Enomiya-Lassalle und Michael von Brück, lebendiges Lernen und Lehren durch das Konzept der Themenzentrierten Interaktion (TZI) nach Ruth C. Cohn[3] und der tiefenökologische Ansatz nach Joanna Macy[4]. In der Einleitung schreibe ich dann 1990 sehr persönliche Worte:

Über die Krise zu schreiben, fällt mir schwer! Seit Tagen sitze ich an meinem Schreibtisch und überlege mir, wie ich in meiner Einführung über die ökologischen und atomaren Gefahren schreiben kann. Je mehr ich mich in die Studien »Die Grenzen des Wachstums«, »Global 2000« und »Zur Lage der Welt 89/90« vertiefe und in den zahlreichen Büchern lese, die die globalen Bedrohungen beschreiben, um so hilfloser, ratloser und trauriger fühle ich mich. In dieser Situation fällt mir dreierlei an mir selbst auf:

  1. Wieder einmal wird mir schmerzlich bewusst, wie sehr ich diese Krise in meinem Alltag verdränge, wie schwer es mir fällt, über meine Gefühle der Hilflosigkeit, der Ohnmacht und der Verzweiflung mit anderen Menschen zu sprechen und wie oft ich einer bewussten seelischen und geistigen Auseinandersetzung aus dem Wege gehe.

  2. Ich zweifle an meinem eigenen Willen umzukehren und meiner Bereitschaft, meine bequemen Gewohnheiten aufzugeben. Zu selbstverständlich sind mir mein materieller Wohlstand und die sich daraus ergebenen Privilegien geworden. Ich kenne gut die Tage und Wochen in meinem Leben, wo ich in Ruhe gelassen werden will mit unserer schwierigen Situation und wo ich einfach unbeschwert mein Leben genießen will. Und doch gelingt es mir nicht so recht, mein Wissen über unsere Krise zu verdrängen. Zu viel weiß ich über die lebensbedrohlichen Zusammenhänge und bei einem Blick auf die Titelseite meiner Tageszeitung erfahre ich fast täglich von neuen Katastrophen.

  3. Trotz allem spüre ich immer wieder in mir den tiefen Willen zu leben (und nicht nur zu über-leben!) und den Wunsch, den Untergang nicht in Ruhe und Ordnung abzuwarten. Ich wünsche mir, mit meinen Gefühlen der Angst und tiefen Sorge nicht alleine zu bleiben und sie mit anderen Menschen teilen zu können. Ich habe die Hoffnung auf einen Bewusstseinswandel und glaube, dass wir Energien zum klaren Denken und Handeln bekommen, wenn wir die Gelegenheit erhalten, unsere tiefen Gefühle der Angst nicht weiter verdrängen zu müssen.

30 Jahre später lese ich meine Arbeit und erlebe sie immer noch als hochaktuell. Das Thema des Bewusstseinswandels hat mich in den vergangenen drei Jahrzehnten intensiv beschäftigt. Ich habe mich viele Jahre leidenschaftlich mit lebendigem Lernen und Lehren beschäftigt, unter anderem das Buch Zur Tat befreien – Gesellschaftspolitische Perspektiven der TZI-Gruppenarbeit mitherausgegeben und lange Jahre den Arbeitskreis TZI und politische Verantwortung geleitet, weil für mich das gesellschaftspolitische Anliegen von Ruth C. Cohn eine Herzenssache ist. Außerdem habe ich von Dietrich Stollberg gelernt, dass wo Licht ist, immer auch Schatten ist oder anders ausgedrückt: Wir befinden uns als Menschen immer im Spannungsfeld von Ideal und Wirklichkeit und gerade wenn wir uns für wichtige Werte einsetzen, ist die Gefahr groß, dass wir aufgrund unserer »Eigenblindheit« unseren eigenen Schatten nicht wahrnehmen.[5]

Von Anfang an ging es mir auch um ein gesellschaftliches Engagement. Bereits 1983 war ich verwundert und verärgert über einen Bundeskanzler, der von »Frieden schaffen mit immer weniger Waffen« sprach und der sich gleichzeitig für die Stationierung von Erstschlagwaffen in Deutschland aussprach. Ich teilte die Überzeugung des Ökumenischen Rates der Kirchen, dass die Herstellung und Stationierung von Massenvernichtungswaffen ein Verbrechen gegen die Menschheit darstellt und engagierte mich in der Friedensbewegung. Wichtige Erfahrungen machte ich durch die Gründung und Arbeit in der Marburger Regionalgruppe der »Kampagne Ziviler Ungehorsam bis zur Abrüstung«, durch verschiedene gewaltfreie Aktionen und den Prozessen, die sich daraus ergeben haben, einschließlich eines Gefängnisaufenthaltes. Wegweisend für mein politisches Engagement waren für mich meine Kriegsdienstverweigerung, ein ausführlicher Besuch des Konzentrationslagers Auschwitz mit Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste, verschiedene Aufenthalte in der gandhianischen Lebensgemeinschaft der Arche in Südfrankreich und meine Besuche der indischen Dörfer Ghosaldanga und Bishnubati in der Nähe von Shantiniketan. Und auch das private Engagement war mir wichtig und so hat mich das Thema Männeremanzipation schon im Studium intensiv beschäftigt. Ich wollte ein engagierter Vater sein und so war es für mich eine schöne und zugleich herausfordernde Erfahrung, als Mann die ersten vier Jahre bei meinen beiden Söhnen zuhause zu sein.

Gleichzeitig habe ich in all den Jahren Zen, Yoga und MBSR[6] praktiziert und viele Menschen auf diesen Wegen inspiriert und begleitet. Mir war es immer wichtig, selbst konstant zu lernen und zu wachsen. Dies geschah durch intensive Schweige-Retreats, Aus- und Weiterbildungen, durch das Studium vieler Bücher, das Schreiben eigener Bücher, den lebendigen Austausch mit Kolleginnen und Kollegen und durch die regelmäßige Inanspruchnahme von Coaching für meine privaten und beruflichen Fragestellungen.

Meine besondere Begabung lag in der Ausbildung von über tausend Menschen in achtsamkeitsbasierten Verfahren. Ein wesentliches Anliegen ist mir, Menschen in Organisationen – durch das von mir 2017 entwickelte Training Achtsamkeit in Organisationen (TAO) – einen Einstieg in eine weltanschaulich neutrale Achtsamkeitspraxis zu ermöglichen und den inneren und äußeren Wandlungsprozess aktiv zu unterstützen. Darüber hinaus habe ich viele Jahre in der Automobilbranche und der öffentlichen Verwaltung Menschen durch kommunikative Trainings und Führungskräfte-Coachings begleitet und auf diese Weise unterschiedliche Arbeitswelten kennengelernt. Wenn ich mir das alles vor Augen führe, bin ich für die Fülle meiner Erfahrungen und Einsichten sehr dankbar. Meine berufliche Arbeit habe ich nie als Last empfunden, sondern mich darüber gefreut, die Themen, die mir selbst wichtig waren, mit anderen Menschen zu teilen.

Und zugleich gibt es einen tiefen Zweifel in mir: In meiner Arbeit mit Einzelnen und Gruppen ging es selten um die globale Krise, und ich habe mich an der gesellschaftlich so verbreiteten Sprachlosigkeit über den gefährdeten Planeten mitbeteiligt. Natürlich habe ich mich auch in ökologischer Hinsicht geäußert, aber viel zu schwach und zu unkonkret. Mein Fokus lag mehr auf den Themen rund um Persönlichkeits- und Kommunikationsentwicklung. Ich habe aufmerksam zur Kenntnis genommen, dass sich das Buch Zur Tat befreien, in dem es um die gesellschaftlichen Herausforderungen angesichts der globalen Krise ging, sehr schlecht verkauft hat – an den schmerzlichen Reflexionen über die Lage der Welt hatten nur wenige Menschen Interesse, auch nicht die Menschen, die sich sonst gerne mit der TZI beschäftigten und Ruth C. Cohn schätzten.

Mir ist es wichtig, mir meine Zweifel einzugestehen, ehrlicher zu werden und darüber zu sprechen, dass ich selbst in der Vergangenheit nicht konsequent genug gehandelt habe. Ich fahre ein Auto, was nicht sehr ökologisch ist, kaufe zu wenig in Ökoläden ein, liege gerne in der warmen Badewanne und verbrauche mit diesem Verhalten viel Wasser, bin in der Vergangenheit zu oft mit dem Flugzeug unterwegs gewesen und fahre noch zu oft mit meinem Auto in die Stadt, obwohl ein neues Fahrrad vor meiner Wohnungstür steht. Kurz und gut: mein ökologischer Fußabdruck könnte viel besser aussehen! Es ist mir wichtig, mein Leben achtsam »zu durchleuchten«, um besser meinen Widersprüchen, Ambivalenzen, Schattenseiten und Abgründen auf die Spur zu kommen, sie als Teil von mir willkommen zu heißen und zugleich herauszufinden, wie ich meinen Alltag nachhaltiger gestalten kann. In mir steckt beides: Meine Sorge um diese Welt, meine Kenntnisse über die globale Krise, mein Wahrnehmen der Menschen, die sich viel mutiger als ich für eine lebenswerte Erde einsetzen und mein Engagement für einen Bewusstseinswandel. Und zugleich bin ich auch bequem, spüre immer wieder Widerstand, mein alltägliches Verhalten weiter zu verändern, möchte auf manche Annehmlichkeit nicht verzichten und habe wenig Resonanz auf das Wort von Romano Guardini über die »moderne Askese«.

In den letzten Jahren erlebte ich eine tiefe Zäsur in meinem Leben, eine Zeit der Entschleunigung, des Innehaltens und der Selbstklärung. Für mich war wichtig zu reflektieren, woher ich komme und wohin ich gehen will: Wer bin ich? Was will ich mit der mir verbleibenden Lebenszeit anfangen? Was sind mein Herzensanliegen und meine Vision?

Wir sollten alle herausfinden, was wir wirklich, wirklich wollen.

Frithjof Bergmann

Nach vielen Gesprächen weiß ich, dass ich mit meinen Überlegungen und Erfahrungen nicht alleine dastehe. Auch andere Menschen erleben Verunsicherungen, Erschütterungen und Brüche in ihrem Leben und fragen sich, was im Leben wirklich wesentlich ist. Und ich erlebe bei immer mehr Menschen eine Sehnsucht, sich nicht mehr hinter der eigenen Maske zu verstecken, sondern ehrlich über die herausfordernden Themen unserer Zeit und das eigene Verhalten zu sprechen. Daher braucht es offene Begegnungsräume, wo wir uns als Menschen unvoreingenommen über unsere Alltagserfahrungen austauschen können, auch über die sich weiter verschärfende globale Krise. Bei diesem Austausch geht es nicht um die Einteilung und Bewertung in »richtig« oder »falsch«, sondern um eine innere Haltung, die der persische Dichter Rumi wie folgt beschreibt: Jenseits von richtig und falsch gibt es einen Ort. Hier können wir einander begegnen. An diesem Ort lauschen wir den Erfahrungen des anderen und erforschen gemeinsam unser alltägliches Verhalten. Ein solches Gespräch, unterbrochen von Stille, ist wahrnehmungsorientiert und nicht lösungsorientiert. Es geht nicht um ein vorschnelles Machen und Tun und es geht nicht um das weitverbreitete Moralisieren und Verurteilen, sondern darum, sich mit den persönlichen Fragen, Überlegungen und Einsichten anderen Menschen anzuvertrauen in der Gewissheit, dass die wirklichen Antworten für nachhaltiges Handeln aus der Stille erwachsen.

Diese Erkenntnisse haben bei mir dazu geführt, dass ich seit einiger Zeit von der achtsamkeitsbasierten Themenzentrierten Interaktion (aTZI) spreche, denn ich habe die Erfahrung gemacht, dass das Reden eine ganz andere Qualität bekommt, wenn es aus dem Schweigen heraus geboren wird. Für mich ist das Schweigen fester Bestandteil jeder Sequenz meiner Bildungsveranstaltungen. Durch das gemeinsame Schweigen entsteht ein Raum, in dem wir zunächst die Aufmerksamkeit von außen nach innen richten. Wir kommen mit uns selbst in Kontakt – wir können uns darüber bewusstwerden, was wir gerade denken, wie wir innerlich gestimmt sind, wie sich unser Körper anfühlt und wie wir gerade atmen. Diese Form der Selbstbegegnung ist die Voraussetzung dafür, Bewusstheit in die zwischenmenschliche Kommunikation zu bringen. Je mehr wir mit uns selbst in Kontakt sind, desto achtsamer können wir auch mit anderen in Kontakt treten – sowohl in Zweierbegegnungen als auch in Gruppen.

Mit der Integration des Schweigens in die Interaktion ist ein für mich erster wichtiger Schritt getan. Jetzt kommt es darauf an, einen zweiten Schritt zu gehen. Globale Themen rund um unseren gefährdeten Planeten gehören ab sofort für mich genauso selbstverständlich in jede Bildungsveranstaltung »hineingewebt«, wie ich es mit der Praxis der Stille schon seit vielen Jahren tue. Auf diesem persönlichen Hintergrund habe ich die nachfolgende Vision formuliert, um den vor mir liegenden Weg zu beleuchten:

Achtsamkeit ist der Megatrend der nächsten Jahre. Dies ist kein Zufall, denn immer mehr Menschen leiden unter Unsicherheit, Arbeitsverdichtung, Veränderungsgeschwindigkeit und der Zerstörung unseres Planeten. Klar ist auch: Die individuellen und kollektiven Herausforderungen werden weiter zunehmen. Daher sind wirksame Gegenpole umso wichtiger. Hierzu gehören Innehalten, Entschleunigung, Bewusstheit und Stille. Die Einübung der Achtsamkeit für den beruflichen Alltag ist ein Weg der achtsamen Persönlichkeitsentwicklung und zugleich noch viel mehr: ein innovativer Ansatz der achtsamen Kommunikations-, Führungskräfte- und Organisationsentwicklung. Vor dem Hintergrund der globalen Krise braucht es darüber hinaus eine säkulare Ethik und eine Vision für eine lebenswerte Erde.

Wir leben in einer Zeit der globalen Krise. Immer mehr Menschen wird bewusst, dass wir dringend zur Besinnung kommen müssen und einen inneren und äußeren Wandel brauchen, damit nicht nur wir selbst, sondern auch unsere Kinder und Enkel auf einem lebenswerten Planeten leben können. Für einen solchen tiefgreifenden Veränderungsprozess braucht es ein klares Bewusstsein über den Zustand unserer Erde, einen Paradigmenwechsel von der Konkurrenz zur Kooperation, eine Abkehr vom Konsum- und Wachstumszwang[7] sowie eine Wirtschaftsordnung, bei der nicht Kapitalvermehrung, sondern Ökologie und Gerechtigkeit[8] an erster Stelle stehen. Für den Aufbruch in eine lebenswerte Zukunft braucht es Mut, Freude und Entschlossenheit, und es gilt der Satz von Mahatma Gandhi: Sei du selbst die Veränderung, die du dir wünschst für diese Welt.

Die notwendige Transformation braucht eine klare ethische Grundausrichtung. Der Dalai Lama[9] setzt sich seit vielen Jahren für eine säkulare, die Unterschiede überwindende Ethik ein, auf die sich alle Menschen einlassen können, unabhängig von ihrer Religion oder Weltanschauung. Ethik hat in seinem Verständnis mit unserem Geisteszustand zu tun, mit menschlichen Werten wie Mitgefühl, Liebe, Herzensgüte und Großzügigkeit und nicht mit der formalen Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft. Eine solche Ethik kann nicht vorgeschrieben werden, sondern wächst durch innere Reifung, Achtsamkeit und Herzensschulung, durch Einsicht und Engagement. Wir dürfen dabei lernen, dass wir alle Schwestern und Brüder sind und dass der alte Grundsatz gilt: Was Du nicht willst, was man Dir tut, das füg auch keinem anderen zu. Oder deutlicher ausgedrückt von Claus Eurich: Wir haben nicht das Recht auf Ausbeutung und unverhältnismäßigen Luxus, solange anderes Leben darunter leidet.

Durch einen Perspektivwechsel von außen nach innen kommen wir zur Besinnung. Es geht um den Gegenpol zum ständigen Tun und Machen – um Innehalten, Selbstreflexion und Stille. Stille und Tun gehören im Leben untrennbar zusammen. Tun muss durch Nicht-Tun in Balance gebracht werden. Wir sind aufgefordert, unser Bestes zu geben und dann im Mysterium des Lebens zu ruhen, sagt Saki Santorelli. Die meisten Menschen verlieren sich jedoch im außenorientierten Tun und haben wenig Erfahrung mit der Kultivierung der Innenwelt. Das Glück ist jedoch nur in unserem Inneren zu finden und es braucht bewusst gewählte Zeiträume, um in Kontakt mit uns selbst zu kommen. Wenn wir regelmäßig innehalten, um unserer inneren Stimme zu lauschen, stoßen wir auf das, was im Leben für uns wesentlich ist. Auf diese Weise überwinden wir allmählich unser Getriebensein und unseren Konsumzwang und erfahren Klarheit, Ruhe und Verbundenheit mit den Menschen und der Welt.

TAO-Selbsterforschung

Nehmen Sie sich Zeit, die nachfolgenden Fragen zu beantworten.

Aus all diesen Fragen und meinen eigenen langjährigen Erfahrungen in der Bildungsarbeit kristallisierte sich immer mehr heraus, dass es heute vor allem nicht Seminare, sondern Trainings braucht, die nicht nur den inneren Wandel im Blick haben und nach wenigen Wochen wieder zu Ende sind, sondern bei denen es auch um den äußeren Wandel geht und bei dem Menschen über einen längeren Zeitraum begleitet werden, damit es realistische Chancen für anhaltende Verhaltensänderungen gibt.

In vielen beruflichen Zusammenhängen kommt es mir so vor, als würde den Teilnehmenden in einem Weiterbildungskurs »ein ganzer Eimer mit frisch gepresstem Orangensaft« vorgesetzt. Die meisten Menschen fühlen sich von einer solchen Fülle überfordert und können die verschiedenen Impulse gar nicht aufnehmen und verarbeiten, so dass es meist zwar gute gemeinsame Tage waren, jedoch ohne dass von diesen Seminaren eine erkennbare Auswirkung für den beruflichen Alltag ausgeht. Ich tendiere immer mehr zu einem anderen Vorgehen, »zu einem wöchentlichen Glas frisch gepressten Orangensaft«. Eine solche Dosis erscheint mir viel maßvoller und verdaulicher. Und es gibt bereits Organisationen, die einen solchen neuen Weg eingeschlagen haben, wo das gemeinsame Lernen und Reflektieren integraler Bestandteil einer Arbeitswoche ist und jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter wöchentlich 60–90 Minuten Zeit für das Weiterlernen zusammen mit anderen Menschen zur Verfügung gestellt bekommt[10]. Anknüpfend an all diese Überlegungen und meiner jahrzehntelangen Erfahrung in der Vermittlung von Achtsamkeit habe ich das Training Achtsamkeit in Organisationen (TAO) entwickelt und stelle es in diesem Arbeitsbuch erstmals vor.

Ich danke allen Menschen, die mich mit ihren großzügigen und kritischen Rückmeldungen bei der Entstehung dieses Buches begleitet und ermutigt haben – ohne diesen freundschaftlich-professionellen Dialog wäre dieses TAO-Arbeitsbuch nicht entstanden. Ich danke meinem langjährigen Lektor Heinz Beyer für die vertrauensvolle und erfolgreiche Zusammenarbeit und meiner neuen Lektorin Katharina Colagrossi für die Leichtigkeit und Freude im gemeinsamen Tun. Besonders danke ich Ulrich Ott und Bernhard Hötzel für die vielen hilfreichen Hinweise, Ergänzungen und Korrekturen, Britta Hölzel für ihren zusammenfassenden Überblick über die Wirksamkeit von achtsamkeitsbasierten Verfahren und Kai Romhardt für das Vorwort.

Möge dieses Buch uns alle auf dem Weg des inneren und äußeren Wandels ermutigen und mögen wir aus der Stille die Kraft für ein beherztes Handeln inmitten der globalen Krise finden.

Gießen, im September 2021

Rüdiger Standhardt

TAO-Übung 1

Achtsames Innehalten

Nehmen Sie sich jetzt Zeit für achtsames Innehalten im Sitzen. Hören Sie auf der beiliegenden CD 1 die TAO-Übung 1. Richten Sie bewusst Ihre Aufmerksamkeit nach Innen. Im ersten Schritt nehmen Sie Ihre Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen wahr. Im zweiten Schritt beobachten Sie Ihren Atem. Und in einem dritten Schritt erleben Sie sowohl den Atem als auch den Körper als Ganzes. Lassen Sie sich Zeit, die Übung in Ruhe zu beenden.

Bedienungsanleitung

Im ersten Kapitel Ermutigung zum Wandel geht es um die Grundlagen des Trainings Achtsamkeit in Organisationen (TAO). Ich spreche über die globale Krise, stelle Ihnen sechs spannende Leitfiguren des Wandels vor und werde, wie schon in der Einleitung, sehr persönlich. Nachdem Sie bereits etwas über mein Engagement und meine Bequemlichkeit erfahren haben, lasse ich Sie im ersten Kapitel des Buches an meinem inneren Ringen angesichts der Zerstörung unseres Planeten Anteil nehmen. Diese persönlichen Einblicke sind für Sie vielleicht ungewöhnlich und überraschend, doch genau diese Konkretisierung braucht es, wenn der notwendige innere und äußere Wandel gelingen soll. Meine persönlichen Anmerkungen verstehen sich als eine Einladung an Sie, genauer herauszufinden, welche unterschiedlichen Gefühle die globale Krise in Ihnen auslöst und wie Sie inmitten der Herausforderungen leben wollen.

Es kann sein, dass die Themen des ersten Kapitels im Moment zu schwer sind und sich in Ihnen Widerstand regt. Vielleicht wäre eine kürzere Abhandlung für Sie passender gewesen. Und so ist bereits das Lesen des ersten Kapitels eine Achtsamkeitsübung. Überprüfen Sie, ob Sie das Kapitel zu Ende lesen wollen oder ob Sie lieber mit dem zweiten Kapitel weitermachen wollen.

Das zweite Kapitel Einübung der TAO-Praxis bildet den Kern dieses Buches. Es geht hier ganz praktisch und kurzweilig um die Umsetzung der Achtsamkeit in den beruflichen Alltag. Es ist in vier Module unterteilt. Im ersten Modul geht es um achtsame Persönlichkeitsentwicklung, im zweiten Modul um achtsame Kommunikationsentwicklung, das dritte Modul handelt von achtsamer Führungskräfteentwicklung und im vierten und letzten Modul geht es um achtsame Organisationsentwicklung.

Im Kapitel Einführung von Achtsamkeit in Organisationen zeige ich auf, was bei einer erfolgreichen TAO-Einführung zu beachten ist.

Achtsamkeit wirkt! In den letzten 20 Jahren waren es über 9.560 Studien, die sich mit der Wirksamkeit von Achtsamkeit beschäftigt haben. Einen ausgezeichneten Überblick über die Forschungsarbeiten zu unserem Thema gibt die von mir geschätzte Neurowissenschaftlerin Dr. Britta Hölzel im Kapitel Forschungsstand zu Achtsamkeit in Organisationen.

Im Schlusswort komme ich auf den Titel des Buches zur sprechen. Es geht um den Weg des TAO, das heißt, im Einklang mit dem Fluss des Lebens zu sein, ein ausbalanciertes Leben zu führen und die Fähigkeit zu erlangen, aus der inneren Stille heraus zu handeln.

Im Anhang finden sich eine Vielzahl von Anmerkungen mit weiterführenden Literaturhinweisen, eine Übersicht über grundlegende Veröffentlichungen sowie weiterführende Informationen zur TAO-Trainerausbildung.

Die beiliegenden CDs enthalten alle neun angeleiteten Übungspraktiken des TAO-Trainings.

I. Ermutigung
zum Wandel

Es ist ein langer Weg,
bis man richtig begreift,
dass unsere Erde in einem
lebensbedrohlichen Zustand ist.

Joanna Macy

Wir leben in einer schönen, herausfordernden und tragischen Zeit. Auf der einen Seite erleben wir einen nie dagewesenen Wohlstand und verfügen über technische Möglichkeiten, die noch vor wenigen Jahrzehnten unvorstellbar gewesen sind. Auf der anderen Seite sind wir verschiedenen Stressfaktoren ausgesetzt und verursachen mit unserem maßlosen Konsum eine unfassbare Zerstörung des Lebens auf unserem Planeten.

Die Schlüsselfrage lautet, wie wir leben wollen, was wir als wünschbar und wertvoll und was als ungut ansehen.

Claus Eurich

Globale Stressfaktoren

Es ist nicht mehr zu übersehen, dass wir als Menschheit in einer tiefen globalen Krise stecken, weil unser Überleben auf diesem Planeten stark gefährdet ist und wir den zukünftigen Generationen die Folgen unserer organisierten Verantwortungslosigkeit aufbürden.

Bereits vor knapp fünfzig Jahren haben der Club of Rome in seinem Bericht »Die Grenzen des Wachstums«, der Ökonom Ernst Schumacher in »small is beautiful«[11]BEAULIEUClub-of-Rome[12]